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Theatermagazin ZeitSchrift 1 10/11 - Druschba-Spezial

Programmheft "Romeo und Julia" Spezialausgabe der Theaterzeitschrift des LTT

Programmheft "Romeo und Julia"
Spezialausgabe der Theaterzeitschrift des LTT

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parapolis<br />

In einem anderen Kapitel zum Thema »interkulturelle Bildung«<br />

wird darauf hingewiesen, kulturelle Bildung solle<br />

einen »zentralen Beitrag« leisten für den »Zusammenhalt<br />

der Gesellschaft über alle Schichten, Generationen und<br />

Herkunftskulturen hinweg«. Für die »Randgruppen« stellt<br />

Kultur offenbar eine Art Schmiermittel der Integration<br />

dar. Ein solch instrumentelles Kulturverständnis würde<br />

man in Bezug auf die »deutsche« Kunst wohl kaum zu hören<br />

bekommen.<br />

Nun ist es angesichts knapper Kassen erlaubt und notwendig,<br />

über eine neue Legitimation von Kultur nachzudenken.<br />

Aber sind Kunst oder Theater nicht hoffnungslos<br />

überfordert, wenn sie die Aufgaben der Schule übernehmen<br />

und dann auch noch für den Zusammenhalt der Gesellschaft<br />

sorgen sollen? Wenn es um Interkultur im Kulturbereich<br />

geht, kommen enorme Ansprüche zusammen:<br />

Sie soll Bildung vermitteln, Perspektive geben, den Dialog<br />

befördern und am Ende noch Fundamentalismus und Gewalt<br />

verhindern.<br />

Man kann sicher auch sagen: Die Erwähnung von Interkultur<br />

im Bericht war ein erster Schritt. Es gibt einige<br />

Beispiele auf kommunaler Ebene, wo die Konzepte<br />

durchdachter und tragfähiger wirken. So spricht etwa die<br />

Stadt Mannheim in ihrem 2007 verabschiedeten »Handlungskonzept<br />

interkulturelle Kulturarbeit« ausdrücklich<br />

von Migration Mainstreaming. Die Autoren stellen klar,<br />

Interkultur müsse als Prinzip in den Kultureinrichtungen<br />

verankert werden, und es gelte, Menschen mit Migrationshintergrund<br />

den Zugang zu und die Teilhabe an diesen<br />

Einrichtungen zu erleichtern – auch im Bereich der<br />

Personalpolitik. Zudem will man die bereits vorhandene<br />

Vielfalt anerkennen und fördern, sowie die interkulturelle<br />

Kompetenz von Veranstaltern und Besuchern stärken.<br />

Diese Prinzipien lehnen sich stark an die Forderungen der<br />

»Stuttgarter Impulse zur kulturellen Vielfalt« an, die im<br />

Anschluss an den ersten Bundesfachkongress Interkultur<br />

verabschiedet wurden. Diese wiederum beziehen sich auf<br />

das Übereinkommen über den Schutz und die Förderung<br />

der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO<br />

aus dem Jahr 2005. Der Text dieses Übereinkommens<br />

ist stellenweise durchaus ambivalent, weil die Verfasser<br />

doch erheblich schwanken zwischen dem Bewahren<br />

von Vielfalt und Vielfalt als Bestandteil von so etwas wie<br />

Kreativwirtschaft.<br />

Dennoch handelt es sich um eine offizielle Verankerung<br />

von Vielfalt – und die Bundesrepublik hat diesen Text ratifiziert,<br />

was bislang noch nicht flächendeckend ins Bewusstsein<br />

gedrungen ist.<br />

Schaut man auf Kultur in der Migrationsgesellschaft,<br />

dann ist der wirklich interessante Aspekt nicht jener des<br />

»Dialogs« zwischen den Kulturen, sondern jener der Nähe<br />

des scheinbar Verschiedenen. Insofern ist der Begriff Parallelgesellschaft<br />

äußerst unproduktiv. Denn in der Postmoderne<br />

zeichnet sich Kultur durch Diversifizierung aus,<br />

durch die Produktion von Differenz, die sich nicht grundsätzlich<br />

auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt.<br />

Die Clubnächte mit türkischer, griechischer oder iranischer<br />

Musik, die »ethnischen« Diskotheken, Kneipen und<br />

Restaurants; die kleinen Läden, die U-Bahn-Fahrkarten,<br />

Lebensmittel, Musik und Bücher anbieten; die afrikanischen<br />

Friseursalons, die Videos aus Nollywood verkaufen;<br />

der vietnamesische Großhandel mit seinen spezifischen<br />

Produkten – dieses ganze kulturalisierte Durcheinander ist<br />

keineswegs ein Nischenphänomen, es ist mittendrin. Es<br />

handelt sich um kreative Formen der unternehmerischen<br />

Selbsteingliederung in die Gesellschaft. Die Stadt lebt von<br />

ihren Heterotopien, von all den scheinbar »fremden« Orten,<br />

die dennoch benachbart sind. Und die Stadt ist per<br />

se ein Ort, dessen Charme in seiner Unübersichtlichkeit<br />

besteht. Und je weniger man die Produktion überblicken<br />

kann, desto interessanter und anziehender wirkt die Stadt.<br />

Aber auch für die Kultur im engeren Sinne gilt, dass sie<br />

die Differenz, das Unbequeme, das Inkommensurable<br />

und auch das Unkontrollierte braucht. Wenn man alles,<br />

was anders ist und sich entzieht, einem Diktat der Transparenz<br />

unterwerfen will, dann bekommt man am Ende<br />

nur Big Brother – und zwar in beiden Bedeutungen des<br />

Begriffs.<br />

Am Ende betrifft jedes Nachdenken über Interkultur immer<br />

das Ganze. In Deutschland ist der Gedanke der Gemeinschaft<br />

von der Vergangenheit beherrscht. Noch immer<br />

gilt das Prinzip der »Schicksalsverbundenheit« – man<br />

sieht eine Gruppe vor sich, die in der Vergangenheit gemeinsam<br />

etwas durchlitten und durchgestanden hat und<br />

die stolz auf ihre Leistungen blickt. Doch in der Parapolis<br />

gibt es keine gemeinsame Vergangenheit mehr. Die historischen<br />

Fäden verlaufen in alle möglichen Richtungen,<br />

nicht nur zu Hermann dem Cherusker. Was existiert, ist<br />

die gemeinsame Zukunft. Es ist egal, woher die Menschen,<br />

die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Polis<br />

aufhalten, kommen und wie lange sie sich dort aufhalten.<br />

Wenn erst einmal die Zukunft im Vordergrund steht,<br />

dann kommt es nur noch darauf an, dass sie jetzt, in diesem<br />

Moment anwesend sind und zur gemeinsamen Zukunft<br />

beitragen.<br />

Mark Terkessidis studierte Psychologie und arbeitet als Journalist und<br />

Migrationsforscher.<br />

Aus: Mark Terkessidis, »Interkultur«, Berlin 20<strong>10</strong>.<br />

21<br />

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