Zweiter Rundbrief - gerardwagner.de
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gewichtssinn wahrnehmen. Zur Architektur gehören aber auch die Statik<br />
und die Materialkun<strong>de</strong> – natürlich neben <strong>de</strong>r Organisation <strong>de</strong>r Arbeit<br />
und an<strong>de</strong>rem. Naturgemäß sind in <strong>de</strong>r Architektur Zahlen und geometrische<br />
Grundformen wesentliche Elemente. Bei einem organischen Baustil,<br />
wie er im Goetheanum versucht wur<strong>de</strong>, kann man die Architektur<br />
wie das tragen<strong>de</strong> Knochengerüst in sich erleben. Ohne Gleichgewichtsund<br />
Bewegungserfahrungen hätten wir wenig Verständnis für die Qualitäten<br />
in <strong>de</strong>r Architektur. Nicht das Stofflich-Physische unseres Leibes<br />
und <strong>de</strong>s Bauwerkes wer<strong>de</strong>n aufeinan<strong>de</strong>r bezogen, son<strong>de</strong>rn – so kann<br />
man wohl sagen – das „Geistig-Physische“, das in Mathematik und Geometrie<br />
lebt, wird durch uns am Bau im künstlerischen Sinn gemessen.<br />
Durch die plastische Kunst wer<strong>de</strong>n die Flächen belebt. Im Anschauen<br />
und Betasten wer<strong>de</strong>n innere Bewegungsströme angeregt, die <strong>de</strong>n Lebensorganismus<br />
<strong>de</strong>s Betrachters selbst in Tätigkeit versetzen. Wie wir<br />
schon ausführten, sind Wölbung, Höhlung und Windung die Grun<strong>de</strong>lemente,<br />
die wir vor allem durch unseren Lebenssinn als differenzierte<br />
Qualitäten wahrnehmen – allerdings in Verbindung mit <strong>de</strong>r Außenwelt<br />
und <strong>de</strong>r Tätigkeit an<strong>de</strong>rer Sinne. Durch das Anschauen plastischer Formen<br />
wird also unser Leben erregt – vergleichbar <strong>de</strong>m Erleben <strong>de</strong>s<br />
menschlichen Atems, <strong>de</strong>r uns erfrischt und belebt.<br />
Die Farbwahrnehmung beseelt die gesehene Fläche. Das dreidimensionale<br />
räumliche Erleben tritt zurück und das Seelische tritt in <strong>de</strong>n<br />
Vor<strong>de</strong>rgrund. Damit verlassen wir die eigentliche Raumeswelt. Man<br />
kann auch sagen: Die dritte Dimension wird im Anschauen <strong>de</strong>r Farbe<br />
ausgelöscht. Farbe ist seiner Natur nach zweidimensional. 9<br />
So sind die drei räumlichen Künste in ihren Stufen <strong>de</strong>r dreifachen<br />
menschlichen Leiblichkeit verbun<strong>de</strong>n. Die leibliche Dreiheit bil<strong>de</strong>t eine<br />
Schale o<strong>de</strong>r das Gefäß für menschliches Han<strong>de</strong>ln, Fühlen und Denken.<br />
Im Gesamtkunstwerk <strong>de</strong>s Baues ist diese dreifache Leiblichkeit angesprochen,<br />
in <strong>de</strong>r das seelische und geistige Wesen <strong>de</strong>s Menschen als<br />
ICH wirksam wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Aber auch die dreifache seelische Äußerung <strong>de</strong>s Menschen durch<br />
9 Siehe Rudolf Steiner, Das Wesen <strong>de</strong>r Künste, Vortrag vom 28. Oktober 1909, GA<br />
271, S.81ff. Und: Die vierte Dimension: Mathematik und Wirklichkeit. GA 324 a<br />
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