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Die Suche nach dem Taschentuchbaum<br />

Eine vierwöchige Fußreise von Leipzig nach Köln durch die Kleingärten<br />

Bertram Weisshaar<br />

Meine am Deutschen Kleingartenmuseum beginnende Reise – im Jahr 2004 zu<br />

Fuß von Leipzig nach Köln – führt mich durch zahlreiche Kleingartenan lagen.<br />

Mein Interesse gilt der aktuellen Gestaltung der Gärten, dem vorhandenen<br />

Wissen zur Kultivierung der Pflanzen und insbesondere den Bedeutungen und<br />

Geschichten, die den Gärten eingeschrieben sind. Welche Bedeutungen tragen<br />

die Pflanzen in den Kleingärten?<br />

Besonders neugierig bin ich auf die ehemals<br />

exotischen Gewächse, die inzwischen lange<br />

schon in den Gärten zu Hause sind. Ich<br />

wähle den Taschentuchbaum (botanischer<br />

Name: Davidia involucrata) als „Leitpflanze“.<br />

Die Geschichte seiner Einführung zählt<br />

zu den abenteuerlichsten, die ich kenne. Der<br />

englische Pflanzenjäger Ernest Wilson war<br />

monatelang in chinesischen Wäldern unterwegs,<br />

um diesen in Europa begehrten Baum<br />

als Erster einzuführen. Von einem Standort<br />

des auch in Asien seltenen Baumes erfuhr er<br />

durch vertrauliche Hinweise. Als er jedoch<br />

dort ankam – nachdem er 21.000 Kilometer<br />

gereist war – fand er einen Baumstumpf und<br />

ein neues Holzhaus. Zwar wurde er am Ende<br />

doch noch fündig, aber zu spät. Inzwischen<br />

war ihm ein französischer Pflanzensammler<br />

zuvorgekommen. Paul Guillaume Farges<br />

hatte bereits 1897 Samen des Taschentuchbaums<br />

nach Paris gebracht. Seither wächst<br />

der Taschentuchbaum nun auch in Europa.<br />

Auch ich will von meiner Reise Pflanzen<br />

mitbringen. Stellvertretend für die besuchten<br />

Gärten sollen sie als Herbarium die Reise<br />

dokumentieren. Mit Fotos und täglichen<br />

Berichten teile ich bereits während der Reise<br />

meine Begegnungen über das Internet<br />

mit. Freunde begleiten mich auf der ersten<br />

Etappe bis zum Leipziger Kleingartenverein<br />

Neu-Brasilien. Mit Taschentüchern winkend<br />

verabschieden sie mich.<br />

Gehen, gehen, gehen, ...<br />

Täglich werde ich gefragt, warum ich meine<br />

Reise zu Fuß und nicht mit dem Auto unternehme.<br />

Ist aber nicht doch das Gehen die<br />

einfachste und ursprünglichste Art der Fortbewegung?<br />

In jedem Fall wird mir aber, da<br />

ich die Distanz von ca. 500 Kilometer zu Fuß<br />

zurücklege, stets eine ehrliche und ernsthafte<br />

Zuwendung zugesprochen, werden mir<br />

Gartentore bereitwillig geöffnet, erhalte ich<br />

Einblicke in versteckte Winkel, erfahre auch<br />

von ganz persönlichen Gartengeschichten.<br />

Durch einen Spaziergang kann man dem<br />

Alltag ein Stück weit entfliehen: Man ist vorübergehend<br />

nicht erreichbar und entsagt<br />

sich jeder Erledigung von Arbeit. Entrückt<br />

schaut man dem Alltag zu, gleichwohl man<br />

doch mittendrin ist. Das Spazieren eröffnet<br />

einen temporären freien Zeitraum. Was passiert,<br />

wenn man diesen Zeitraum auf vier<br />

Wochen ausdehnt? 28 Tage lang gehen. Eine<br />

Strecke machen. Noch weiter gehen, als man<br />

blicken kann. Ein Gefühl von Freiheit stellt<br />

sich ein. Erstaunlich, wie schnell man auf<br />

seinen Füßen vorankommt. Der Aussichtsturm,<br />

auf dem man vor vier Stunden noch<br />

stand, ist schon weit entfernt, am nächsten<br />

Tag kaum noch zu sehen, am dritten Tag<br />

verschwunden.<br />

Die Art der Fortbewegung bedingt die<br />

Wahrnehmung des Raumes. Ob ich gehe,<br />

fliege, Zug oder Auto fahre, immer werde<br />

ich zu einem anderen Bild kommen, denselben<br />

Raum in einer anderen Realität erleben.<br />

Das ist nicht schwer zu verstehen. Es bedarf<br />

nicht notwendig einer vierwöchigen Wanderung,<br />

um sich dies klar zu machen. Aber was<br />

kann ich auf dieser Reise alles erleben! Tatsächlich,<br />

das Land, in dem ich aufgewachsen<br />

bin, das ich zu kennen glaubte, zeigt sich<br />

mir völlig anders, überrascht mich gewaltig.<br />

Allabendlich werde ich in einer Kleingartenanlage<br />

erwartet. Auch dort begegne ich zahlreichen<br />

Überraschungen.<br />

Nachtrag<br />

Die Suche nach dem Taschentuchbaum war<br />

ein Beitrag zu der Ausstellung Privatgrün<br />

2004, realisiert durch den Kunstraum Fuhrwerkswaage<br />

e. V., Köln. Die Konzeption der<br />

Ausstellung beabsichtigte „Kunst temporär<br />

aus dem sonst üblichen Betriebssystem von<br />

Museum und Ausstellungsraum in den privaten<br />

Raum zu überführen“ (aus: Flyer zur<br />

Ausstellung, Kunstraum Fuhrwerkswaage).<br />

Dieses Reiseprojekt machte sich das<br />

Konzept der Ausstellung selbst zu eigen,<br />

involvierte zahlreiche Kleingartenvereine<br />

und Gartenfreunde. Das Herbarium Vagans<br />

Weisshaarii und das ebenfalls während der<br />

Fußreise entstandene Online-Tagebuch ist<br />

archiviert auf der Website atelier-latent.de.<br />

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