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November 1996<br />
Die Freiheit, sich täglich zu verkaufen<br />
‚Hier in New York fühle ich mich am ehesten zu<br />
Hause, denn <strong>hier</strong> ist das wahre Leben. Jeder weiss<br />
<strong>hier</strong>, dass er eine Rolle zu spielen hat. Und jeder<br />
spielt sie gut, verdammt gut. Jeder muss sich verkaufen,<br />
gut verkaufen, jeden Tag. Keiner kümmert sich<br />
um Deine Probleme. Warum auch? Es sind ja Deine<br />
Probleme. Keiner hilft Dir <strong>hier</strong>. Aber Du kannst <strong>hier</strong><br />
sehr gut lernen, wie Du Dir alleine helfen kannst<br />
und dass nur Du Dir helfen kannst.‘ Wolfgang Joop,<br />
heute um 18:35 bei RTL Explosiv.<br />
Joop ist ein erfolgreicher Designer und Modemacher.<br />
Nach seinen eigenen Worten ist Joop eitel, exhibitionistisch,<br />
schwul, bisexuell und geschäftlich sehr<br />
erfolgreich. So muss man sein, wenn man in dieser<br />
Gesellschaft einen Platz an der Sonne haben will.<br />
Auf keinen Fall ist es das Feeling der Ossis. Im Gegenteil.<br />
Mindestens zwei Generationen müssen erst<br />
sterben, bis die Ossis von den in 40 Jahren Notgemeinschaft<br />
gewachsenen Wertvorstellungen lassen<br />
können. Wir haben einfach nicht in der gleichen<br />
Welt gelebt! Andere Lebensumstände erfordern<br />
auch andere Werte.<br />
Wer dann in eine Gesellschaft hineingeworfen wird,<br />
in der materieller Überfluss, extreme persönliche<br />
Freiheit und Reichtum dominieren, ist kurzfristig<br />
nicht in der Lage, auf die neuen Werte umzuschalten.<br />
Auch ich habe mehr materielle Güter, als ich brauche,<br />
ich bin persönlich frei wie nie zuvor und für meine<br />
Begriffe mit meinen fast 5.000 DM monatlich auch<br />
reich. Trotzdem kann ich nicht nur für den täglich<br />
neuen ‚ultimativen Kick‘ und so leben, als ob ich alleine<br />
auf dieser Welt wäre. Ich will mich nicht täglich<br />
verkaufen. Ich will mich überhaupt nicht verkaufen.<br />
Nicht einmal in der DDR war es nötig, sich täglich<br />
zu prostituieren. Ausserdem ist mir gerade nicht total<br />
scheissegal, was neben mir und mit meinen Mitmenschen<br />
passiert. Ich kann das nicht, ich will das<br />
nicht und ich werde es in meinem Leben auch nicht<br />
mehr lernen.<br />
Wieder ein interessanter Artikel im SPIEGEL<br />
45/1996: Heute ist wieder einmal der 9. November.<br />
Aus diesem Anlass wird untersucht, welche Differenzen<br />
in den Wertvorstellungen von Ost und West<br />
trotz nomineller Einheit noch bestehen.<br />
Abschätzig wird festgestellt, dass die Ossis nichts<br />
von persönlicher Freiheit, aber viel von Solidarität<br />
und sozialer Sicherheit halten. Die Wessis haben<br />
nach dem Krieg von den Amerikanern gelernt, dass<br />
persönliche Freiheit, Pressefreiheit, freie Wahl der<br />
Partei und die Mitbestimmung die höchsten Werte<br />
dieser Gesellschaft sind. So muss es sein und nur das<br />
ist die ‚richtige‘ Sicht auf diese Welt.<br />
Im sozialistischen Sprachgebrauch könnte man sagen,<br />
wir Ossis haben noch nicht den richtigen Klassenstandpunkt,<br />
sind noch keine ‚guten Genossen‘<br />
in ‚diesem unseren‘ neuen Staat geworden. Wir sind<br />
noch nicht auf die neue ideologische Linie dieser<br />
Bundesrepublik eingeschwenkt. Und Vorsicht ist<br />
trotz aller Freiheit geboten: Wenn man <strong>hier</strong> seinen<br />
Kopf benutzt, bekommt man die gleichen Schwierigkeiten,<br />
wie im Sozialismus. Nur die Farbe ist anders:<br />
Schwarz statt Rot:<br />
Wer hat denn <strong>hier</strong> wirklich persönlich die Freiheit,<br />
das zu tun oder zu lassen, was er möchte? Was nutzt<br />
die Pressefreiheit, was hat es für einen Sinn, zu einer<br />
‚freien Wahl‘ zu gehen? Wer bestimmt in diesem de<br />
jure demokratischen Staat? Ja, es geht alles demokratisch<br />
zu, keine Frage. Aber deswegen regiert doch<br />
nicht etwa das Volk mit Hilfe der Demokratie diesen<br />
Staat!? Über die Macht verfügen weder die Mehrheit,<br />
noch die gewählten ‚Organe‘ (Zentralorgan !!) dieser<br />
Gesellschaft. Nur Geld bedeutet auch tatsächlich<br />
Macht. Freiheit existiert ohne Geld nicht. Demokratie<br />
und Gewaltenteilung sind wie der Sozialismus<br />
schöne Utopien. Nur lebt es sich für Klein Mäxchen<br />
deutlich besser unter einem solchen System.<br />
Und genau mit der Heilsgewissheit des Herrn v.<br />
Schnitzler werden wir jetzt belehrt, was wir unter<br />
Freiheit zu verstehen haben und was die richtigen<br />
Werte dieser einzig wahren Gesellschaft sind.<br />
DANKE !<br />
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