interkultur Kulturelle Differenzen – was ist Kultur heute? von Homi K. Bhabha In seinem Standardwerk »Die Verortung der Kultur« gelingt es Homi K. Bhabha den Grundstein für eine umfassende Kulturbetrachtung jenseits homogener, nationaler Identifikationen zu legen. 6 Es ist eine gängige Vorstellung unserer Zeit, die Frage der Kultur im Bereich des darüber Hinausgehenden (beyond) zu verorten. Unser Dasein ist heute von einem finsteren Gefühl des Überlebens geprägt, einem Leben an den Grenzen der »Gegenwart«, für die es keinen anderen Namen als die geläufige und kontroverse Instabilität des Präfixes »Post« zu geben scheint: Postmoderne, Postkolonialismus, Postfeminismus … Die Abwendung von den Einzelgrößen »Klasse« und »Geschlecht« als den vorrangigen konzeptuellen und organisatorischen Kategorien führte zu einer bewussten Wahrnehmung der Positionen des Subjekts – Rasse, Geschlecht, Generation, institutionelle Verortung, geopolitischer Raum, sexuelle Orientierung –, die jeder Einforderung von Identität in der modernen Welt immanent sind. Kultur als das »Darüber hinaus« Wenn der Jargon unserer Zeit – Postmoderne, Postkolonialität, Postfeminismus – überhaupt irgendeine Bedeutung hat, dann liegt diese nicht im populären Gebrauch des »Post« als Ausdruck einer Abfolge – Nach-Feminismus; oder einer Polarität – Anti-Moderne. Diese Begriffe, die nachdrücklich auf das »Darüber Hinaus« verweisen, verkörpern dessen rastlose und revisionäre Energie nur, wenn sie die Gegenwart in einen erweiterten und exzentrischen Ort der Erfahrung und Machtaneignung verwandeln. Die umfassendere Bedeutung der postmodernen Lage liegt in der Erkenntnis begründet, dass die epistemologischen »Grenzen« dieser ethnozentrischen Ideen auch die artikulatorischen Grenzen einer Reihe anderer dissonanter, ja sogar dissidenter Geschichten und Stimmen sind – Frauen, die Kolonisierten, Minderheitengruppen, diejenigen, deren Sexualpraktiken polizeilich registriert sind. Denn die Demographie des neuen Internationalismus besteht aus der Geschichte postkolonialer Migration, den Erzählungen der kulturellen und politischen Diaspora, den großen sozialen Verdrängungen von Bauern- und Ureinwohnergemeinden, der Exilpoetik, der düsteren Prosa von Flüchtlingen aus politischen und wirtschaftlichen Gründen. Konzepte wie homogene nationale Kulturen, die auf Konsens beruhende und nahtlose Übermittlung historischer Traditionen oder »organisch« gewachsene ethnische Gemeinschaften werden – als Basis kulturellen Vergleichs – derzeit grundlegend neu definiert. Von den persönlichen Geschichten zur »Weltkunst« Goethe meint, dass die Möglichkeit einer Weltliteratur aus der kulturellen Verwirrung entsteht, die von schrecklichen Kriegen und gegenseitigen Konflikten herbeigeführt wurde. »[...] denn die sämtlichen Nationen, in den fürchterlichsten Kriegen durcheinander geschüttelt, sodann wieder auf sich selbst einzeln zurückgeführt, hatten zu bemerken, dass sie manches Fremdes gewahr worden, in sich aufgenommen, bisher unbekannte geistige Bedürfnisse hie und da empfunden.« (Betrachtung zur Weltliteratur, 1830) Wie verhält es sich mit der komplexeren kulturellen Situation, in der »vorher unerkannte geistige und intellektuelle Bedürfnisse« durch die Überlagerung mit »fremden« Ideen, kulturellen Repräsentationen und Machtstrukturen entstehen? Goethe meint, »es wirkt die innere Natur einer ganzen Nation wie die des einzelnen Menschen unbewusst«. Nimmt man seine Idee hinzu, wonach das kulturelle Leben einer Nation »unbewusst« gelebt wird, dann kann sich das Verständnis herausbilden, dass Weltliteratur eine im Entstehen begriffene, präfigurative Kategorie sein könnte, bei der es um eine Art kulturellen Dissens und kulturelle Alterität geht und aus der sich nicht auf Konsens beruhende Formen von Zugehörigkeit auf der Basis von historischen Traumata entwickeln können. Das Studium der Weltliteratur könnte das Studium der Art und Weise sein, in der Kulturen sich durch ihre Projektion von »Andersheit« (an)erkennen. Während einst die Weitergabe nationaler Traditionen das Hauptthema einer Weltliteratur war, können wir jetzt möglicherweise annehmen, dass transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen – diese Grenzlagen – die Gebiete der Weltliteratur sein könnten. In der unheimlichen Welt zu leben, ihre Doppelwertigkeiten und Zweideutigkeiten im Haus der Fiktion inszeniert zu sehen oder ihre Entzweiung und Aufspaltung im Kunstwerk vorgeführt zu bekommen, heißt auch, ein tiefes Verlangen nach sozialer Solidarität zu bekunden: »ich suche das Einswerden ich möchte einswerden ich möchte einswerden«. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000. Spielzeit <strong>10</strong>/<strong>11</strong> // <strong>Druschba</strong>-<strong>Spezial</strong>
omeo und julia / Ромео и Джульетта Probenfoto Raúl Semmler, Martin Schultz-Coulon und Vjaceslav Poljakov // Foto: Patrick Pfeiffer 7 Theater Magazin // <strong>ZeitSchrift</strong>