Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik in ...
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ten Entnazifizierung: Sie geriet auf den Pfad <strong>der</strong> Personalisierung; nach dem Motto 'E<strong>in</strong>mal<br />
Nazi, immer Nazi!' wurde e<strong>in</strong> statischer Identitätsbegriff unterlegt; das Denken reduzierte<br />
sich vielfach auf e<strong>in</strong> bipolar-oppositionelles Profil, bei dem das Gegenteil von dem, was<br />
die "Faschisten" sagten, "antifaschistisch" legitimiert erschien.<br />
Das häufig theorieschwache und reduktionistische Zeigen auf das Personal 197 lag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Situation nahe, <strong>in</strong> <strong>der</strong> bald im Bundeskanzleramt, bald an e<strong>in</strong>er Universität, bald <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Großunternehmen immer neue "Nazis" entdeckt wurden. Zu Ämtern und Ehren aufgestiegen,<br />
leugneten sie ihre frühere Rolle o<strong>der</strong> marg<strong>in</strong>alisierten sie nach dem Muster 'Was hätte<br />
ich denn tun sollen?' - wenn sie sich nicht gar als "Wi<strong>der</strong>standskämpfer" umzudeuten<br />
suchten. Für all diese Strategien wurden <strong>in</strong> diesem Beitrag Beispiele präsentiert.<br />
Wenn wir aber nicht nur darauf schauen, was jene gesagt und getan haben, die dem neuen<br />
<strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Vergangenheit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> proklamierten, son<strong>der</strong>n auch<br />
auf die Interaktion zwischen den Akteuren dieses Diskurses und den beklagten e<strong>in</strong>stigen<br />
"Nazis", so erkennen wir, daß auf die systematische Kle<strong>in</strong>macherei des <strong>NS</strong>-verstrickten<br />
Personals <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er aggressiv gestimmten ebenso systematischen Großmacherei reagiert<br />
wurde. Zugleich war diese Großmacherei und <strong>der</strong> Hang zur Focussierung auf Namen und<br />
Personen die Reaktion auf e<strong>in</strong>en die frühe <strong>Bundesrepublik</strong> dom<strong>in</strong>ierenden Diskurs, den<br />
Adorno <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sprachkritischen Untersuchung zur "deutschen Ideologie" analysiert hat:<br />
den vom konkreten E<strong>in</strong>zelnen absehenden Verdränger-Jargon 198 , <strong>der</strong> bis <strong>in</strong> die 1960er<br />
Jahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> die Oberherrschaft besaß und heute als e<strong>in</strong> abson<strong>der</strong>liches vulgärexistenzialistisches<br />
Schwadronieren ersche<strong>in</strong>t. Nehmen wir als Beispiel e<strong>in</strong>en Beitrag aus<br />
dem Jahre 1949, "Goethe-Feier 1949" 199 , e<strong>in</strong>e 'existenzialistische' Standardschrift, die<br />
Adorno zur Vorlage hätte dienen können. Ausgangspunkt ist e<strong>in</strong> Zitat von José Ortega y<br />
Gasset, e<strong>in</strong>em Liebl<strong>in</strong>gsdenker <strong>der</strong> Westdeutschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit. Mit Ortega wird<br />
zunächst e<strong>in</strong> "Goethe für Ertr<strong>in</strong>kende" gefor<strong>der</strong>t und e<strong>in</strong> "Tribunal <strong>der</strong> Schiffbrüchigen".<br />
Noch nie, so lesen wir weiter, sei "unser Volk" so sehr vor die Frage se<strong>in</strong>er "Existenz" gestellt<br />
gewesen wie jetzt, und es müsse diese Frage beantworten, "um daraus E<strong>in</strong>sicht und<br />
Mut zum Bekenntnis <strong>der</strong> Möglichkeit se<strong>in</strong>es Dase<strong>in</strong>s zu schöpfen". Von <strong>der</strong> "Not unseres<br />
entblößten Dase<strong>in</strong>s" wird gesprochen, vom "Strudel des großen Schiffbruchs", von "uns<br />
Deutschen", die "<strong>in</strong> diesen Untiefen und <strong>in</strong> diesem Versagen nur allzu bewan<strong>der</strong>t" seien,<br />
von <strong>der</strong> "Sorge <strong>der</strong> Völker" und <strong>der</strong> "Wahrheit des Se<strong>in</strong>s", endlich vom "historischen<br />
Schutt", <strong>der</strong> "beiseite zu räumen" sei ... Fraglos ist im Medium von "Mensch", "Dase<strong>in</strong>",<br />
197<br />
Hier ist die Rede vom öffentlichen <strong>in</strong>tellektuellen <strong>Umgang</strong> <strong>mit</strong> dem Nationalsozialismus <strong>in</strong> den 1960er<br />
Jahren, nicht aber von den strukturorientierten neuen Konzepten, die zeitgleich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft<br />
entstanden und vor allem <strong>mit</strong> dem Namen Hans Mommsen verbunden s<strong>in</strong>d (siehe: <strong>Der</strong>s., Betrachtungen zur<br />
Entwicklung <strong>der</strong> neuzeitlichen Historiographie <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>, <strong>in</strong>: Géza Alföldy, Ferd<strong>in</strong>and Seibt,<br />
Albrecht Timm , Probleme <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, Düsseldorf 1973, S.124-155).<br />
198<br />
Theodor W. Adorno, Jargon <strong>der</strong> Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Ffm. 8 1977.<br />
199<br />
Hans Schwerte, Goethe-Feier - 1949, <strong>in</strong>: Erlanger Universität, Akademische Semesterblätter, 8.7.1949,<br />
S.57 f. Dort die folgenden Zitate.