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Der promenadologische Spaziergang<br />
Zeichnung Lucius Burckhardt<br />
Hannah Stippl<br />
Warum ist Landschaft schön? Diese Frage nach Wahrnehmung und Ästhetik<br />
der Landschaft umreißt den Forschungsgegenstand der von Lucius und<br />
Annemarie Burckhardt entwickelten Spaziergangswissenschaft, auch Promenadologie<br />
oder englisch Strollology genannt. Die vordergründig einfache<br />
Frage gibt auch Einblick in das methodische Vorgehen Burckhardts, einem<br />
gewitzten Beobachter und exakten Forscher, der seine wissenschaftliche,<br />
planerische und künstlerische Tätigkeit statt auf heroischen Superlativen auf<br />
dem Spaziergang aufbaute. Die Bezeichnung Spaziergangswissenschaft<br />
wird oft als lediglich ironisch interpretiert – ein grundlegendes Missverständnis.<br />
Sowohl planungs- als auch wissenschaftskritisch wendet sich Burckhardt<br />
gegen eine oberflächlich verwissenschaftlichte Rhetorik und betont die<br />
gesellschaftliche und politische Verantwortung der Planer. Er wirft den Gestaltern<br />
vor, nicht im Bewusstsein dessen zu handeln, was sie eigentlich gestalten:<br />
gesellschaftliche Zusammenhänge.<br />
Spazieren gehen will erlernt sein.<br />
Burckhardt geht Fragen der Landschaftswahrnehmung<br />
auf Exkursionen nach, „Wissenschaftsspaziergängen“<br />
mit interdisziplinärem<br />
Charakter, wie dem sogenannten<br />
„Urspaziergang’“ im nordhessischen Dorf<br />
Riede, wo 1976 Wissenschaftler, Künstler<br />
und Studierende gemeinsam die Beschreibung<br />
einer Landschaft erarbeiten. Ausgehend<br />
von diesem paradigmatischen Spaziergang<br />
formuliert Burckhardt grundlegende<br />
Überlegungen zu den Entstehungsbedingungen<br />
ästhetischer Betrachtung der Natur<br />
als Landschaft. Landschaft wird nicht auf<br />
einmal, sondern mit vielen Blicken sehend,<br />
zusehend, hineinsehend, umhersehend aufgefasst,<br />
denn: „Die Landschaft ist ein Konstrukt.“<br />
Er betont immer wieder, „dass die<br />
Landschaft nicht in den Erscheinungen der<br />
Umwelt zu suchen ist, sondern in den Köpfen<br />
der Betrachter. In der Umwelt eine Landschaft<br />
zu erblicken, ist eine schöpferische<br />
Tat unseres Gehirns, hervorgebracht durch<br />
bestimmte Ausklammerungen und Filterungen,<br />
aber auch integrativer Tätigkeiten des<br />
Zusammensehens, die das Ergebnis einer<br />
vorausgegangenen Erziehung sind.“ 1 Landschaftswahrnehmung<br />
beruht auf der zeitstrukturierten<br />
Wahrnehmung in Bewegung,<br />
nicht auf dem Einzelbild oder einem einzigen<br />
Blick. Erst viele Blicke in der Zeit bilden<br />
Landschaft, Landschaftswahrnehmung<br />
zeigt von Beginn an deutliche Affinität zum<br />
bewegten Bild des Filmischen. Der Spaziergang,<br />
als Urform der Wahrnehmung in Bewegung,<br />
dient so als Instrument der Aneinanderreihung<br />
und Strukturierung der Bilder.<br />
Der Spaziergang bedeutet dabei deutlich<br />
mehr als nur die Fortbewegung zu Fuß, er<br />
ist ein avanciertes Medium zur Betrachtung<br />
der Umwelt, das sich erst im Verlauf des<br />
18. Jahrhunderts als eigenständige kulturelle<br />
Praxis herausbildet. Die Entstehung der<br />
Landschaft als ästhetische Betrachtungsform<br />
der Umwelt zeigt sich historisch aufs<br />
engste mit der bürgerlichen Tätigkeit des<br />
Spazierengehens verbunden.<br />
Kaum etwas erscheint als eine so gewöhnliche<br />
und unspektakuläre Alltagspraxis wie<br />
das Spazierengehen, doch hier trügt der<br />
Schein: Spazierengehen muss im 18. Jahrhundert<br />
erst erlernt werden. Das Gehen<br />
und die damit verbundene ästhetische Betrachtung<br />
der Natur zu genießen, entbehrt<br />
der Selbstverständlichkeit. Der Spaziergang<br />
als bürgerliche Kulturtechnik und Ergebnis<br />
einer gesellschaftlichen Entwicklung ist<br />
ein durch den Wandel des Naturgefühls im<br />
18. Jahrhundert ausgelöstes Phänomen, an<br />
dem er gleichzeitig maßgeblich beteiligt ist.<br />
Wo die Herausforderungen der Natur gebannt<br />
und bewältigt erscheinen, wird die<br />
Schönheit der Natur und ihre Lesbarkeit als<br />
Landschaft entdeckt und bewundert. Dabei<br />
hat der Spaziergang nicht zum Ziel, die<br />
Distanz zur Natur aufzuheben, sondern er<br />
bezeichnet eben diese Distanz positiv, als<br />
Freiheit des Städters, des Bildungsbürgers,<br />
dessen Trennung von der Natur die notwendige<br />
Voraussetzung für das Schauen<br />
und Genießen der Natur als Landschaft ist.<br />
Die bürgerliche Aneignung der Natur verdankt<br />
ihren Sinn der Aufrechterhaltung der<br />
Trennung, die den ästhetischen Genuss des<br />
Spazierganges möglich und überhaupt erst<br />
nötig macht. Der Spaziergänger nämlich,<br />
der Nutzen und Vergnügen aus dem Erleben<br />
der Natur ziehen will, muss diese decodieren:<br />
„Man muss die Natur zum Sprechen zu<br />
bringen wissen, damit sie wirklich spricht.“ 2<br />
Diese Formulierung spricht für sich: Die<br />
Wahrnehmung der Natur trägt einen gewalttätigen<br />
Zug in sich. „Das Naturschöne müsse<br />
im Blick erst erzeugt werden, formulierte<br />
Riehl. Die Aufgabe des Landschaftsmalers<br />
sei es, dem Publikum einzuimpfen, dass es<br />
‚die nämlichen Schönheiten aus der Landschaft<br />
heraussieht, welche das Auge des<br />
Künstlers hineingesehen hat’.“ 3 Die ästhetische<br />
Wahrnehmung ergibt sich nicht für<br />
jedermann und nicht von selbst. Sowohl die<br />
unzulängliche Bildung als auch die Distanzlosigkeit<br />
des Landmannes zur Natur sind<br />
der Naturempfindung hinderlich. Nur für<br />
das gebildete Bürgertum hat die Natur an<br />
Bedrohlichkeit verloren und an Beherrschbarkeit<br />
gewonnen, nur für ihre distanzierte,<br />
ästhetische Aneignung der Natur ist diese<br />
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