Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik in ...
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Lübke stand bereits seit 1959 im Visier von Albert Norden, SED-ZK-Sekretär für Agitation<br />
und Propaganda. 62 Im Januar 1966 kam die DDR groß aufgemacht <strong>mit</strong> angeblich sensationellem<br />
Material heraus: Lübke hätte als stellvertreten<strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Baugruppe<br />
Schlempp ab Mai 1944 das Konzentrationslager Neu-Staßfurt projektiert, entworfen, errichten<br />
lassen sowie 500 französische Häftl<strong>in</strong>ge aus Buchenwald für dieses Lager angefor<strong>der</strong>t,<br />
von denen 110 umgekommen seien. Als Beweis wurden von Lübke unterschriebene<br />
Bauzeichnungen vorgelegt, wovon die erste Gruppe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Aktendeckel <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Aufschrift<br />
"Vorentwurf zur Erstellung e<strong>in</strong>es KZ.-Lagers (...)" geheftet war. 63 Da Lübke we<strong>der</strong><br />
prozessierte noch zurücktrat, we<strong>der</strong> das Gegenteil beweisende Dokumente vorlegen noch<br />
die DDR-Dokumente e<strong>in</strong>deutig als Fälschungen nachweisen konnte, blieb etwas vom "KZ-<br />
Baumeister"-Vorwurf hängen. Er schien um so glaubhafter, als er e<strong>in</strong> Bild rundete.<br />
Für die e<strong>in</strong>en war es das Pech <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>, für die an<strong>der</strong>en Symptom ihrer Malaise,<br />
daß sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> größten <strong>in</strong>tellektuellen und moralischen Herausfor<strong>der</strong>ung durch so<br />
wenig <strong>in</strong>tellektuelle und moralische Kompetenz und so viel nationalsozialistische Verstrickung<br />
und oberlehrerhafte Selbstgerechtigkeit repräsentiert wurde. Es seien e<strong>in</strong>ige Beispiele<br />
genannt. Am 11.7.1965 büßte Bundeskanzler Ludwig Erhard bei <strong>der</strong> kritischen Reflexionselite<br />
se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuelle und moralische Kreditl<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>, als er auf dem Düsseldorfer<br />
Wirtschaftstag <strong>der</strong> CDU/CSU gegen die literarische L<strong>in</strong>ke wetterte, da höre <strong>der</strong> Dichter<br />
auf, da fange "<strong>der</strong> ganz kle<strong>in</strong>e P<strong>in</strong>scher an". 64 Da<strong>mit</strong> nicht genug, erg<strong>in</strong>g er sich zwei Tage<br />
später <strong>in</strong> Köln über "Intellektualität, die <strong>in</strong> Idiotie umschlagen" könne, sowie über "Entartungsersche<strong>in</strong>ungen"<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kunst. 65 Erhards Nachfolger Kurt Georg Kies<strong>in</strong>ger,<br />
Kanzler <strong>der</strong> Großen Koalition von 1966 bis 1969, war nicht <strong>der</strong> Mann solcher Entgleisungen.<br />
He<strong>in</strong>rich Böll hatte im Vorwort e<strong>in</strong>er Kies<strong>in</strong>ger-Broschüre geschrieben, dieser sei nie<br />
ord<strong>in</strong>är gewesen, er sei e<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>er Mann <strong>mit</strong> Glacéhandschuhen - da<strong>mit</strong> aber "h<strong>in</strong>terließ er<br />
sehr wenig F<strong>in</strong>gerabdrücke". 66 Die Broschüre war von jener Beate Klarsfeld publiziert<br />
worden, die Kies<strong>in</strong>ger am 7.11.1968 auf dem Berl<strong>in</strong>er CDU-Parteitag, "Nazi! Nazi!" rufend,<br />
<strong>mit</strong> Ohrfeigen traktierte. Kies<strong>in</strong>ger war seit 1933 Mitglied <strong>der</strong> <strong>NS</strong>DAP und während<br />
62<br />
Als maßgebende, den "Fall" zusammenfassende DDR-Propagandaschrift siehe: Nationalrat <strong>der</strong> Nationalen<br />
Front des demokratischen Deutschland (Hg.), Aufstieg und Fall des He<strong>in</strong>rich Lübke. Die Geschichte e<strong>in</strong>er<br />
Karriere, Bln. (DDR) 1969.<br />
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Morsey, He<strong>in</strong>rich Lübke, a.a.O., S.511. Vermutlich waren die Unterschriften unter die Baracken-<br />
Zeichnungen echt, die kompro<strong>mit</strong>tierenden Aktendeckel aber gefälscht. (E<strong>in</strong>en Rest von Unsicherheit konzediert<br />
auch Morsey, ebd., S.535.) Zu den KZ-Baumeister-Vorwürfen gegen Lübke aus <strong>der</strong> DDR, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
dem "Stern" vom MfS zugespielte gefälschte Dokumente, siehe: Falco Werkent<strong>in</strong>, Die Reichweite politischer<br />
Justiz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ära Ulbricht, <strong>in</strong>: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>der</strong> Justiz (Hg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im<br />
Staat <strong>der</strong> SED. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesm<strong>in</strong>isteriums <strong>der</strong> Justiz, Leipzig<br />
1994, S.179-196, <strong>in</strong>sbes. S.188-192.<br />
64<br />
Zit.n.: Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition. 1963-1969, Stgt. 1984 (Geschichte <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>,<br />
Bd. 4), S.119 f. Anlaß dieser Entladung war das kurz zuvor <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> für den Wahlkampf gebildete<br />
"Wahlkontor deutscher Schriftsteller" zur Unterstützung <strong>der</strong> SPD (siehe: Deutsches Literaturarchiv, Protest!,<br />
a.a.O., S.30 f.).<br />
65<br />
Ebd., S.120<br />
66<br />
Zit.n.: Bar<strong>in</strong>g, Machtwechsel, a.a.O., S.40.