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Mit Herumlaufen allein ist es nicht getan<br />

Bertram Weisshaar<br />

„Wenn mich aber die Notwendigkeit zwingt, in der Stadt<br />

zu sein, habe ich gelernt, mir inmitten des Volkes<br />

Ein sam keit, in den Stürmen einen Hafen zu schaffen mit<br />

einem Kunstmittel, das nicht allen bekannt ist: ich<br />

beherrsche meine Sinne so, dass sie nicht wahrnehmen,<br />

was sie wahrnehmen.“ 1<br />

Francesco Petrarca, 1356<br />

„Der wichtigste Grund, warum man von einem Platz zu<br />

einem anderen geht, ist der, weil man sehen will, was<br />

zwischendurch passiert. Daran hatten die Menschen<br />

viel Freude. Dann, irgendwann einmal, entdeckte einer,<br />

dass wenn man so schnell als möglich gehe und nichts<br />

anderes als seine Schuhe anschaue, man viel schneller<br />

zu seinem Ziel gelange. Keiner interessierte sich mehr<br />

dafür, wie alles aussah. Und je schneller sie sich bewegten,<br />

um so scheußlicher und schmutziger wurde alles.<br />

Und je schmutziger und scheußlicher alles wurde, desto<br />

schneller rannten die Leute. Und dann geschah etwas<br />

sehr Merkwürdiges. Nachdem sich kein Mensch mehr<br />

darum kümmerte, begann die Stadt zu verschwinden.<br />

Täglich wurden die Gebäude schemenhafter, die Straßen<br />

verschwanden, bis schließlich die Stadt unsichtbar<br />

geworden war…“ 2<br />

Norton Juster, 1963<br />

Gehen um zu verstehen<br />

Gehen ist nach wie vor die einfachste Art,<br />

sich eine Stadt oder Landschaft zu erschließen.<br />

Viele tun dies auf nicht alltägliche Weise:<br />

Arttours, Audio-Walks, BaukulTOURen,<br />

Dialogische Spaziergänge, Dérives, Konzeptspaziergänge,<br />

Promenadologische Spaziergänge,<br />

Silent Walks, Stadtsafaries, Talk<br />

Walks usw. – die Liste der Formate, die sich<br />

„in Fortbewegung“ durch den Raum mit der<br />

Gestalt und der Wahrnehmung des Raumes<br />

und der Entwicklung von Stadt und Landschaft<br />

auseinandersetzen, wird vielfältiger.<br />

Dieser Band legt einen Schwerpunkt auf diese<br />

Formate, die mittels des Gehens zu einer<br />

Analyse, einer Aussage oder beabsichtigten<br />

Wirkung gelangen. Er verschafft einen Überblick<br />

über die Vielfalt der Spaziergangskonzepte<br />

3 , ohne dabei einen Anspruch auf<br />

Vollständigkeit zu erheben oder mit der<br />

getroffenen Auswahl eine Bewertung vorzunehmen.<br />

Versammelt werden neben einigen Projekten<br />

des Herausgebers auch mehrere Positionen<br />

und Akteure aus dem deutschsprachigen<br />

Raum und Großbritannien, die unterschiedlichen<br />

Professionen und Anliegen entspringen<br />

und sich nicht notwendigerweise selbst<br />

auf die Spaziergangswissenschaft beziehen.<br />

Viel mehr ist das gemeinsame Merkmal der<br />

vorgestellten Formate, dass sie alle gehend<br />

– in Fortbewegung – zum Ausdruck kommen.<br />

Dabei jedoch – und das ist wichtig – geht es<br />

bei den hier versammelten Positionen nicht<br />

um das Gehen an sich, sondern darum, wo<br />

dieses Gehen hinführt, wobei wiederum<br />

nicht ein geografischer Ort gemeint ist,<br />

sondern ein anderer Blick, ein wacherer Zustand,<br />

ein geweitetes Denken – im Idealfall:<br />

Eigenes Denken. Oder mit anderen Worten:<br />

Mit Herumlaufen allein ist es nicht getan.<br />

„Hinter den Spaziergängen in der Stadt<br />

steht die Annahme, dass wir das Alltägliche<br />

nicht mehr wahrnehmen.“ 4 Es geht also<br />

darum, Wahrnehmung herzustellen und<br />

das bloße Sehen zum Erkennen zu führen:<br />

„‚Wahrnehmung‘ ist ein weiterer Begriff als<br />

‚Sinneswahrnehmung‘. Für ästhetisches Denken<br />

sind gerade Wahrnehmungen ausschlaggebend,<br />

die nicht bloße Sinneswahrnehmungen<br />

sind. ‚Wahrnehmung‘ ist hier vielmehr in<br />

dem zugleich fundamentaleren und weiterreichenden<br />

Sinn von ‚Gewahrwerden‘ zu verstehen<br />

[…] hat den Charakter von Einsicht.“ 5<br />

In diesem Verständnis geht es den in diesem<br />

Buch dokumentierten Projekten um unsichtbares<br />

Design, also um Zusammenhänge hinter<br />

den Dingen, auf welche wir jedoch durch<br />

sinnliche Erfahrungen aufmerksam werden.<br />

Baukultur<br />

Neben der Darstellung der Vielfalt der Formate<br />

untersucht der vorgelegte Band die Potenziale<br />

des Spaziergangs in Bezug auf die<br />

Analyse des Raumes und des Ortes sowie<br />

seine Qualitäten und Funktionen als Format<br />

der Vermittlung und Darstellung, als Kommunikationsmedium.<br />

Gerade in den Diskussionen<br />

und Verhandlungen zur Baukultur<br />

kann der hier aufgefächerte Spaziergang<br />

eine hilfreiche Rolle als Mediator übernehmen,<br />

in dem Sinne, wie dies etwa Matthias<br />

Sauerbruch eingefordert hat: „Ganz abstrakt<br />

verspricht man sich natürlich vom Mittun<br />

aufgeklärter und solidarischer Bürger sehr<br />

viel; tatsächlich stellt diese Diskussion für<br />

viele Mitbürger aber eine inhaltliche Herausforderung<br />

dar. Für einen wirklich produktiven<br />

Austausch bedarf es eines Mediators,<br />

der erklärt, informiert, übersetzt und anregt.<br />

Die Erfindung der Rolle eines solchen<br />

professionellen Mediators könnte eine Reaktion<br />

auf die Transformation des Öffentlichen<br />

sein.“ 6<br />

Gerade zum jetzigen Zeitpunkt, da tradierte<br />

Planungsinstrumente angesichts der<br />

Problemlagen beispielsweise in schrumpfenden<br />

Städten nur mehr bedingt wirksam<br />

werden und auch in Anbetracht einer neuen<br />

Wertschätzung des Fußverkehrs in den Städten,<br />

erwächst der Spaziergangswissenschaft<br />

eine erneuerte Bedeutung. Früh schon benannte<br />

Burckhardt als eines der Hauptprobleme<br />

„die fehlende Beteiligung der Menschen<br />

an der Gestaltung ihrer Umwelt. Diese<br />

Beteiligung gilt es, von planerischer Seite zuzulassen<br />

und zu moderieren. Aber da sie<br />

ein ungewohntes Angebot darstellt, muss<br />

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