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Februar 2010<br />
Kuczynski‘s Erben<br />
Was ist aus den vielen Gesellschaftswissenschaftlern der DDR geworden?<br />
Jürgen Kuczynski,<br />
die DDR und der Antonplatz<br />
Im Herbst 1989 hatte ich eine Nierenkolik. Im Krankenhaus<br />
las ich die Memoiren von Jürgen Kuczynski<br />
und sein Buch „Dialog mit meinem Urenkel“. Wutschnaubend<br />
schrieb ich J.K. einen Brief, als ich wieder<br />
zu Hause war. Kuczynski war eine schillernde<br />
Figur. Kalt gestellt in der DDR, schrieb er seine<br />
Memoiren und andere Bücher. Vom Westen wurde<br />
er als grosser Wirtschaftswissenschaftler und DDR-<br />
Kritiker hoch gelobt.<br />
Ich hatte vom „schärfsten öffentlichen Kritiker“<br />
(J.K. über sich selbst) viel mehr erwartet und konnte<br />
nicht begreifen, wie ein angeblich exponierter DDR-<br />
Kritiker so an der Lebenswirklichkeit von 1989 vorbeischreiben<br />
konnte! Ganz abgesehen von seiner<br />
Eitelkeit und der ständigen Selbstbespiegelung, die<br />
aus jedem zweiten Absatz spricht. Aus meiner Sicht<br />
war J.K. bis zu seinem Tode (1997) unfähig, die systemimmanenten<br />
Fehler des realen Sozialismus zu<br />
erkennen und zu benennen. Er „glaubte“ idealistisch<br />
an die „wissenschaftliche Weltanschauung“ des<br />
Sozialismus. Die vielen Glaubenssätze und Irrtümer<br />
der Marxisten hat er nie wahrgenommen.<br />
Der Briefwechsel mit Kuczynski war der Beginn<br />
meiner DDR-Vergangenheitsbewältigung. Inzwischen<br />
habe ich dazu ziemlich viel geschrieben. Diese<br />
speziellen Storys sind in diesem Buch <strong>hier</strong> zusammengefasst.<br />
Meine Wut über J.K. ist verraucht. Der Marxismus ist<br />
nach einem 70-jährigen, weltweiten Feldversuch mit<br />
realen Menschen gründlich an die Wand gefahren.<br />
Totalschaden. Der Historische Materialismus und<br />
das Gesellschaftssystem Sozialismus/Kommunismus<br />
hat sich damit als das erwiesen, was es von Anfang<br />
an war: Eine Gesellschaftsutopie. Für mich ist<br />
damit die Sache erledigt. Meine Vergangenheitsbewältigung<br />
ist abgeschlossen.<br />
Das genau aber gilt nicht für die Erben von Jürgen<br />
Kuczynski. Viele haben nach dem Zusammenbruch<br />
des Sozialistischen Lagers ihre politische Heimat in<br />
der Partei DIE LINKE gefunden, denn dort konnten<br />
sie ihre politischen und philosophischen Überzeugungen<br />
unverändert pflegen. Einige bemühen<br />
sich jetzt, eine Strasse oder einen Platz in Berlin<br />
nach dem herausragenden Wissenschaftler J.K. zu<br />
benennen. Ein Teil des Antonplatzes soll seinen<br />
Namen erhalten. <strong>Natürlich</strong> ist darüber ein heftiger<br />
Streit zwischen der linken und der schwarzen Fraktion<br />
des Kommunalparlaments entbrannt. Was sagt<br />
mein Bauch nach 20 Jahren dazu?<br />
Kuczynski war kein Normalmass. Er war ein Ideologe,<br />
ein Kopfarbeiter, ein Vielschreiber. Aber 4.000<br />
Veröffentlichungen besagen gar nichts. Einstein hat<br />
mit den wenigen Seiten seiner Dissertation das wissenschaftliche<br />
Weltbild revolutioniert. Kuczynski hat<br />
die DDR stabilisiert, aber für die Menschheit nichts<br />
bewirkt. J.K. ist Geschichte. Ob ein Platz nach ihm<br />
benannt wird oder nicht, ist ohne Belang. Wer erinnert<br />
sich heute noch an Kuczynski? Wer wird in<br />
100 Jahren noch wissen, wer Kuczynski war? Weise<br />
geworden, ist es mir völlig egal, ob ein Kuczynski-<br />
Platz existiert oder nicht. Dieser Platz würde auch an<br />
seine vielen Irrtümer erinnern ... Wenn überhaupt.<br />
Wer sind die Erben von J.K. ?<br />
Zu DDR-Zeiten gab es hunderttausende gut ausgebildeter<br />
„Gesellschaftswissenschaftler“. Sie hatten<br />
eine klare Aufgabe in der Wirtschaft, im Staatsapparat,<br />
in der Armee, an den Hoch- und Fachschulen<br />
bis hin zum „Blockwart“ des Wohngebiets: Die<br />
Beschlüsse der Partei bis hinunter zum letzten Arbeiter<br />
und Bauern durchzusetzen. Messlatte waren<br />
die Klassiker Marx, Engels, Lenin und Stalin. Stalin<br />
blieb in den 50-er Jahren auf der Strecke. Aber bis<br />
zum Mauerfall wurden die Schriften von Marx, Engels<br />
und Lenin wie eine Offenbarung gelesen. Kritik<br />
an den Klassikern war Sakrileg und niemand von den<br />
„führenden Genossen der Partei und Staatsführung“<br />
kam auf die Idee, die Klassiker zu aktualisieren. Sie<br />
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