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Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik in ...

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1<br />

<strong>Der</strong> <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>in</strong> den 1960er Jahren.<br />

1<br />

I. E<strong>in</strong> eigener Mythos.<br />

Die "1968er"-Bewegung 2 war <strong>in</strong>ternational, hatte ihren Ausgang <strong>in</strong> den USA genommen 3<br />

und Anlässe des Protests <strong>in</strong> jedem Land gefunden, das von ihr erreicht wurde. Geme<strong>in</strong>sam<br />

war den verschiedenen "1968er"-Bewegungen <strong>der</strong> Charakter des Generationenprotests e<strong>in</strong>er<br />

bürgerlichen, universitär gebildeten Jugend 4 ; län<strong>der</strong>spezifisch waren die Themen des<br />

Protests. In <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> war die nationalsozialistische <strong>Vergangenheit</strong> e<strong>in</strong> Hauptthema<br />

und "Faschismus" sozusagen das dritte Wort. E<strong>in</strong> seit allerfrühester Nachkriegszeit<br />

von publizistischen und politischen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten geäußertes Unbehagen an e<strong>in</strong>er nicht<br />

vollzogenen, weil nicht gewollten Entnazifizierung gipfelte "1968" auf und hatte die studentischen<br />

Massen erreicht. Wenn vom <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

<strong>in</strong> den 1960er Jahren gehandelt werden soll, wird also von den "1968ern" die Rede<br />

se<strong>in</strong> müssen, ohne freilich dem Irrtum zu verfallen, es hätte vor <strong>der</strong> Studentenbewegung<br />

an erbitterten Klagen über das H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ragen <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit <strong>in</strong> die <strong>Bundesrepublik</strong> gefehlt.<br />

Die Verän<strong>der</strong>ungsdynamik <strong>der</strong> 1960er Jahre ist <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bemerkung kommentiert worden,<br />

das Deutschland <strong>der</strong> 1950er Jahre habe dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t nähergestanden als dem Jahre<br />

1968. 5 Für die deutschen Protagonisten gilt 1968 als Schaltjahr, <strong>in</strong> dem die Republik auf<br />

Mo<strong>der</strong>nität datiert wurde: Ist nicht die <strong>Bundesrepublik</strong> durch die "1968er" zu e<strong>in</strong>em mo<strong>der</strong>nen<br />

und liberalen Land geworden, ja, ersche<strong>in</strong>t die "1968er"-Generation nicht als geistig-kulturelle<br />

Avantgarde und neue Reflexionselite, die Deutschland-West vor se<strong>in</strong>er nationalsozialistischen<br />

<strong>Vergangenheit</strong> gerettet hat, <strong>in</strong>dem sie die Gegenwart dieser <strong>Vergangenheit</strong><br />

bewußt machte und darauf h<strong>in</strong>wies, "daß nahezu alle westdeutschen Eliten durchwebt<br />

waren von dem Mitläufern und Mittätern des Adolf Hitler"? 6 Es wurden erregte Faschismusdebatten<br />

geführt, <strong>der</strong>en Zweck "nicht nur das Interesse an e<strong>in</strong>er Erklärung <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

<strong>Vergangenheit</strong>, son<strong>der</strong>n (...) auch die Anklage <strong>der</strong> Gesellschaft <strong>der</strong><br />

1<br />

Publ. <strong>in</strong>: Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre<br />

<strong>in</strong> den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000 (Hamburger Schriften für Sozial- und Zeitgeschichte,<br />

Bd. 37), S.114-147<br />

2<br />

Ich bediene mich <strong>der</strong> Ausdrücke "1968" o<strong>der</strong> "68er"-Bewegung als e<strong>in</strong>em Etikett für e<strong>in</strong>e große und medial<br />

ver<strong>mit</strong>telte Protest- und Erneuerungsbewegung <strong>mit</strong> vorwiegend studentischen Akteuren, ohne da<strong>mit</strong> den realhistorischen<br />

Prozeß etwa auf dieses Jahr zu beschränken.<br />

3<br />

Siehe: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, Gött<strong>in</strong>gen<br />

1998 (Geschichte und Gesellschaft, Son<strong>der</strong>heft 17).<br />

4<br />

Siehe: Eric Hobsbawm, Das Zeitalter <strong>der</strong> Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts, Mnchn., Wien<br />

5 1997, S.358.<br />

5<br />

Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie <strong>der</strong> Gegenwart, Ffm. 1992, S.532.<br />

6<br />

Joschka Fischer, E<strong>in</strong> magisches Jahr, <strong>in</strong>: Spiegel special, 9/1998, S.59-61, S.60.


2<br />

Gegenwart <strong>mit</strong> kapitalistischen Strukturen und 'faschistoiden' Dispositionen bildete". 7 Anti-Faschismus<br />

gehörte zu den Antriebskräften <strong>der</strong> außerparlamentarischen Opposition 8 ;<br />

Faschismusthema und Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus, vor allem se<strong>in</strong>em<br />

personalen wie strukturellen Fortwirken, waren für die Studentenbewegung <strong>der</strong> 1960er<br />

Jahre "konstitutiv" 9 und bildeten den kle<strong>in</strong>sten geme<strong>in</strong>samen Nenner e<strong>in</strong>er vielgestaltigen<br />

Bewegung. In ihr ist <strong>der</strong> "Antifaschismus" e<strong>in</strong> Faden, aber es ist <strong>der</strong> rote Faden. Argumentgeschichtlich<br />

läßt sich auf den "1968er"-Antifaschismus noch die patzige Abfuhr an<br />

den ehemaligen Weltkriegsoffizier Helmut Schmidt zurückführen, <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en gepriesenen<br />

Sekundärtugenden Pflicht und Leistung könne man "e<strong>in</strong> KZ betreiben". 10<br />

<strong>Der</strong> durch das Symboljahr 1968 markierte Bruch zwischen den Generationen, so lesen<br />

wir 11 , sei <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> und West-Berl<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

<strong>Vergangenheit</strong> <strong>der</strong> Eltern "befeuert" worden und habe bei den Jüngeren<br />

damaliger Zeit zu e<strong>in</strong>er antifaschistischen Grund-Orientierung geführt. Zu dieser "Befeuerung"<br />

trug die für die Nachkriegszeit e<strong>in</strong>malige Generationenlagerung unzweifelhaft<br />

bei. 12 Sie war bis Mitte <strong>der</strong> 1960er Jahre durch Überalterung und e<strong>in</strong>en sehr hohen Anteil<br />

Sechzigjähriger geprägt, also durch Menschen, die häufig im Nationalsozialismus Karriere<br />

gemacht hatten und <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>der</strong> APO-Zeit zum "Establishment" 13 gezählt<br />

wurden. Ab 1960 schoben sich die Zwanzigjährigen statistisch nach vorne; <strong>mit</strong>h<strong>in</strong> ist für<br />

die Zeit um 1970 e<strong>in</strong> außergewöhnlich hoher Anteil Dreißigjähriger kennzeichnend, und<br />

dieser Gruppe gelang <strong>in</strong> relativ niedrigem Alter die berufliche Etablierung - sie war im<br />

richtigen Kondratieff -, wogegen für die Jahre bis etwa 2025 von e<strong>in</strong>er zunehmenden Alterslastigkeit<br />

<strong>der</strong> deutschen Gesellschaft auszugehen ist. 14<br />

7<br />

Hans-Ulrich Thamer, Die <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> im politischen Diskurs <strong>der</strong> 68er-Bewegung, <strong>in</strong>: <strong>Der</strong> gesellschaftliche<br />

Ort <strong>der</strong> 68er-Bewegung (Westfälische Forschungen 48/1998), S.39-53, S.39.<br />

8<br />

N<strong>in</strong>a Grunenberg, <strong>Der</strong> verspätete Anti-Faschismus und die 68er: die BRD, <strong>in</strong>: Dies., Antifaschismus - e<strong>in</strong><br />

deutscher Mythos, Re<strong>in</strong>bek 1993, S.145-170, S.145.<br />

9<br />

Christel Hopf, Das Faschismusthema <strong>in</strong> <strong>der</strong> Studentenbewegung und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Soziologie, <strong>in</strong>: He<strong>in</strong>z Bude,<br />

Mart<strong>in</strong> Kohli (Hg.), Radikalisierte Aufklärung. Studentenbewegung und Soziologie <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> 1965 bis 1970,<br />

We<strong>in</strong>heim u. Mnchn. 1989, S.71-86, S.71.<br />

10<br />

Cora Stephan, <strong>Der</strong> Betroffenheitskult. E<strong>in</strong>e politische Sittengeschichte, Bln. 1993, S.104.<br />

11<br />

Ebd., S.102.<br />

12<br />

Siehe: He<strong>in</strong>z Bude, The German Kriegsk<strong>in</strong><strong>der</strong>: Orig<strong>in</strong>s and Impact of the Generation of 1968, <strong>in</strong>: Mark<br />

Roseman (Hg.), Generations <strong>in</strong> Conflict. Youth Revolte and Generation Formation <strong>in</strong> Germany 1770 - 1968,<br />

Cambridge 1995, S.290-305.<br />

13<br />

E<strong>in</strong> zeitgenössischer Term<strong>in</strong>us, <strong>der</strong> hier fortan <strong>in</strong> demselben S<strong>in</strong>n gebraucht werden soll wie um 1968:<br />

Deckbegriff für das etablierte, verän<strong>der</strong>ungsfe<strong>in</strong>dlich-verstockte und zu großen Teilen <strong>NS</strong>-verstrickte Bürgertum.<br />

14<br />

Ra<strong>in</strong>er Mackensen, Bevölkerung und Gesellschaft <strong>in</strong> Deutschland. Die Entwicklung 1945 - 1978, <strong>in</strong>:<br />

Joachim Matthes (Hg.), Sozialer Wandel <strong>in</strong> Westeuropa. Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentages<br />

1979, Ffm., New York, 1979, S.443-465, S.458, S.461. Diese bevölkerungsstatistische Tatsache erklärt <strong>mit</strong>,<br />

warum es Post-"1968ern" - auch dem Verf. - nicht immer leicht fällt, über "1968er" zu schreiben. He<strong>in</strong>z<br />

Bude erläutert: "The fact that immediately after this generation employment opportunities were <strong>in</strong> effect<br />

doubly hit, first because the expansion of jobs came to a rapid end, and secondly because so many of the men<br />

<strong>in</strong> senior positions were relatively young, expla<strong>in</strong>s why the members of 1968 generation are not particularly


3<br />

Noch <strong>der</strong> am ehesten auf das pure Jung-se<strong>in</strong> <strong>der</strong> Protestierenden bezogene Slogan "Trau<br />

ke<strong>in</strong>em über dreißig" hatte se<strong>in</strong>e Po<strong>in</strong>te <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit e<strong>in</strong>er <strong>NS</strong>-Verstrickung<br />

<strong>der</strong> über Dreißigjährigen. 15 So ist es s<strong>in</strong>nvoll, von <strong>der</strong> "Befeuerung" durch die Generationenlagerung<br />

zu sprechen, aber das Erklärungselement "Generationenkonflikt" verfehlt und<br />

vernebelt die historische Situation, wenn monokausal behauptet wird, es hätte sich bei <strong>der</strong><br />

"1968er"-Bewegung e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Thematisierung <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit um nichts als e<strong>in</strong>en<br />

"Generationenkonflikt" gehandelt. Da<strong>mit</strong> würde die politische <strong>mit</strong> <strong>der</strong> biologischen Bühne<br />

vertauscht und e<strong>in</strong> aufrichtiges politisches Anliegen eskamotiert. 16 Das gilt ebenso für die<br />

Überlegung, ob studentische Aktionsformen <strong>der</strong> 1960er Jahre - Sit-<strong>in</strong> und Go-<strong>in</strong> als Terra<strong>in</strong>verhalten;<br />

Nie<strong>der</strong>brüllen und Charivari als Rügebrauchtum und Provokationsritual -<br />

nicht typische und traditionelle Ersche<strong>in</strong>ungen jugendlich-viriler Aufsässigkeit s<strong>in</strong>d. 17<br />

Inzwischen gew<strong>in</strong>nt die Auffassung an Boden, die "1968" entstandene Mentalität sei "e<strong>in</strong>e<br />

<strong>der</strong> Negation und des Vaterhasses (...), häßliche Frucht aus <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igung e<strong>in</strong>es verordneten<br />

<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em libertären bis psychopathischen Antifaschismus" 18 ; die Bewegung von<br />

1968 - so e<strong>in</strong>e weitere Stimme 19 - habe es eben "nicht <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>grimmig vormundschaftlichen<br />

Staat zu tun" gehabt, "so daß sie sich weith<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Leere und bisweilen <strong>in</strong>s Lächerliche<br />

verlor". Halten wir dagegen fest: Für das "antifaschistische" Anliegen <strong>der</strong><br />

"1968er" - e<strong>in</strong>schließlich manch greller Eristik und übertreiben<strong>der</strong> Aufdeckungsbegierde -<br />

gab es Ursachen, die nicht <strong>mit</strong> dem H<strong>in</strong>weis auf die Nöte Halberwachsener und ihrer Generations-<br />

und Väterkonflikte abgetan werden können. 20 E<strong>in</strong> studentischer Engagé <strong>der</strong><br />

1960er Jahre - versetzen wir uns 'historistisch' <strong>in</strong> dessen Wahrnehmungshorizont - konnte<br />

well loved by the generation that followed them." (He<strong>in</strong>z Bude, The German Kriegsk<strong>in</strong><strong>der</strong>, a.a.O, S.298.) Die<br />

kaustische Po<strong>in</strong>tierung dieses Arguments liefert e<strong>in</strong> 1968 geborener Politikwissenschaftler und da<strong>mit</strong><br />

"1968er"-Verlierer: "Dabei wollten sie (die "1968er"/ B.-A.R. ) alles verän<strong>der</strong>n: das Denken, die Gesellschaft,<br />

den Staat. Leidenschaftlich <strong>in</strong>teressiert hat sie jedoch vor allem <strong>der</strong> Verwaltungsapparat. A 16, B 2, C 4, das<br />

s<strong>in</strong>d die Beutetrophäen ihres revolutionären Marsches." (Lutz Meyer, Ergraute Weltverbesserer, <strong>in</strong>: Die Zeit,<br />

14.3.1997.)<br />

15<br />

Deutsches Literaturarchiv, Protest! Literatur um 1968, Marbach 1998 (Marbacher Kataloge 51), S.49 f.<br />

16<br />

Allerd<strong>in</strong>gs hat vor e<strong>in</strong>iger Zeit e<strong>in</strong> "1968er"-Veteran <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unsäglichen Erzählung das Berl<strong>in</strong>er Apo-<br />

Geschehen vollkommen unter den Aspekt des Pubertären und Unerledigt-Menschlichen gezwungen. (Siehe:<br />

Friedrich Christian Delius, Amerikahaus und <strong>der</strong> Tanz <strong>der</strong> Frauen, Re<strong>in</strong>bek 1997.)<br />

17<br />

Siehe: Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek, Das Glück <strong>der</strong> Provokation. Gewalt <strong>in</strong> historischen Jugendkulturen. In: Wilfried<br />

Breyvogel (Hg.), Lust auf Randale. Jugendliche Gewalt gegen Fremde, Bonn 1993, S.83-105.<br />

18<br />

Botho Strauß, Anschwellen<strong>der</strong> Bocksgesang, <strong>in</strong>: Spiegel 6/1993, S.202-207, S.204.<br />

19<br />

Christian Graf von Krockow, Von deutschen Mythen. Rückblick und Ausblick, Stgt. 1995, S.201.<br />

20<br />

"Jugend", so rief dagegen Schelsky im "Unreife"-Kapitel se<strong>in</strong>es Ernst-Bloch-Verrisses aus, sei Not des<br />

Erwachsenwerdens, Zurückträumen <strong>in</strong> die Heimat <strong>der</strong> Familie und des "gelebten Mutterschoßes" (sic!), und<br />

<strong>in</strong> "diese (...) Rückwärtsorientierung von Jugendhoffnungen fügt sich <strong>der</strong> marxistische Jugendprotest <strong>der</strong><br />

End-60er/Anfang-70er Jahre <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> und darüber h<strong>in</strong>aus im ganzen Westen folgerichtig e<strong>in</strong>".<br />

(Helmut Schelsky, Die Hoffnung Blochs. Kritik <strong>der</strong> marxistischen Existenzphilosophie e<strong>in</strong>es Jugendbewegten,<br />

Stgt. 1979, S.115 f.) Neben Volksverhetzung im Stile <strong>der</strong> Spr<strong>in</strong>ger-Presse wurde Schelsky <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rezension<br />

se<strong>in</strong>es Ernst-Bloch-Buches vorgeworfen, es nicht ertragen zu können, daß sich dessen "skeptische<br />

Generation" 1967/68 als das entpuppt habe, was sie sei: "als ideologisches Wirtschaftswun<strong>der</strong>-<br />

Wunschgebilde". (Hans-Mart<strong>in</strong> Lohmann, Das sogenannte Pr<strong>in</strong>zip Erfahrung. Helmut Schelsky merkwürdige<br />

Beschäftigung <strong>mit</strong> Ernst Bloch, <strong>in</strong>: Frankfurter Rundschau, 21.7.1978.)


4<br />

e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Gründen herzählen, sich vom "Faschismus" und von "Faschisten"<br />

geradezu umz<strong>in</strong>gelt zu fühlen. Dazu gehörten:<br />

- Das Kle<strong>in</strong>schreiben <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong>;<br />

- die nicht endenden Skandale um ehemalige Nationalsozialisten <strong>in</strong> bundesdeutschen Führungspositionen,<br />

nicht zuletzt im universitären Milieu <strong>der</strong> 1950er und 1960er Jahre;<br />

- Ludwig Erhards "P<strong>in</strong>scher"-Vorwurf an die Adresse <strong>der</strong> Intellektuellen und se<strong>in</strong>e nimmermüden<br />

"Maßhalte"-Appelle,<br />

- die geplanten Notstandsgesetze 21 , die man gern "<strong>NS</strong>-Gesetze" abkürzte 22 ;<br />

- ab 1966 e<strong>in</strong>e Große Koalition <strong>mit</strong> m<strong>in</strong>iaturisierter parlamentarischer Opposition;<br />

- das Wie<strong>der</strong>erstarken des Rechtsradikalismus;<br />

- <strong>der</strong> Krieg <strong>in</strong> Vietnam, bei dem sich die westliche Führungsmacht <strong>in</strong> <strong>der</strong> nämlichen Weise<br />

als Völkermör<strong>der</strong> verhalten würde wie e<strong>in</strong>stmals <strong>NS</strong>-Wehrmacht und SS 23 ;<br />

- die Zusammenarbeit <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>mit</strong> Diktatoren wie Tschombé 24 und den griechischen<br />

Obristen 25 .<br />

Wer nach "faschistischen" Strukturen, Netzwerken und Akteuren - "Strukturnazis" 26 - <strong>in</strong><br />

führenden Stellungen suchte, wurde schnell fündig. <strong>Der</strong> studentische Engagé <strong>der</strong> 1960er<br />

Jahre hatte das Personal des Nationalsozialismus auf Schritt und Tritt vor Augen; das aber,<br />

verbunden <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Selbstgerechtigkeit des bundesdeutschen Establishments, ließ e<strong>in</strong>en<br />

Hang zur Entlarvung und Personalisierung entstehen. Auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Verklagten war die<br />

rhetorische Rout<strong>in</strong>e des H<strong>in</strong>weises auf "Ostzonenpropaganda" ungeeignet, die kritischen<br />

Studierenden zu beruhigen. <strong>Der</strong> 2. Juni 1967 erzeugte bei vielen studentenbewegten Akteuren<br />

ebenso das Gefühl, sich bereits im "Notstand" zu bef<strong>in</strong>den 27 , wie <strong>der</strong> 11. April 1968<br />

- e<strong>in</strong>e Woche nach dem Mord an Mart<strong>in</strong> Luther K<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Memphis -, als e<strong>in</strong> rechtsradikaler<br />

Jungarbeiter das be<strong>in</strong>ahe tödliche Attentat auf Rudi Dutschke verübte.<br />

21<br />

Siehe allgeme<strong>in</strong>: Michael Schnei<strong>der</strong>, Demokratie <strong>in</strong> Gefahr? <strong>Der</strong> Konflikt um die Notstandsgesetze: Sozialdemokratie,<br />

Gewerkschaften und <strong>in</strong>tellektueller Protest (1958-1968), Bonn 1986.<br />

22<br />

Siehe: Arnulf Bar<strong>in</strong>g (<strong>in</strong> Zusammenarbeit <strong>mit</strong> Manfred Görtemaker), Machtwechsel. Die Ära Brandt-<br />

Scheel, Stgt., 1982, S.97.<br />

23<br />

Diese anti-amerikanische Aversion er<strong>in</strong>nert streckenweise an die rechte und konservative Zivilisationskritik<br />

<strong>der</strong> Weimarer Zeit sowie an die Dreck-am-Stecken-Vorwürfe deutscher Rechter nach 1945, um<br />

den USA die moralische Kompetenz für Re-education und Verurteilung deutscher Kriegsverbrecher abzusprechen.<br />

24<br />

Siehe das Flugblatt vom Dezember 1964: "Was hat <strong>der</strong> Mör<strong>der</strong> Tschombé bei uns zu suchen?", abgedr. <strong>in</strong>:<br />

Jürgen Miermeister, Jochen Staadt (Hg.), Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte <strong>in</strong> ihren Flugblättern<br />

1965 - 1971, Darmstadt 1980, S.74 f. Dar<strong>in</strong> heißt es u.a.: "<strong>Der</strong> exclusive Rhe<strong>in</strong>-Ruhr-Club, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>erzeit<br />

Hitler f<strong>in</strong>anzierte (...), entblödete sich nicht, den Mör<strong>der</strong> Lumumbas zu e<strong>in</strong>em Vortrag e<strong>in</strong>zuladen (...)"<br />

25<br />

Über die Trauergäste bei <strong>der</strong> Beerdigung Konrad Adenauers schrieb <strong>der</strong> Bonner SDS: "Welche Grüße<br />

überbr<strong>in</strong>gt <strong>der</strong> Vertreter des neuen griechischen Terrorregimes? Die <strong>der</strong> 10.000 KZ-Häftl<strong>in</strong>ge?" (Siehe:<br />

"Nachruf", abgedr. <strong>in</strong>: Ebd., S.45 f.)<br />

26<br />

Gerhard Fels, <strong>Der</strong> Aufruhr <strong>der</strong> 68er. Zu den geistigen Grundlagen <strong>der</strong> Studentenbewegung und <strong>der</strong> RAF,<br />

Bonn 1998, S.19.<br />

27<br />

Pavel A. Richter, Die Außerparlamentarische Opposition <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> Deutschland 1966 bis<br />

1968, <strong>in</strong>: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968, a.a.O., S.35-55, S.48.


5<br />

Trotzdem <strong>der</strong> <strong>mit</strong> viel Nostalgie gefeierte "Mythos <strong>der</strong> 68er Generation (...) e<strong>in</strong>er ihrer<br />

großen Erfolge ist" 28 , sollten wir die Ernsthaftigkeit des antifaschistischen Anliegens <strong>in</strong><br />

den Jahren um 1968 unterstellen, aber davon "Faschismus"-Vorwürfe späterer Zeit unterscheiden,<br />

die zur rhetorischen Leier verkamen und den nationalsozialistischen Unrechtsund<br />

Vernichtungsstaat objektiv bagatellisierten. Dafür drei Beispiele:<br />

- Die Bezeichnung von Fahrsche<strong>in</strong>kontrollen im öffentlichen Nahverkehr als "tendenziell<br />

faschistisch" 29 ;<br />

- Alfred An<strong>der</strong>schs 1975 publiziertes Gedicht "Artikel 3 (3)", wor<strong>in</strong> die "Berufsverbote"<br />

<strong>mit</strong> Auschwitz gleichgesetzt wurden ("das neue kz ist schon errichtet / die radikalen s<strong>in</strong>d<br />

ausgeschlossen / vom öffentlichen dienst / also e<strong>in</strong>geschlossen / <strong>in</strong>s lager / (...) / e<strong>in</strong> geruch<br />

breitet sich aus / <strong>der</strong> geruch e<strong>in</strong>er masch<strong>in</strong>e / die gas erzeugt" 30 );<br />

- 1977 die Stiftung e<strong>in</strong>es Zusammenhangs von Wi<strong>der</strong>stand gegen das <strong>NS</strong>-Regime und Wi<strong>der</strong>stand<br />

gegen die Kernenergie-Nutzung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>, <strong>in</strong>dem Robert Jungk se<strong>in</strong><br />

Anti-Kernenergie-Buch "<strong>Der</strong> Atomstaat" ke<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en als Eugen Kogon widmete, dem<br />

Verfasser des Standardwerkes "<strong>Der</strong> SS-Staat" 31 .<br />

In e<strong>in</strong>em 1968 populären Song wurden die Maßhalte-Appelle Ludwig Erhards als sche<strong>in</strong>heilige<br />

Phraseologie <strong>der</strong> Aufbau-Generation dargestellt und an die <strong>NS</strong>-Zeit zurückgebunden:<br />

"Ja, <strong>der</strong> alte Notar Bolamus,<br />

<strong>der</strong> hat sich gut durch die Zeit gebracht,<br />

weil: er war immer e<strong>in</strong> bißchen dafür<br />

und e<strong>in</strong> bißchen dagegen, und er gab immer acht.<br />

'Nur Auschwitz', sagt er, 'das war e<strong>in</strong> bißchen zu viel.'<br />

Und er zitiert se<strong>in</strong>en Wahlspruch:<br />

'Alles <strong>mit</strong> Maß und <strong>mit</strong> Ziel'." 32<br />

Am 3. Juni 1967, e<strong>in</strong>en Tag nach dem gewaltsamen Tod von Benno Ohnesorg, sprach <strong>der</strong><br />

evangelische Theologe Helmut Gollwitzer, e<strong>in</strong> Liebl<strong>in</strong>gsord<strong>in</strong>arius <strong>der</strong> "1968er", den viertausend<br />

versammelten Berl<strong>in</strong>er FU-Studierenden aus dem Herzen, als er ausführte, die studentische<br />

Jugend werde das Aufkommen des Faschismus heute nicht mehr so gleichgültig<br />

h<strong>in</strong>nehmen wie 35 Jahre zuvor. 33<br />

28<br />

Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800 - 1970, Ffm. 1984, S.236. Das 1968er-Kapitel <strong>in</strong> Cora Stephans<br />

"Betroffenheitskult" trägt den Titel "Arbeit am Mythos". (Cora Stephan, <strong>Der</strong> Betroffenheitskult, a.a.O,<br />

S.77-119.)<br />

29<br />

Ebd., S.104.<br />

30<br />

Alfred An<strong>der</strong>sch, Artikel 3 (3), <strong>in</strong>: <strong>Der</strong>s., empört euch <strong>der</strong> himmel ist blau. Gedichte und Nachdichtungen<br />

1946 - 1977, Zürich 1977, S.109-114, S.114.<br />

31<br />

Robert Jungk, <strong>Der</strong> Atom-Staat, Mnchn. 1977, S.V.<br />

32<br />

Franz Josef Degenhardt (geb. 1931), "Notar Bolamus" (1967). Transkription von <strong>der</strong> Schallplattenaufnahme.<br />

33<br />

FU-Spiegel 58, Juni 1967, Son<strong>der</strong>nummer, zit.n.: Christel Hopf, Faschismusthema, a.a.O., S.73. An <strong>der</strong>


6<br />

Die Entstehung des da<strong>mit</strong> propagierten neuen <strong>Umgang</strong>s <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

<strong>Vergangenheit</strong> - sowohl <strong>mit</strong> <strong>der</strong> seit Bestehen als strukturell <strong>NS</strong>-verstrickt angeklagten<br />

bundesdeutschen Gesellschaftsformation wie auch <strong>mit</strong> dem schamlos-unbelehrbaren Treiben<br />

e<strong>in</strong>stiger Nationalsozialisten <strong>in</strong> dieser Gesellschaft - wird <strong>in</strong> diesem Beitrag rekonstruiert<br />

und gewürdigt. Nicht von oben herab zu taxieren, son<strong>der</strong>n am Material panoramatisch<br />

zu entfalten ist, ob wir es <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em "libertären bis psychopathischen Antifaschismus" zu<br />

tun haben o<strong>der</strong> - wofür hier plädiert wird - für dessen historische Herleitung besser auf<br />

den psychiatrisierenden Jargon verzichten. Wir werden sehen, daß die Sensibilität und<br />

Heuristik bezüglich <strong>der</strong> nationalsozialistischen <strong>Vergangenheit</strong> und ihres Weiterwirkens<br />

nicht erst "1968" entstand, son<strong>der</strong>n Ende <strong>der</strong> 1950er Jahre vollständig entwickelt war. Alle<strong>in</strong><br />

- sie hatte damals nicht die Diskursherrschaft erlangen können. Die Diskursblockade<br />

beendet zu haben, kann als Verdienst <strong>der</strong> "1968er" und ihrer medienwirksamen, spektakelhaften<br />

Kreativität angesehen werden. Wir werden uns auf die Universitätssituation und auf<br />

die von Intellektuellen gelesenen Zeitschriften konzentrieren, wenn von <strong>der</strong> "1968er"-<br />

Bewegung und ihrem Vorlauf die Rede ist. Diese Bewegung war <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

zuvör<strong>der</strong>st e<strong>in</strong> Universitätsphänomen. 34 Die Kritik an <strong>der</strong> nationalsozialistischen Erblast<br />

<strong>der</strong> deutschen Universität, bei <strong>der</strong> sich schnell herausstellte, daß 'Bewältigung' des Nationalsozialismus<br />

genauso viel <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Vergangenheit</strong> wie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Gegenwart zu tun hatte,<br />

wurde bis zum Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> großen "R<strong>in</strong>gvorlesungen" 35 1964 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht von <strong>in</strong>nen<br />

heraus und aus den Universitäten formuliert, son<strong>der</strong>n von außen angestoßen, teils tatsächlich<br />

aus dem Ausland, teils von zwei Blättern <strong>mit</strong> Pionierverdiensten, auf <strong>der</strong>en Berichte<br />

im folgenden immer wie<strong>der</strong> zurückzugreifen ist: "Spiegel" und "Zeit".<br />

Bei den "1968er"-Fächern ragen Soziologie 36 und Germanistik hervor, nicht aber die Geschichtswissenschaft.<br />

Sie, auf die aus aktuellem Anlaß <strong>in</strong> diesem Beitrag verschiedentlich<br />

e<strong>in</strong>gegangen wird, hat sich im Gegensatz zu den beiden an<strong>der</strong>en genannten Diszipl<strong>in</strong>en <strong>in</strong><br />

den 1960er Jahren nicht zum Massen-, Mode- und Gesellschaftsverän<strong>der</strong>ungsfach entwickelt.<br />

Es wird hier die Auffassung vertreten, daß die Germanistik 37 und ihr publizistisches<br />

bemerkenswerten Verkennung <strong>der</strong> Rolle von Studenten und ihren Organisationen im Prozeß <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

"Machtergreifung", die Gollwitzers Formulierung "gleichgültig h<strong>in</strong>nehmen" dokumentiert,<br />

sei hier vorbeigegangen.<br />

34<br />

<strong>Der</strong> Zustrom von Arbeitern und Jungarbeitern zur APO <strong>in</strong> <strong>der</strong> Phase nach dem 2. Juni 1967 (Erschießung<br />

von Benno Ohnesorg) war eher Wunsch als Wirklichkeit: "And yet, when it (SDS/ B.-A.R. ) mounted its challenge<br />

to the gouvernment it found, <strong>in</strong> contradist<strong>in</strong>ction to France, that the work<strong>in</strong>g class was not there to support<br />

it." (Ronald Fraser, 1968. A Student Generation <strong>in</strong> Revolt, London 1988, S.234.)<br />

35<br />

Zu den "R<strong>in</strong>gvorlesungen" siehe den Beitrag XXXXXXXXX <strong>in</strong> diesem Band.<br />

36<br />

<strong>Der</strong> Soziologie, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> "Frankfurter Schule", ist <strong>in</strong> diesem Band e<strong>in</strong> eigener Beitrag gewidmet,<br />

siehe: XXXXXXXXX.<br />

37<br />

Siehe als Überblicksdarstellungen und E<strong>in</strong>führungen: Wilfried Barner, Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel.<br />

Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Ffm. 1996; Petra Boden, Ra<strong>in</strong>er Rosenberg<br />

(Hg.), Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen,<br />

Bln. 1997; Karl Otto Conrady, Völkisch-nationale Germanistik <strong>in</strong> Köln. E<strong>in</strong>e unfestliche Er<strong>in</strong>nerung, Schernfeld<br />

1990; <strong>der</strong>s., Literatur und Germanistik als Herausfor<strong>der</strong>ung. Skizzen und Stellungnahmen, Ffm. 1974;<br />

Jost Hermand, Geschichte <strong>der</strong> Germanistik, Re<strong>in</strong>bek 1994, sowie das auf die Debatten <strong>der</strong> 1960er Jahre


7<br />

Umfeld e<strong>in</strong>e herausragende Rolle bei <strong>der</strong> Entstehung des neuen Redens über den Faschismus<br />

gespielt hat - altmodisch geredet: das literarische und künstlerische Leben im weiten<br />

S<strong>in</strong>ne und e<strong>in</strong>schließlich des Films. Auf die "deutsche Wissenschaft" 38 , auf die Literatur<br />

und die Literaten ist daher e<strong>in</strong> genauerer Blick zu werfen.<br />

Was die Präpon<strong>der</strong>anz <strong>der</strong> Literaten, <strong>der</strong> Literatur und <strong>der</strong> Literaturwissenschaft für die<br />

Aufarbeitung <strong>der</strong> braunen Hochschulvergangenheit und <strong>der</strong> fadensche<strong>in</strong>ig übertünchten<br />

Hochschulgegenwart betrifft und da<strong>mit</strong> das Fundament des "1968er"-<strong>Umgang</strong>s <strong>mit</strong> <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />

Erblast, so ist darauf h<strong>in</strong>zuweisen, daß die bundesdeutschen Pioniere<br />

dieser Aufarbeitung vorwiegend selbst ausgebildete Philologen und Germanisten gewesen<br />

s<strong>in</strong>d und zur literarischen Szenerie gehörten. Dazu zählten etwa Walter Boehlich, Jonas<br />

Fränkel 39 , Walter Jens, Rudolf Walter Leonhardt, Ernst Loewy 40 , Hans Werner Richter,<br />

Franz Schonauer 41 . Die Protagonisten des kritischen Faschismus-Diskurses seit Ende <strong>der</strong><br />

1950er Jahre waren <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Germanistik sowie <strong>mit</strong> den Philologien und den Kunstwissenschaften<br />

mehr verbunden als <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Wissenschaften. Das bestimmte auch die Blickrichtung<br />

dieser Protagonisten. Umgekehrt, von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> Barrikade aus betrachtet,<br />

waren es Schriftsteller wie Böll, Enzensberger, Grass, Hochhuth, Weiss, die das<br />

Verhältnis zwischen Literatur / Kunst und Gesellschaft neu def<strong>in</strong>ieren wollten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

für die kommenden Jahrzehnte das Bild des kritischen Intellektuellen prägten<br />

und von <strong>der</strong> Gegenseite zu Zielscheiben ausersehen wurden: Schriftsteller als "P<strong>in</strong>scher",<br />

Peter Weiss' Auschwitz-Stück als Kitzel und Sensationsmache ...<br />

Weiter ist - auch vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> Debatten um die Geschichtswissenschaft seit<br />

dem Frankfurter Historikertag 1998 - zu bedenken, daß es <strong>in</strong> den 1950er Jahren gerade auf<br />

dem Feld <strong>der</strong> Literaturgeschichte weit verbreitete Publikationen gab, wor<strong>in</strong> völkisch argumentiert<br />

und gewertet wurde wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit. Es gab dagegen <strong>in</strong> den 1950er Jahren ke<strong>in</strong>e<br />

verbreiteten und allgeme<strong>in</strong> anerkannten historischen Standardwerke, die etwa Fritz<br />

Mart<strong>in</strong>is Literaturgeschichte an die Seite zu stellen gewesen wären. 42 Über Mart<strong>in</strong>is Buch<br />

etwa, 1963 bei Kröner <strong>in</strong> <strong>der</strong> 12. Auflage erschienen, bemerkte Ernst Loewy, man könne<br />

sich "nur wun<strong>der</strong>n", daß <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er zeitgenössischen Literaturgeschichte Begriffe wie "erselbst<br />

e<strong>in</strong>wirkende Pionierwerk von Joseph Wulf, Kunst und Kultur im Dritten Reich, Bd. 2, Literatur und<br />

Dichtung im Dritten Reich, Ffm. 1963.<br />

38<br />

Eberhard Lämmert, Walther Killy, Karl Otto Conrady, Peter von Polenz, Germanistik - e<strong>in</strong>e deutsche<br />

Wissenschaft, Ffm. 4 1970.<br />

39<br />

Siehe: Dichtung und Wissenschaft, Heidelberg 1954. Dar<strong>in</strong> vor allem: Verratene Wissenschaft. E<strong>in</strong> nichtgedruckter<br />

Nekrolog (1941), S.256-264.<br />

40<br />

Siehe: Literatur unterm Hakenkreuz. Das Dritte Reich und se<strong>in</strong>e Dichtung, Ffm. 1966<br />

41<br />

Siehe: Deutsche Literatur im 3. Reich, Olten u. Freiburg 1961.<br />

42<br />

Zwar könnte für das Fach Geschichte die "Weltgeschichte <strong>der</strong> Neuzeit 1750 - 1950" des Me<strong>in</strong>ecke-<br />

Schülers und dezidiert nationalsozialistischen Historikers Otto Westphal (Stgt. 1953) als Ausnahme genannt<br />

werden, aber diese "Selbstkritik des Nationalsozialismus" (ebd., S.5) durch e<strong>in</strong>en Historiker, <strong>der</strong> "ohne<br />

Rückhalt" bekannte, "das Dritte Reich geistig <strong>mit</strong>vertreten zu haben" (ebd., S.9), fand nicht von Ferne e<strong>in</strong>e<br />

Mart<strong>in</strong>is Literaturgeschichte vergleichbare Verbreitung und gleichsam kanonische Anerkennung.


8<br />

strebter völkischer Symbolgehalt" o<strong>der</strong> "schmerzlich vermißter politisch-völkischer Roman"<br />

noch im Tonfall ernsten Referierens Verwendung fänden. 43 Für die Geschichtswissenschaft<br />

und ihr Bild bis <strong>in</strong> die 1960er Jahre ist im übrigen zu erwägen, daß die "Historismus"-Schelte<br />

im "Dritten Reich", <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Walter Franks Feldzug gegen Hermann<br />

Oncken und die ganze "Historiker-Bourgeoisie <strong>in</strong> Rankes Hermel<strong>in</strong>" 44 , nach 1945 als<br />

Rechtfertigung ersche<strong>in</strong>en mochte, und zwar beson<strong>der</strong>s, weil eher auf die universitäre, weniger<br />

auf die außeruniversitäre Geschichtswissenschaft <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit geblickt wurde 45 . Ihr<br />

Konservatismus hatte sich <strong>in</strong> den Augen <strong>der</strong> Zunftgrößen bewährt. 46<br />

Drei weitere Gründe für die Vorrangstellung von Literaturbetrieb und Literaturwissenschaft<br />

seien angeführt:<br />

- Das Fach Germanistik stand <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>schlägigen Debatten über die nicht vollzogene <strong>in</strong>haltliche<br />

und personelle Entnazifizierung im Mittelpunkt öffentlichen Interesses; die Debatten<br />

über die Rolle <strong>der</strong> Germanistik als Mitarchitekt<strong>in</strong> und Nutznießer<strong>in</strong> des völkischen<br />

und nationalsozialistischen Denkens erreichten auf dem 1966er Germanistentag ihren Zenit;<br />

sie hatten bereits 1945 begonnen, als <strong>mit</strong> Josef Nadler <strong>in</strong>s Gericht gegangen wurde,<br />

dem Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> stammesorientierten Literaturgeschichtsschreibung 47 . Wer vom Faschismus<br />

sprach, so könnte variiert werden, durfte von <strong>der</strong> Germanistik als Ideologie-<br />

43<br />

Ernst Loewy, Literatur unterm Hakenkreuz, a.a.O., S.311.<br />

44<br />

Siehe: Helmut Heiber, Liberale und nationale Geschichtsschreibung, <strong>in</strong>: Universitätstage 1966. Nationalsozialismus<br />

und die deutsche Universität, Bln. 1966 (Veröffentlichung <strong>der</strong> Freien Universität Berl<strong>in</strong>),<br />

S.109-125, S.110; zu Walter Frank allgeme<strong>in</strong> natürlich: <strong>Der</strong>s., Walter Frank und das Reichs<strong>in</strong>stitut für Geschichte<br />

des neuen Deutschland, Mnchn. 1966 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 13). Zur Geschichtswissenschaft<br />

<strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit und ihrer Verarbeitung nach 1945 siehe: W<strong>in</strong>fried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft<br />

nach 1945, Mnchn. 1993 (zuerst: HZ, Beiheft 10/1989; Schulze betrachtet die Entwicklung<br />

allerd<strong>in</strong>gs nur bis 1958 ); Hans-Erich Volkmann, Deutsche Historiker im Banne des Nationalsozialismus,<br />

<strong>in</strong>: Wilfried Loth, Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek (Hg.), Verwandlungspolitik. Nationalsozialistische Eliten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Ffm., New York 1998, S.285-311.<br />

45<br />

Dieser Gesichtspunkt gilt auch für die Universität als Institution allgeme<strong>in</strong>: Sie g<strong>in</strong>g konservativ, zu Teilen<br />

reaktionär <strong>in</strong> das "Dritte Reich", wurde vielfach von nationalsozialistischen Heißspornen angegriffen und<br />

konnte sich daher nach 1945 als verfolgt und da<strong>mit</strong> <strong>in</strong> den Strukturen gerechtfertigt sehen. Musterbeispiel e<strong>in</strong>es<br />

nationalsozialistischen Angriffs auf die Universität als Institution von studentischer Seite wäre: Andreas<br />

Feickert, Studenten greifen an. Nationalsozialistische Hochschulrevolution, Hamburg 1934. In <strong>der</strong> traditionellen<br />

Universität sah Feickert 1934 e<strong>in</strong>en "Staat im Staate", den es zu "vernichten" gelte (S.8); schon wüchsen<br />

neben den traditionellen Hochschulen "e<strong>in</strong>e Unmenge" nationalsozialistischer "Führerschulen" heran<br />

(S.9); man sei sich klar, "daß e<strong>in</strong>e Reihe <strong>der</strong> Alten (<strong>der</strong> Professor/ B.-A.R. ) zu übernehmen s<strong>in</strong>d, daß wir aber<br />

endgültig erst gesiegt haben werden, wenn unsere Generation (...) die Lehrstühle dieser Hochschule besetzt<br />

haben wird" (S.11); die Hochschule sei e<strong>in</strong> "Rattennest <strong>in</strong>nerer Querverb<strong>in</strong>dungen (S.18). (Feickert war <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> SPD-Mitglied, pädagogischer Mitarbeiter <strong>der</strong> Heimvolkshochschule Jagdschloß Göhrde<br />

und Veranstalter vielbeachteter "Europa"-Sem<strong>in</strong>are; siehe: Lutz Hachmeister, <strong>Der</strong> Gegnerforscher, a.a.O.,<br />

S.50).<br />

46<br />

Siehe: Hans Ulrich Wehler, Geschichtswissenschaft heute, <strong>in</strong>: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur<br />

'Geistigen Situation unserer Zeit', 2. Bd.: Politik und Kultur, Ffm. 1979, S.709-753, S.709.<br />

47<br />

Siehe: Otto Nickel, Literaturgeschichte h<strong>in</strong>tenherum o<strong>der</strong> Dichter, Menschen und Nadler, <strong>in</strong>: Die Wandlung,<br />

1. Jg. 1945/46, S.383-397, sowie: Auditur et altera pars. Leserbriefe und Bemerkungen des Herausgebers<br />

zur Polemik gegen Nadlers Literaturgeschichte, <strong>in</strong>: Ebd., 1. Jg. 1945/46, S.866-884. Zu Nadler siehe aktuell:<br />

Wendel<strong>in</strong> Schmidt-Dengler, Nadler und die Folgen. Germanistik <strong>in</strong> Wien 1945 bis 1957, <strong>in</strong>: Wilfried<br />

Barner, Christoph König (Hg.), Zeitenwechsel, a.a.O., S.35-46.


9<br />

Lieferant nicht schweigen.<br />

- Erschien die Germanistik bis 1945 als Symbiose von Dichtkunst und Kriegshandwerk, so<br />

war e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Ausgangspunkte <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternen und externen Kritik an <strong>der</strong> aktuellen Germanistik<br />

<strong>der</strong> Hiatus zwischen Literaturwissenschaft und aktuellem Literaturbetrieb: Die Gegenwartsliteratur<br />

präludierte <strong>mit</strong> dem "deutschen Literaturwun<strong>der</strong>" von 1959 die kommenden<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen um den Nationalsozialismus und die "Strukturnazis", und sie prägte<br />

auch die Form dieser Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung, aber die zuständige Wissenschaft schlug um die<br />

aktuelle Literatur e<strong>in</strong>en Bogen.<br />

- In <strong>der</strong> ersten Hälfte <strong>der</strong> 1960er Jahre gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong> bundesdeutschen Germanistik zwei<br />

weit über das Fach h<strong>in</strong>aus wirkende Skandale um nationalsozialistische Verstrickungen<br />

etablierter Professoren, die Fälle He<strong>in</strong>z Otto Burger und Hugo Moser 1963 und 1964 48 ;<br />

zugleich hatte sich <strong>mit</strong> Persönlichkeiten wie etwa Karl Otto Conrady und Peter Szondi e<strong>in</strong>e<br />

jüngere, frisch etablierte Wissenschaftlergeneration viel früher fachkritisch zu Wort gemeldet,<br />

als das etwa <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft <strong>der</strong> Fall gewesen ist.<br />

Für die vorliegende Untersuchung verlangt die Grundlegung des neuen öffentlichen Redens<br />

über die nationalsozialistische <strong>Vergangenheit</strong> durch die kritische literarische Elite e<strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>es Vorgehen als das alle<strong>in</strong>ige unreflektierte Beobachten von 'Politik'.<br />

Zunächst wird e<strong>in</strong> Bild <strong>der</strong> Situation um "1968" und <strong>der</strong> Faschismusdebatten dieser Zeit<br />

gegeben, um dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zweiten Teil auf die 1950er und frühen 1960er Jahre zurückzuschauen.<br />

Im "Facit" werden die Ergebnisse zusammengefaßt, und es wird auf Mängel des<br />

neuen <strong>Umgang</strong>s <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> h<strong>in</strong>gewiesen. Schließlich ist zu überlegen, warum<br />

die "1968er"-Bewegung an den Universitäten erfolgreich war, und wir werden auf ei-<br />

48<br />

Zu diesen beiden paradigmatischen Skandalen siehe unten. Wehler spricht von sechs Kontroversen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Geschichtswissenschaft <strong>der</strong> 1960er Jahre, <strong>der</strong>en kumulative Auswirkungen das Fach mo<strong>der</strong>nisiert hätten (Geschichtswissenschaft<br />

heute, a.a.O., S.710 f.). Aber dieser <strong>in</strong>novative Streit verlief eher wissenschafts<strong>in</strong>tern.<br />

Vergleichbare Skandale wie bei den Germanisten hat es bei den Historikern <strong>mit</strong> Ausnahme von Götz Freiherr<br />

von Pölnitz' wegen dessen <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> erzwungenem Rücktritt als Gründungsrektor von Bamberg im<br />

Jahre 1965 nicht gegeben. In <strong>der</strong> vor dem großen gebildeten Publikum ausgetragenen Fischer-Kontroverse ab<br />

1961 dagegen (sieh etwa: Spiegel, 29.11.1961, Wilhelm <strong>der</strong> Eroberer), dem "1968" <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft<br />

vor "1968" (siehe: Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek, Die Kritiker-Falle: Wie man <strong>in</strong> Verdacht geraten kann. Goldhagen<br />

und <strong>der</strong> Funktionalismus, <strong>in</strong>: Johannes Heil, Ra<strong>in</strong>er Erb , Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit.<br />

<strong>Der</strong> Streit um Daniel J. Goldhagen, Ffm. 1998, S.110-130, S.119 ff.) trat dem vom konservativen<br />

Ma<strong>in</strong>stream abweichenden jüngeren Historiker Fritz Fischer, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>st Stipendiat von Walter Franks "Reichs<strong>in</strong>stitut"<br />

gewesen war, <strong>mit</strong> Gerhard Ritter e<strong>in</strong> Wissenschaftler und konservativer Patriot entgegen, <strong>der</strong> zum<br />

Wi<strong>der</strong>stand gegen den Nationalsozialismus gehört hatte und sich um den umgekehrten Überpatriotismus <strong>der</strong><br />

kommenden Historikergeneration sorgte (so die Schlußworte von Ritters Fischer-Rezension: E<strong>in</strong>e neue<br />

Kriegsschuldthese? Zu Fritz Fischers "Griff nach <strong>der</strong> Weltmacht", <strong>in</strong>: HZ 194, S.646-668, S.668); es<br />

g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> dieser Kontroverse um e<strong>in</strong>e These, nicht um die nationalsozialistische Verstrickung von Historikern:<br />

E<strong>in</strong>e völlig an<strong>der</strong>e Konstellation als <strong>in</strong> den Germanistik-Skandalen <strong>der</strong> 1960er Jahre! Es gab zwar e<strong>in</strong>en Protestbrief<br />

gegen die Entscheidung des Auswärtigen Amtes, e<strong>in</strong>e Vortragsreise Fischers durch die USA zu<br />

stornieren, aber sie war von zwölf amerikanischen bzw. <strong>in</strong> den USA lehrenden Geschichtsprofessoren unterzeichnet<br />

(siehe: E<strong>in</strong> Protestbrief, Die Zeit, 24.4.1964), es gab ke<strong>in</strong>e Erklärung deutscher Geschichtsprofessoren,<br />

die <strong>mit</strong> <strong>der</strong> "Erklärung <strong>der</strong> Sieben" im Streit um den Bonner Germanisten Moser vergleichbar gewesen<br />

wäre (siehe: Erklärung <strong>der</strong> sieben deutschen Germanisten, Die Zeit, 4.12.1964). Die öffentlichen Großkontroversen<br />

<strong>der</strong> Geschichtswissenschaft kamen später: Ernst Nolte, dessen Werk "<strong>Der</strong> Faschismus <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Epoche" auch se<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Gegner anerkennen (Wehler, Geschichtswissenschaft heute, a.a.O.,<br />

S.730), wurde erst <strong>in</strong> den 1970er Jahren zur bête noire <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Intellektuellen, und <strong>der</strong> "Historikerstreit" ab<br />

1986 liegt ganz außerhalb <strong>der</strong> hier zu betrachtenden Zeit. Die Irv<strong>in</strong>g-Debatte wurde 1977 geführt und betraf<br />

e<strong>in</strong>en 'Revisionisten' aus England; 1978 kam es zu dem Skandal um Hellmut Diwalds "Geschichte <strong>der</strong> Deutschen",<br />

wor<strong>in</strong> wenig verhohlen Positionen <strong>der</strong> Auschwitz-Leugner e<strong>in</strong>genommen wurden.


10<br />

ne objektive Allianz über die aufgetürmten Barrikaden h<strong>in</strong>weg stoßen.<br />

II. "(...) offenes Bekenntnis des Rektorats zum Faschismus (...)"<br />

Das folgende längere Zitat stammt aus e<strong>in</strong>em Flugblatt des SDS von 1966, das zwei Jahre<br />

später <strong>in</strong> dem aufsehenerregenden Buch "150 Jahre Klassenuniversität", <strong>der</strong> Gegen-<br />

Festschrift zum Bonner Universitätsjubiläum, abgedruckt worden ist:<br />

"Die For<strong>der</strong>ung nach öffentlicher Diskussion <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Ehrensenatorschaft e<strong>in</strong>es KZ-<br />

Baumeisters hatte zur Folge, daß <strong>der</strong> Rektor e<strong>in</strong>e Notstandsübung <strong>der</strong> Polizei befahl, die<br />

die Treibjagd auf Studenten und das Herausgreifen von Rädelsführern probte.<br />

(...)<br />

Höchster E<strong>in</strong>satzleiter dieses Polizeiterrors war Prorektor Gassner (Corpsbru<strong>der</strong> von KZ-<br />

Lübke), da Rektor Schneemelcher vor Studenten, die Diskussion for<strong>der</strong>n, durch Gassner<br />

sich vertreten zu lassen pflegt. Man konnte diesen höchsten E<strong>in</strong>satzleiter gegen 20.30 h am<br />

Gelän<strong>der</strong> <strong>der</strong> Festtreppe stehen sehen, wie er genüsslich lächelnd den Pogrom <strong>der</strong> Polizei<br />

gegen die Studenten beobachtete (...)<br />

Das Rektorat hat sich <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>em Vorgehen offen <strong>mit</strong> KZ-Baumeistern als Ehrensenatoren<br />

solidarisiert. Daß es diese Solidarität gegen Anträge auf Diskussion <strong>mit</strong> dem E<strong>in</strong>satz von<br />

Schlägertrupps verteidigen läßt, bedeutet e<strong>in</strong> offenes Bekenntnis des Rektorats zum Faschismus."<br />

49<br />

Ausgangspunkt des Flugblattes war <strong>der</strong> Protest gegen die dem Bundespräsidenten und<br />

"KZ-Baumeister" He<strong>in</strong>rich Lübke angetragene Ehrensenatorschaft <strong>der</strong> Universität Bonn.<br />

<strong>Der</strong>artige Ehrungen standen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Studentenbewegung, als die Aufbaugeneration<br />

<strong>in</strong> das Ordens- und Ehrenzeichen-Alter kam, vielfach im Kreuzfeuer <strong>der</strong> Kritik. 50 Ehren-<br />

49<br />

Zit.n.: Studentengewerkschaft Bonn (Hg.), 150 Jahre Klassenuniversität. Reaktionäre Herrschaft und demokratischer<br />

Wi<strong>der</strong>stand am Beispiel <strong>der</strong> Universität Bonn, Bonn 1968, S.160.<br />

50<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> Ordens- und Preisverleihungen <strong>in</strong> den 1950er und 1960er Jahren ist e<strong>in</strong> wichtiges Desi<strong>der</strong>at.<br />

Sie könnte Aufschluß geben über die Weitherzigkeit <strong>der</strong> Re<strong>in</strong>tegrationsbereitschaft und das allmähliche<br />

Aufkommen kritischer Stimmen. Ernst Bertram (1884-1957) etwa, <strong>der</strong> bekannte völkisch-nationale Germanist,<br />

Lyriker und Befürworter des Nationalsozialismus, erhielt 1942 den Görrespreis, 1944 den Rhe<strong>in</strong>ischen<br />

Literaturpreis und 1954 den Literaturpreis se<strong>in</strong>er Heimatstadt Wuppertal (siehe: Karl Otto Conrady,<br />

Völkisch-nationale Germanistik <strong>in</strong> Köln, a.a.O., S.14). Die Auszeichnung des ehemals nationalsozialistischen<br />

Dichters Friedrich Griese <strong>mit</strong> dem Mecklenburgischen Kulturpreis <strong>der</strong> Heimatvertriebenen, verliehen <strong>in</strong> Anwesenheit<br />

schleswig-holste<strong>in</strong>ischer Landesm<strong>in</strong>ister, rief dagegen bereits Proteste hervor (siehe: Die Zeit,<br />

3.7.1964, "S<strong>in</strong>d wir wie<strong>der</strong> soweit?", sowie die Leserbriefe <strong>in</strong>: Ebd., 24.7.1964). Es hätte nicht viel gefehlt,<br />

und ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er als Adolf Bartels, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> <strong>in</strong>famsten antise<strong>mit</strong>ischen Hetzer auf dem Sektor <strong>der</strong> Literaturgeschichtsschreibung,<br />

wäre <strong>in</strong> Dithmarschen zu neuen Ehren gekommen (siehe: Karl Otto Conrady, Miterlebte<br />

Germanistik. E<strong>in</strong> Rückblick auf die Zeit vor und nach dem Münchner Germanistentag von 1966, <strong>in</strong>:<br />

Diskussion Deutsch, 1988, S.126-143, S.134). E<strong>in</strong>e wichtige Quelle für die Geschichte <strong>der</strong> Ordensverleihungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> s<strong>in</strong>d die "Ordensakten" <strong>mit</strong> H<strong>in</strong>tergrundrecherchen und <strong>in</strong>ternen Stellungnahmen<br />

im Vorfeld <strong>der</strong> Verleihung von Bundesverdienstkreuzen. E<strong>in</strong> Beispiel: 1954 sollte Abraham Esau,<br />

e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigsten Physiker des "Dritten Reiches", auf Initiative des Landes Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen <strong>mit</strong> dem<br />

Großen Verdienstkreuz <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> geehrt werden. Das zuständige Bundespräsidialamt erkundigte<br />

sich bei dem Nobelpreisträger Max von Laue. Dieser beschrieb Esau als e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>s gefährlichen Nationalsozialisten<br />

und warnte: "Die <strong>in</strong> Rede stehende Ordensverleihung sche<strong>in</strong>t mir geeignet, im Inland das Ansehen<br />

des Verdienstkreuzes herabzusetzen und im Ausland die dort grassierende Me<strong>in</strong>ung zu stützen, daß bei


11<br />

doktorate waren Kampffeld <strong>in</strong> den Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen um die <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> und<br />

die altüberkommenen universitären Strukturen. Das Anti-Lübke-Flugblatt ist so<strong>mit</strong> Teil e<strong>in</strong>er<br />

Spezies und behandelte e<strong>in</strong> Hauptthema <strong>der</strong> Flugblattproduktion ab Mitte <strong>der</strong> 1960er<br />

Jahre.<br />

Das verdeutlicht e<strong>in</strong> Blick auf die Technische Hochschule Aachen (RWTH) und den Fall<br />

Prof. Kurt Hansen. Wie zuvor von <strong>der</strong> Universität Bonn, so sollte <strong>der</strong> Bayer-<br />

Vorstandsvorsitzende Hansen zu se<strong>in</strong>em 65. Geburtstag 1969 auch von <strong>der</strong> RWTH <strong>mit</strong><br />

dem Ehrendoktorat ausgezeichnet werden. In e<strong>in</strong>em Flugblatt <strong>der</strong> Aachener Fachschaft<br />

Chemie wurde jedoch behauptet, Hansen hätte während des Krieges bei <strong>der</strong> Giftgasproduktion<br />

<strong>mit</strong>gewirkt, die Verb<strong>in</strong>dungsstelle zwischen Wehrmacht und Chemie-Wirtschaft geleitet<br />

und wäre als IG-Farbenfunktionär über verbrecherische Mediz<strong>in</strong>versuche an Konzentrationslager-Häftl<strong>in</strong>gen<br />

zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong>formiert gewesen; auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegenwart wäre<br />

Bayer Leverkusen an <strong>der</strong> Produktion chemischer Kampf<strong>mit</strong>tel beteiligt, und zwar für die<br />

Amerikaner im Vietnamkrieg. Die RWTH wolle, so die Vorhalte <strong>der</strong> Studierenden, <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Hansen-Ehrung e<strong>in</strong>en Militärforscher und Dritt<strong>mit</strong>tel-Spen<strong>der</strong> ebenso an sich b<strong>in</strong>den wie<br />

sie <strong>mit</strong> Professor Hertel bereits e<strong>in</strong>en "technologischen Schergen <strong>der</strong> Flugzeug<strong>in</strong>dustrie des<br />

dritten Reiches" geehrt habe; die Hochschule setze <strong>mit</strong>h<strong>in</strong> konsequent e<strong>in</strong>e kriegswissenschaftliche,<br />

im Faschismus gipfelnde Tradition fort, für die auch <strong>der</strong> prom<strong>in</strong>ente Aachener<br />

Atomphysiker Wilhelm Fucks stünde, RWTH-Rektor von 1950 bis 1952. 51 <strong>Der</strong> Senat <strong>der</strong><br />

RWTH Aachen zog den Antrag auf Ehrung Hansens zurück. 52 Erstmals wurde die vorgesehen<br />

Verleihung e<strong>in</strong>er Ehrendoktorwürde von Studenten gestoppt - so schien es zunächst,<br />

doch wurde <strong>der</strong> Antrag kurze Zeit später erneuert 53 und Hansen <strong>der</strong> Ehrendoktortitel<br />

am 17.7.1970 verliehen.<br />

Wurden bei den Aachener Vorgängen Giftgasproduktion während des Nationalsozialismus<br />

und aktuelle Militärforschung <strong>mit</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verknüpft, so bei dem Bonner Protest gegen die<br />

Lübke-Ehrung <strong>der</strong> "KZ-Baumeister" und die aktuelle Diskussion über die Notstandsgesetze.<br />

<strong>Der</strong> Nationalsozialismus ragte <strong>in</strong> dieser Optik über Strukturen <strong>der</strong> Wirtschaft und <strong>der</strong><br />

Politik sowie über das Personal <strong>der</strong> ab Sechzigjährigen un<strong>mit</strong>telbar <strong>in</strong> die <strong>Bundesrepublik</strong><br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>: <strong>der</strong> höchste Repräsentant <strong>der</strong> Republik e<strong>in</strong> "KZ-Baumeister", <strong>der</strong> Prorektor und<br />

da<strong>mit</strong> zweite Repräsentant <strong>der</strong> Universität dessen "Corpsbru<strong>der</strong>" und zugleich "E<strong>in</strong>satzleiuns<br />

ehemalige 'Parteigenossen' e<strong>in</strong>e Vorzugsbehandlung genössen." (NWHStAD , NWO, Ordensakte Esau)<br />

51<br />

RWTH Aachen, Rektoratsarchiv, Akte "Ehrungen", Flugblatt "Hansen - Dr.h.c.?", div. Flugblätter vom<br />

Herbst 1969 sowie: ASTA-Info, RWTH, 26.5.1970. Siehe auch: Aachener Zeitung, 20.12.1969, "Ke<strong>in</strong> Ehrendoktor<br />

für den ersten Mann <strong>der</strong> Bayer-Werke". Um durch Ehrenpromotionen belasteter Industrieller erhoffte<br />

Dritt<strong>mit</strong>tel-E<strong>in</strong>werbung zu vere<strong>in</strong>fachen, schlugen die Studierenden ironisch vor: "Die RWTH Aachen<br />

verleiht ab sofort den Dr.-Titel e.h. (h.c.) ohne Ansehen <strong>der</strong> Person, des Standes, <strong>der</strong> wissenschaftlichen Leistung<br />

etc., an den Meistbietenden, M<strong>in</strong>destsumme DM 5,--" (Ebd., Ergebnisprotokoll <strong>der</strong> Sitzung des Studentenparlaments,<br />

29.1.1970.)<br />

52<br />

"Ke<strong>in</strong> Ehrendoktor ...", a.a.O.; FAZ, 22.12.1969, "Ehrendoktor-Antrag unter Studentendruck zurückgezogen"<br />

53<br />

Handelsblatt, 24.12.1969, "Fakultät erneuert Antrag".


12<br />

ter" von "Schlägertrupps", die an die SA <strong>der</strong> Machtergreifungsphase gemahnten.<br />

Nicht nur <strong>der</strong> Blick auf die Täter, auch <strong>der</strong> Blick auf ihre studentischen Opfer sollte die<br />

buchstäbliche Fortdauer des Nationalsozialismus bezeugen: Die Opfer for<strong>der</strong>ten "Diskussion",<br />

also Plausibilisierung im Medium freier Rede als Kennzeichen entwickelter Demokratie;<br />

sie wurde entwe<strong>der</strong> vom Rektor grundsätzlich verweigert o<strong>der</strong> durch "Polizeiterror"<br />

erstickt, und dieser Terror, dem <strong>der</strong> Prorektor "genüsslich lächelnd" zusah, wie es e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong><br />

SS-Führer bei den Vorgängen am 9. November 1938 getan haben mochte, wurde als "Pogrom"<br />

bezeichnet. Die Verfasser des Flugblattes rückten da<strong>mit</strong> die protestierenden Kommilitonen<br />

<strong>in</strong> die Rolle <strong>der</strong> Juden während des <strong>NS</strong>-Regimes bis zum Kriege. So<strong>mit</strong> wurde die<br />

gesamte <strong>in</strong>nenpolitische Frontstellung des Nationalsozialismus herbeizitiert: S<strong>in</strong>istre Kumpanei<br />

auf <strong>der</strong> Täterseite <strong>der</strong> KZ-Baumeister und Corpsbrü<strong>der</strong>; Treibjagden auf Rädelsführer,<br />

Polizeiterror, Pogrome.<br />

Dieser direkte Bezug auf den Nationalsozialismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> kann als Reaktion<br />

auf e<strong>in</strong> Bestreben <strong>der</strong> Politik und weiter Kreise <strong>der</strong> Bevölkerung verstanden werden, das <strong>in</strong><br />

den 1980er Jahren als schlechte Historisierung des Nationalsozialismus kritisiert werden<br />

sollte. Hatte Ludwig Erhard <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler am<br />

18.10.1963 formuliert, nicht nur die <strong>Bundesrepublik</strong>, die ganze Welt sei im Begriff, aus <strong>der</strong><br />

Nachkriegszeit herauszutreten, so führte er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er zweiten Regierungserklärung am<br />

10.11.1965 aus:<br />

"Zwei Drittel unseres Volkes waren im Jahre 1933 K<strong>in</strong><strong>der</strong> o<strong>der</strong> noch nicht geboren. Für<br />

nahezu die Hälfte aller Menschen <strong>in</strong> unserem Lande s<strong>in</strong>d die Jahre 1933 bis 1945 geschichtliche<br />

<strong>Vergangenheit</strong> ohne persönliche Er<strong>in</strong>nerung."<br />

Auf <strong>der</strong>artige Historisierungsplädoyers reagierten die kritischen Studierenden - wie am<br />

Beispiel des Bonner Flugblattes gezeigt - <strong>mit</strong> <strong>der</strong> demonstrativen Enthistorisierung des<br />

Nationalsozialismus und se<strong>in</strong>er direkten E<strong>in</strong>beziehung <strong>in</strong> die Gegenwart.<br />

Netze 'alter Kameraden' aus <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit namhaft zu machen, gehörte zur Heuristik <strong>der</strong><br />

"1968er", und <strong>der</strong> Weg zur personalistischen Banalisierung e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Verschwörungstheorie<br />

war oft nicht weit. Selbstverständlich wurde auf <strong>der</strong> 'an<strong>der</strong>en Seite' ebenso<br />

versucht, unsaubere Netzwerke aufzuspüren. Nazistische standen gegen l<strong>in</strong>ksradikale<br />

Drahtzieher. So wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben des Bayer-Vorstands <strong>in</strong> Sachen <strong>der</strong> Aachener<br />

Ehrenpromotion des Vorstandsvorsitzenden Hansen darauf h<strong>in</strong>gewiesen, <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>aktionär<br />

X., <strong>der</strong> Hansen wegen <strong>der</strong> angeblichen Giftgasproduktion von Bayer 1969 öffentlich angegriffen<br />

hatte, sei "als führende Persönlichkeit <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ksradikalen Gruppen an <strong>der</strong> Universität<br />

Bonn bekannt"; "unser Kle<strong>in</strong>aktionär" X. - so weiter - habe an <strong>der</strong> Broschüre "150 Jahre<br />

Klassenuniversität" <strong>mit</strong>gearbeitet. 54<br />

54<br />

RWTH Aachen, Rektoratsarchiv, Akte "Ehrungen", Vorstand <strong>der</strong> Bayer Werke an Senat <strong>der</strong> RWTH<br />

Aachen, 23.12.1969.


13<br />

In dem Bonner Flugblatt gegen die Ehrung des Bundespräsidenten s<strong>in</strong>d <strong>mit</strong> "KZ-Lübke"<br />

und den Corps-Studenten zwei konkrete Fälle angesprochen, die das unver<strong>mit</strong>telte H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>reichen<br />

<strong>der</strong> nazistischen <strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> die bundesdeutsche Gegenwart beson<strong>der</strong>s akzentuierten<br />

und bei den Lesern entsprechende Assoziationsketten hervorriefen.<br />

Das farbentragende und gar das schlagende Studententum war für die kritischen Studierenden<br />

und Lehrenden seit den frühen 1950er Jahren e<strong>in</strong> Symbol vordemokratisch-autoritärer<br />

Mentalitätsbestände. 55 Bereits im Frühjahr 1953 hatten sich e<strong>in</strong>ige überregionale und lokale<br />

Studentenverbände gegen die "Renaissance studentischer Korporationen" zum "R<strong>in</strong>g<br />

Freier Studenten" zusammengeschlossen; dieser R<strong>in</strong>g veranstaltete im Juli 1953 e<strong>in</strong>e weith<strong>in</strong><br />

beachtete Gegendemonstration, als anläßlich <strong>der</strong> 1.000-Jahr-Feier <strong>der</strong> Stadt Gött<strong>in</strong>gen<br />

600 Corpsstudenten <strong>in</strong> vollem Wichs aufmarschierten. 56 1963 war es für die Berl<strong>in</strong>er Studierenden<br />

von bewußtse<strong>in</strong>sbilden<strong>der</strong> Kraft, daß es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Urabstimmung <strong>mit</strong> 70 Prozent<br />

Beteiligung gelang, die Wahl des "Saravia"-Burschenschafters Eberhard Diepgen zum<br />

ASTA-Vorsitzenden rückgängig zu machen. 57 Diese Assoziationskette war <strong>in</strong> dem Bonner<br />

Flugblatt an die Bemerkung geknüpft, Prorektor Gassner sei "Corpsbru<strong>der</strong> von KZ-<br />

Lübke".<br />

Noch s<strong>in</strong>nfälliger und plakativer als <strong>der</strong> H<strong>in</strong>weis auf den "Corpsbru<strong>der</strong>" mußte bereits die<br />

bloße Erwähnung von He<strong>in</strong>rich Lübke se<strong>in</strong>. Er war für die "1968er" Symbol <strong>der</strong> verknöcherten,<br />

unbelehrbaren Ewiggestrigen und Witzfigur zugleich. Die Satire-Zeitschrift "Pardon"<br />

hatte bereits e<strong>in</strong>en Me<strong>in</strong>ungsbutton "I like Lübke" vertrieben, als sie 1968 <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Schallplatte "He<strong>in</strong>rich Lübke, ... redet für Deutschland" auf e<strong>in</strong>e Pro-Lübke-Broschüre <strong>der</strong><br />

Bundeszentrale für politische Bildung reagierte. 58 Die LP enthielt unter an<strong>der</strong>em Kommentare<br />

von Rudolf Augste<strong>in</strong> 59 und brachte <strong>mit</strong> Auszügen aus Lübke-Reden voller grotesker<br />

rhetorischer Schnitzer müde Parties <strong>in</strong> Schwung. Als Symbolfigur vertrottelten Establishments<br />

60 gehörte He<strong>in</strong>rich Lübke zur politischen Folklore <strong>der</strong> kritischen Intelligenz;<br />

<strong>der</strong> "KZ-Baumeister"-Vorwurf 61 fügte dem Ridikülen das Barbarische h<strong>in</strong>zu.<br />

55<br />

Siehe etwa Gerd Tellenbachs Diskussionsbeitrag von 1952 "Über die Korporationen" <strong>in</strong>: <strong>Der</strong>s., <strong>Der</strong> sibyll<strong>in</strong>ische<br />

Preis. Schriften und Reden zur Hochschulpolitik 1946 - 1963, Freiburg 1963, S.118-119.<br />

56<br />

Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949-1959, 4 Bde., Hamb. 1996, S.741 f., S.862 f.<br />

57<br />

Siehe: Christel Hopf, Das Faschismusthema, a.a.O., S.74.<br />

58<br />

He<strong>in</strong>rich Lübke, ... redet für Deutschland. Pardon verteidigt den Bundespräsidenten, Schallplatte <strong>der</strong> Serie<br />

Antholog, Pressung für Zweitausende<strong>in</strong>s, Ffm. o.J. (1968). Die folgenden E<strong>in</strong>zelheiten von Platte und Cover.<br />

59<br />

Augste<strong>in</strong> wird <strong>mit</strong> den Worten zitiert: "Nicht, daß He<strong>in</strong>rich Lübke e<strong>in</strong>fachen Geistes ist, kann und soll ihm<br />

vorgeworfen werden; denn Charaktergaben können e<strong>in</strong>e Menge wettmachen. Aber die Fehle<strong>in</strong>schätzung se<strong>in</strong>er<br />

Geistesgaben, komb<strong>in</strong>iert <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er unerschütterlichen Selbstgerechtigkeit, entfaltet sich allgemach zu<br />

e<strong>in</strong>em politischen Skandal."<br />

60<br />

Auch Lübkes äußerst wohlwollen<strong>der</strong> Biograph Rudolf Morsey kann ihm nicht attestieren, e<strong>in</strong> brillanter<br />

Kopf gewesen zu se<strong>in</strong>; vielmehr hält er Lübke für e<strong>in</strong>en Umstandskrämer und schwachen Redner (siehe: Rudolf<br />

Morsey, He<strong>in</strong>rich Lübke. E<strong>in</strong>e politische Biographie, Pa<strong>der</strong>born, Mnchn., Wien, Zürich 1996, S.245-251<br />

, sowie ebd., S.587-593 ).<br />

61<br />

Dieser Vorwurf fehlt auf <strong>der</strong> "Pardon"-Platte - vermutlich aus juristischen Gründen.


14<br />

Lübke stand bereits seit 1959 im Visier von Albert Norden, SED-ZK-Sekretär für Agitation<br />

und Propaganda. 62 Im Januar 1966 kam die DDR groß aufgemacht <strong>mit</strong> angeblich sensationellem<br />

Material heraus: Lübke hätte als stellvertreten<strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Baugruppe<br />

Schlempp ab Mai 1944 das Konzentrationslager Neu-Staßfurt projektiert, entworfen, errichten<br />

lassen sowie 500 französische Häftl<strong>in</strong>ge aus Buchenwald für dieses Lager angefor<strong>der</strong>t,<br />

von denen 110 umgekommen seien. Als Beweis wurden von Lübke unterschriebene<br />

Bauzeichnungen vorgelegt, wovon die erste Gruppe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Aktendeckel <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Aufschrift<br />

"Vorentwurf zur Erstellung e<strong>in</strong>es KZ.-Lagers (...)" geheftet war. 63 Da Lübke we<strong>der</strong><br />

prozessierte noch zurücktrat, we<strong>der</strong> das Gegenteil beweisende Dokumente vorlegen noch<br />

die DDR-Dokumente e<strong>in</strong>deutig als Fälschungen nachweisen konnte, blieb etwas vom "KZ-<br />

Baumeister"-Vorwurf hängen. Er schien um so glaubhafter, als er e<strong>in</strong> Bild rundete.<br />

Für die e<strong>in</strong>en war es das Pech <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>, für die an<strong>der</strong>en Symptom ihrer Malaise,<br />

daß sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> größten <strong>in</strong>tellektuellen und moralischen Herausfor<strong>der</strong>ung durch so<br />

wenig <strong>in</strong>tellektuelle und moralische Kompetenz und so viel nationalsozialistische Verstrickung<br />

und oberlehrerhafte Selbstgerechtigkeit repräsentiert wurde. Es seien e<strong>in</strong>ige Beispiele<br />

genannt. Am 11.7.1965 büßte Bundeskanzler Ludwig Erhard bei <strong>der</strong> kritischen Reflexionselite<br />

se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tellektuelle und moralische Kreditl<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong>, als er auf dem Düsseldorfer<br />

Wirtschaftstag <strong>der</strong> CDU/CSU gegen die literarische L<strong>in</strong>ke wetterte, da höre <strong>der</strong> Dichter<br />

auf, da fange "<strong>der</strong> ganz kle<strong>in</strong>e P<strong>in</strong>scher an". 64 Da<strong>mit</strong> nicht genug, erg<strong>in</strong>g er sich zwei Tage<br />

später <strong>in</strong> Köln über "Intellektualität, die <strong>in</strong> Idiotie umschlagen" könne, sowie über "Entartungsersche<strong>in</strong>ungen"<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Kunst. 65 Erhards Nachfolger Kurt Georg Kies<strong>in</strong>ger,<br />

Kanzler <strong>der</strong> Großen Koalition von 1966 bis 1969, war nicht <strong>der</strong> Mann solcher Entgleisungen.<br />

He<strong>in</strong>rich Böll hatte im Vorwort e<strong>in</strong>er Kies<strong>in</strong>ger-Broschüre geschrieben, dieser sei nie<br />

ord<strong>in</strong>är gewesen, er sei e<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>er Mann <strong>mit</strong> Glacéhandschuhen - da<strong>mit</strong> aber "h<strong>in</strong>terließ er<br />

sehr wenig F<strong>in</strong>gerabdrücke". 66 Die Broschüre war von jener Beate Klarsfeld publiziert<br />

worden, die Kies<strong>in</strong>ger am 7.11.1968 auf dem Berl<strong>in</strong>er CDU-Parteitag, "Nazi! Nazi!" rufend,<br />

<strong>mit</strong> Ohrfeigen traktierte. Kies<strong>in</strong>ger war seit 1933 Mitglied <strong>der</strong> <strong>NS</strong>DAP und während<br />

62<br />

Als maßgebende, den "Fall" zusammenfassende DDR-Propagandaschrift siehe: Nationalrat <strong>der</strong> Nationalen<br />

Front des demokratischen Deutschland (Hg.), Aufstieg und Fall des He<strong>in</strong>rich Lübke. Die Geschichte e<strong>in</strong>er<br />

Karriere, Bln. (DDR) 1969.<br />

63<br />

Morsey, He<strong>in</strong>rich Lübke, a.a.O., S.511. Vermutlich waren die Unterschriften unter die Baracken-<br />

Zeichnungen echt, die kompro<strong>mit</strong>tierenden Aktendeckel aber gefälscht. (E<strong>in</strong>en Rest von Unsicherheit konzediert<br />

auch Morsey, ebd., S.535.) Zu den KZ-Baumeister-Vorwürfen gegen Lübke aus <strong>der</strong> DDR, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

dem "Stern" vom MfS zugespielte gefälschte Dokumente, siehe: Falco Werkent<strong>in</strong>, Die Reichweite politischer<br />

Justiz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ära Ulbricht, <strong>in</strong>: Bundesm<strong>in</strong>isterium <strong>der</strong> Justiz (Hg.), Im Namen des Volkes? Über die Justiz im<br />

Staat <strong>der</strong> SED. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesm<strong>in</strong>isteriums <strong>der</strong> Justiz, Leipzig<br />

1994, S.179-196, <strong>in</strong>sbes. S.188-192.<br />

64<br />

Zit.n.: Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition. 1963-1969, Stgt. 1984 (Geschichte <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>,<br />

Bd. 4), S.119 f. Anlaß dieser Entladung war das kurz zuvor <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> für den Wahlkampf gebildete<br />

"Wahlkontor deutscher Schriftsteller" zur Unterstützung <strong>der</strong> SPD (siehe: Deutsches Literaturarchiv, Protest!,<br />

a.a.O., S.30 f.).<br />

65<br />

Ebd., S.120<br />

66<br />

Zit.n.: Bar<strong>in</strong>g, Machtwechsel, a.a.O., S.40.


15<br />

des Krieges "Verb<strong>in</strong>dungsmann des Auswärtigen Amtes <strong>in</strong> Rundfunkangelegenheiten"<br />

gewesen, also Mitarbeiter im Propaganda-Apparat des Regimes. 67 "Wir haben (...) e<strong>in</strong>en<br />

ehemaligen Nazipropagandisten als Bundeskanzler!", hieß es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em studentischen<br />

Handzettel von 1967 <strong>in</strong> Anspielung auf diese Aktivitäten Kies<strong>in</strong>gers. 68 Von Fällen wie<br />

den genannten ausgehend, wurde <strong>in</strong> dem Handzettel <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Vorwurf gegen das Establishment<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er typischen, grob holzschnittartigen Weise verallgeme<strong>in</strong>ert:<br />

"Holen wir nach, was 1945 versäumt wurde (...), machen wir endlich e<strong>in</strong>e richtige Entnazifizierung.<br />

(...)<br />

Nazi-Richter, Nazi-Staatsanwälte, Nazi-Gesetzgeber aller Couleur,<br />

Nazi-Polizisten, Nazi-Beamte, Nazi-Verfassungsschützer,<br />

Nazi-Lehrer, Nazi-Professoren, Nazi-Pfaffen,<br />

Nazi-Journalisten, Nazi-Propagandisten, Nazi-Bundeskanzler, (...)<br />

Nazi-Kriegsgew<strong>in</strong>nler, Nazi-Fabrikanten, Nazi-F<strong>in</strong>anziers." 69<br />

Niemand, <strong>der</strong> neuere Publikationen über ehemalige Nationalsozialisten <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

gelesen hat, wird behaupten wollen, daß die erhobenen Vorwürfe haltlos gewesen<br />

wären. 70<br />

Blenden wir, um das für die Universitäten zu verdeutlichen, an dieser Stelle kurz <strong>in</strong> das<br />

Jahr 1945 zurück, <strong>in</strong> die letzten Tage des <strong>NS</strong>-Regimes. Am 8.3.1945 fand <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-<br />

Wannsee e<strong>in</strong>e SD-Besprechung statt, zu <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e illustre Runde <strong>in</strong>tellektueller SS-Männer<br />

zusammengekommen war. Thema war e<strong>in</strong>e Buchreihe, "die die deutschen Ordnungsleistungen<br />

während des Krieges herausstellen" sollte. Für die 'Zeit danach' wurden nationalsozialistische<br />

Rechtfertigungsschriften entworfen, um etwas von <strong>der</strong> Substanz <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<br />

Ideologie h<strong>in</strong>überzuretten. Die Betrachtung <strong>der</strong> Nachkriegskarrieren dieser Männer nun<br />

liest sich wie e<strong>in</strong> Restaurationsalptraum und verleiht noch <strong>der</strong> holzschnittartigsten<br />

"1968er"-Pauschalbehauptung von alten 'Nazis' <strong>in</strong> Kultur und Wissenschaft <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

e<strong>in</strong>en Anflug seriösen Charakters. Es nahmen an <strong>der</strong> SD-Besprechung im Frühjahr<br />

1945 also teil und durchliefen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> die folgenden Karrieren:<br />

- SS-Hauptsturmführer Prof. Dr. Franz, später Professor an <strong>der</strong> Landwirtschaftlichen<br />

Hochschule Stuttgart-Hohenheim 71 ;<br />

67<br />

Siehe dessen eigene Darstellung <strong>mit</strong> H<strong>in</strong>weisen auf se<strong>in</strong>e damals durchgängig ant<strong>in</strong>ationalsozialistische<br />

Ges<strong>in</strong>nung: Kurt Georg Kies<strong>in</strong>ger, Dunkle und helle Jahre. Er<strong>in</strong>nerungen 1904 - 1958, Stgt. 1989, S.230-234,<br />

S.236-241.<br />

68<br />

"Organisieren wir den Ungehorsam gegen die Nazi-Generation", verteilt anläßlich <strong>der</strong> Kampagne gegen<br />

den Film "africa addio", abgedr. <strong>in</strong>: Deutsches Literaturarchiv, Protest!, a.a.O., S.43 f.<br />

69<br />

Ebd.<br />

70<br />

Siehe etwa: Norbert Frei, <strong>Vergangenheit</strong>spolitik. Die Anfänge <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> und die <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong>.<br />

Mnchn. 1996; Ulrich Herbert, Best, Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und<br />

Vernunft, 1903 - 1989, Bonn 1996; Wilfried Loth, Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek (Hg.), Verwandlungspolitik, a.a.O.<br />

71<br />

Von dem Historiker Günther Franz wird unten noch die Rede se<strong>in</strong>.


16<br />

- SS-Sturmbannführer Prof. Dr. Löffler, später PH-Professor <strong>in</strong> Heidelberg;<br />

- Prof. Dr. Karl He<strong>in</strong>z Pfeffer, Großbritannien-Experte im Deutschen Auslandswissenschaftlichen<br />

Institut, ab 1962 Ord<strong>in</strong>arius <strong>in</strong> Münster 72 ;<br />

- SS-Obersturmbannführer Dr. Rößner, nach dem Krieg Lektor zunächst im Stall<strong>in</strong>g-, später<br />

im Piper-Verlag;<br />

- SS-Hauptsturmführer Dr. Schnei<strong>der</strong>, später als Hans Schwerte Professor <strong>in</strong> Aachen 73 ;<br />

- SS-Hauptsturmführer Prof. Dr. Schwalm, später Professor <strong>in</strong> Tüb<strong>in</strong>gen. 74<br />

War diese konkrete Begebenheit <strong>in</strong> den 1960er Jahren nur den Beteiligten bekannt, so<br />

sorgte das Establishment selbst doch für h<strong>in</strong>reichend an<strong>der</strong>es Material. Dieses führte <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

zitierten Flugschrift von 1967 zu den staccatohaften "Nazi"-Anwürfen. Die Flugschrift endete<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Losung:<br />

"Bereiten wir den Aufstand gegen die Nazi-Generation vor."<br />

Wir erkennen die nämliche, nur schärfer und provokativer herausgearbeitete Konfiguration<br />

wie <strong>in</strong> dem Flugblatt gegen Lübke und die Bonner Universitätsspitze. Auf diese Konfiguration<br />

- direktes H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>ragen des Faschismus / Nationalsozialismus über Strukturen, Personen<br />

und Netzwerke <strong>in</strong> die <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>der</strong> 1960er Jahre, H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>-Imag<strong>in</strong>ieren <strong>der</strong> kritischen<br />

Studierenden <strong>in</strong> die Rolle <strong>der</strong> Opfer des <strong>NS</strong>-Regimes - stoßen wir bei <strong>der</strong> Lektüre<br />

von Flugblättern und Aufrufen <strong>der</strong> Jahre um 1968 immer wie<strong>der</strong>:<br />

- In e<strong>in</strong>em Nachruf auf den im April 1967 verstorbenen Konrad Adenauer schrieb <strong>der</strong><br />

Bonner SDS, <strong>der</strong> Altbundeskanzler habe "durch aktive För<strong>der</strong>ung nationalsozialistischer<br />

Elemente und durch autoritäre Regierungspraktiken alle Ansätze e<strong>in</strong>er breiteren Reorganisation<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft im wirklich demokratischen S<strong>in</strong>n vereitelt" 75 ;<br />

- <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erklärung des SDS vom 9.6.1967, e<strong>in</strong>e Woche nach dem Tod Benno Oh-<br />

72<br />

Pfeffer, Großbritannien-Experte im Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut, geboren 1906, Freyer-<br />

Schüler, Soziologe, Volks- und Landeskundler, Großbritannien-Spezialist. 1940 außerordentlicher Professor,<br />

von 1943 bis 1946 ordentlicher Professor <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Veröffentlichungen unter an<strong>der</strong>em: "Das Judentum <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Politik" im "Handbuch <strong>der</strong> Judenfrage" von 1938. Nach dem Krieg Mitherausgeber <strong>der</strong> "Zeitschrift für Geopolitik<br />

verbunden <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift Weltpolitik und Weltwirtschaft". Im Rahmen <strong>der</strong> Entnazifizierung zunächst<br />

Amtsverlust. 1951 Leiter <strong>der</strong> Abteilung Auslandsforschung im Bremer Ausschuß für Wirtschaftsforschung,<br />

ab 1952 <strong>in</strong> führen<strong>der</strong> Position im Hamburger Weltwirtschaftsarchiv; 1959 bis 1962 Professor an <strong>der</strong><br />

Universität Lahore / Pakistan, von 1962 bis zu se<strong>in</strong>em Tod im Jahre 1971 Ord<strong>in</strong>arius an <strong>der</strong> Universität<br />

Münster (Sozialforschungsstelle). 1956 erschien Pfeffers kle<strong>in</strong>es "Handwörterbuch <strong>der</strong> Politik" (Darmstadt<br />

1956). Se<strong>in</strong>e Erläuterungen zu den Begriffen "Führer", "Judentum" und "Nationalsozialismus" führten zum<br />

Neonazi-Vorwurf im "Vorwärts", <strong>in</strong> <strong>der</strong> "Neuen Gesellschaft", im "colloquium", schließlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> "Zeit" und<br />

im "Monat". Pfeffer beantragte daraufh<strong>in</strong> im Oktober 1956 die Eröffnung e<strong>in</strong>es Diszipl<strong>in</strong>arverfahrens gegen<br />

sich. Zu den Pressevorwürfen erklärte er u.a., die geistige Richtung <strong>der</strong> Rezensenten gehe schon daraus hervor,<br />

daß Teile <strong>der</strong> Rezension aus dem "Vorwärts" im Ost-Berl<strong>in</strong>er "Neuen Deutschland" nachgedruckt worden<br />

seien. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren am 8.2.1957 e<strong>in</strong>. (Siehe: NWHStAD, BR-PE 3435.)<br />

73<br />

Zu Schnei<strong>der</strong>/Schwerte siehe: Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek (Bearbeiter), Zwischenbilanz <strong>der</strong> Historischen Kommission<br />

zur Untersuchung des Falles Schnei<strong>der</strong> / Schwerte und se<strong>in</strong>er zeitgeschichtlichen Umstände, Düsseldorf<br />

1996 (Gutachten für das Wissenschaftsm<strong>in</strong>isterium des Landes Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen).<br />

74<br />

Siehe: Ebd., S.147.<br />

75<br />

Zit.n.: Miermeister, Staadt (Hg.), Provokationen, a.a.O., S.46.


17<br />

nesorgs 76 , hieß es, das "postfaschistische System <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD" sei "zu e<strong>in</strong>em präfaschistischen<br />

geworden" 77 ;<br />

- <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiteren Flugblatt zum Tod Ohnesorgs wurde behauptet, <strong>der</strong> Kommandeur <strong>der</strong><br />

West-Berl<strong>in</strong>er Schutzpolizei sei 1942 als SS-Mann und E<strong>in</strong>satzleiter <strong>in</strong> Rußland für Massenh<strong>in</strong>richtungen<br />

verantwortlich gewesen 78 ;<br />

- ebenfalls 1967 wurde parallelisiert, Julius Streicher habe im "Stürmer" zum Judenmord<br />

gehetzt, Axel C. Spr<strong>in</strong>ger hetze nun zum "Studentenmord" 79 , die Studenten seien von <strong>der</strong><br />

Spr<strong>in</strong>ger-Presse "zu den 'Juden' des Antikommunismus gemacht worden" 80 ;<br />

- an den Universitäten, so hieß es, herrsche die gleiche vergreiste Verfassung und Bürokratie,<br />

"die die Machtergreifung des Faschismus beför<strong>der</strong>te o<strong>der</strong> sie als Tragik <strong>der</strong> Geschichte<br />

h<strong>in</strong>nahm", und dieselben professoralen Versager würden heute die kritischen Studierenden<br />

als faschistisch denunzieren 81 .<br />

Die Erbitterung <strong>in</strong> diesen Verlautbarungen, <strong>der</strong> empörte Gestus des Aufspürens und Entlarvens,<br />

die zitierten staccatohaften "Nazi"-Anwürfe des Flugblattes von 1967, dessen Anstoß<br />

<strong>der</strong> künstlerisch geme<strong>in</strong>te Film "africa addio" gewesen ist - das alles hatte e<strong>in</strong>en langen<br />

Vorlauf. Er wird im folgenden skizziert.<br />

III. "(...) Augiasstall nationalistischer und postfaschistischer Forschung (...)"<br />

Bei dem Festakt zur Wie<strong>der</strong>eröffnung <strong>der</strong> Universität Marburg nach Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges verkündete Rektor Julius Ebb<strong>in</strong>ghaus den Studierenden e<strong>in</strong> Gelöbnis <strong>der</strong> Professoren:<br />

"Wir geloben zuerst und zuoberst, daß wir den Geist <strong>der</strong> Wissenschaft und <strong>der</strong> freien Kritik<br />

<strong>in</strong> Ihnen entzünden und Ihnen alle bloß nachgesprochene Rede unerträglich machen wollen.<br />

(...)<br />

Wir wollen Ihnen (...) helfen, die wahre Idee des Vaterlandes und <strong>der</strong> Vaterlandsliebe zu<br />

verstehen. Zu verstehen, daß <strong>der</strong> Mensch ke<strong>in</strong> Vaterland haben kann außer da, wo Recht<br />

und Gesetze herrschen und er selbst als e<strong>in</strong> gleichberechtigtes Mitglied an dieser Gesell-<br />

76<br />

Ohnesorg wurde <strong>in</strong> Hannover beigesetzt.<br />

77<br />

Zit.n.: Miermeister, Staadt (Hg.), Provokationen, a.a.O., S.110.<br />

78<br />

Zit.n.: Ebd., S.111.<br />

79<br />

Zit.n.: Ebd., S.145.<br />

80<br />

Zit.n.: Ebd., S.109.<br />

81<br />

Zit.n.: Ebd., S.65. <strong>Der</strong> Vorwurf, die stets "Faschisten" demaskierenden SDS-Studenten seien selbst "Faschisten",<br />

war als billige Retourkutsche schnell zur Hand, erreichte aber e<strong>in</strong>e neue Dimension, nachdem auch<br />

Jürgen Habermas am 9.6.1967 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erregung vom "l<strong>in</strong>ken Faschismus" gesprochen hatte. E<strong>in</strong>en Vergleich<br />

zwischen nationalsozialistischen Studenten bis 1933 und "1968ern" zogen <strong>in</strong> <strong>der</strong> seriösen neueren Literatur<br />

etwa Rüdiger Safranski <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heidegger-Biographie und Lutz Hachmeister <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Arbeit über Six, ohne<br />

daß es darüber zu e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Debatte gekommen wäre (Rüdiger Safranski, E<strong>in</strong> Meister aus<br />

Deutschland. Heidegger und se<strong>in</strong>e Zeit, Mnchn., Wien 1994, S.302; Lutz Hachmeister, <strong>Der</strong> Gegnerforscher.<br />

Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six, Mnchn. 1998, S.51).


18<br />

schaft teilnehmen kann.<br />

(...)<br />

Wir geloben (...), daß wir die Höhe <strong>der</strong> Aufgabe, die uns durch unsere Wissenschaft gestellt<br />

ist, niemals zum Anlaß nehmen wollen zu e<strong>in</strong>er unziemlichen Überschätzung unseres<br />

Standes und unserer Personen." 82<br />

Hätte die Oberhand gewonnen, was Ebb<strong>in</strong>ghaus im erhabenen Stil beteuerte - Überw<strong>in</strong>dung<br />

<strong>der</strong> nationalsozialistischen Bevormundung durch e<strong>in</strong>en kritischen Geist <strong>in</strong> freiheitlich<br />

liberaler Gesellschaft, offene und bescheidene statt dünkelhaft-reaktionäre Hochschullehrer-Attitüde<br />

-, es wäre 1968 nicht nötig gewesen, von e<strong>in</strong>er vergreisten Universität zu sprechen,<br />

<strong>der</strong>en Professoren die "Machtergreifung" beför<strong>der</strong>t hätten und trotzdem noch immer<br />

das große Wort führten.<br />

Ebb<strong>in</strong>ghaus zählte zu den wackeren Männern, die <strong>in</strong> den Jahren 1945 bis 1948 "voll bester<br />

Absichten am Werk" waren, "entschlossen, die Hochschulen zu reformieren". 83 Aber bereits<br />

vor Kriegsende, im März 1945, beobachtete <strong>der</strong> rhe<strong>in</strong>isch-bergische Autor Emil Barth<br />

"zahllose Akteure <strong>der</strong> lokalen Tyrannis", die sich "gleichsam auf offener Szene" umschm<strong>in</strong>kten,<br />

sich "für betrogene Idealisten ausgebend, ja mehr noch, auf die Vergeßlichkeit<br />

<strong>der</strong> Menge bauend, ihre Identität <strong>mit</strong> sich selber verleugnend <strong>in</strong> plötzlich auftreten<strong>der</strong> Amnesie."<br />

84 Manfred Hausmann schrieb <strong>in</strong> früher Nachkriegszeit, die "deutsche Frechheit"<br />

sei bereits wie<strong>der</strong> obenauf. 85 Explizit wurde <strong>der</strong> Vorwurf <strong>der</strong> "Restauration" erstmals<br />

1950 von Walter Dirks erhoben. 86 Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 1950er Jahre war vom "nationalsozialistischen<br />

Ges<strong>in</strong>del unter den Studenten" die Rede, "das sich <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, Marburg und Erlangen<br />

schon wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> alter Frische öffentlich breit machen" dürfe 87 , waren "Professoren,<br />

die e<strong>in</strong>st Kafkas Bücher verbrannt hatten", auf ihre Lehrstühle zurückgekehrt "und prüften<br />

jetzt Studenten über Kafka" 88 . Daher waren denn 1955 im Editorial <strong>der</strong> Studentenzeitschrift<br />

"Plädoyer", die <strong>in</strong> den 1960er Jahren unter dem Titel "Konkret" e<strong>in</strong>e politische<br />

Macht gewesen ist, an das Gelöbnis von Julius Ebb<strong>in</strong>ghaus aus dem Jahre 1945 er<strong>in</strong>nernde<br />

Formulierungen zu lesen:<br />

82<br />

Zit.n.: Die Gegenwart, 24.2.1946, S.1 (Julius Ebb<strong>in</strong>ghaus, geb. 1885, hist. und systematische Philosophie).<br />

83<br />

Rudolf Walter Leonhardt, Die deutschen Universitäten 1945-1962, <strong>in</strong>: Hans Werner Richter, Bestandsaufnahme.<br />

E<strong>in</strong>e deutsche Bilanz 1962, Mnchn., Wien, Basel 1962, S.351-359, S.351.<br />

84<br />

Emil Barth, Rhe<strong>in</strong>ische Tage 1945. Aufzeichnungen und Meditationen (E<strong>in</strong>tragung vom 27.3.1945), <strong>in</strong>:<br />

Die Gegenwart, 30.11.1946, S.29.<br />

85<br />

Zit. n.: Klaus Harpprecht, Thomas Mann. E<strong>in</strong>e Biographie, Bln. 1995, S.1501.<br />

86<br />

Walter Dirks, <strong>Der</strong> restaurative Charakter <strong>der</strong> Epoche, <strong>in</strong>: Frankfurter Hefte, 1950, S.942-954.<br />

87<br />

Friedrich Hielscher, Fünfzig Jahre unter Deutschen, Hamburg 1954, S.437. Zu den Studierenden <strong>der</strong> frühen<br />

Nachkriegszeit siehe: Waldemar Krönig, Klaus-Dietrich Müller, Nachkriegssemester. Studium <strong>in</strong> Kriegsund<br />

Nachkriegszeit, Stgt. 1990.<br />

88<br />

Rudolf Walter Leonhardt, Die deutschen Universitäten, a.a.O., S.351.


19<br />

"Herausgeber und maßgebende Mitarbeiter s<strong>in</strong>d Studenten, die etwas aus <strong>der</strong> <strong>Vergangenheit</strong><br />

gelernt haben: Verführung, Verbrechen, Knechtschaft und Drill bis zur Willenlosigkeit.<br />

Deshalb nehmen wir uns das Recht, alle Studenten aufzufor<strong>der</strong>n, sich bewußt zu werden,<br />

daß unsere eigene akademische Zukunft von politischen Machtfaktoren maßgebend<br />

bestimmt wird! (...) Wo uns aber Propaganda überfällt, blenden und verbiegen will, werden<br />

wir auf die natürliche Leidenschaft unserer Jugend nicht verzichten (...)" 89<br />

E<strong>in</strong> israelischer Journalist, <strong>der</strong> 1964/65 die <strong>Bundesrepublik</strong> und die DDR bereiste, erlebte<br />

die westdeutsche Universität als "e<strong>in</strong>e Hochburg <strong>der</strong> Restauration, <strong>der</strong>gleichen man lange<br />

suchen muß"; zwar würde unter "Restauration" meist jene des nationalen Konservatismus<br />

verstanden, aber die westdeutsche Universität sei "vielleicht das krasseste Beispiel dieser<br />

Restauration", und sie sche<strong>in</strong>e <strong>mit</strong>schuldig zu se<strong>in</strong> an ihrer Sterilität. 90<br />

In e<strong>in</strong>em frühen Campus-Roman unter dem sprechenden Titel "Wenn man aufhören könnte<br />

zu lügen" - handelnd 1949 und <strong>mit</strong> Germanistik-Studenten als Hauptpersonen - ist vom<br />

Karneval die Rede. "Die Maske", so sagt e<strong>in</strong> Professor auf e<strong>in</strong>er Karnevalsfeier, "ist unser<br />

wahres Gesicht. Je mehr wir uns bemalen, um so mehr sche<strong>in</strong>t es durch." 91 <strong>Der</strong> Professor<br />

wendet sich sodann <strong>der</strong> Freund<strong>in</strong> des Studenten zu, um sie <strong>mit</strong> den Worten zu taxieren:<br />

"(...) prächtiges D<strong>in</strong>g, diese Marion, genetische Spitzenleistung, stolzes Abendland." 92<br />

In e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en für die Zeichnung des Universitätsklimas vor "1968" paradigmatischen<br />

Roman, "Heißer Sommer", werden Professoren als von ihrer Position entzückte, Pfauenrä<strong>der</strong><br />

werfende Institutskönige geschil<strong>der</strong>t. E<strong>in</strong> Germanistik-Professor beg<strong>in</strong>nt se<strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>ar:<br />

"Er betritt den Sem<strong>in</strong>arraum<br />

Sogleich wird es ruhig.<br />

Während <strong>der</strong> nach vorn zu dem Tisch geht, klopfen alle. H<strong>in</strong>ter ihm geht se<strong>in</strong> Assistent,<br />

h<strong>in</strong>ter dem geht se<strong>in</strong>e wissenschaftliche Hilfskraft. (...)<br />

Er wartet, bis es ganz ruhig (...) ist. Dann sagt er: Wir werden heute versuchen, das Problem,<br />

das wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Sem<strong>in</strong>arsitzung schon angeschnitten hatten, nochmals zu entfalten,<br />

weil uns sche<strong>in</strong>t, daß dessen Bedeutung bis heute, auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuesten Forschung,<br />

nicht die erfor<strong>der</strong>liche Beachtung gefunden hat, größtenteils nicht e<strong>in</strong>mal erkannt wurde,<br />

wie zum Beispiel <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeit des doch immerh<strong>in</strong> anerkannten Kollegen ...<br />

Jemand hustet.<br />

Er spricht nicht weiter und blickt <strong>in</strong> die Richtung, aus <strong>der</strong> gehustet wird. Dabei runzelt er<br />

89<br />

Zit.n.: Deutsches Literaturarchiv, Protest!, a.a.O., S.291.<br />

90<br />

Amos Elon, In e<strong>in</strong>em heimgesuchten Land. Reise e<strong>in</strong>es israelischen Journalisten <strong>in</strong> beide deutsche Staaten,<br />

Mnchn. 1966, S.318.<br />

91<br />

Paul Schallück, Wenn man aufhören könnte zu lügen, Leverkusen u. Köln 1977 (zuerst 1951; Gesamtwerk<br />

Bd. 3; Reihe Rückblick Nr.5), S.114.<br />

92<br />

Ebd., S.115.


20<br />

die Stirn." 93<br />

Zeitzeugen bezeichnen e<strong>in</strong> solches Sem<strong>in</strong>ar-Klima als typisch für die Zeit vor "1968". 94<br />

Daraus lassen sich unschwer zwei Schlußfolgerungen für kritische Studierende damaliger<br />

Zeit ableiten:<br />

- Erstens tat man besser daran, ke<strong>in</strong>e 'dummen Fragen' zu stellen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e nicht nach<br />

dem Verhalten des jeweiligen Groß-Ord<strong>in</strong>arius <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit;<br />

- zweitens wird das für die meisten Professoren Unerhörte, für die Studierenden aber Subversive<br />

und Befreiende des Ausrufs "Diskussion!" bewußt - denken wir nur an die Bemerkung<br />

aus dem zitierten Bonner Flugblatt, daß <strong>der</strong> Rektor "vor Studenten, die Diskussion<br />

for<strong>der</strong>n, (...) sich vertreten zu lassen pflegt".<br />

Im Rahmen e<strong>in</strong>er germanistischen Berufungsangelegenheit <strong>in</strong> den 1950er Jahren wurde <strong>der</strong><br />

Versuch, e<strong>in</strong>en Kandidaten wegen dessen Engagement <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit anzuschwärzen, <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>em Argument abgewehrt, das für die nationalsozialistische Verstrickung <strong>der</strong> Hochschullehrer<br />

bezeichnen<strong>der</strong> nicht se<strong>in</strong> konnte:<br />

"Wenn man so <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen <strong>Vergangenheit</strong> von angesehenen Gelehrten herumschnüffle,<br />

könne man überhaupt ke<strong>in</strong>en Professor mehr berufen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit <strong>in</strong><br />

Deutschland im Amt gewesen sei." 95<br />

Diese Stellungnahme aus <strong>in</strong> mehrfachem S<strong>in</strong>n berufenem Munde ist <strong>der</strong> geeignete Auftakt,<br />

um im folgenden zwei Beispiele nationalsozialistischer Verstrickung und anschließen<strong>der</strong><br />

Karriere <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> fast beliebig herauszugreifen. Solche Karrieren hatte vor<br />

Augen, wer sich <strong>in</strong> den 1960er Jahren von "Nazis" und "Faschisten" umz<strong>in</strong>gelt sah. Sie<br />

hatten noch e<strong>in</strong>en weiteren Effekt für die Scientific Community nach 1945, <strong>der</strong> nicht übersehen<br />

werden sollte: Wer als Wissenschaftler tatsächlich Skrupel wegen se<strong>in</strong>er nationalsozialistischen<br />

<strong>Vergangenheit</strong> empfand und daran dachte, se<strong>in</strong>e <strong>Vergangenheit</strong> zu bekennen<br />

und von ihr abzuschwören, schwieg doch angesichts <strong>der</strong> offenkundigen Impert<strong>in</strong>enz von<br />

verstrickten Kollegen, die wie<strong>der</strong> obenauf waren und e<strong>in</strong>e Kultur <strong>der</strong> Unaufrichtigkeit<br />

schufen.<br />

Zu diesen Vertretern zählte <strong>der</strong> Pädagoge und Psychologe Gerhard Pfahler. Gerd Tellenbach<br />

nennt ihn "e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> re<strong>in</strong>sten nationalsozialistischen Idealisten", die ihm vorgekommen<br />

seien. 96 Pfahler 97 (1897 - 1976) war im Ersten Weltkrieg Stoßtruppführer gewesen<br />

93<br />

Uwe Timm, Heißer Sommer, Mnchn., Gütersloh, Wien 1974, S.33.<br />

94<br />

<strong>Der</strong> israelische Deutschlandreisende Amos Elon empfand es als ungeheuerlich, trotz fest vere<strong>in</strong>barten<br />

Term<strong>in</strong>s länger als e<strong>in</strong>e Stunde vor <strong>der</strong> Tür e<strong>in</strong>es Groß-Ord<strong>in</strong>arius warten zu müssen; als er wagte, sich bei<br />

<strong>der</strong> Sekretär<strong>in</strong> <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung zu rufen, wurde ihm gesagt: "Daran müssen Sie sich gewöhnen. Das ist halt so<br />

bei großen Männern." (In e<strong>in</strong>em heimgesuchten Land, a.a.O., S.321.)<br />

95<br />

Benno von Wiese, Ich erzähle me<strong>in</strong> Leben. Er<strong>in</strong>nerungen, Ffm. 1982, S.297.<br />

96<br />

Gerd Tellenbach, Aus er<strong>in</strong>nerter Zeitgeschichte, Freiburg 1981, S.49.


21<br />

und hatte nach Studium und Volksschullehrerstelle 1924 die Promotion, 1928 die Venia<br />

Legendi für Pädagogik und Psychologie erhalten. Von früh an völkisch engagiert, konnte<br />

er <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit die Ernte e<strong>in</strong>fahren, hatte er sich doch <strong>mit</strong> Schriften wie "Vererbung als<br />

Schicksal" (1932) empfohlen. 1934 wurde er o. Prof. für Psychologie und Pädagogik sowie<br />

Leiter des Instituts für experimentelle Psychologie und Pädagogik an <strong>der</strong> Universität Gießen,<br />

1934 bis 1937 war er <strong>der</strong>en Rektor. <strong>Der</strong> Professor für "Psychologie, Pädagogik, Erbcharakterologie,<br />

Rassenseelenkunde", wie er sich im Kürschner von 1940/41 empfahl, war<br />

nach E<strong>in</strong>stellung des Lehrbetriebs ab 1.9.1944 Leiter des Volkssturms Tüb<strong>in</strong>gen. Im Juni<br />

1945 wurde Pfahler von <strong>der</strong> französischen Militärregierung suspendiert und <strong>in</strong>terniert, im<br />

Oktober 1945 aus dem Ord<strong>in</strong>ariat entlassen, im August 1948 im Zuge <strong>der</strong> Entnazifizierung<br />

unter Belassung <strong>der</strong> Lehrbefugnis <strong>in</strong> den Ruhestand versetzt und 1952 durch Gnadenerlaß<br />

rehabilitiert. Pfahler war ab Juli 1953 "ordentlicher Professor für Psychologie und Erziehungswissenschaft<br />

zur Wie<strong>der</strong>verwendung <strong>mit</strong> den Rechten e<strong>in</strong>es entpflichteten ordentlichen<br />

Professors" an <strong>der</strong> Universität Tüb<strong>in</strong>gen. Von 1956 bis 1964 hatte er dort den Lehrauftrag<br />

für Entwicklungspsychologie, Tiefenpsychologie und Psychagogik <strong>in</strong>ne. Zu se<strong>in</strong>en<br />

Nachkriegspublikationen zählt "<strong>Der</strong> Mensch und se<strong>in</strong>e <strong>Vergangenheit</strong>. E<strong>in</strong>e Psychologie<br />

<strong>der</strong> Tiefe für Helfer und Hilfesuchende". 98 Das mehrfach aufgelegte Buch enthält auch<br />

nicht irgende<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf jene <strong>Vergangenheit</strong>, die uns angesichts von Pfahlers Biographie<br />

<strong>in</strong>teressiert.<br />

<strong>Der</strong> e<strong>in</strong>stige Bonner Curtius-Assistent und spätere Suhrkamp-Cheflektor bis 1968 Walter<br />

Boehlich sah es als se<strong>in</strong>e publizistische Aufgabe an, "den Augiasstall nationalistischer und<br />

postfaschistischer Forschung auszumisten". 99 Diesen Satz schrieb er im Rahmen e<strong>in</strong>er<br />

Kontroverse <strong>mit</strong> dem Sprachwissenschaftler Johannes (Leo) Weisgerber (1899 - 1985), e<strong>in</strong>em<br />

Bonner Groß-Ord<strong>in</strong>arius. <strong>Der</strong> Streit zwischen Boehlich und Weisgerber war bereits<br />

1955 entstanden. 100 Weisgerber war Sprachwissenschaftler und führen<strong>der</strong> Keltologe <strong>in</strong><br />

zwei Systemen. 101 Als Volksschullehrerssohn <strong>in</strong> Metz geboren, war er bis Kriegsende<br />

1918 Reservist und studierte dann Vergleichende Sprachwissenschaft, Germanistik, Romanistik,<br />

um 1923 im Bereich Keltologie zu promovieren und es <strong>in</strong> demselben Jahr zum<br />

Abteilungsleiter für Siedlungs- und Kulturgeschichte <strong>der</strong> rhe<strong>in</strong>ischen Frühzeit am Institut<br />

für geschichtliche Landeskunde <strong>der</strong> Rhe<strong>in</strong>lande <strong>der</strong> Universität Bonn zu br<strong>in</strong>gen. 1925 erwarb<br />

Weisgerber die Venia legendi für Allgeme<strong>in</strong>e und Vergleichende Sprachwissenschaft.<br />

1932 erhielt er die Goethe-Medaille des Freien Deutschen Hochstifts. Nach Statio-<br />

97<br />

Zum folgenden siehe: Alexan<strong>der</strong> Hesse, Die Professoren und Dozenten <strong>der</strong> preußischen Pädagogischen<br />

Akademien (1926 - 1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933 - 1941), We<strong>in</strong>heim 1995 (dar<strong>in</strong>: alphabetisch<br />

geordnete Kurzbiographien, S.129-816.)<br />

98<br />

Tüb<strong>in</strong>gen 1950 ( 4 1957).<br />

99<br />

Walter Boehlich, Irrte hier Walter Boehlich?, <strong>in</strong>: Frankfurter Hefte, 1964, S.731-734, S.731.<br />

100<br />

Ebd.<br />

101<br />

Zu Weisgerber siehe im folgenden: Hesse, Professoren, a.a.O.


22<br />

nen als Privatdozent und als Professor <strong>in</strong> Bonn, Rostock, Marburg wurde Weisgerber 1940<br />

beim Militärbefehlshaber <strong>in</strong> Frankreich als Sachverständiger im Rang e<strong>in</strong>es Son<strong>der</strong>führers<br />

zum Aufbau des Rundfunkprogramms für die Bretagne beim Sen<strong>der</strong> Rennes e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

Weisgerber war von 1942 bis 1967 Professor <strong>in</strong> Bonn, zudem Mitglied des 1949 gegründeten<br />

Deutschen Germanistenverbandes und <strong>der</strong> 1951 gegründeten Vere<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> deutschen<br />

Hochschulgermanisten, seit 1954 Mitglied <strong>der</strong> Klasse für Geisteswissenschaften <strong>der</strong><br />

Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft für Forschung des Landes Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen, 1955 bis 1964 Leiter<br />

des DFG-geför<strong>der</strong>ten Gesprächskreises Sprache und Geme<strong>in</strong>schaft, 1964 Mitbegrün<strong>der</strong> des<br />

Instituts für deutsche Sprache <strong>in</strong> Mannheim; er gab die Zeitschriften "Rhe<strong>in</strong>ische Vierteljahrsblätter",<br />

"Lexis", "Wirkendes Wort" und "Sprachforum" <strong>mit</strong> heraus, war 1961 erster<br />

Preisträger des Konrad-Duden-Preises des Bibliographischen Instituts <strong>der</strong> Stadt Mannheim,<br />

1965 folgte die Ehrendoktorwürde <strong>der</strong> Philosophischen Fakultät <strong>der</strong> Universität<br />

Leuven (Belgien) und 1975 das Verdienstkreuz I. Klasse des Verdienstordens <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

Deutschland.<br />

Walter Boehlich warf diesem hochdekorierten Mann nun vor, se<strong>in</strong> Nationalismus von ehedem<br />

sei "durch verräterischen Wortwechsel nicht elim<strong>in</strong>iert worden", auch wenn er sich<br />

"heute gelegentlich auf Europa berufe, wo er früher se<strong>in</strong> Volk zu verherrlichen beliebte"<br />

102 ; er - Boehlich - werde Weisgerber nicht glauben, daß ihm Europa etwas bedeute,<br />

wenn "jede se<strong>in</strong>er Schriften" erfüllt sei "von <strong>der</strong> Überzeugung <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>stellung des<br />

Deutschen und <strong>der</strong> Deutschen" 103 . Boehlich belegte se<strong>in</strong>e Anschuldigung durch e<strong>in</strong>e<br />

Kernsätze- und Zitatenlese.<br />

Wir sehen an dieser seit 1955 geführten Polemik Boehlichs gegen Weisgerber, daß die Kritik<br />

an "faschistischen Augiasställen" ke<strong>in</strong>eswegs <strong>mit</strong> den "1968ern" begonnen hatte. Vielmehr<br />

setzte auf breiter Front um 1957 e<strong>in</strong> Wandel im <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> den Schuldigen und Belasteten<br />

e<strong>in</strong>, für den <strong>der</strong> Eichmann-Prozeß 1961 als Endpunkt angesehen werden kann. Die<br />

Jahre von 1957 bis 1961 "waren zugleich prägend für die anschließend <strong>in</strong>tensivierte Debatte<br />

um Schuld und Verantwortung, welche <strong>in</strong> die Proteste <strong>der</strong> '68er Generation' mündete".<br />

104<br />

1957 erschien Enzensbergers Gedichtband "Verteidigung <strong>der</strong> Wölfe", <strong>der</strong> im Zeichen <strong>der</strong><br />

Aufarbeitung <strong>der</strong> <strong>Vergangenheit</strong> und <strong>der</strong> Kritik an <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung <strong>der</strong> Bundeswehr stand:<br />

"lies ke<strong>in</strong>e oden, me<strong>in</strong> sohn, lies die fahrpläne:<br />

sie s<strong>in</strong>d genauer. roll die seekarten auf,<br />

ehe es zu spät ist. sei wachsam, s<strong>in</strong>g nicht.<br />

<strong>der</strong> tag kommt, wo sie wie<strong>der</strong> listen ans tor<br />

102<br />

Boehlich, Irrte hier Walter Boehlich?, a.a.O., S.732.<br />

103<br />

Ebd., S.734. Weisgerber replizierte <strong>in</strong>: Frankfurter Hefte, 1965, S.197-205 ("Die Lehre von <strong>der</strong> Sprachgeme<strong>in</strong>schaft").<br />

104<br />

Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. <strong>Vergangenheit</strong>sbewältigung und West<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ära Adenauer,<br />

Hamburg 1994, S.13.


23<br />

schlagen und machen den ne<strong>in</strong>sagern auf die brust<br />

z<strong>in</strong>ken (...)" 105<br />

S<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Bölls "Billard um halbzehn" die "Büffel" Metaphern für alt-neue Nationalsozialisten,<br />

so bei Enzensberger die "Metzger":<br />

"zu unterrichten ist vom sichern endsieg <strong>der</strong> metzger<br />

und <strong>in</strong> <strong>der</strong> herstellung von kadavern die jugend" 106<br />

1958 begann <strong>der</strong> Ulmer E<strong>in</strong>satzgruppenprozeß, <strong>in</strong> demselben Jahr wurde unter dem E<strong>in</strong>druck<br />

dieses Prozesses die Ludwigsburger Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer<br />

Verbrechen gebildet; 1958/59 wurde die Öffentlichkeit des In- und Auslands durch<br />

Schändungen von Synagogen und jüdischen Friedhöfen sowie durch Hakenkreuzschmierereien<br />

alarmiert - <strong>in</strong>sgesamt waren es bis Ende Januar 1960 mehr als 450 solcher Straftaten<br />

107 ; am 24.5.1960 debattierte <strong>der</strong> Bundestag über den Antrag <strong>der</strong> SPD-Fraktion gegen<br />

die Verjährung von Totschlag und schwerer Körperverletzung bei nationalsozialistischen<br />

Gewaltdelikten, und an demselben Tag meldeten die Zeitungen die Festnahme von Adolf<br />

Eichmann 108 ; über den Eichmann- sowie den Frankfurter Auschwitz-Prozeß wurde <strong>in</strong>tensiv<br />

berichtet. <strong>Der</strong> Auschwitz-Prozeß vom Dezember 1963 bis August 1965 g<strong>in</strong>g <strong>der</strong> Studentenbewegung<br />

un<strong>mit</strong>telbar voraus.<br />

Von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung für den Bewußtse<strong>in</strong>swandel ist das Jahr 1959: Zunächst <strong>in</strong><br />

Karlsruhe, anschließend <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> wurde Re<strong>in</strong>hard Streckers Ausstellung "Ungesühnte Nazijustiz"<br />

gezeigt, organisatorisch getragen vom SDS und <strong>der</strong> Deutsch-Israelischen Studiengruppe<br />

DIS. 109 Die Filme "Die Brücke" von Bernhard Wicki und "Rosen für den Staatsanwalt"<br />

von Wolfgang Staudte wurden erstaufgeführt. Vor allem vollzog sich 1959, "auf<br />

dem Höhepunkt <strong>der</strong> ersten großen Welle von <strong>Vergangenheit</strong>saufarbeitung" 110 , <strong>mit</strong> He<strong>in</strong>rich<br />

Bölls "Billard um halbzehn", Günter Grass' "Blechtrommel" und Uwe Johnsons<br />

"Mutmaßungen über Jakob" das "deutsche Literaturwun<strong>der</strong>". 111 Es war die Literatur, die<br />

105<br />

Hans Magnus Enzensberger, verteidigung <strong>der</strong> wölfe, Ffm. 1963 (zuerst 1957), S. 85 ("<strong>in</strong>s lesebuch für die<br />

oberstufe").<br />

106<br />

Ebd., S. 68 f. ("option auf e<strong>in</strong> grundstück").<br />

107<br />

Michael Kohlstruck, Zwischen Er<strong>in</strong>nerung und Geschichte. <strong>Der</strong> Nationalsozialismus und die jungen<br />

Deutschen, Bln. 1997 (Dokumente, Texte, Materialien / Zentrum für Antise<strong>mit</strong>ismusforschung <strong>der</strong> Technischen<br />

Universität Berl<strong>in</strong>; Bd. 22), S.62.<br />

108<br />

Albrecht Götz, Bilanz <strong>der</strong> Verfolgung von <strong>NS</strong>-Straftaten, Köln 1986, S.143.<br />

109<br />

Siehe: Christel Hopf, Das Faschismusthema, a.a.O., S.75.<br />

110<br />

Hans-Ulrich Thamer, Die <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong>, a.a.O., S.45.<br />

111<br />

Siehe: Ebd., S.44 f., sowie <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e: Elisabeth Endres, Die Literatur <strong>der</strong> Adenauerzeit, Mnchn. 1983,<br />

S.231-275 ("Das bundesdeutsche Literaturwun<strong>der</strong> und die Neuanfänge"). In Bölls Roman e<strong>in</strong>es Frustrierten<br />

spricht Dr. Robert Frähmel vom Nationalsozialismus als e<strong>in</strong>er Zeit, "wo e<strong>in</strong>e Handbewegung, e<strong>in</strong> falschverstandenes<br />

Wort das Leben kosten konnte". Er müsse sich nun gegen die "Büffel" behaupten. Als "Büffel"<br />

werden die ehemaligen Nationalsozialisten bezeichnet. Taucht bereits <strong>in</strong> Bölls "Billard um halbzehn" das<br />

Motiv des Irrenhauses auf, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Juden verliebt hatte und <strong>mit</strong> ihm


24<br />

Neuland rodete und die Gegenwart <strong>der</strong> nationalsozialistischen <strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> das Bewußtse<strong>in</strong><br />

hämmerte; es war die Literaturwissenschaft, die diese Literatur nicht zur Kenntnis<br />

nahm. <strong>Der</strong> Abstand zwischen dem Literaturwun<strong>der</strong> von 1959 <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en aufregend<br />

neuen, heute kanonischen, <strong>der</strong> nationalsozialistischen <strong>Vergangenheit</strong> und ihrer Nicht-<br />

Bewältigung kompromißlos <strong>in</strong>s Auge blickenden Romanen und <strong>der</strong> deutschen Literaturwissenschaft<br />

jener Zeit konnte schroffer nicht ausfallen. Es ist daher ke<strong>in</strong> Zufall, daß ebenfalls<br />

1959 e<strong>in</strong>e ätzende und wortmächtige Polemik gegen die deutsche Germanistik erschien,<br />

für die es <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Geisteswissenschaften <strong>in</strong> dieser Zeit ke<strong>in</strong>e Parallele gibt:<br />

die Germanisten-Schelte von Rudolf Walter Leonhardt. 112 Ausgangspunkte des Autors<br />

waren gleichrangig die abgrundtiefe Trennung zwischen Universitätsgermanistik und literarischem<br />

Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> sowie die Klage e<strong>in</strong>es skand<strong>in</strong>avischen Germanisten,<br />

über <strong>der</strong> bundesdeutschen Germanistik schwebe noch immer das Hakenkreuz. 113<br />

Über die beson<strong>der</strong>e Bedeutung nationalsozialistischer Verstrickung für die Diszipl<strong>in</strong>en<br />

Germanistik und Geschichtswissenschaft hob Leonhardt hervor, jemand habe Mitläufer des<br />

<strong>NS</strong>-Regimes und dennoch guter Verwaltungsbeamter, ja, sogar guter Romanist se<strong>in</strong> können<br />

- aber:<br />

"Germanisten und Historiker waren die e<strong>in</strong>zigen, für die auch das kle<strong>in</strong>ste politische Zugeständnis<br />

Verrat bedeuten mußte." 114<br />

Doch nahm Leonhardt die Germanistik für den faschistischen Diskurs und se<strong>in</strong>e Inszenierung<br />

wichtiger als die Geschichtswissenschaft: "Uralte und jüngste Traditionen haben es<br />

<strong>mit</strong> sich gebracht, daß <strong>der</strong> 'deutsche Geist' <strong>in</strong> das Ressort <strong>der</strong> Germanistik fällt" 115 ; das im<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>t absolut gesetzte "Völkische" sei die "Erbsünde" <strong>der</strong> Germanisten gewesen<br />

116 .<br />

Wenn 1961 <strong>der</strong> promovierte Germanist und bereits damals namhafte Schriftsteller Mart<strong>in</strong><br />

Walser <strong>in</strong> <strong>der</strong> von ihm herausgegebenen "Alternative" 117 für die <strong>Bundesrepublik</strong> e<strong>in</strong> hoffnungsvoll<br />

gestimmtes sozialdemokratisches Zukunftstableau gab, so ließ <strong>der</strong> gelernte<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konzentrationslager gehen wollte, von ihrem Vater aus Vorsicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Heilanstalt gesteckt worden<br />

war, so f<strong>in</strong>det es sich bei Grass <strong>in</strong> <strong>der</strong> "Blechtrommel" wie<strong>der</strong>: Oskar Matzerath ist Insasse e<strong>in</strong>er Heil- und<br />

Pflegeanstalt. Er wurde 1924 <strong>in</strong> Danzig geboren und beschloß <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em dritten Lebensjahr, nicht weiter zu<br />

wachsen. Se<strong>in</strong> Vater ist e<strong>in</strong> Danziger Kle<strong>in</strong>bürger und Faschist. Bei <strong>der</strong> Befreiung von Danzig zw<strong>in</strong>gt Oskar<br />

ihn, das Parteiabzeichen <strong>der</strong> <strong>NS</strong>DAP zu fressen und auf diese Weise Selbstmord zu begehen. 1945 siedelt<br />

Oskar als Flüchtl<strong>in</strong>g nach Düsseldorf über.<br />

112<br />

Rudolf Walter Leonhardt, <strong>Der</strong> Sündenfall <strong>der</strong> deutschen Germanistik. Vorschläge zur Wie<strong>der</strong>belebung<br />

des literarischen Bewußtse<strong>in</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>, Zürich 1959 (Schriften zur Zeit im Artemis Verlag /<br />

Heft 21).<br />

113<br />

Ebd., S.5 f.<br />

114<br />

Ebd., S.34.<br />

115<br />

Ebd., S.31.<br />

116<br />

Ebd., S.32.<br />

117<br />

Mart<strong>in</strong> Walser (Hg.), Die Alternative o<strong>der</strong> Brauchen wir e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Regierung. Re<strong>in</strong>bek 1961.


25<br />

Buchhändler, Nestor <strong>der</strong> "Gruppe 47" und Schriftsteller Hans Werner Richter 1962 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

"Bestandsaufnahme" <strong>in</strong> 36 E<strong>in</strong>zelbeiträgen e<strong>in</strong> bedrückendes Tableau <strong>der</strong> Nachkriegsgeschichte<br />

präsentieren. E<strong>in</strong>e Reihe von Autoren war <strong>in</strong> beiden Bänden vertreten. In <strong>der</strong><br />

"Bestandsaufnahme" wurde bezeichnen<strong>der</strong>weise die Germanistik als e<strong>in</strong>zige Geisteswissenschaft<br />

e<strong>in</strong>er Analyse unterzogen. 118 Ihr Befund fiel traurig aus und bezog sich pars pro<br />

toto auf zwei Nachkriegsstandardwerke <strong>der</strong> Literaturgeschichtsschreibung, auf Georg<br />

Rieds "Wesen und Werden deutscher Dichtung", 1961 <strong>in</strong> <strong>der</strong> 16. Auflage, sowie auf Hans<br />

Schwertes Beitrag über das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>in</strong> He<strong>in</strong>z Otto Burgers "Annalen <strong>der</strong> deutschen<br />

Literatur". 119 In dem Schwerte-Beitrag fand Jens viel über Kolbenheyer, nichts über Joseph<br />

Roth; üble Verrisse Thomas Manns, Loblie<strong>der</strong> auf den im Nationalsozialismus gefeierten<br />

Wilhelm Schäfer 120 ; irritiert mußte Jens feststellen, daß Schwertes Beitrag für He<strong>in</strong>z<br />

Otto Burgers "Annalen" jede Menge Sentenzen enthielt, die 1938 o<strong>der</strong> 1942 hätten geschrieben<br />

se<strong>in</strong> können 121 .<br />

He<strong>in</strong>z Otto Burger, von Benno von Wiese geradezu als Mann des Wi<strong>der</strong>stands dargestellt<br />

122 , war nach dem Krieg Professor und schließlich Rektor <strong>der</strong> Universität Erlangen<br />

gewesen, wechselte 1962 nach Frankfurt und wurde dort für das Amtsjahr 1963/64 ebenfalls<br />

zum Rektor gewählt. 123 1964 beg<strong>in</strong>g die Frankfurter Universität ihr 50-jähriges Stiftungsfest.<br />

Es war - wie hervorzuheben ist - e<strong>in</strong> eben <strong>in</strong> Frankfurt promovierter amerikanischer<br />

Jungwissenschaftler, <strong>der</strong> es wagte, auf Publikationen Burgers aus <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit h<strong>in</strong>zuweisen,<br />

wor<strong>in</strong> es hieß, die Literaturwissenschaft habe sich dem rassischen Verständnis<br />

<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft zu fügen etc. Burger trat angesichts dieser Vorwürfe an die Universität<br />

sowie an das hessische Kultusm<strong>in</strong>isterium heran und bat um Empfehlungen, was er tun solle.<br />

Ergebnis <strong>der</strong> Besprechungen war, daß Burger angesichts des nahenden Universitätsjubiläums<br />

auf se<strong>in</strong> Amt verzichtete. Dem fügte er sich, unterließ aber nicht, dem amerikanischen<br />

Jungwissenschaftler vorzuwerfen, von organisierten Drahtziehern nur vorgeschickt<br />

worden zu se<strong>in</strong>. In <strong>der</strong> Optik Benno von Wieses begann <strong>mit</strong> dem Rücktritt Burgers von<br />

se<strong>in</strong>em Frankfurter Rektor-Amt die "Krise <strong>der</strong> Universität", zumal dieser Fall das Vorbild<br />

zu <strong>der</strong> "Kampagne" vom Herbst 1964 gegen den Bonner Rektor Hugo Moser abgegeben<br />

hätte. 124<br />

118<br />

Walter Jens, Völkische Literaturbetrachtung - heute, <strong>in</strong>: Hans Werner Richter, Bestandsaufnahme,<br />

a.a.O., S.344-350.<br />

119<br />

Hans Schwerte, <strong>Der</strong> Weg <strong>in</strong>s zwanzigste Jahrhun<strong>der</strong>t. 1889 - 1945, <strong>in</strong>: He<strong>in</strong>z Otto Burger (Hg.), Annalen<br />

<strong>der</strong> deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. E<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaftsarbeit zahlreicher Fachgelehrter,<br />

Stgt. 1952, S.719-840. Zu Schwerte siehe: Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek, Zwischenbilanz, a.a.O.<br />

120<br />

Autor <strong>der</strong> "Anekdoten" und wagnerisieren<strong>der</strong> Geschichtsdilettant (z.B.: Die dreizehn Bücher <strong>der</strong> deutschen<br />

Seele, Mnchn. 1922, 110. Tausend).<br />

121<br />

Walter Jens, Völkische Literaturbetrachtung, a.a.O., S.348.<br />

122<br />

"Zwischen uns herrschte, gleichsam <strong>mit</strong> Auguren-Lächeln, e<strong>in</strong> stillschweigendes E<strong>in</strong>verständnis über das<br />

uns wi<strong>der</strong>wärtige Zeitalter." (Benno von Wiese, Ich erzähle me<strong>in</strong> Leben, a.a.O., S.157.)<br />

123<br />

Zum folgenden siehe: Spiegel 48/1963, Rektorwahl. Be<strong>in</strong>ahe harmlos.<br />

124<br />

Benno von Wiese, Ich erzähle me<strong>in</strong> Leben, a.a.O., S.350.


26<br />

<strong>Der</strong> Alt-Germanist und Volkskundler Hugo Moser, geb. 1909, Mitautor <strong>in</strong> Burgers bereits<br />

genanntem "Annalen"-Band, hatte 1937 über e<strong>in</strong> zeitgemäßes Stammes- und Volksgruppen-Thema<br />

promoviert, die Mundart und Sitte <strong>der</strong> Sathmarer Schwaben 125 , und 1949 über<br />

"Uhlands Schwäbische Sagenkunde und die germanistische volkskundliche Forschung <strong>der</strong><br />

Romantik" habilitiert; das Stammesthema beschäftigte Moser auch nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg 126 . Dieser Gelehrte wurde im W<strong>in</strong>tersemester 1964 Rektor <strong>der</strong> Bonner Universität.<br />

Wie 1959 war auch das Jahr 1964 e<strong>in</strong> Quellpunkt <strong>in</strong> den Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen um die<br />

Entnazifizierung <strong>der</strong> Universitäten. Das Panorama <strong>der</strong> nicht enden wollenden Affären um<br />

nationalsozialistische Verstrickungen und 'Strukturnazis' verdient, <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>igen Strichen<br />

skizziert zu werden, bevor wir dem Fall Moser näher betrachten.<br />

1964 begannen Studentenzeitschriften wie die "notizen" <strong>der</strong> Universität Tüb<strong>in</strong>gen und "5<br />

vor 12" <strong>der</strong> Universität Marburg da<strong>mit</strong>, die <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> e<strong>in</strong>zelner Hochschullehrer<br />

herauszustellen 127 , woraufh<strong>in</strong> es im W<strong>in</strong>tersemester 1964/65 <strong>in</strong> Tüb<strong>in</strong>gen zu <strong>der</strong> legendären<br />

"R<strong>in</strong>gvorlesung" über die Hochschulen im Nationalsozialismus und <strong>in</strong> Marburg zu e<strong>in</strong>er<br />

Podiumsdiskussion zwischen Professoren <strong>der</strong> verschiedenen Fakultäten über das Verhalten<br />

<strong>der</strong> Universitäten im "Dritten Reich" kam 128 ; zugleich erschien <strong>der</strong> erste Band von<br />

Rolf Seeligers "Braune Universität" 129 . Währenddessen schwelte seit Januar 1964 <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen<br />

die Affäre um den Ord<strong>in</strong>arius für Mediz<strong>in</strong>geschichte Prof. Dr. Alexan<strong>der</strong> Berg 130 :<br />

Dieser, als SS-Obersturmführer von Himmler für die Leitung e<strong>in</strong>er Abteilung "Volksmediz<strong>in</strong>"<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> SS-Lehr- und Forschungsgeme<strong>in</strong>schaft "Das Ahnenerbe" vorgesehen 131 , hatte<br />

1942 habilitiert und <strong>in</strong> demselben Jahr geme<strong>in</strong>sam <strong>mit</strong> dem SS-Hauptsturmführer Bernward<br />

Gottlieb e<strong>in</strong> rassistisches mediz<strong>in</strong>historisches Machwerk über den germanischen Arzt<br />

<strong>in</strong> vier Jahrhun<strong>der</strong>ten 132 verfaßt. War Bernward Gottlieb 1960 apl. Professor für Mediz<strong>in</strong>geschichte<br />

an <strong>der</strong> Saar-Universität geworden, so ließ sich Berg 1963 von Berl<strong>in</strong> nach Gött<strong>in</strong>gen<br />

umhabilitieren. Ihm sollte "wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e aktive Mitarbeit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Fachwissenschaft"<br />

125<br />

Sathmarer Schwaben: Deutsche Volksgruppe im Nordwesten Rumäniens, überwiegend kath., überwiegend<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Landwirtschaft tätig, zwischen 1712 und 1815 e<strong>in</strong>gewan<strong>der</strong>t.<br />

126<br />

Z.B.: "<strong>Der</strong> Stammesgedanke im Schrifttum <strong>der</strong> Romantik und bei Ludwig Uhland", 1948; Stammescharakter<br />

und Volkssage, 1953.<br />

127<br />

Hans-Ulrich Thamer, Die <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong>, a.a.O., S.47.<br />

128<br />

Siehe: Rolf Seeliger, Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute. E<strong>in</strong>e Dokumentation,<br />

Heft 1, Mnchn. 1964, S.7 f.<br />

129<br />

Siehe dazu unten.<br />

130<br />

Siehe: Die Zeit, 13.2.1965, "Affäre Berg". O<strong>der</strong>: E<strong>in</strong> deutscher Ord<strong>in</strong>arius kann sich nicht irren. Dort,<br />

wenn nicht an<strong>der</strong>s angegeben, auch das Folgende.<br />

131<br />

Michael H. Kater, Das "Ahnenerbe" <strong>der</strong> SS 1935 - 1945. E<strong>in</strong> Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches,<br />

Mnchn. 2 1997, S.258. Berg war auch Mitarbeiter <strong>in</strong> dem von Gör<strong>in</strong>g und Himmlers "Ahnenerbe" getragenen<br />

"Wald und Baum"-Projekt. (Siehe: Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek, "Wald und Baum <strong>in</strong> <strong>der</strong> arisch-germanischen<br />

Geistes- und Kulturgeschichte" - E<strong>in</strong> Forschungsprojekt des "Ahnenerbe" <strong>der</strong> SS .)<br />

132<br />

Bernward Gottlieb, Alexan<strong>der</strong> Berg, Das Antlitz des germanischen Arztes <strong>in</strong> vier Jahrhun<strong>der</strong>ten. Mit e<strong>in</strong>em<br />

Geleitwort von Reicharzt-SS E. R. Grawitz, Bln. 1942.


27<br />

ermöglicht werden. <strong>Der</strong> E<strong>in</strong>spruch kam von außen, von dem Zürcher Mediz<strong>in</strong>historiker<br />

und amerikanischen Staatsbürger Erw<strong>in</strong> H. Ackerknecht. Seitens <strong>der</strong> Universität Gött<strong>in</strong>gen<br />

gab es zunächst die Erklärung, Berg wäre 1942 zur Mitarbeit an dem rassistischen Buch<br />

von 1942 gezwungen worden etc., aber im Juni 1964 entzog ihm die Mediz<strong>in</strong>ische Fakultät<br />

<strong>der</strong> Universität Gött<strong>in</strong>gen die Venia legendi. 133<br />

Am 1.7.1964 wurde He<strong>in</strong>rich Lübke für weitere fünf Jahre zum Bundespräsidenten gewählt;<br />

die SPD hatte ke<strong>in</strong>en eigenen Kandidaten aufgestellt, die FDP dagegen Ewald Bucher<br />

präsentiert, Jurist, "Pg." <strong>der</strong> <strong>NS</strong>DAP und auch noch Träger des Goldenen HJ-<br />

Abzeichens ... 134 An <strong>der</strong> Universität Hamburg wurde e<strong>in</strong>e Demonstration des Liberalen<br />

Studentenbundes gegen Lübkes Wie<strong>der</strong>wahl vom Rektorat untersagt. Die dortige Universitätsbibliothek<br />

richtete e<strong>in</strong>en Giftschrank für "SBZ-Literatur" e<strong>in</strong>. Studenten, die Bücher<br />

aus <strong>der</strong> DDR lesen wollten, mußten um Son<strong>der</strong>genehmigung e<strong>in</strong>kommen. 135<br />

Vor diesem angedeuteten Panorama ist es zu sehen, daß sich Walter Boehlich entschloß,<br />

den Fall Moser zum Anlaß für e<strong>in</strong>em Generalangriff gegen das zu nehmen, was er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> dem Sprachwissenschaftler Weisgerber den "faschistischen Augiasstall"<br />

genannt hatte. 136<br />

Mit dem Artikel "<strong>Der</strong> neue Bonner Rektor. Die Maßlosigkeit und die Mäßigung e<strong>in</strong>es Philologen"<br />

eröffnete Boehlich am 23.10.1964, also etwa zu Beg<strong>in</strong>n des für die kritische Aufarbeitung<br />

des Nationalsozialismus <strong>in</strong> den Universitäten so wichtigen W<strong>in</strong>tersemesters<br />

1964/65 e<strong>in</strong>en Kampf, <strong>der</strong> von vornhere<strong>in</strong> auf die geistige Situation <strong>der</strong> westdeutschen<br />

Universitäten <strong>in</strong>sgesamt bezogen se<strong>in</strong> sollte: Die Universität Bonn, so Boehlich, sei seit jeher<br />

durch hervorragende Lehrer ausgezeichnet und durch "Makel nationalistischer Verblendung"<br />

gezeichnet, speziell dadurch, daß sie Thomas Mann im Dezember 1936 den Ehrendoktor<br />

aberkannt habe. Weil man sich aber nicht nur <strong>in</strong> Bonn, son<strong>der</strong>n "allenthalben an<br />

den Universitäten <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>" weigere, "die Frage nach <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Universitäten<br />

im Dritten Reich und nach ihrer Schuld zu stellen", habe es dazu kommen können, e<strong>in</strong>en<br />

Wissenschaftler wie Moser zum Rektor zu wählen. Dieser habe e<strong>in</strong>st <strong>in</strong> dem nazistischen<br />

Aufsatz "Auslandsdeutschtum und völkische Erziehung", erschienen im "Deutschen<br />

133<br />

Die Zeit, 12.3.1965, Zuschrift <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>ischen Fakultät Gött<strong>in</strong>gen.<br />

134<br />

Arnulf Bar<strong>in</strong>g, Machtwechsel, a.a.O., S.36.<br />

135<br />

Siehe: Die Zeit, 12.2.1965, "Die übliche Sprachregelung. Hamburgs Magnifizenz und die DDR."<br />

136<br />

Das Thema Moser / Universität Bonn lohnte e<strong>in</strong>e monographische Darstellung. Zum Folgenden siehe:<br />

Walter Boehlich, <strong>Der</strong> neue Bonner Rektor. Die Maßlosigkeit und Mäßigung e<strong>in</strong>es Philologen (Die Zeit,<br />

23.10.1964); <strong>der</strong>s., Noch e<strong>in</strong>mal: <strong>Der</strong> neue Rektor (Die Zeit, 6.11.1964. Dar<strong>in</strong> auch die "Erklärung" <strong>der</strong> Universität<br />

Bonn, Stellungnahme <strong>der</strong> Bonner "Son<strong>der</strong>kommission", Boehlichs "Antwort", Thomas Manns Brief<br />

an den Dekan <strong>der</strong> Universität Bonn von Neujahr 1937, die Aberkennung se<strong>in</strong>es Bonner Ehrendoktorats betreffend,<br />

sowie Leserbriefe); Fortsetzung <strong>der</strong> Berichte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit, 13.11.1964; Die Zeit, 20.11.1964 (Stellungnahme<br />

von Rudolf Walter Leonhardt); Die Zeit, 27.11.1964 (u.a. Dokumentation e<strong>in</strong>er Erklärung des<br />

Bonner Universitätssenates sowie "Kommentar" von Rudolf Walter Leonhardt); Die Zeit, 4.12.1964 (u.a.<br />

"Erklärung <strong>der</strong> Sieben"); Die Zeit, 1.1.1965 (Leserbriefe); Die Zeit, 7.1.1965 (Leserbriefe); Die Zeit,<br />

29.1.1965 (Karl Otto Conrady, Germanistik <strong>in</strong> <strong>der</strong> Diskussion. Über e<strong>in</strong>ige Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

<strong>mit</strong> ihrer <strong>Vergangenheit</strong>).


28<br />

Erzieher. Kampfblatt <strong>der</strong> im Nationalsozialistischen Lehrerbund gee<strong>in</strong>ten Erzieherschaft<br />

des Gaues Württemberg-Hohenzollern", die These verfochten, Doppelsprachigkeit schädige<br />

den Charakter und führe zu kultureller Unfruchtbarkeit; des weiteren sei Moser Mitherausgeber<br />

e<strong>in</strong>es Buches "Lie<strong>der</strong> unseres Volkes", das unter an<strong>der</strong>em e<strong>in</strong> Sammelsurium nationalsozialistischer<br />

"Kampflie<strong>der</strong>" enthielt und 1942 <strong>in</strong> erweiterter Fassung nochmals erschienen<br />

sei. Wie bei se<strong>in</strong>er Polemik gegen Weisgerber beließ es Boehlich auch <strong>in</strong> Sachen<br />

Moser nicht bei H<strong>in</strong>weisen auf Veröffentlichungen bis 1945. Er wandte sich <strong>der</strong> Nachkriegsproduktion<br />

zu, spürte <strong>in</strong> Mosers "Deutscher Sprachgeschichte" von 1955 den Ausdruck<br />

"Weltjudentum" 137 auf, sah sich e<strong>in</strong>em Geschichtsdenken gegenüber, das den Nationalsozialismus<br />

und die deutsche Teilung offenbar "wie e<strong>in</strong>en Schnupfen" erklärte, und<br />

bemerkte abschließend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an Karl Kraus geschulten h<strong>in</strong>tergründigen Sprachkritik:<br />

"Die mangelnde Beherrschung <strong>der</strong> deutschen Sprache ist <strong>in</strong> dieser Ecke <strong>der</strong> Germanistik<br />

nichts Ungewohntes und ruft längst ke<strong>in</strong> Erstaunen mehr hervor."<br />

Dixit. Die Bonner Universität reagierte unter an<strong>der</strong>em <strong>mit</strong> dem H<strong>in</strong>weis, die von Boehlich<br />

präsentierten Zitate aus Mosers <strong>NS</strong>-Schriften seien aufgebauscht und aus dem Zusammenhang<br />

gerissen; sie stellte die signifikante Behauptung auf, Moser habe <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en nationalsozialistischen<br />

Schriften nur das "damals Übliche" getan; sie deutete etwas von anonymen<br />

Zuschriften aus Frankfurt an. Nicht an<strong>der</strong>s als v. Wiese über Burger, behauptete e<strong>in</strong>e <strong>in</strong><br />

Bonn gebildete "Son<strong>der</strong>kommission" über Moser, er sei <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit dem Umfeld des<br />

"Wi<strong>der</strong>standes" zuzurechnen gewesen. 138 Subkutan wurde <strong>mit</strong> bewährten akademischen<br />

Mitteln gefochten, und Rudolf Walter Leonhardt, Feuilleton-Chef <strong>der</strong> "Zeit", mußte Walter<br />

Boehlich vier Wochen nach Ersche<strong>in</strong>en des "Maßlosigkeits"-Artikels gegen den von <strong>der</strong><br />

Universität Bonn verbreiteten Vorwurf <strong>in</strong> Schutz nehmen, er hätte se<strong>in</strong>en Angriff aus bloßem<br />

Ressentiment und Futterneid geschrieben, da er trotz Assistentenstelle bei Curtius <strong>in</strong><br />

Bonn akademisch nichts geworden sei und nun - <strong>der</strong> Fuchs und die Trauben - se<strong>in</strong> Leben<br />

als Lektor im Suhrkamp-Verlag fristen müsse.<br />

In <strong>der</strong> ersten Leserbriefserie auf Boehlichs Artikel f<strong>in</strong>den wir die Feststellung, viele habilitierte<br />

Hochschulwissenschaftler, die tatsächlich Anti-Nationalsozialisten gewesen waren,<br />

hätten <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> ke<strong>in</strong>en Lehrstuhl bekommen, wogegen man bei <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>stellung<br />

ehemaliger Nationalsozialisten <strong>mit</strong> wenig Skrupeln vorgegangen sei; deprimiert<br />

wurde erwartet, die angekündigte Tüb<strong>in</strong>ger R<strong>in</strong>gvorlesung werde das Thema Wissenschaft<br />

und Nationalsozialismus wohl nur unverb<strong>in</strong>dlich-akademisch abhandeln; man war <strong>der</strong> Auf-<br />

137<br />

Siehe auch: Unsere Sprache. Weltjudentum, <strong>in</strong>: Die Zeit, 13.11.1964. (Das "Weltjudentum", so wird Moser<br />

zitiert, sei von <strong>der</strong> "Katastrophe" des Zweiten Weltkrieges "betroffen" worden.)<br />

138<br />

Die Ausweitung des Streites um Moser auf die Schmähung Thomas Manns durch die Bonner Universität<br />

braucht hier nicht zu <strong>in</strong>teressieren. Im Anschluß an den Moser-Streit ist dazu e<strong>in</strong>e volum<strong>in</strong>öse Monographie<br />

entstanden: Paul Egon Hüb<strong>in</strong>ger, Thomas Mann, die Universität Bonn und die Zeitgeschichte. Drei Kapitel<br />

deutscher <strong>Vergangenheit</strong> aus dem Leben des Dichters 1905 - 1955, München, Wien 1974


29<br />

fassung, Moser solle das Recht auf politischen Irrtum ebenso e<strong>in</strong>geräumt werden wie es die<br />

FDP bei ihrem Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten, Ewald Bucher, getan habe,<br />

<strong>der</strong> das Goldene HJ-Abzeichen besaß.<br />

Es gelang nicht, Moser zu stürzen, aber Boehlich brachte <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en Artikeln e<strong>in</strong>e "Law<strong>in</strong>e<br />

des Unbehagens <strong>in</strong>s Rollen". 139 <strong>Der</strong> Fall Moser verschärfte den Generationsgegensatz <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Germanistik und spielte auch <strong>in</strong> den Germanistenverband h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Dessen erster Vorsitzen<strong>der</strong><br />

war 1965 - 1966 Benno von Wiese, zweiter Vorsitzen<strong>der</strong> war Moser. 140 <strong>Der</strong> furiose<br />

Münchner Germanistentag von 1966 war e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>schnitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> deutschen<br />

Literaturwissenschaft. 141<br />

Moser blieb im Rektoren-Amt, und als im Juni 1965 e<strong>in</strong>e weitere Affäre an <strong>der</strong> Universität<br />

Bonn für Aufsehen sorgte, war er daran beteiligt, sie durch Schweigen und Verschleppen<br />

'auszusitzen'. Diese Affäre betraf den Mediz<strong>in</strong>er Siegfried Ruff, Leiter des Bonner Instituts<br />

für Flugmediz<strong>in</strong>. Ruff war während des Krieges im Konzentrationslager Dachau an Versuchen<br />

beteiligt gewesen, bei denen Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Unterdruckkammern e<strong>in</strong>er simulierten Höhe<br />

von ca. 15.000 Metern ausgesetzt wurden. Die Versuche endeten oftmals tödlich. Ruff war<br />

im Nürnberger Ärzteprozeß angeklagt, aber freigesprochen worden, da ihm die Verwicklung<br />

<strong>in</strong> die verbrecherischen Menschenversuche nur auf dem Indizienwege nachgewiesen<br />

werden konnte. E<strong>in</strong> Bonner 'Mittelbauer' nun hatte 1965 auf den <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachwelt längst bekannten<br />

Fall Ruff 142 aufmerksam gemacht, woraufh<strong>in</strong> dieser <strong>mit</strong> juristischen Schritten<br />

drohte. Für Ruff verlief die Sache im Sande; aber <strong>der</strong> junge 'Mittelbauer', Assistent am<br />

Physiologischen Institut, verlor se<strong>in</strong>en Lehrauftrag. 143 Dagegen ließ die nordrhe<strong>in</strong>westfälische<br />

Landesregierung den Erziehungswissenschaftler und e<strong>in</strong>stigen Hamburger<br />

Senator für Schul- und Hochschulwesen Prof. Hans Wenke, 1963 zum Gründungsrektor<br />

<strong>der</strong> neuen Universität Bochum ausersehen, nach Protesten wegen se<strong>in</strong>er rassistischen und<br />

nazistischen Äußerungen im "Dritten Reich" 1965 fallen - e<strong>in</strong> Entschluß, "<strong>der</strong> ob se<strong>in</strong>er<br />

Seltenheit allgeme<strong>in</strong>e Beachtung fand". 144<br />

Wie bereits hervorgehoben, war 1964 wie 1959 e<strong>in</strong> wichtiges Jahr für die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

um den Nationalsozialismus <strong>in</strong> den Universitäten, aber <strong>der</strong> Auffassung von Rolf Seeliger,<br />

diese Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen wären im wesentlichen von Studenten provoziert wor-<br />

139<br />

So Rudolf Walter Leonhardt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ersten Resümee <strong>der</strong> Affäre. Siehe: <strong>Der</strong>s., "Kommentar", <strong>in</strong>: Die<br />

Zeit, 27.11.1964.<br />

140<br />

Benno von Wiese, Ich erzähle me<strong>in</strong> Leben, a.a.O., S.353.<br />

141<br />

Siehe: Karl Otto Conrady, Miterlebte Germanistik, a.a.O.; Eberhard Lämmert et al., Germanistik - e<strong>in</strong>e<br />

deutsche Wissenschaft, a.a.O.<br />

142<br />

In <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Scientific Community <strong>der</strong> Luftfahrtmediz<strong>in</strong>er blieb Ruff e<strong>in</strong> KZ-Arzt, <strong>der</strong> tödliche<br />

Versuche <strong>mit</strong> Häftl<strong>in</strong>gen durchgeführt hatte. 1961 und 1965 mußten <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> geplante Weltkongresse<br />

für Luftfahrtmediz<strong>in</strong> abgesagt und <strong>in</strong>s Ausland verlegt werden, weil Anstoß an <strong>der</strong> Teilnahme von<br />

Ruff genommen wurde.<br />

143<br />

Siehe: Affäre Ruff. Tadel verpflichtet, <strong>in</strong>: Spiegel, 48/1965, S.76-77.<br />

144<br />

Amos Elon, In e<strong>in</strong>em heimgesuchten Land, a.a.O., S.325.


30<br />

den, kann nach den bisherigen Darlegungen nicht zugestimmt werden. 145 Zu konzedieren<br />

ist dagegen, daß 1964 das Scharnierjahr gewesen ist, <strong>in</strong> dem die Kritik <strong>der</strong> braunen <strong>Vergangenheit</strong><br />

<strong>der</strong> Universitätslehrer von den Studierenden verstärkt selbst <strong>in</strong> die Hand genommen<br />

wurde. E<strong>in</strong> Indiz dafür s<strong>in</strong>d die zwischen 1964 und 1968 von Rolf Seeliger erarbeiteten<br />

und herausgegebenen Dokumentationsbändchen "Braune Universität". 146 Sie<br />

enthielten Viten e<strong>in</strong>deutig belasteter und <strong>in</strong>zwischen wie<strong>der</strong> zum Establishment zählen<strong>der</strong><br />

Gelehrter; ab dem dritten Band bat Seeliger die Angegriffenen um Stellungnahmen, die er<br />

gleichfalls zu publizieren gedachte.<br />

Insgesamt hat Seeliger 84 Hochschullehrer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Reihe aufgenommen:<br />

29 Juristen und Staatswissenschaftler<br />

11 Wirtschaftler und Volkswirtschaftler<br />

10 Theologen, <strong>in</strong> überwiegendem Maße Protestanten<br />

8 Historiker<br />

5 Biologen / Anthropologen<br />

4 Germanisten, Sprach- und Literaturwissenschaftler<br />

3 Pädagogen / Erziehungswissenschaftler<br />

3 Soziologen<br />

2 Kunstwissenschaftler<br />

2 Mediz<strong>in</strong>er<br />

2 Publizisten<br />

2 Volkskundler<br />

1 Anglist<br />

1 Landesplaner<br />

1 Physiker<br />

1 Theaterwissenschaftler<br />

Es wimmelt also von staatstragenden Juristen; Naturwissenschaftler s<strong>in</strong>d extrem unterrepräsentiert,<br />

was <strong>mit</strong> den Kenntnissen und Neigungen Seeligers zusammenhängen mochte<br />

sowie da<strong>mit</strong>, daß Naturwissenschaftler nicht nationalsozialistische Traktate geschrieben,<br />

son<strong>der</strong>n effizienzsteigernd nationalsozialistisch gehandelt hatten; angesichts <strong>der</strong> Tatsache,<br />

daß e<strong>in</strong> Benno von Wiese die Me<strong>in</strong>ung vertrat, wenn man <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen <strong>Vergangenheit</strong><br />

angesehener Germanisten herumschnüffle, könne man ke<strong>in</strong>en Professor mehr berufen, <strong>der</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit <strong>in</strong> Deutschland im Amt gewesen sei, verwun<strong>der</strong>t die niedrige Zahl <strong>der</strong> bei<br />

Seeliger figurierenden Vertreter dieser Wissenschaft. Mit Ausnahme von Gerhard Fricke,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>st <strong>in</strong> Köln die Bücherverbrennungsrede hielt, begegnet uns ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> prom<strong>in</strong>enten<br />

145<br />

Rolf Seeliger, Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute. E<strong>in</strong>e Dokumentation, Bd.<br />

1, Mnchn. 1964, S.7.<br />

146<br />

Rolf Seeliger, Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute. E<strong>in</strong>e Dokumentation, Bd.<br />

1, a.a.O.; Bd. 2, Mnchn. 1965; Bd. 3 (ab nun <strong>mit</strong> dem geän<strong>der</strong>ten Untertitel "Dokumentation <strong>mit</strong> Stellungnahmen"),<br />

Mnchn. 1965; Bd. 4 (Son<strong>der</strong>heft Westberl<strong>in</strong>), Mnchn. 1966; Bd. 5 (Doktorarbeiten im Dritten<br />

Reich. Dokumentation <strong>mit</strong> Stellungnahmen), Mnchn. 1966; Bd. 6 unter Mitarbeit von Dieter Schoner und<br />

Hellmut Haas, Mnchn. 1968. (Zu den Prozessen, die gegen Seeliger angestrengt wurden, siehe: Amos Elon,<br />

In e<strong>in</strong>em heimgesuchten Land, a.a.O., S.328 ff.)


31<br />

Verstrickten.<br />

Acht Historiker hat Seeliger aufgenommen, allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e Prom<strong>in</strong>enz <strong>der</strong> ersten Garnitur.<br />

Es handelte sich um Rudolf Buchner (Mittlere und Neuere Geschichte, Gött<strong>in</strong>gen) 147 ,<br />

Günther Franz (Geschichte und Agrargeschichte, Hohenheim) 148 , von dem oben bereits<br />

bei <strong>der</strong> kurzen Schil<strong>der</strong>ung des makabren SS-SD-Gesprächs im Frühjahr 1945 am Berl<strong>in</strong>er<br />

Wannsee die Rede war, Herbert Grabert (Zeitgeschichte, Tüb<strong>in</strong>gen) 149 , Götz Freiherr von<br />

Pölnitz (Schwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Erlangen; Gründungsrektor <strong>der</strong><br />

Universität Regensburg) 150 , Georg von Rauch (Osteuropageschichte, Kiel) 151 , Bolko von<br />

Richthofen (Vor- und Frühgeschichte) 152 , Gustav Riek (Urgeschichte, Tüb<strong>in</strong>gen) 153 ,<br />

Re<strong>in</strong>hard Wittram (Mittlere und Neuere Geschichte, Gött<strong>in</strong>gen) 154 .<br />

Von 54 um e<strong>in</strong>en Kommentar gebetenen Professoren antworteten 33. Ausgesprochen unverfroren<br />

und auf se<strong>in</strong>en nationalsozialistischen Positionen beharrend war die Stellungnahme<br />

des Staatswissenschaftlers Alexan<strong>der</strong> Görner. 155 Er fand es passend, ihr das Motto<br />

"<strong>Der</strong> Jid schlogt - un schrajt 'gewalt'" als "jidisches Sprichwort" voranzustellen, und bemerkte<br />

zu se<strong>in</strong>en antise<strong>mit</strong>ischen Ausfällen während <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit, sie entsprächen den<br />

Grunde<strong>in</strong>sichten des Historischen Materialismus und fänden e<strong>in</strong>e Stütze bei Max Weber<br />

und Werner Sombart. 156<br />

Von den acht Historikern haben drei <strong>in</strong> Seeligers Reihe Stellung genommen 157 : v. Pölnitz,<br />

147<br />

Seeliger, a.a.O., Bd. 3, S.32 ff.<br />

148<br />

Ebd., Bd. 1, S.17 ff. Zu Franz siehe demnächst: Wolfgang Behr<strong>in</strong>ger, Von Krieg zu Krieg. Neue Perspektiven<br />

auf das Werk von Günther Franz, <strong>in</strong>: Hans Medick, Benigna von Krusenstern (Hg.), Zwischen Alltag<br />

und Katastrophe. <strong>Der</strong> Dreißigjährige Krieg aus <strong>der</strong> Nähe, Gött<strong>in</strong>gen 1999<br />

149<br />

Seeliger, a.a.O., Bd. 1, S.19 ff.<br />

150<br />

Ebd., Bd. 2, S.51 ff. v. Pölnitz war von <strong>der</strong> bayerischen Landesregierung als Gründungsrektor <strong>der</strong> neuen<br />

Universität Regensburg vorgesehen gewesen, und als man auf se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>schlägigen Publikationen aus <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<br />

Zeit h<strong>in</strong>wies, stellte sich Kultusm<strong>in</strong>ister Huber zunächst <strong>mit</strong> dem Argument h<strong>in</strong>ter ihn, er hätte während <strong>der</strong><br />

<strong>NS</strong>-Zeit "zur Sicherheit se<strong>in</strong>er wirtschaftlichen Existenz (...) zu Mitteln <strong>der</strong> Tarnung greifen müssen". Als<br />

immer mehr belastende Schriften auftauchten, trat von Pölnitz schließlich 1965 selbst zurück. (Siehe: Amos<br />

Elon, In e<strong>in</strong>em heimgesuchten Land, a.a.O., S.325.)<br />

151<br />

Ebd., S.53 ff.<br />

152<br />

Ebd., S.56 f.<br />

153<br />

Ebd., S.58.<br />

154<br />

Ebd., S.72 ff. Siehe: Hans-Erich Volkmann, Von Johannes Haller zu Re<strong>in</strong>hard Wittram. Deutschbaltische<br />

Historiker und <strong>der</strong> Nationalsozialismus, <strong>in</strong>: ZfG 45 (1997), S. 21-46.<br />

155<br />

1939 Dozent an <strong>der</strong> deutschen Universität Prag und dort 1942 apl. Professor; ab 1956 Lehrbeauftragter an<br />

<strong>der</strong> TH Karlsruhe sowie Präsident des Bundesbeirats des Bundes Deutscher Kriegsopfer.<br />

156<br />

Siehe: Seeliger, a.a.O., S.66 f., Stellungnahme Prof. Görner.<br />

157<br />

Günther Franz äußerte sich 1981 an an<strong>der</strong>er Stelle über se<strong>in</strong> Engagement <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit: "(...) auch ich<br />

war damals Nationalsozialist." Er verwies auf Gerhard Ritters Aufsätze "<strong>Der</strong> deutsche Professor im 'Dritten<br />

Reich'" (Die Gegenwart, 1945) und "Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t" (GWU, 1950),<br />

wor<strong>in</strong> hervorgehoben worden sei, auch <strong>der</strong> Nationalsozialismus hätte "hier und da" Anstoß zu neuen Forschungsrichtungen<br />

und Fragestellungen gegeben, und zwar beson<strong>der</strong>s auf dem Gebiet <strong>der</strong> "agrar- und bevölkerungswissenschaftlichen<br />

Studien". Auf diesem Sektor aber habe er - Franz - geforscht. Franz <strong>in</strong>sistierte<br />

darauf, wohl Nationalsozialist und Historiker, aber noch lange nicht nationalsozialistischer Historiker gewesen<br />

zu se<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong> Volksbegriff sei auch nicht vom Nationalsozialismus, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> Jugendbewegung


32<br />

Wittram und Buchner. Götz Freiherr von Pölnitz wies darauf h<strong>in</strong>, daß das Bayerische<br />

Staatsm<strong>in</strong>isterium für Unterricht und Kultur die erhobenen Vorwürfe untersucht und nichts<br />

Belastendes herausgefunden hätte 158 ; Wittram bekannte sich zu se<strong>in</strong>en früheren Äußerungen,<br />

bedauerte sie zutiefst und führte Schriften aus früher Nachkriegszeit an, wor<strong>in</strong> er se<strong>in</strong>e<br />

Positionen aus <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit e<strong>in</strong>er Revision unterzogen habe 159 ; Buchner, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

aufgrund se<strong>in</strong>er Tätigkeit <strong>in</strong> den Adolf-Hitler-Schulen belastet, machte geltend, daß die zuständigen<br />

Behörden bei se<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>stellung nach dem Kriege das Erzieher-Sem<strong>in</strong>ar<br />

<strong>der</strong> Adolf-Hitler-Schulen "als e<strong>in</strong>e wissenschaftliche, nicht politische Anstalt anerkannt"<br />

hätten, und führte - e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Fahrt gekommen - aus, wenn man aufgrund aus dem Zusammenhang<br />

gerissener Äußerungen die jetzigen Universitäten als "braun" bezeichnen<br />

wolle, so könne man sie genau so gut als "rot" ansehen: "Wie viele ehemalige Kommunisten<br />

lehren an ihr!" 160<br />

Kann es angesichts solch e<strong>in</strong>er Haltung maßgeben<strong>der</strong> Professoren verwun<strong>der</strong>n, daß die angebotenen<br />

universitären Lehrveranstaltungen studentischen Wünschen nach neuer, frischer<br />

Wahrheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht entgegenkamen? Das Meiste, so ergibt e<strong>in</strong>e Auswertung von<br />

Vorlesungsverzeichnisse von Aachen, Bonn, Frankfurt, Heidelberg und Köln zwischen<br />

dem WS 1959/60 und dem WS 1970/71, blieb angenagelt auf dem alten Gleise, und es bietet<br />

sich als Kommentar <strong>der</strong> erste Satz des bereits genannten Campus-Romans von 1949 an:<br />

"Albert Conradi gähnt. Er kommt aus <strong>der</strong> Vorlesung und gähnt, gähnt unaufhörlich, fast<br />

regelmäßig." 161<br />

Allerd<strong>in</strong>gs ist für e<strong>in</strong>e wertende Durchsicht von Vorlesungsverzeichnissen e<strong>in</strong>zuschränken,<br />

daß viele Lehrveranstaltungen, vor allem im Grundstudiums- und im Examenskandidatensektor,<br />

ke<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltsbezogenen Titel aufwiesen, son<strong>der</strong>n als "Prosem<strong>in</strong>ar" o<strong>der</strong> als "Kolloquium"<br />

firmierten, und daß angegebene Titel <strong>in</strong> die Irre führen. Wenn etwa Arnold Gehlen<br />

162 an <strong>der</strong> TH Aachen im WS 1964/65 "Deutsche Sozialgeschichte seit 1848" anbot, so<br />

geprägt worden. Franz nahm <strong>in</strong> Anspruch, se<strong>in</strong> Aufsatz "Gesellschaft und Rasse" <strong>in</strong> <strong>der</strong> Festschrift für K. A.<br />

von Müller 1943 sei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Aufsatz e<strong>in</strong>es Fachhistorikers während <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit gewesen, <strong>der</strong> kritisch<br />

zum Rasse-Begriff Stellung genommen hätte. (Günther Franz, Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus<br />

und die deutsche Geschichtswissenschaft, <strong>in</strong>: Oswald Hauser , Geschichte und Geschichtsbewußtse<strong>in</strong>.<br />

19 Vorträge für die Ranke-Gesellschaft Vere<strong>in</strong>igung für Geschichte im öffentlichen Leben, Gött<strong>in</strong>gen, Zürich<br />

1981, S.91-111, S.106 f.) <strong>Der</strong> e<strong>in</strong>stige SS-Hauptsturmführer Günther Franz hat se<strong>in</strong>e nationalsozialistischen<br />

Aktivitäten allerd<strong>in</strong>gs stark zurücknuanciert. Franz war - wie oben berichtet - Mitglied <strong>der</strong> SS-<br />

Intellektuellenrunde, die sich am 8.3.1945 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Wannsee traf, um die Schriftenreihe über die deutschen<br />

Ordnungsleistungen während des Krieges zu planen (siehe oben, zu Anm. XXXXXX).<br />

158<br />

Seeliger, a.a.O., Bd.2, S.57 f.<br />

159<br />

Ebd., S.74 f.<br />

160<br />

Ebd., Bd.3, S.35.<br />

161<br />

Paul Schallück, Wenn man aufhören könnte zu lügen, a.a.O., S.5.<br />

162<br />

Zu Gehlen siehe: Gerw<strong>in</strong> Kl<strong>in</strong>ger, Arnold Gehlen - Theoretiker <strong>der</strong> Führung und Mitläufer, <strong>in</strong>: Helmut<br />

König (Hg.), <strong>Der</strong> Fall Schwerte im Kontext, Opladen, Wiesbaden 1998, S.128-137.


33<br />

mutet das mo<strong>der</strong>n an, hatte allerd<strong>in</strong>gs <strong>mit</strong> dem zu jener Zeit noch kaum e<strong>in</strong>geschlagenen<br />

'Bielefel<strong>der</strong> Weg' gar nichts und um so mehr <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Tradition im S<strong>in</strong>ne Wilhelm He<strong>in</strong>rich<br />

Riehls zu tun. 163 Wie Gehlen Sozialgeschichte <strong>der</strong> Kultur betrieb, hatte er im übrigen<br />

etwa zeitgleich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em zu Aachen gehaltenen Festvortrag "Soziologische Beiträge zur<br />

Kritik <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Literatur" vorgeführt 164 , die e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Vorgeschmack auf den<br />

'großen', von Emil Staiger ausgelösten Zürcher Literaturstreit von 1966 war 165 . Gehlen<br />

begründete se<strong>in</strong>e 'sozialgeschichtliche' These vom Verfall <strong>der</strong> heutigen Literatur da<strong>mit</strong>, daß<br />

die tragende Oberklasse von Altadel, Neuadel, Bankiers und altem Bürgertum nicht mehr<br />

existiere, die dem Künstler e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong> Gerüst und e<strong>in</strong>e moralische Generall<strong>in</strong>ie gegeben hätten,<br />

wogegen sie nun unter <strong>der</strong> Gürtell<strong>in</strong>ie operierten.<br />

In Aachen gab es die Institution des Studium generale für Hörer aller Fakultäten, um e<strong>in</strong>e<br />

naturwissenschaftliche Vere<strong>in</strong>seitigung <strong>der</strong> Studierenden zu vermeiden, und ab WS<br />

1964/65 die Philosophische Fakultät. Betrachten wir die Lehrveranstaltungen ab dem WS<br />

1959/60 nach den Angeboten <strong>in</strong> den Fächern Geschichte, Germanistik sowie Philosophie,<br />

Politologie, Soziologie. Im Studienjahr 166 1960/61 wurde im Fach Geschichte das klassisch<br />

zu nennende Kalte-Kriegs-Thema "Die Ostbedrohung Europas seit Peter dem Großen"<br />

angeboten; im Studienjahr darauf folgte e<strong>in</strong> "Kolloquium über Marxismus". Die Historiker<br />

hielten sich im übrigen bis Sommersemester 1968 (Prosem<strong>in</strong>ar "Die soziale Frage";<br />

im Semester darauf "Hitlers Vorstellungen von Geschichte und Politik") stark zurück. Innerhalb<br />

<strong>der</strong> germanistischen bzw. literaturgeschichtlichen Angebote fällt im Sommersemester<br />

1968 - als Thema e<strong>in</strong>er N.N.-Vorlesung - erstmals <strong>der</strong> Name Brecht. Hans<br />

Schwerte erwies sich, immer nach den Titeln <strong>der</strong> VL-Verzeichnisse, <strong>in</strong> Aachen als wahrer<br />

Neulandpflüger: "Deutsche Lyrik nach 1945" (WS 1966/67); ab WS 1966/67 e<strong>in</strong>e Folge<br />

<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer privatissime-Veranstaltungen "Mathematische Methoden <strong>der</strong> Sprach- und<br />

Literaturanalyse"; im Sommer 1967 "Literatursoziologie"; im Sommer 1968 "Brecht. Lyrik<br />

und Prosa" sowie das Obersem<strong>in</strong>ar "Forschungsprobleme <strong>der</strong> Trivialliteratur"; im Sommer<br />

1972 "Ausgewählte Kapitel aus <strong>der</strong> deutschen Literatur 1933 - 1970"; schließlich im<br />

Sommer 1977 und kurz vor <strong>der</strong> Emeritierung - dieser Ausblick sei gestattet - das Sem<strong>in</strong>ar<br />

"Literatur im nationalsozialistischen Deutschland". Überraschend mo<strong>der</strong>n <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Veranstaltungsthemen<br />

war <strong>in</strong> Aachen auch Klaus Mehnert 167 , Professor für Politologie. Er ver-<br />

163<br />

Siehe: Wilhelm He<strong>in</strong>rich Riehl, Die Naturgeschichte des deutschen Volkes. Zusammengefaßt und herausgegeben<br />

von Gunther Ipsen, Lpz. 1935.<br />

164<br />

Siehe: Arnold Gehlens Kraut und Rüben. E<strong>in</strong>e weniger festliche Rede, <strong>in</strong>: Die Zeit, 16.10.1964.<br />

165<br />

Siehe: Emil Staiger, Literatur und Öffentlichkeit (Rede vom 17.12.1966), <strong>in</strong>: Sprache im technischen<br />

Zeitalter, Heft 21-24/1967, S.90-97 (dort auch die weiteren Dokumente zu dieser Kontroverse). Staiger sah <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Literatur weith<strong>in</strong> Verfall und Schmutz. Peter Weiss' Bühnenstück "Die Er<strong>mit</strong>tlung" über den<br />

Frankfurter Auschwitzprozeß war nach Staigers Auffassung nur <strong>der</strong> kalkulierte Kitzel <strong>mit</strong> Schmutz und<br />

Scheußlichkeiten (ebd., S.93).<br />

166<br />

Die RWTH Aachen g<strong>in</strong>g ab Herbst 1963 zur Semesterzählung über.<br />

167<br />

Zu Mehnert siehe: Michael Kohlstruck, <strong>Der</strong> Fall Mehnert, <strong>in</strong>: Helmut König (Hg.), <strong>Der</strong> Fall Schwerte im<br />

Kontext, a.a.O., S.138-172.


34<br />

anstaltete im Studienjahr 1962/63 e<strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>ar über Ch<strong>in</strong>a, im WS 1964/65 e<strong>in</strong> Obersem<strong>in</strong>ar<br />

"20.7.1944", im Sommer 1965 e<strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>ar über die Sowjetunion sowie im WS<br />

1966/67 e<strong>in</strong>es über die "Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus aufgrund neuer<br />

Veröffentlichungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD". Für das Aachener Lehrangebot können wir ab Sommersemester<br />

1968 e<strong>in</strong>e allmähliche Umorientierung konstatieren. Nun setzten auf breiter Front<br />

Veranstaltungen wie "Unruhige Jugend <strong>in</strong> Ost und West", "Politische Institutionen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

BRD: Idee, Norm und Wirklichkeit", "USA - Weltmacht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise", "Deutsche Klassik<br />

und Arbeiterbewegung" e<strong>in</strong>.<br />

Das gilt <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht auch für die Universität Bonn. In <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft<br />

boten die Bonner Osteuropa-Historiker im Sommersemester 1960 e<strong>in</strong>e Vorlesung "Geschichte<br />

<strong>der</strong> Sowjetunion 1917 - 1941" an, ließen sie also <strong>mit</strong> dem deutschen Angriff enden;<br />

drei Semester später erfolgte e<strong>in</strong>e kursorische "Geschichte <strong>der</strong> deutsch-russischen Beziehungen<br />

1815 - 1945". Im Fach Neuere Geschichte gab es im Sommersemester 1962 e<strong>in</strong>e<br />

Vorlesung "Geschichte des jüdischen Volkes im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t", <strong>der</strong>en Untertitel allerd<strong>in</strong>gs<br />

lautete: "und ihre Bedeutung für die allgeme<strong>in</strong>e Geschichte" 168 ; acht Semester<br />

später folgte e<strong>in</strong>e Vorlesung "Geschichte <strong>der</strong> deutsch-französischen Beziehungen im 19.<br />

und 20. Jahrhun<strong>der</strong>t". Im WS 1966/67 bot Franz Petri die Vorlesung "Geschichte <strong>der</strong> deutschen<br />

Westgrenze" an. Angesichts <strong>der</strong> persönlichen Geschichte dieses Gelehrten ist das<br />

Thema <strong>der</strong> Vorlesung nur delikat zu nennen. 169 Wer wollte, konnte im WS 1966/67 auch<br />

e<strong>in</strong>e Vorlesung "Zur Problematik des historischen Urteils: Son<strong>der</strong>leistungen und Son<strong>der</strong>verfehlungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesamtbilanz <strong>der</strong> deutschen Geschichte" hören. Dann folgte über drei<br />

Semester nichts, bis Professor Repgen im WS 1968/69 über "Hauptprobleme <strong>der</strong> deutschen<br />

Geschichte 1918 - 1933" las. Die Zeitmauer 1933 wurde im Sommersemester 1970 von e<strong>in</strong>em<br />

jüngeren Kollegen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> "E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> die Tatsachen <strong>der</strong> Zeitgeschichte (1933 -<br />

1945)" übersprungen. Wer an <strong>der</strong> Universität Bonn etwas über den Komplex Nationalsozialismus<br />

/ Faschismus lernen o<strong>der</strong> sogar selbst darüber arbeiten wollte, wandte sich besser<br />

<strong>der</strong> Politologie zu. Hier nahm Karl Dietrich Bracher, Verfasser des Standardwerkes "Die<br />

Auflösung <strong>der</strong> Weimarer Republik" von 1955, ungefähr die Rolle e<strong>in</strong>, die Mehnert <strong>in</strong><br />

Aachen spielte. Bracher, <strong>der</strong> sich vergeblich nach Köln beworben hatte 170 , bot im Som-<br />

168<br />

Hervorhebung von mir/B.-A.R.<br />

169<br />

Petri war im "Dritten Reich" Haupt e<strong>in</strong>er Sprach- und Rasseforschung annexionistisch-antifranzösischer<br />

Stoßrichtung gewesen. Nach se<strong>in</strong>er Auffassung endete <strong>der</strong> Kulturraum <strong>der</strong> Germanen - also <strong>der</strong>en "Westgrenze"<br />

- ke<strong>in</strong>eswegs am Rhe<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong> unteren Se<strong>in</strong>e und am Loire-Knie. Aus 'deutsch bleibt <strong>der</strong><br />

Rhe<strong>in</strong>' sollte sozusagen 'deutsch wird die Se<strong>in</strong>e' werden. Zu Petri siehe: Karl Ditt, Die Kulturraumforschung<br />

zwischen Wissenschaft und Politik. Das Beispiel Franz Petri (1903 - 1993), <strong>in</strong>: Westfälische Forschungen 46<br />

(1996), S.73-176; Peter Schöttler, Die historische "Westforschung" zwischen "Abwehrkampf" und territorialer<br />

Offensive, <strong>in</strong>: <strong>Der</strong>s. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft. 1918-1945, Ffm. 1997,<br />

S.204-261.<br />

170<br />

"Ehe Bracher aus Berl<strong>in</strong> auf den Bonner Lehrstuhl für Politik g<strong>in</strong>g (...), scheiterte se<strong>in</strong>e (von den Historikern<br />

unterstützte) Berufung auf Brün<strong>in</strong>gs Kölner Professur für Politikwissenschaft an vehementem klerikalkonfessionalistischen<br />

Wi<strong>der</strong>stand, dessen reaktionäre Skurrilitäten ich als Kölner Doktorand verfolgt habe."<br />

(Wehler, Geschichtswissenschaft heute, a.a.O., S.723, Fn. 19.)


35<br />

mer 1960 "Das Problem des Rechtsradikalismus" an, im W<strong>in</strong>ter 1960/61 "<strong>Der</strong> mo<strong>der</strong>ne<br />

Nationalismus", im Sommer darauf "Das faschistische und das nationalsozialistische Herrschaftssystem<br />

im Vergleich", im W<strong>in</strong>ter 1962/63 "<strong>Der</strong> Nationalsozialismus. Geschichte<br />

und Struktur", ab W<strong>in</strong>ter 1965/66 die zweiteilige Vorlesung "<strong>Der</strong> Nationalsozialismus. Geschichte<br />

und Herrschaftssystem", im Sommer 1970 sogar - e<strong>in</strong>zig dastehend im Bonner<br />

Angebot - "Theorien des Faschismus". Dieses Sommersemester 1970 nun war <strong>in</strong> Bonn<br />

wie an den weiteren genannten Universitäten gegenüber dem WS 1959/60 von gänzlich<br />

an<strong>der</strong>em Profil: Während 1959/60 über die hier <strong>in</strong>teressierenden Probleme und Forschungsbereiche<br />

Fehlanzeige zu melden war, konnte man sich - immer <strong>mit</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schränkung,<br />

daß nicht alle Veranstaltungen <strong>in</strong>haltsbezogene Titel trugen - zehn Jahre später <strong>in</strong><br />

die "Tatsachen <strong>der</strong> Zeitgeschichte (1933 - 1945)" e<strong>in</strong>führen lassen und bei Bracher "Theorien<br />

des Faschismus" ver<strong>mit</strong>telt bekommen. Bis auf zwei Sem<strong>in</strong>are über Brechts Dramen<br />

und Dramaturgie im WS 1965/66 und im Sommersemester 1968 f<strong>in</strong>det sich im germanistischen<br />

Lehrangebot <strong>der</strong> Bonner Alma Mater für die Jahre von 1960 bis 1968/69 nichts. Ab<br />

dem Sommersemester 1969 wurde auf die neuen Zeitströmungen und die Bedürfnisse <strong>der</strong><br />

Studentenschaft behutsam reagiert: "Thomas Manns späte Romane" (Sommersem. 1969),<br />

"Probleme <strong>der</strong> Periodisierung II (1859 - 1950)", "Dramen von Dürrenmatt und Frisch"<br />

(Sommersem. 1970). <strong>Der</strong> Bonner Germanist Hugo Moser, von dem im Zusammenhang <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> Bonner Rektoratsaffäre bereits ausführlich die Rede war, führte dagegen <strong>in</strong>s Gotische<br />

e<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e Kollegen wie eh und je <strong>in</strong>s Altnordische und berieten "namenskundliche Arbeiten".<br />

Johannes (Leo) Weisgerber - auch von ihm war bereits die Rede - las bis zur Emeritierung<br />

1967 se<strong>in</strong>e Sprachgeme<strong>in</strong>schaftsvorlesungen, gegen die Boehlich als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wurzel<br />

faschistisch zu Felde gezogen war. Ab Sommer 1970 aber konnten sich <strong>in</strong>teressierte, von<br />

"1968" bewegte Bonner Studierende <strong>mit</strong> den Dramen von Dürrenmatt und Frisch beschäftigen.<br />

Vielleicht ist es symbolisch, daß Benno von Wiese, "Bildnis e<strong>in</strong>es Großord<strong>in</strong>arius"<br />

171 , <strong>in</strong> diesem Sommersemester 1970 se<strong>in</strong>e <strong>mit</strong> Pasquills gegen den kritischen Zeitgeist<br />

gespickte Abschiedsvorlesung hielt. Sozusagen die Vers<strong>in</strong>nbildlichung e<strong>in</strong>es Groß-Ord<strong>in</strong>arius<br />

<strong>der</strong> Adenauer-Zeit, war v. Wiese e<strong>in</strong>e erzkonservative Bastion <strong>der</strong> Germanistik,<br />

wird aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Verhalten gegenüber den "1968ern" als Opportunist geschil<strong>der</strong>t. 172<br />

Was die Politologie <strong>in</strong> Aachen und Bonn, das waren <strong>in</strong> unserer Betrachtungszeit von WS<br />

1959/60 bis WS 1970/71 <strong>in</strong> Frankfurt Philosophie und Soziologie, wobei selbstverständ-<br />

171<br />

So <strong>der</strong> Titel e<strong>in</strong>er Karikatur <strong>der</strong> Studentenvertretung des FU-Instituts für Germanistik (Deutsches Literaturarchiv,<br />

Protest!, a.a.O., S.159); siehe auch: Peter Schütt, Benno v. Wiese. Porträt e<strong>in</strong>es Doyens, <strong>in</strong>: Karlhe<strong>in</strong>z<br />

Deschner (Hg.), Wer lehrt an deutschen Universitäten?, Wiesbaden 1968, S.143-170<br />

172<br />

Mitteilung von Hannes Heer an Verf., Hamburg, 15.11.1997. In den Er<strong>in</strong>nerungen Benno von Wieses ist<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e von Hannes Heer, dessen Name heute <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Wehrmachtsausstellung verbunden ist, als stadtbekanntem<br />

Apo-Rebellen die Rede. v. Wiese bezeichnet ihn als fanatischen, <strong>in</strong>toleranten, aber <strong>in</strong>telligenten<br />

Ideologen, den er dennoch als Doktoranden akzeptiert hatte. Selbstverständlich habe Georg Lukács im Zentrum<br />

<strong>der</strong> geplanten germanistischen Dissertation gestanden, aber Heer wechselte, wie v. Wiese erleichtert berichtet,<br />

"an die sogenannte Reformuniversität Bremen". (Benno von Wiese, Ich erzähle me<strong>in</strong> Leben, a.a.O.,<br />

S.357 f.)


36<br />

lich die Namen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zuerst zu nennen s<strong>in</strong>d. 173 E<strong>in</strong><br />

Großteil <strong>der</strong> Vorlesungen Adornos floß kurze Zeit später <strong>in</strong> die aufblühende Suhrkamp-<br />

Kultur e<strong>in</strong>: "Philosophische Term<strong>in</strong>ologie", "Ästhetik", "Negative Dialektik". Bei den<br />

Frankfurter Neuhistorikern stach Professor Kluke hervor, im WS 1961/62 <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Vorlesung<br />

"Weimarer Republik", im Sommer 1962 <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Vorlesung "Deutschland unter dem<br />

Nationalsozialismus", die er vier Jahre später auf zwei Semester ausgedehnt wie<strong>der</strong>holte.<br />

Für die Frankfurter Germanistik ist dagegen bis zum WS 1966/67, als e<strong>in</strong> Untersem<strong>in</strong>ar<br />

"Brecht" angeboten wurde, Fehlanzeige zu melden. Aber dieses Semester war das letzte<br />

von <strong>der</strong> alten Art. Künftig konnten die Studierenden die Sem<strong>in</strong>are und Vorlesungen "Kafka<br />

und Musil" (WS 1967/68), "<strong>Der</strong> zeitkritische Roman 1930 - 1965", "Deutsche Literatur<br />

zwischen 1918 und 1933" (Sommer 1968) hören, im Sommer 1969 "Emigrantenliteratur<br />

1933 - 1945" und im WS 1970/71 sogar "Gesellschaftliche Funktion literarischer Formen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD" sowie "Strukturalismus und Marxismus". Sehr rührig und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Veranstaltungsthemen<br />

mo<strong>der</strong>n war <strong>der</strong> von Erlangen nach Frankfurt berufene Prof. He<strong>in</strong>z Otto Burger,<br />

<strong>der</strong> uns oben bereits beschäftigt hat.<br />

In Heidelberg sehen wir bei den Neuhistorikern Werner Conze als Vorreiter. Er war wichtigster<br />

Repräsentant <strong>der</strong> Sozialgeschichte bis 1970. 174 Conze bot im WS 1959/60 die Vorlesung<br />

"Das nationalsozialistische Reich 1933 - 1945" an, im Sommer 1964 die Vorlesung<br />

"Allgeme<strong>in</strong>e Geschichte 1914 bis 1945", im WS 1966/67 das Obersem<strong>in</strong>ar "Sozialgeschichte<br />

des Deutschen Reiches 1871 - 1914". Unter den Doktorarbeiten, die Mitte <strong>der</strong><br />

1960er Jahre bei Conze entstanden, sei nur Katers Studie über das SS-"Ahnenerbe" hervorgehoben.<br />

175 Im Verzeichnis <strong>der</strong> Heidelberger Philosophen ragen die Vorlesungen<br />

"Hegel und Marx" von Karl Löwith im Sommer 1961 und "Revolution und Tradition. Sozialphilosophie<br />

des 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts" von Jürgen Habermas im Sommer 1962 heraus,<br />

während im übrigen sehr traditionelle Themen geboten wurden. In <strong>der</strong> Germanistik<br />

gab es von WS 1959/60 bis Sommersemester 1968 ganze drei Lehrveranstaltungsthemen,<br />

die auch Gegenwartsliteratur zu berühren versprachen. Sozusagen den Scharnier zur 'neuen<br />

Zeit' bildete im W<strong>in</strong>ter 1968/69 e<strong>in</strong> Kolloquium "Strukturalismus und Literaturwissenschaft".<br />

Was Werner Conze <strong>in</strong> Heidelberg, war Theodor Schie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Köln. 176 Se<strong>in</strong>e Vorlesung<br />

vom W<strong>in</strong>ter 1961/62, "Allgeme<strong>in</strong>e Geschichte im Zeitalter <strong>der</strong> Imperialismen" nimmt sich<br />

173<br />

Zur "Frankfurter Schule" siehe den Beitrag XXXXXXXXX <strong>in</strong> diesem Band.<br />

174<br />

"Conze haben offenbar die Erfahrungen aus eigenem empirischen agrar- und bevölkerungswissenschaftlichen<br />

Studien zusammen <strong>mit</strong> Interessen, die von <strong>der</strong> Ipsensschen historischen Soziologie ('Volksgeschichte')<br />

genährt wurden, ursprünglich zur Sozialgeschichte geführt, <strong>der</strong>en wichtigster öffentlicher Repräsentant<br />

er dann seit ca. 1955 rd. 15 Jahre lang gewesen ist." (Hans Ulrich Wehler, Geschichtswissenschaft<br />

heute, a.a.O., S.725, Fn. 23.)<br />

175<br />

A.a.O., 2 1997, zuerst Diss. Heidelberg 1966.<br />

176<br />

"Schie<strong>der</strong>, e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Schlüsselfiguren <strong>der</strong> westdeutschen Geschichtswissenschaft zwischen 1950 und 1975,<br />

hat zahlreiche Probleme, die <strong>in</strong> den letzten 15 Jahren (bis 1980/ B.-A.R. ) diskutiert worden s<strong>in</strong>d, als erster<br />

aufgegriffen." (Hans Ulrich Wehler, Geschichtswissenschaft heute, a.a.O., S.725, Fn. 23.)


37<br />

ebenso wie Frickes Sem<strong>in</strong>ar "Trakl" vom Sommer 1961 fast wie e<strong>in</strong> Fremdkörper im Vorlesungsverzeichnis<br />

aus.<br />

1960 wurde im Pr<strong>in</strong>zip nichts an<strong>der</strong>es gelehrt als 1950; das Angebot von 1970 hatte e<strong>in</strong> radikal<br />

an<strong>der</strong>es Profil. Die Betrachtung <strong>der</strong> Vorlesungsverzeichnisse belegt den Erfolg <strong>der</strong><br />

"1968er". Gleichwohl ist festzuhalten, daß auch von e<strong>in</strong>stigen "Nazis" zukunftsweisende<br />

und mo<strong>der</strong>ne Themen angeboten wurden. Wäre Frickes Kölner "Trakl"-Sem<strong>in</strong>ar ebenso<br />

delikat zu nennen wie Petris Bonner Vorlesung im WS 1966/67 über die Westgrenze? Petri<br />

hatte im "Dritten Reich" die annexionistischen Stichworte für e<strong>in</strong>e nationalsozialistische<br />

Frankreichpolitik geliefert, Fricke 177 die literarische Mo<strong>der</strong>ne den Flammen übergeben.<br />

Auf diese Frage wird im folgenden Abschnitt noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>zugehen se<strong>in</strong>.<br />

IV. Facit<br />

Wir haben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Überblick für die Jahre von 1945 bis 1968 verfolgen können, wie zunächst<br />

<strong>in</strong> Potsdam-Deutschland, dann <strong>in</strong> Deutschland-West e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tellektueller Diskurs über<br />

die nationalsozialistische <strong>Vergangenheit</strong> entstand, dessen Verbissenheit und Empörung <strong>mit</strong><br />

dem Maß <strong>der</strong> Indolenz des Establishments wuchs. Anfang <strong>der</strong> 1960er Jahre entrollten Studenten<br />

auf <strong>der</strong> Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus am Berl<strong>in</strong>er Ste<strong>in</strong>platz<br />

das Transparent "Oberlän<strong>der</strong>, Globke, Schrö<strong>der</strong>". 178 Es hätte darauf ebenso stehen können:<br />

"Lübke, Kies<strong>in</strong>ger, Bucher", o<strong>der</strong>, auf die Universitäten bezogen: "Weisgerber, Ruff,<br />

Berg".<br />

Die Erbitterung über die Entnazifizierungskomödien <strong>der</strong> frühen Jahre und das ungenierte<br />

Stornierungsverhalten späterh<strong>in</strong> steigerte sich bis zu den staccato-haften "Nazi"-"Nazi"-<br />

Vorwürfen des oben ausführlich zitierten, gegen den Film "africa addio" gerichteten Flugblattes<br />

von 1967. Dar<strong>in</strong> aber wurde im Pr<strong>in</strong>zip nichts an<strong>der</strong>es ausgesagt als das, was e<strong>in</strong><br />

Walter Boehlich seit 1955 propagiert hatte.<br />

Spätestens ab 1959, e<strong>in</strong>em entscheidenden Scharnierjahr, erreichte die Debatte über die<br />

<strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> e<strong>in</strong>e neue Qualität. Das hatte <strong>der</strong> ehemalige Polizeidirektor von Memel<br />

nicht auf <strong>der</strong> Rechnung, als er 1958 vor dem Arbeitsgericht Ulm schamlos se<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>stellung<br />

<strong>in</strong> den Staatsdienst betrieb. Aber aufgrund von Berichten e<strong>in</strong>er aufmerksamer<br />

177<br />

Fricke war nach 1933 kometengleich aufgestiegen. Bei <strong>der</strong> Bücherverbrennung <strong>in</strong> Köln hatte er die Rede<br />

gehalten. Folgen wir <strong>der</strong> Darstellung des bei diesem Thema Übertreibungen unverdächtigen Benno von Wiese:<br />

"Er (Fricke/ B.-A.R. ) rettete sich zwar nach dem Zusammenbruch <strong>in</strong> die Türkei, konnte später sogar noch<br />

Ord<strong>in</strong>arius <strong>in</strong> Köln werden, blieb aber <strong>in</strong>nerlich e<strong>in</strong> gebrochener Mann, <strong>der</strong> den Zwiespalt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Brust <strong>mit</strong><br />

sich selbst austragen mußte, und war bis zu se<strong>in</strong>em Tod ständig mehr o<strong>der</strong> weniger verfemt." (Ich erzähle<br />

me<strong>in</strong> Leben, a.a.O., S.150.) Es war die "Zeit", die 1965 bei Gelegenheit e<strong>in</strong>er wie<strong>der</strong>aufgelegten Schiller-<br />

Ausgabe Frickes nationalsozialistische Vita herausstellte. Er wurde dadurch veranlaßt, se<strong>in</strong>e Vorlesung <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>er ausführlichen Stellungnahme zu se<strong>in</strong>er braunen <strong>Vergangenheit</strong> zu unterbrechen. Siehe: Rede Gerhard<br />

Frickes vor se<strong>in</strong>en Studierenden zu Beg<strong>in</strong>n des Sommersemesters 1965 <strong>in</strong> Köln, abgedruckt <strong>in</strong>: Petra Boden,<br />

Ra<strong>in</strong>er Rosenberg (Hg.), Deutsche Literaturwissenschaft, a.a.O., S.85-95.<br />

178<br />

He<strong>in</strong>z Bude, Mart<strong>in</strong> Kohli (Hg.), Radikalisierte Aufklärung, a.a.O., S.75.


38<br />

gewordenen Presse wurde <strong>der</strong> Mann von e<strong>in</strong>em Leser angezeigt, und die weitere Entwicklung<br />

dieses Vorgangs bis zum Ulmer E<strong>in</strong>satzgruppenprozeß wegen Massenerschießungen<br />

littauischer Juden und zur E<strong>in</strong>richtung <strong>der</strong> Ludwigsburger Zentralen Stelle ist bekannt. 179<br />

Das vermehrte Interesse an <strong>der</strong> nationalsozialistischen <strong>Vergangenheit</strong> läßt sich auch dem<br />

"Deutschen Bücherverzeichnis" entnehmen: Unter dem Stichwort "Nationalsozialismus"<br />

f<strong>in</strong>den wir 7 E<strong>in</strong>tragungen für die Jahre 1951 bis 1955, für 1956 bis 1960 s<strong>in</strong>d es 127, für<br />

1961 bis 1965 zählen wir 228 - gewiß grobe Zahlen zu e<strong>in</strong>em Schlagwort, aber sie <strong>in</strong>dizieren<br />

e<strong>in</strong>en Quanten- und Qualitätssprung. Sollte <strong>der</strong> verzögerte Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> für Hermann Lübbes prom<strong>in</strong>ente These von <strong>der</strong><br />

Notwendigkeit und positiven Seite des Beschweigens <strong>der</strong> nationalsozialistischen <strong>Vergangenheit</strong><br />

sprechen? 180 Lübbe argumentiert, das Beschweigen dieser <strong>Vergangenheit</strong> sei <strong>in</strong><br />

den 1950er Jahren nicht "Verdrängung" gewesen, son<strong>der</strong>n bewußtes Handeln, zerknirschter<br />

Selbstschutz <strong>der</strong> Verstrickten und Schutz <strong>der</strong> Gesellschaft vor e<strong>in</strong>er Selbstzerfleischung;<br />

erst die materielle Sedierung durch das Wirtschaftswun<strong>der</strong> und die <strong>in</strong>dividuelle<br />

durch die verflossene Zeit - so Lübbe <strong>in</strong> Umkehrung <strong>der</strong> meist negativen Bewertung dieser<br />

Phase - habe die Basis für e<strong>in</strong>e Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus bereitgestellt.<br />

Beiläufig sollte da<strong>mit</strong> auch die zum geflügelten Wort gewordene These von Werner<br />

Abelshauser wi<strong>der</strong>legt werden, die <strong>Bundesrepublik</strong> habe ke<strong>in</strong>e Geschichte, sie habe e<strong>in</strong>e<br />

Wirtschaftsgeschichte. 181 Aber die Arroganz und Selbstgerechtigkeit des bundesdeutschen<br />

Establishments, die dreiste Borniertheit, wie sie etwa <strong>in</strong> dem Argument zum Ausdruck<br />

kam, e<strong>in</strong> Antise<strong>mit</strong> könne sich immerh<strong>in</strong> auf Sombart und Max Weber berufen -<br />

solche Attitüden wollen sich <strong>der</strong> Lübbe-These nicht fügen.<br />

Die Argumente, man sei <strong>in</strong> Wahrheit im "Wi<strong>der</strong>stand" gewesen 182 o<strong>der</strong> zu <strong>in</strong>krim<strong>in</strong>ierten<br />

Schriften gezwungen worden, wurden schließlich nur noch verlacht. Die Glaubwürdigkeit<br />

des Establishments wäre durch e<strong>in</strong> ehrliches Bekenntnis zum Opportunismus größer gewesen<br />

als durch die Lüge von <strong>der</strong> Wandlung. 183 "Bereiten wir den Aufstand gegen die Nazi-<br />

179<br />

Michael Kohlstruck, Zwischen Er<strong>in</strong>nerung und Geschichte, a.a.O., S.61 f.<br />

180<br />

Siehe: Hermann Lübbe, <strong>Der</strong> Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtse<strong>in</strong>, <strong>in</strong>: Historische<br />

Zeitschrift, 236 / 1983, S.579-599, S.585.<br />

181<br />

Werner Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> Deutschland (1945-1980), Ffm. 1983,<br />

S.8 et passim.<br />

182<br />

In se<strong>in</strong>em Song "Vatis Argumente" von 1968, wor<strong>in</strong> es darum geht, was "Vati" Rudi Dutschke sagen<br />

würde, träfe er ihn an, hat Franz Josef Degenhardt diese argumentative Rout<strong>in</strong>e karikiert:<br />

"Als ich so alt war wie Sie,<br />

da habe ich mir auch nichts gefallen lassen!<br />

Immer Krach gehabt: Mit dem Fähnle<strong>in</strong>führer, <strong>mit</strong> dem Spieß.<br />

Um e<strong>in</strong> Haar, und ich wäre bei <strong>der</strong> Strafkompanie gelandet.<br />

Aber bei aller Aufsässigkeit: Wenn Not am Mann war,<br />

da hieß es doch:<br />

ÄRMEL AUFKREMPELN, ZUPACKEN, AUFBAUEN!"<br />

(Transkription von <strong>der</strong> Schallplattenaufnahme.)<br />

183<br />

Gerd Tellenbach berichtet, er sei <strong>in</strong> den 1930er Jahren e<strong>in</strong>em Wissenschaftlerkollegen begegnet, <strong>der</strong><br />

plötzlich und trotz mancher zuvor geäußerter Bedenken <strong>in</strong> die <strong>NS</strong>DAP e<strong>in</strong>getreten war: "Man möchte doch


39<br />

Generation vor", hatte es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ausführlich zitierten Flugblatt geheißen. Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong><br />

1960er Jahre stand diese "Nazi-Generation" noch <strong>in</strong> vollem Flor; Mitte <strong>der</strong> 1960er Jahre<br />

begann sie abzutreten. Bis dah<strong>in</strong> war ihre Macht <strong>in</strong> dem für die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung um die<br />

<strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> paradigmatischen Bereich <strong>der</strong> Universitäten so groß, daß Anstöße von<br />

außen notwendig waren, um die Diskussion <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen. Wir haben diese Anstöße<br />

immer wie<strong>der</strong> beobachtet:<br />

- Die Klage e<strong>in</strong>es skand<strong>in</strong>avischen Wissenschaftlers, über <strong>der</strong> bundesdeutschen Germanistik<br />

schwebe noch immer das Hakenkreuz, hatte zu Rudolf Walter Leonhardts Germanistik-<br />

Schelte geführt;<br />

- von dem israelischen Journalisten Amos Elon stammte die ätzende, gegen den restaurativen<br />

Charakter <strong>der</strong> bundesdeutschen Universitäten gerichtete Kritik, und sie wurde im<br />

"Spiegel" vorabgedruckt 184 ;<br />

- <strong>in</strong> diese Reihe gehört auch das "Braunbuch" <strong>der</strong> DDR, gegen das auf Frankfurter Buchmessen<br />

immer wie<strong>der</strong> polizeilich e<strong>in</strong>geschritten wurde 185 , wenngleich es den Angegriffenen<br />

die angenehme Möglichkeit bot, die Nazifizierungsvorwürfe <strong>in</strong> toto als "Ostzonen"-<br />

Propaganda abzutun;<br />

- Walter Boehlich und Rudolf Walter Leonhardt waren universitär hochgebildete, aber außerhalb<br />

<strong>der</strong> Universität stehende Publizisten, die zu den Fundamentlegern <strong>der</strong> Universitätskritik<br />

zu zählen s<strong>in</strong>d, und Boehlich mußte sich anhören, die akademische Karriere sei<br />

ihm versagt geblieben, se<strong>in</strong>e Polemiken beruhten auf Frustration;<br />

- von <strong>der</strong> Literatur, namentlich vom deutschen Literaturwun<strong>der</strong> 1959, g<strong>in</strong>gen wesentliche<br />

Impulse aus;<br />

- es war e<strong>in</strong> amerikanischer Jungwissenschaftler, <strong>der</strong> auf Publikationen Burgers aus <strong>der</strong><br />

<strong>NS</strong>-Zeit h<strong>in</strong>wies;<br />

- <strong>der</strong> E<strong>in</strong>spruch gegen Alexan<strong>der</strong> Bergs, des e<strong>in</strong>stigen SS-Mediz<strong>in</strong>historikers, Umhabilitation<br />

nach Gött<strong>in</strong>gen im Jahre 1963 kam von e<strong>in</strong>em Zürcher Wissenschaftler;<br />

- die <strong>in</strong>ternationale Scientific Community weigerte sich wegen <strong>der</strong> steilen und geradezu<br />

obszönen Karriere des Luftfahrtmediz<strong>in</strong>ers Ruff, Weltkongresse für Luftfahrtmediz<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> durchzuführen;<br />

- die Gegenprobe mußte e<strong>in</strong> junger Bonner 'Mittelbauer' 1965 an sich selbst erleben: Er<br />

hatte 1965 auf den Fall Ruff aufmerksam gemacht und verlor se<strong>in</strong>en Lehrauftrag.<br />

Um 1965 war die Führung des öffentlichen Diskurses über die <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> bereits<br />

von den kritischen Studierenden übernommen worden. Für die öffentliche Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> Studentenbewegung sorgte nicht zuletzt die Spr<strong>in</strong>ger-Presse. <strong>Der</strong> Konzern kontrollierte<br />

auch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Ruf haben." Tellenbach akzeptierte diese Erklärung, da er "e<strong>in</strong> ehrliches Bekenntnis zur<br />

Opportunität e<strong>in</strong>er unbewußt verlogenen Wandlung vorzog." (Aus er<strong>in</strong>nerter Zeitgeschichte, a.a.O., S.38.)<br />

184<br />

Siehe: <strong>Der</strong> Esel aus dem Schoß des Tigers. Beobachtungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> und <strong>in</strong> <strong>der</strong> DDR, <strong>in</strong>:<br />

Spiegel 1966, Heft 40.<br />

185<br />

So etwa auf <strong>der</strong> Frankfurter Buchmesse von 1967: "In e<strong>in</strong>em ausgestellten 'Braunbuch' des Staatsverlags<br />

<strong>der</strong> DDR, 'Naziverbrecher <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>' (denen auch Bundespräsident Lübke subsumiert wird) sieht<br />

<strong>der</strong> Vorsteher des Frankfurter Börsenvere<strong>in</strong>s, <strong>der</strong> Verleger Friedrich Georgi, e<strong>in</strong>en Fall für den Staatsanwalt.<br />

<strong>Der</strong> hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer lehnt es zwar ab e<strong>in</strong>zugreifen, aber e<strong>in</strong> Frankfurter Amtsrichter<br />

läßt am letzten Messetag das Buch dann doch polizeilich beschlagnahmen." (Deutsches Literaturarchiv,<br />

Protest!, a.a.O., S.293.)


40<br />

32,7 Prozent aller Zeitungen und Zeitschriften. 186 Inhaltlich geht das Haßverhältnis zur<br />

Manipulationsmacht Spr<strong>in</strong>ger erstens auf Vergleiche <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Spätphase <strong>der</strong> Weimarer Republik<br />

zurück, als die reaktionäre Hugenbergpresse die "Machtergreifung" vorbereiten<br />

half; zweitens wurde <strong>der</strong> Spr<strong>in</strong>ger-Presse vorgeworfen, sie untergrabe durch Manipulation<br />

die Möglichkeit e<strong>in</strong>er freien Diskussion <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er liberalen Öffentlichkeit und so<strong>mit</strong> e<strong>in</strong> Essential<br />

aller "1968er"-For<strong>der</strong>ungen; drittens wurde Spr<strong>in</strong>gers Macht <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Spiegel-Affäre<br />

von 1962 zusammengesehen: gegen kritische Berichterstattung schritt die Polizei e<strong>in</strong>, die<br />

reaktionäre Presse, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Spr<strong>in</strong>gers "Bild-Zeitung", wiegelte die Polizei gegen kritische<br />

Studierende auf.<br />

Es <strong>in</strong>dizierte für die "1968er"-Studenten "Faschismus", wenn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Demonstrationsberichterstattung<br />

<strong>der</strong> "Bild-Zeitung" von "Polizeihiebe(n) auf Krawallköpfe" die<br />

Rede war, "um den möglicherweise doch vorhandenen Grips locker zu machen" 187 -<br />

aber es wurde doch berichtet, so daß wir von e<strong>in</strong>em nutznießenden Fe<strong>in</strong>dschaftsverhältnis<br />

zwischen Spr<strong>in</strong>ger-Presse und Studentenbewegung reden können. Die Spr<strong>in</strong>ger-Presse trug<br />

<strong>mit</strong> dazu bei, daß noch nie e<strong>in</strong>e Protestbewegung so sehr im Zentrum <strong>der</strong> Medien-<br />

Aufmerksamkeit gestanden hatte wie die <strong>der</strong> kritischen Studierenden von "1968". 188<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich kann man sagen, daß Rudi Dutschke, Ra<strong>in</strong>er Langhans, Benno Ohnesorg<br />

und Fritz Teufel die ersten deutschen Studenten seit Carl Ludwig Sand gewesen s<strong>in</strong>d 189 ,<br />

die den un<strong>mit</strong>telbaren Zeitgenossen als Personen e<strong>in</strong> Begriff waren 190 . Die führenden studentischen<br />

Akteure waren Medienstars und <strong>mit</strong> ihren Aktivitäten <strong>in</strong> Funk, Fernsehen und<br />

Zeitungen präsent. Flotte Sprüche wurden zu geflügelten Worten; Provokationsrituale<br />

machten die Runde und diffundierten <strong>in</strong> die Trivialkultur. 191 Die Studentenrevolte war die<br />

erste Revolte <strong>in</strong> <strong>der</strong> entwickelten Mediengesellschaft, und sie <strong>in</strong>szenierte sich mediengerecht<br />

und ästhetisch vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es politischen Ästhetikbegriffs - wurde <strong>der</strong><br />

186<br />

Ebd., S.123.<br />

187<br />

Zit.n.: Peter Mosler, Was wir wollten, was wir wurden. Studentenrevolte - zehn Jahre danach, Re<strong>in</strong>bek<br />

1977, S.26.<br />

188<br />

Es ist trivial, daß dieses Medien-Echo die Wahrnehmung des Demonstrationsgeschehens stärker bestimmte<br />

als die pure Statistik <strong>der</strong> Demonstrationen selbst. Ke<strong>in</strong>eswegs war die numerische Demonstrationsfrequenz<br />

so dramatisch wie zeitgenössische Wahrnehmung und nachträgliche Mythologisierung suggerierten.<br />

(Zur Statistik <strong>der</strong> Demonstrationen siehe: Dieter Rucht, Die Ereignisse von 1968 als soziale Bewegung.<br />

Methodologische Überlegungen und e<strong>in</strong>ige empirische Befunde, <strong>in</strong>: Ingrid Gilcher-Holtey ,<br />

1968, a.a.O., S.116-130.)<br />

189<br />

<strong>Der</strong> Theologie-Student Sand hatte den "Vaterlandsverräter" und "russischen Agenten" Kotzebue ermordet,<br />

was zu den "Karlsba<strong>der</strong> Beschlüssen" führte.<br />

190<br />

Das gilt nicht für die 1943 h<strong>in</strong>gerichteten Studenten <strong>der</strong> "Weißen Rose", <strong>der</strong>en Wi<strong>der</strong>stand <strong>in</strong> den 1950er<br />

Jahren Norm- und Vorbildcharakter erhielt. "Weiße Rose" und "20. Juli" wurden dem von <strong>der</strong> DDR auf den<br />

Schild erhobenen kommunistischen und Arbeiterjugend-Wi<strong>der</strong>stand gegenübergestellt. In <strong>der</strong> offiziellen Proklamierung<br />

von Wi<strong>der</strong>stand rettete die "Weiße Rose" das Bild <strong>der</strong> Studierenden im "Dritten Reich" ebenso<br />

wie <strong>der</strong> "20. Juli" das Bild des Wehrmachtssoldaten des Zweiten Weltkrieges retten sollte.<br />

191<br />

So etwa <strong>in</strong> dem Film "Zur Sache Schätzchen" von May Spils und Werner Enke <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>em heute schwer<br />

erträglichen Gag über den Reichstagsbrand 1933. Zu Film und (Trivial-)Kultur <strong>in</strong> den 1960er Jahren siehe:<br />

The Roar<strong>in</strong>g Sixties. <strong>Der</strong> Aufbruch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue Zeit, Amsterdam 1992 (Time-Life-Books; ohne Herausgebernamen).


41<br />

Faschismus doch <strong>mit</strong> Walter Benjam<strong>in</strong>, dessen Schriften ab "1968" e<strong>in</strong>e Renaissance erlebten,<br />

als Ästhetisierung <strong>der</strong> Politik gedeutet, auf die <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Politisierung <strong>der</strong> Ästhetik zu<br />

antworten war. 192 Schauen wir auf die Formseite <strong>der</strong> studentenbewegten Aktionen, so<br />

werden wir wie<strong>der</strong> auf den Zusammenhang von Kunst und gesellschaftlichem Protest h<strong>in</strong>gewiesen,<br />

<strong>der</strong> sich schon biographisch sowohl bei den jungen studentischen Aktivisten wie<br />

Gudrun Enssl<strong>in</strong> 193 als auch bei den "1968er"-Bezugsdenkern wie Adorno, Benjam<strong>in</strong>,<br />

Bloch o<strong>der</strong> Lukács aufweisen läßt. Es fügt sich <strong>in</strong> diese Sicht e<strong>in</strong>, daß Rudi Dutschke und<br />

Bernd Rabehl 1962/63 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> die "Subversive Aktion" als Ableger <strong>der</strong> entsprechenden<br />

Münchner Gruppe gründeten. Diese, zu <strong>der</strong> auch Dieter Kunzelmann gehörte, hatte sich<br />

gebildet, nachdem ihre Mitglie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> avantgarde-künstlerischen "Situationistischen<br />

Internationale" ausgeschlossen worden waren. 194<br />

<strong>Der</strong> Zusammenhang von Kunst und Protest war <strong>in</strong> diesem Beitrag e<strong>in</strong>ige Male hervorzuheben,<br />

weil die konstitutive Rolle des Imag<strong>in</strong>ären und Ästhetischen von e<strong>in</strong>er hausbackenen,<br />

alle<strong>in</strong> politikgeschichtlich orientierten Darstellung des Diskussions- und Protestgeschehens<br />

<strong>in</strong> den 1960er Jahren verkannt würde.<br />

"Ohne Provokationen", so wird <strong>der</strong> Student und "Kommunarde" Ra<strong>in</strong>er Langhans zitiert,<br />

"werden wir nicht wahrgenommen." 195 Peter Handke, <strong>der</strong> prom<strong>in</strong>enteste aus <strong>der</strong> "1968er"<br />

Zeit hervorgegangene Autor, sah e<strong>in</strong>en Zusammenhang <strong>der</strong> studentenbewegten Aktionsformen<br />

<strong>mit</strong> dem mo<strong>der</strong>nen Theater:<br />

"Das engagierte Theater f<strong>in</strong>det heute nicht <strong>in</strong> Theaterräumen statt (...), son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> Hörsälen<br />

(...), wenn Professoren durch e<strong>in</strong>geschlagene Türen bl<strong>in</strong>zeln, wenn von Galerien Flugblätter<br />

auf Versammelte flattern (...)" 196<br />

Diese Ästhetisierung wurde gegen e<strong>in</strong> Establishment <strong>in</strong>szeniert, dem man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Situation<br />

nichts mehr abnahm, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sozusagen allmonatlich e<strong>in</strong> neuer Nazi-Skandal aufgedeckt<br />

wurde. Das aber hatte Konsequenzen für die Verfahrensweise <strong>der</strong> energisch nachgefor<strong>der</strong>-<br />

192<br />

"So steht es um die Ästhetisierung <strong>der</strong> Politik, welche <strong>der</strong> Faschismus betreibt. <strong>Der</strong> Kommunismus antwortet<br />

ihm <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Politisierung <strong>der</strong> Kunst." (Walter Benjam<strong>in</strong>, Das Kunstwerk im Zeitalter se<strong>in</strong>er technischen<br />

Reproduzierbarkeit , <strong>in</strong>: <strong>Der</strong>s., Illum<strong>in</strong>ationen. Ausgewählte Schriften, Ffm. 1977,<br />

S.136-S.169, S.169.)<br />

193<br />

Die Student<strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie, Anglistik und Germanistik brachte geme<strong>in</strong>sam <strong>mit</strong> ihrem Verlobten<br />

Bernward Vesper den Sammelband "Gegen den Tod" heraus und verfolgte weitere Projekte im Bereich <strong>der</strong><br />

engagierten neuen Literatur. E<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Vertrauensdozenten <strong>der</strong> Studienstiftungsstipendiat<strong>in</strong> Gudrun Enssl<strong>in</strong><br />

war Walter Jens, dessen Kolloquien über zeitgenössische Literatur auf viele spätere "1968er" wie e<strong>in</strong>e Erleuchtung<br />

wirkten. (Deutsches Literaturarchiv, Protest!, a.a.O., S.20 f.)<br />

194<br />

Rudi Dutschke, Aufrecht gehen. E<strong>in</strong>e fragmentarische Autobiographie, hg. v. Ulf Wolter, Bln. 1981,<br />

S.195 f.; Michael A. Schmidtke, Die Kunst des radikalen Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong>s. Die künstlerische Avantgarde <strong>der</strong><br />

Happen<strong>in</strong>g-Kunst und die politische Protestbewegung <strong>der</strong> 60er Jahre, <strong>in</strong>: <strong>Der</strong> gesellschaftliche Ort <strong>der</strong> 68er-<br />

Bewegung, a.a.O., S.21-37, S.32.<br />

195<br />

Zit.n.: Franz Schnei<strong>der</strong>, Dienstjubiläum, <strong>in</strong>: <strong>Der</strong>s. (Hg.), Dienstjubiläum e<strong>in</strong>er Revolte. "1968" und 25<br />

Jahre, Mnchn. 1993, S.9-79, S.29.<br />

196<br />

Zit.n.: Deutsches Literaturarchiv, Protest!, a.a.O., S.197 f.


42<br />

ten Entnazifizierung: Sie geriet auf den Pfad <strong>der</strong> Personalisierung; nach dem Motto 'E<strong>in</strong>mal<br />

Nazi, immer Nazi!' wurde e<strong>in</strong> statischer Identitätsbegriff unterlegt; das Denken reduzierte<br />

sich vielfach auf e<strong>in</strong> bipolar-oppositionelles Profil, bei dem das Gegenteil von dem, was<br />

die "Faschisten" sagten, "antifaschistisch" legitimiert erschien.<br />

Das häufig theorieschwache und reduktionistische Zeigen auf das Personal 197 lag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Situation nahe, <strong>in</strong> <strong>der</strong> bald im Bundeskanzleramt, bald an e<strong>in</strong>er Universität, bald <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Großunternehmen immer neue "Nazis" entdeckt wurden. Zu Ämtern und Ehren aufgestiegen,<br />

leugneten sie ihre frühere Rolle o<strong>der</strong> marg<strong>in</strong>alisierten sie nach dem Muster 'Was hätte<br />

ich denn tun sollen?' - wenn sie sich nicht gar als "Wi<strong>der</strong>standskämpfer" umzudeuten<br />

suchten. Für all diese Strategien wurden <strong>in</strong> diesem Beitrag Beispiele präsentiert.<br />

Wenn wir aber nicht nur darauf schauen, was jene gesagt und getan haben, die dem neuen<br />

<strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> proklamierten, son<strong>der</strong>n auch<br />

auf die Interaktion zwischen den Akteuren dieses Diskurses und den beklagten e<strong>in</strong>stigen<br />

"Nazis", so erkennen wir, daß auf die systematische Kle<strong>in</strong>macherei des <strong>NS</strong>-verstrickten<br />

Personals <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er aggressiv gestimmten ebenso systematischen Großmacherei reagiert<br />

wurde. Zugleich war diese Großmacherei und <strong>der</strong> Hang zur Focussierung auf Namen und<br />

Personen die Reaktion auf e<strong>in</strong>en die frühe <strong>Bundesrepublik</strong> dom<strong>in</strong>ierenden Diskurs, den<br />

Adorno <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sprachkritischen Untersuchung zur "deutschen Ideologie" analysiert hat:<br />

den vom konkreten E<strong>in</strong>zelnen absehenden Verdränger-Jargon 198 , <strong>der</strong> bis <strong>in</strong> die 1960er<br />

Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> die Oberherrschaft besaß und heute als e<strong>in</strong> abson<strong>der</strong>liches vulgärexistenzialistisches<br />

Schwadronieren ersche<strong>in</strong>t. Nehmen wir als Beispiel e<strong>in</strong>en Beitrag aus<br />

dem Jahre 1949, "Goethe-Feier 1949" 199 , e<strong>in</strong>e 'existenzialistische' Standardschrift, die<br />

Adorno zur Vorlage hätte dienen können. Ausgangspunkt ist e<strong>in</strong> Zitat von José Ortega y<br />

Gasset, e<strong>in</strong>em Liebl<strong>in</strong>gsdenker <strong>der</strong> Westdeutschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit. Mit Ortega wird<br />

zunächst e<strong>in</strong> "Goethe für Ertr<strong>in</strong>kende" gefor<strong>der</strong>t und e<strong>in</strong> "Tribunal <strong>der</strong> Schiffbrüchigen".<br />

Noch nie, so lesen wir weiter, sei "unser Volk" so sehr vor die Frage se<strong>in</strong>er "Existenz" gestellt<br />

gewesen wie jetzt, und es müsse diese Frage beantworten, "um daraus E<strong>in</strong>sicht und<br />

Mut zum Bekenntnis <strong>der</strong> Möglichkeit se<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s zu schöpfen". Von <strong>der</strong> "Not unseres<br />

entblößten Dase<strong>in</strong>s" wird gesprochen, vom "Strudel des großen Schiffbruchs", von "uns<br />

Deutschen", die "<strong>in</strong> diesen Untiefen und <strong>in</strong> diesem Versagen nur allzu bewan<strong>der</strong>t" seien,<br />

von <strong>der</strong> "Sorge <strong>der</strong> Völker" und <strong>der</strong> "Wahrheit des Se<strong>in</strong>s", endlich vom "historischen<br />

Schutt", <strong>der</strong> "beiseite zu räumen" sei ... Fraglos ist im Medium von "Mensch", "Dase<strong>in</strong>",<br />

197<br />

Hier ist die Rede vom öffentlichen <strong>in</strong>tellektuellen <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus <strong>in</strong> den 1960er<br />

Jahren, nicht aber von den strukturorientierten neuen Konzepten, die zeitgleich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft<br />

entstanden und vor allem <strong>mit</strong> dem Namen Hans Mommsen verbunden s<strong>in</strong>d (siehe: <strong>Der</strong>s., Betrachtungen zur<br />

Entwicklung <strong>der</strong> neuzeitlichen Historiographie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>, <strong>in</strong>: Géza Alföldy, Ferd<strong>in</strong>and Seibt,<br />

Albrecht Timm , Probleme <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, Düsseldorf 1973, S.124-155).<br />

198<br />

Theodor W. Adorno, Jargon <strong>der</strong> Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Ffm. 8 1977.<br />

199<br />

Hans Schwerte, Goethe-Feier - 1949, <strong>in</strong>: Erlanger Universität, Akademische Semesterblätter, 8.7.1949,<br />

S.57 f. Dort die folgenden Zitate.


43<br />

"Not", "Strudel" und "Existenz" von <strong>der</strong> nationalsozialistischen <strong>Vergangenheit</strong> die Rede,<br />

aber es wird niemand genannt, und <strong>der</strong> Verfasser war auch noch e<strong>in</strong> bedeuten<strong>der</strong> SS-<br />

Funktionär gewesen, <strong>der</strong> nun unter falschem Namen lebte. Vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es solchen<br />

typischen Textes ist zu erkennen, daß die Entlarvung ehemaliger Nationalsozialisten<br />

e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> reduktionistischen Schwäche die repersonalisierende Gegenbewegung<br />

zur Depersonalisierung im Verstrickten-Argot <strong>der</strong> 1940er und 1950er Jahre gewesen ist.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Personalisierung verbundene weitere Schwäche des <strong>Umgang</strong>s <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<br />

<strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> den 1960er Jahren war <strong>der</strong> statische Identitätsbegriff, <strong>der</strong> zu suggerieren<br />

schien, das Denken e<strong>in</strong>st nationalsozialistischer Wissenschaftler, Politiker, Unternehmer<br />

sei unverrückbar. Dagegen hat aber <strong>der</strong> kurze Blick auf die Lehrveranstaltungsthemen ausgewählter<br />

Hochschulen zwischen 1960 und 1970 für unsere Überlegungen ergeben, daß im<br />

Nationalsozialismus belastete Wissenschaftler wie Burger, Fricke und Schwerte, Conze,<br />

Mehnert und Theodor Schie<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne und vorwärtsgewandte Themen anboten. Zur<br />

oben untersuchten vehementen Kritik von Walter Boehlich an Hugo Moser und dessen<br />

Bonner Rektorat wurde von e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Kle<strong>in</strong>macherei unverdächtigen Seite bemerkt, sie sei<br />

überzogen gewesen, hätte e<strong>in</strong>e vergleichsweise harmlose Person aufgespießt und sich auf<br />

e<strong>in</strong>zelne Formulierungen gestützt - immerh<strong>in</strong> sei Moser nach dem Krieg Professor <strong>in</strong> den<br />

Nie<strong>der</strong>landen gewesen. 200 Aber vielleicht war auch <strong>in</strong> diesem Fall die Polemik gegen herausgegriffene<br />

e<strong>in</strong>zelne Hochschullehrer die lustvolle Kompensation des immer wie<strong>der</strong> beobachteten<br />

Löschverhaltens dieser Personen als Gruppe o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Reaktion offizieller Universitätsgremien.<br />

E<strong>in</strong>e ganze Reihe von Äußerungen <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Seeliger-Bänden zu Wort<br />

gekommenen <strong>NS</strong>-belasteten Hochschullehrer haben zum Topos von <strong>der</strong> Unbelehrbarkeit<br />

dieser Generation beigetragen. Wandlungsfähigkeit und Lernprozesse ehemaliger Nationalsozialisten<br />

201 wurden im <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> während <strong>der</strong> 1960er Jahre<br />

kaum <strong>in</strong> Erwägung gezogen, obgleich diese Zeit als e<strong>in</strong> <strong>der</strong> Pädagogik und den Lernprozessen<br />

sehr aufgeschlossenes Jahrzehnt bezeichnet werden kann. Das als ehedem nationalsozialistisch<br />

angegriffene Personal wurde auch deshalb statisch aufgefaßt, weil an<strong>der</strong>nfalls<br />

die These von <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>uität des Faschismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> bedroht gewesen wäre.<br />

Aber <strong>der</strong> bedeutendste bl<strong>in</strong>de Fleck im hier beobachteten <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<br />

<strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>der</strong> 1960er Jahre waren die Juden und <strong>der</strong> jüdische<br />

Staat. <strong>Der</strong> Auffassung e<strong>in</strong>es Joseph Roth, <strong>der</strong> Jude habe e<strong>in</strong> Recht auf Paläst<strong>in</strong>a, nicht, weil<br />

er aus diesem Lande komme, son<strong>der</strong>n, weil ihn ke<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Land haben wolle 202 , konnte<br />

man sich ebensowenig anschließen wie jener von e<strong>in</strong>em historisch legitimierten Son<strong>der</strong>-<br />

200<br />

Karl Otto Conrady, Miterlebte Germanistik, a.a.O., S.134.<br />

201<br />

Zur Wandelbarkeit ehemaliger Nationalsozialisten am Beispiel de Man siehe die trotz enigmatischen Titels<br />

sehr aufschlußreiche Schrift: Jacques <strong>Der</strong>rida, Wie Meeresrauschen auf dem Grund e<strong>in</strong>er Muschel ...<br />

Paul de Mans Krieg. Mémoires II, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988 (Edition Passagen 20)<br />

202<br />

Joseph Roth, Juden auf Wan<strong>der</strong>schaft, <strong>in</strong>: <strong>Der</strong>s., Werke, Bd. 3, Amsterdam 1976, S.291-357, S.303.


44<br />

recht <strong>der</strong> Notwehr des israelischen Staates. Könnte e<strong>in</strong>e Erklärung für die argumentative<br />

Bekämpfung des jüdischen Staates abermals <strong>in</strong> dem bipolar-oppositionellen Profil des<br />

"Antifaschismus"-Diskurses <strong>der</strong> 1960er Jahre erblickt werden? Für diesen Bipolarismus<br />

sprechen e<strong>in</strong>ige Indizien:<br />

- Die Juden standen an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Verfolgtenhierarchie im offiziellen Nationalsozialismus-Gedenken<br />

<strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>;<br />

- es war Konrad Adenauer gewesen, <strong>der</strong> sich im Dezember 1951 <strong>in</strong> London <strong>mit</strong> Nahum<br />

Goldmann getroffen hatte und die deutsch-israelischen Wie<strong>der</strong>gutmachungsverhandlungen<br />

im Juni 1952 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Rhöndorfer Haus zum Durchbruch führte 203 ;<br />

- es war sodann ausgerechnet <strong>der</strong> Haßfe<strong>in</strong>d Nummer 1 <strong>der</strong> "1968er", Axel C. Spr<strong>in</strong>ger, <strong>der</strong><br />

sich größte Verdienste um die Aussöhnung <strong>mit</strong> Israel erworben hatte, als freigiebiger Mäzen<br />

auftrat und dessen Zeitungen nicht müde wurden, Positives über den jüdischen Staat zu<br />

berichten.<br />

Als schließlich die Ausläufer <strong>der</strong> "1968er"-Bewegung <strong>in</strong> das Fahrwasser des DKP- o<strong>der</strong><br />

des maoistischen Marxismus gerieten, hatte das e<strong>in</strong>e Verstärkerwirkung für den "Antizionismus".<br />

Die marxistisch orientierten Ausläufer <strong>der</strong> "1968er" marg<strong>in</strong>alisierten die Juden<br />

als die Haupt-Opfergruppe des Nationalsozialismus erstens durch die Rezeption <strong>der</strong> Di<strong>mit</strong>roff'schen<br />

Faschismus-These, die den Völkermord an den Juden nicht erklären kann, zweitens<br />

dadurch, daß sie die Wi<strong>der</strong>stands- und Verfolgtenhierarchie umbauten 204 , <strong>in</strong>dem statt<br />

<strong>der</strong> Juden als passiv-duldende Objekte <strong>der</strong> Verfolgung nun kommunistische Arbeiter als<br />

aktiv-kämpferische Subjekte des Wi<strong>der</strong>stands an die Spitze gestellt wurden.<br />

Handelte es sich um e<strong>in</strong> Phänomen des Antise<strong>mit</strong>ismus und wäre <strong>der</strong> "Antizionismus", <strong>der</strong><br />

sich gegen die Rückkehr <strong>der</strong> Juden nach Israel und ihr Lebens- und Wohnrecht dort wandte<br />

und die Juden des Rassismus und Faschismus anklagte, nur e<strong>in</strong> schlecht drapierter Antise<strong>mit</strong>ismus<br />

gewesen? 205 Man hat <strong>in</strong> dem gelegentlich militanten antizionistischen Vokabular,<br />

das <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Studentenbewegung aufgekommen sei, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pauschalität <strong>der</strong> Anschuldigungen,<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> "Entlarvung" des Zionismus als Rassismus den Ausdruck e<strong>in</strong>er noch<br />

immer stark emotional geprägten antijüdischen Fe<strong>in</strong>dseligkeit gesehen. 206 Dagegen aber<br />

wurde von den "1968ern" zugetaner Seite e<strong>in</strong>gewandt, Antise<strong>mit</strong>ismus und Anti-<br />

Zionismus unterschieden sich kategorial strikt vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, g<strong>in</strong>ge es doch bei jenem um<br />

den Haß auf e<strong>in</strong>e ethnische Gruppe, bei diesem aber um den Haß auf die Politik e<strong>in</strong>es Staa-<br />

203<br />

Siehe: Adolf M. Birke, Nation ohne Haus. Deutschland 1945-1961, Bln. 1989 (Die Deutschen und ihre<br />

Nation 6), S.289 ff.<br />

204<br />

Zum Kampf um die Wi<strong>der</strong>stands- und Verfolgtenhierarchie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> siehe: Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek,<br />

Jugendwi<strong>der</strong>stand und Krim<strong>in</strong>alität. Zur neueren Bewertung <strong>der</strong> "Edelweißpiraten" als Wi<strong>der</strong>standsgruppe,<br />

<strong>in</strong>: Gerd R. Ueberschär (Hg.), <strong>Der</strong> 20. Juli. Das an<strong>der</strong>e Deutschland <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Vergangenheit</strong>spolitik<br />

nach 1945, Bln. 2 1998, S.366-387, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e S.366-370 ("Die Erforschung von Wi<strong>der</strong>stand<br />

und Verfolgung als historisches Phänomen").<br />

205<br />

Fritz May, Israel zwischen Blut und Tränen. <strong>Der</strong> Leidensweg des jüdischen Volkes, Asslar 1987, S.23.<br />

206<br />

Geschichte des mo<strong>der</strong>nen Antise<strong>mit</strong>ismus <strong>in</strong> Deutschland, Darmstadt 1983, S.182.


45<br />

tes. 207 Aber vielleicht wird da<strong>mit</strong> die Abgründigkeit des Problems gerade <strong>in</strong> Deutschland<br />

übersehen. 208 Es ist beschämend, daß <strong>in</strong> Handkes "Publikumsbeschimpfung" von 1965,<br />

<strong>mit</strong> dem <strong>der</strong> erfolgversprechende 'Literaturbeatle' die Bühne betrat, exklamiert wurde:<br />

"Ihr Saujuden!" 209<br />

Was die euphorische Di<strong>mit</strong>roff-Rezeption betrifft, durch die <strong>der</strong> Völkermord an den Juden<br />

marg<strong>in</strong>alisiert wurde, und die "Gebetsmühlen orthodoxer marxistisch-len<strong>in</strong>istischer Def<strong>in</strong>itionen"<br />

ohne empirischen Ertrag <strong>in</strong> den Wissenschaften 210 , so handelt es sich um Nachwirkungen<br />

und Ausläufer von "1968". Diese aber können hier nicht e<strong>in</strong>gehend betrachtet<br />

werden. 211<br />

Es hat den Ansche<strong>in</strong>, als ob das Produktive und Vorwärtsweisende vor dem Jahr 1968<br />

entwickelt, danach aber dementiert wurde, nicht zuletzt durch e<strong>in</strong>en "rigorosen Politizismus"<br />

212 , <strong>der</strong> sich etwa <strong>in</strong> <strong>der</strong> Parole vom Tod <strong>der</strong> Literatur 213 und <strong>in</strong> Walter Boehlichs<br />

"Autodafé" vom Tod <strong>der</strong> Literaturkritik 214 äußerte. Über den berühmten 1966er Germanistentag,<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e produktive Fachkritik von höchstem Niveau gewesen ist, wurde bemerkt,<br />

er habe ke<strong>in</strong>e Fortsetzung gefunden und sei "von <strong>der</strong> sog. Studentenbewegung sozusagen<br />

überrollt" worden. 215 Die niveauvolle und für an<strong>der</strong>e Wissenschaften beispielhafte<br />

207<br />

Werner Bergmann, Ra<strong>in</strong>er Erb, Antise<strong>mit</strong>ismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> Deutschland. Ergebnisse <strong>der</strong> empirischen<br />

Forschung von 1946 - 1989, Opladen 1991, S.173.<br />

208<br />

Zu den beängstigenden, schw<strong>in</strong>delerregenden Fernwirkungen von "1968" gehört, ohne "1968" und RAF-<br />

Terrorismus <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ssetzen zu wollen, was Jochen Hörisch über Christian Klar, Schleyer und die Juden ausgeführt<br />

hat: "<strong>Der</strong> von RAF-Terroristen ermordete Hans-Mart<strong>in</strong> Schleyer (...) war e<strong>in</strong> übler SS-Mann. Zu den<br />

deutschen Ant<strong>in</strong>omien, die e<strong>in</strong>em schier das Hirn zerspr<strong>in</strong>gen lassen können, gehört, daß er von Leuten entführt<br />

wurde, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> hocheffektiven Terroristenorganisation SS bestens gemacht hätten. Christian Klar<br />

ist <strong>der</strong> Phänotyp e<strong>in</strong>es nachgeborenen, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er entschlossenen rücksichtslosen Effektivität sehr deutschen<br />

SS-Mannes. (...) In Paläst<strong>in</strong>enserlagern haben die RAF-Terroristen gelernt, was auch die Militanten aus <strong>der</strong><br />

Generation ihrer Nazi-Eltern begrüßt und millionenfach getan haben: Juden töten." (Jochen Hörisch, "Verhaften<br />

Sie die üblichen Verdächtigen." Unheimliche Dimensionen <strong>in</strong> den Fällen Schwerte/Schnei<strong>der</strong>, de<br />

Man, Jauß, <strong>in</strong>: Wilfried Loth, Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek , Verwandlungspolitik, a.a.O., S.181-195, S.192.)<br />

209<br />

Peter Handke, Publikumsbeschimpfung, <strong>in</strong>: <strong>Der</strong>s., Prosa, Theaterstücke, Hörspiele, Aufsätze, Ffm. 1969,<br />

S.180-211, S.209.<br />

210<br />

Wehler, Geschichtswissenschaft heute, a.a.O., S.731.<br />

211<br />

Vor den theoretischen und methodologischen Problemen e<strong>in</strong>er solchen Betrachtung sei gewarnt. Was<br />

heißt Ausläufer? Wie verhielten sich Zentrum und Peripherie e<strong>in</strong>er Bewegung? Wie "1968er" und RAF-Terrorismus?<br />

Was war Konsequenz, was Renegatentum?<br />

212<br />

So <strong>der</strong> Vorwurf von Hans Egon Holthusen, e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> mächtigsten Literaturkritiker <strong>der</strong> 1950er und<br />

1960er Jahre, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er autobiographischen Verteidigungsschrift gegen studentenbewegte Kritiker, die er nach<br />

1968 vermutlich nicht mehr veröffentlicht hätte (Freiwillig zur SS, <strong>in</strong>: Merkur 223/1966, S.912-939, ebd.,<br />

224/1966, S.1037-1049, S.1041). Holthusen, geboren 1913, Pfarrerssohn aus Norddeutschland, SS-<br />

Angehöriger, nach dem Kriege als Autor e<strong>in</strong>es christlichen Existenzialismus hervorgetreten, war ab 1961<br />

Leiter des Kulturprogramms des Goethe-Hauses New York.<br />

213<br />

Hans Magnus Enzensberger, Geme<strong>in</strong>plätze, die Neueste Literatur betreffend, <strong>in</strong>: Kursbuch 15, 1968,<br />

S.187-197<br />

214<br />

Ebd., Kursbogen.<br />

215<br />

Karl Otto Conrady, Miterlebte Germanistik, a.a.O., S.143.


46<br />

Germanistik-Kritik sowie die erkämpfte aufrichtige <strong>Vergangenheit</strong>skultur verband nichts<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> puerilen Blutbad-Rhetorik <strong>der</strong> Parole "Schlagt die blaue Blume tot / färbt die Germanistik<br />

rot". 216 Rückblickend wird die Auffassung vertreten, das Fach sei <strong>in</strong> den 1970er<br />

Jahren durch "die umstandslose For<strong>der</strong>ung nach Teilnahme an <strong>der</strong> Weltrevolution" <strong>in</strong>s<br />

Schleu<strong>der</strong>n geraten; viele gute Germanisten seien zum Schweigen gebracht worden. 217<br />

In <strong>der</strong> Silvester-Umfrage <strong>der</strong> "Süddeutschen Zeitung" - "Was hat sich für mich 1968 verän<strong>der</strong>t?"<br />

- konfrontierte Alfred An<strong>der</strong>sch den Bürgerhaß e<strong>in</strong>es studentenbewegten Nachwuchslyrikers<br />

<strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Erfahrung im "Dritten Reich":<br />

"Im neuen Heft des 'Kursbuch' lese ich e<strong>in</strong> Gedicht e<strong>in</strong>es gewissen Friedrich Christian Delius,<br />

<strong>in</strong> dem im Ton großen Vergnügens geschil<strong>der</strong>t wird, wie e<strong>in</strong> Pulk junger Revolutionäre<br />

die Bibliothek (...) e<strong>in</strong>es Intellektuellen konfisziert (...) Da ich e<strong>in</strong>mal habe zusehen<br />

müssen, wir mir me<strong>in</strong>e Bücher konfisziert wurden, gestehe ich, daß mir <strong>der</strong> S<strong>in</strong>n für den<br />

satten Humor dieses Gedichtes fehlt". 218<br />

Anläßlich e<strong>in</strong>es "Iphigenie"-Vortrages von Theodor W. Adorno im Juli 1967 an <strong>der</strong> FU<br />

Berl<strong>in</strong> wurden Flugblätter verteilt, wor<strong>in</strong> vom "feisten Teddy" die Rede war, <strong>der</strong> sich "zu<br />

Tode adornieren" möge, und davon, daß man lieber Mao lese als Goethe o<strong>der</strong> gar A-<br />

dorno. 219 Was die Mao- und Ch<strong>in</strong>a-Euphorie als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Wirkungen von "1968" betrifft,<br />

so ist konservativen Kritikern schwer zu wi<strong>der</strong>sprechen:<br />

"Man faßt sich an den Kopf, wie Studenten <strong>in</strong> München, Hamburg und Berl<strong>in</strong> durch die<br />

Straßen ziehen konnten, <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Hand die Mao-Bibel, <strong>in</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en das Transparent<br />

für kritische Wissenschaft, ohne bei jedem Schritt über den Wi<strong>der</strong>spruch zwischen beiden<br />

zu stolpern." 220<br />

O<strong>der</strong> waren die Auswirkungen von "1968" - so <strong>der</strong> Mao-Kult, <strong>der</strong> Sem<strong>in</strong>ar-Marxismus<br />

und die Auffassung, die Universität sei ausschließlich vom Kapital abhängig und deshalb<br />

nicht von <strong>in</strong>nen, son<strong>der</strong>n nur von außen und revolutionär verän<strong>der</strong>bar - Ausbruchsversuche<br />

aus e<strong>in</strong>er verfahrenen Situation?<br />

Die Frage, ob es e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung zwischen normativer Mo<strong>der</strong>nisierungsfor<strong>der</strong>ung im S<strong>in</strong>ne<br />

von Demokratie und Überw<strong>in</strong>dung nationalsozialistischer Residuen und e<strong>in</strong>er Mo<strong>der</strong>nisierungsfor<strong>der</strong>ung<br />

im S<strong>in</strong>ne kapitalistischer Dynamisierung gegeben hat, kann hier nur an-<br />

216<br />

E<strong>in</strong>e Parole, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> die Berl<strong>in</strong>er Tagung des Germanistenverbandes im Oktober 1968 "umfunktioniert"<br />

werden sollte. (Deutsches Literaturarchiv, Protest!, a.a.O., S.161.)<br />

217<br />

Gert Kaiser, Die Rückkehr des Citoyen, <strong>in</strong>: Düsseldorfer Uni-Zeitung, 2/1997, S.16-19, S.17.<br />

218<br />

Süddeutsche Zeitung, 31.12.1968, Beilage "SZ am Jahresende", "Unsere Silvester-Umfrage: Was hat sich<br />

1968 für mich verän<strong>der</strong>t?" Es handelt sich um Friedrich Christian Delius' Gedicht "Armes Schwe<strong>in</strong>", <strong>in</strong>:<br />

Kursbuch 15, 1968, S.144.<br />

219<br />

Ebd., S.133 f.<br />

220<br />

W<strong>in</strong>fried Schlaffke, Franz Schnei<strong>der</strong>, Maoismus. Kulturrevolution - Späte E<strong>in</strong>sichten, <strong>in</strong>: Franz Schnei<strong>der</strong><br />

(Hg.), Dienstjubiläum e<strong>in</strong>er Revolte. "1968" und 25 Jahre, Mnchn. 1993, S.80-96, S.86


47<br />

gerissen werden. Den massiven Ausbau <strong>der</strong> Hochschulen for<strong>der</strong>te das "Establishment"<br />

schon lange, und es war Ludwig Erhard, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er oben zitierten Regierungserklärung<br />

vom 18.10.1963 unterstrichen hatte, Bildung und Forschung besäßen für unsere Zeit den<br />

gleichen Stellenwert wie die soziale Frage im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Über die Notwendigkeit e<strong>in</strong>es<br />

energischen Hochschulausbaus und <strong>der</strong> Rekrutierung von Studierenden aus <strong>der</strong> gesamten<br />

Bevölkerung anstatt aus bildungsprivilegierten Schichten waren alle etablierten politischen<br />

Kräfte <strong>der</strong> 1960er Jahre e<strong>in</strong>ig.<br />

Wie wir <strong>in</strong> diesem Beitrag vielfach gehört haben, kritisierten l<strong>in</strong>ksliberale Publizisten und<br />

studentenbewegte Engagierte ab den 1950er Jahren das noch immer vorhandene streng hierarchische<br />

Ord<strong>in</strong>arienpr<strong>in</strong>zip an den Universitäten als s<strong>in</strong>nfälligen Ausdruck e<strong>in</strong>er nicht<br />

vollzogenen Bewältigung des "Dritten Reiches". Es gilt nun als geläufige Tatsache, daß die<br />

Parole "Unter den Talaren <strong>der</strong> Muff von tausend Jahren", im Herbst 1967 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hamburger<br />

Universitäts-Aula entrollt und von den Medien <strong>in</strong> alle Welt verbreitet, gleichsam die<br />

Essenz <strong>der</strong> "1968er"-For<strong>der</strong>ungen darstellt. Aber bereits e<strong>in</strong>ige Jahre vor 1968 und <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

bürgerlichen bis konservativen Presse wurden die Verkrustungen <strong>in</strong> Universitäten sowie<br />

die hemmenden Institutsstrukturen beklagt. Die Groß-Ord<strong>in</strong>arien gerieten dabei <strong>in</strong> die<br />

Schußl<strong>in</strong>ie, aber diese Klagen kamen aus e<strong>in</strong>er ganz an<strong>der</strong>en Richtung als jener <strong>der</strong><br />

"1968er". Aufsehen erregte Anfang <strong>der</strong> 1960er Jahre e<strong>in</strong> Beitrag von Fre<strong>der</strong>ick Seitz, Präsident<br />

<strong>der</strong> National Academy of Sciences <strong>in</strong> Wash<strong>in</strong>gton, über die Effektivität des Departmentsystems<br />

<strong>in</strong> den amerikanischen Instituten. Dort werde <strong>mit</strong> großem Erfolg die Team-<br />

Arbeit geför<strong>der</strong>t; Deutschland dagegen sei weniger willens, "Neuerungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Organisation<br />

<strong>der</strong> Naturwissenschaften e<strong>in</strong>zuführen, als irgende<strong>in</strong>es <strong>der</strong> übrigen technisch fortgeschrittenen<br />

westlichen Län<strong>der</strong>". Seitz führte das auf die Wissenschaftlergeneration <strong>der</strong> Jahre<br />

nach 1945 zurück. Die leitenden Wissenschaftler seien vorwiegend ältere Herren gewesen,<br />

und diese hätten nach den Erfahrungen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Herrschaft die Uhr auf die beste<br />

Zeit zurückgestellt, die sie gekannt hatten, "nämlich die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg".<br />

221 Die von Seitz erhobene For<strong>der</strong>ung nach Dynamisierung <strong>der</strong> Strukturen und Abflachung<br />

<strong>der</strong> Hierarchien wurde von <strong>der</strong> 'bürgerlichen' Presse unterstützt. "Wir müssen<br />

vom alten Geheimratssystem bei <strong>der</strong> Besetzung <strong>der</strong> leitenden Posten endlich wegkommen",<br />

hieß es <strong>in</strong> <strong>der</strong> "Stuttgarter Zeitung". 222 Die Machtfülle von Institutsleitern wurde<br />

als "Diskrim<strong>in</strong>ierung" bezeichnet und gefor<strong>der</strong>t, man müsse den "Oberbau abbauen, da<strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> Mittelbau für den Nachwuchs <strong>in</strong>teressant wird". Es wurde die "Aufglie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> bisherigen<br />

Hierarchie <strong>in</strong> wissenschaftlich wirksame Forschungsteams nach amerikanischem<br />

Vorbild" vorgeschlagen. Darunter verstand man den Zusammenschluß von Instituten und<br />

Lehrstühlen zu e<strong>in</strong>er Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft, dem Department. E<strong>in</strong> solches Department war<br />

221<br />

Fre<strong>der</strong>ick Seitz, Wissenschaft im Vormarsch, zit.n.: Richard Clausen, Stand und Rückstand <strong>der</strong> Forschung<br />

<strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> den Naturwissenschaften und den Ingenieurswissenschaften, Wiesbaden 1964, S.5.<br />

222<br />

Stuttgarter Zeitung, 26.5.1966, "Die Verwaltung versteht die Forscher nicht. Wissenschaftliche Institute<br />

wollen sich vom Gängelband des Staates lösen". Dort auch die folgenden Zitate.


48<br />

das Gegenteil e<strong>in</strong>es klassischen Ord<strong>in</strong>arien-Instituts; es sollte von e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Gruppe<br />

Professoren geleitet werden, <strong>der</strong>en Zusammensetzung von Jahr zu Jahr wechselte.<br />

Dieses dynamisierte System <strong>der</strong> Institutsleitung war <strong>in</strong> den 1960er Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

unlösbar <strong>mit</strong> dem Namen des deutschen Nobelpreisträgers und Vorzeige-Physikers<br />

Rudolf Ludwig Mößbauer verknüpft. Geboren 1929, Schüler von He<strong>in</strong>z Maier-Leibnitz,<br />

war er seit 1960 Senior Research Fellow und Professor of Physics am California Institute<br />

of Technology <strong>in</strong> Pasadena/USA und erhielt 1961 den Nobelpreis für die Entdeckung des<br />

nach ihm benannten Effekts, den er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Dissertation beschrieben hatte. 1964 kehrte<br />

Mößbauer nach Deutschland zurück und g<strong>in</strong>g nur unter <strong>der</strong> Bed<strong>in</strong>gung an die TH München,<br />

daß dort die neue, gegen die Ord<strong>in</strong>arien gerichtete Organisationsform des Departments<br />

e<strong>in</strong>geführt werde. Von dem stets aufgeschlossenen Maier-Leibnitz, <strong>der</strong> 1957 zu den<br />

Unterzeichnern <strong>der</strong> "Gött<strong>in</strong>ger Erklärung" gegen die Atomrüstung <strong>der</strong> Bundeswehr gehört<br />

hatte, wurde Mößbauer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Bestrebungen unterstützt. Das Departmentsystem wurde<br />

e<strong>in</strong> voller Erfolg, und es strahlte von <strong>der</strong> TH München auf an<strong>der</strong>e naturwissenschaftliche<br />

Institute <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> aus. Man sprach von e<strong>in</strong>em "zweiten Mößbauer-Effekt". 223<br />

Vom "Muff unter den Talaren" war auch Mößbauer überzeugt.<br />

<strong>Der</strong> kle<strong>in</strong>e Ausflug <strong>in</strong> die Organisationsgeschichte <strong>der</strong> Naturwissenschaften läßt erkennen,<br />

daß die For<strong>der</strong>ungen nach Demokratisierung <strong>in</strong> den Universitäten noch von ganz an<strong>der</strong>er<br />

Seite als jener <strong>der</strong> "1968er"-Studenten <strong>der</strong> Geisteswissenschaften erhoben wurden. Die e<strong>in</strong>en<br />

wollten Dynamisierung <strong>der</strong> Forschung und Überw<strong>in</strong>dung naturwissenschaftlichtechnischer<br />

Rückstände, die an<strong>der</strong>en <strong>mit</strong> den Groß-Ord<strong>in</strong>arien und <strong>der</strong>en autoritärer Affektiertheit<br />

den Geist <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-Zeit austreiben und verlangten mo<strong>der</strong>nere, <strong>der</strong> Aktualität angepaßte<br />

Lehrangebote. Aber beide Seiten waren - ob den Akteuren bewußt o<strong>der</strong> nicht 224 -<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kritik an den Ord<strong>in</strong>arien e<strong>in</strong>ig; beide verband die Frage, ob es <strong>mit</strong> dem "restaurativen"<br />

Charakter <strong>der</strong> Universitäten nach <strong>der</strong>en Ausbau weitergehen solle. Antifaschistisch<br />

und effektivitätsbezogen-dynamisch motivierte For<strong>der</strong>ungen nach Abflachung universitärer<br />

Hierarchien bildeten <strong>mit</strong>h<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schnittmenge.<br />

Es ist auffällig, daß e<strong>in</strong> liberales Blatt wie die "Zeit", auf <strong>der</strong>en Verdienste bei <strong>der</strong> Entstehung<br />

e<strong>in</strong>es neuen <strong>Umgang</strong>s <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> ausführlich<br />

h<strong>in</strong>gewiesen wurde, genauso häufig über ehemalige und verkappte Nationalsozialisten an<br />

den deutschen Hochschulen berichtete wie über e<strong>in</strong>en universitären Schlendrian, dessen<br />

Ineffektivität den Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nicht gewachsen sei. Zu Beg<strong>in</strong>n des<br />

massiven Ausbaus <strong>der</strong> Universitäten stellte sich die Frage, ob auf den alten Gleisen fortge-<br />

223<br />

Christ und Welt, 10.3.1967, "<strong>Der</strong> ewige Kampf. Neuer Fall Mößbauer o<strong>der</strong> die H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse für die Forschung".<br />

224<br />

Mößbauer gehört zu den scharfen Kritikern <strong>der</strong> "1968er" und ihrer "unerträglich(en) Politisierung <strong>der</strong><br />

Hochschulen". E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Verwandtschaft zwischen den konkurrierenden For<strong>der</strong>ungen nach Dynamisierung<br />

und Demokratisierung <strong>in</strong> den Hochschulen, die an <strong>der</strong> Ord<strong>in</strong>arien-Kritik deutlich wird, erkennt er nicht an.<br />

(Siehe: Rudolf L. Mößbauer, Universität im Umbruch, <strong>in</strong>: He<strong>in</strong>z Maier-Leibnitz , Zeugen des Wissens,<br />

Ma<strong>in</strong>z 2 1986, S.285-317, bes. S.295 ff.)


49<br />

fahren werden sollte, um so dr<strong>in</strong>glicher. Die "Zeit" verklammerte die beiden unterschiedlich<br />

motivierten Mo<strong>der</strong>nisierungsfor<strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong>mal eher beiläufig: In<strong>mit</strong>ten e<strong>in</strong>er Leserbriefseite<br />

zum Skandal um den Bonner Rektor Moser f<strong>in</strong>det sich die Photographie e<strong>in</strong>es<br />

neuerrichteten, futuristisch anmutenden Auditorium Maximum. Das Photo trägt die Unterschrift:<br />

"<strong>Der</strong> Geist von gestern <strong>in</strong> den Hörsälen für Morgen?" 225<br />

So stand - <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> "1968er" geredet - die Kritik an "Nazis" und "Strukturnazis"<br />

<strong>in</strong> den Universitäten objektiv auch im Dienste e<strong>in</strong>er kapitalistischen Effektivitätssteigerung.<br />

Wir können e<strong>in</strong>e ungewollt mo<strong>der</strong>nisierende Funktion <strong>der</strong> Proteste erkennen und<br />

frustriert konstatieren, daß sich bei Mo<strong>der</strong>nisierungseffekten, die durch soziale Bewegungen<br />

angestoßen werden, vieles "h<strong>in</strong>ter dem Rücken <strong>der</strong> Akteure" vollzieht, "Verän<strong>der</strong>ungen<br />

nur halbbewußt o<strong>der</strong> latent" bleiben, planvolle E<strong>in</strong>griffe nicht <strong>in</strong>tendierte Effekte erzeugen<br />

und "Absichten <strong>in</strong> ihr Gegenteil verkehrt" werden". 226 Es ist möglich, den Ultraradikalismus<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachfolge <strong>der</strong> "1968er" als Reaktion auf diese verfahrene Lage zu deuten.<br />

Schon die auf den Schild erhobene These Herbert Marcuses von <strong>der</strong> "repressiven Toleranz"<br />

als beson<strong>der</strong>s raff<strong>in</strong>ierter Variante faschistoi<strong>der</strong> Repression, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> Intoleranz begegnet<br />

werden müsse, da <strong>der</strong>en Toleranz gefährlich sei 227 , war e<strong>in</strong> willkommenes Angebot<br />

an Fundamentalkritiker, die es erleben mußten, bei vielen Kritisierten offene Türen<br />

e<strong>in</strong>zurennen.<br />

Es war das literarisch-ästhetische Feld, wo die überschießende Radikalisierung zuerst e<strong>in</strong>gefor<strong>der</strong>t<br />

wurde. Enzensberger verzweifelte an <strong>der</strong> Resorptionsfähigkeit <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

für "Kulturgüter" beliebiger Sperrigkeit 228 , Friedrich Christian Delius schloß se<strong>in</strong> Gedicht<br />

"Armes Schwe<strong>in</strong>", wor<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Stoßtrupp Bücher und Platten e<strong>in</strong>es bürgerlichen Kritikers beschlagnahmt<br />

und das Alfred An<strong>der</strong>sch an se<strong>in</strong>e eigenen Erfahrungen im Nationalsozialismus<br />

er<strong>in</strong>nert hatte, <strong>mit</strong> den Zeilen:<br />

"Es wurde hell. Wir schleppten<br />

das Zeug endlich raus, da bot er uns das Du an.<br />

Das, fanden wir, g<strong>in</strong>g zu weit.<br />

Da haben wir doch e<strong>in</strong>en Fehler gemacht." 229<br />

225<br />

Die Zeit, 6.11.1964, "Me<strong>in</strong>ungsstreit um Moser" (Leserbriefseite).<br />

226<br />

Dieter Rucht, Mo<strong>der</strong>nisierung und Neue Soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im<br />

Vergleich, Ffm., New York 1994 (Theorie und Gesellschaft, Bd. 32), S.508 f.<br />

227<br />

Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, <strong>in</strong>: <strong>Der</strong>s., Schriften, Bd. 8, Ffm. 1984, S.136-161 (<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

zuerst publiziert <strong>in</strong>: Robert Paul Wolff, Barr<strong>in</strong>gton Moore, Herbert Marcuse, Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Toleranz,<br />

Ffm. 1966, S.93-128.)<br />

228<br />

Geme<strong>in</strong>plätze, die Neueste Literatur betreffend, a.a.O., S.194.<br />

229<br />

Armes Schwe<strong>in</strong>, a.a.O.


50<br />

Bernd-A. Rus<strong>in</strong>ek (Düsseldorf)

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