Freundesbrief 2011 - Hospizbewegung Ratingen
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Melaten-Friedhof, Köln
Vorwort<br />
Trauernde trösten – heutzutage ist das leider oft eine etwas<br />
heruntergekommene Floskel: "Herzliches Beileid" hilflos als<br />
leere Formel gestammelt, schulterklopfendes "Es wird schon<br />
wieder", um nur ja nicht in eigene Trauergefühle hineinzugleiten.<br />
Trauernde trösten – in der christlichen Tradition ist das ein<br />
"Werk der Barmherzigkeit", eine der wichtigsten menschlichen<br />
Tugenden. Wer einen Trauernden wirklich trösten will,<br />
muss sich bedingungslos in seine Nähe begeben, muss sich<br />
auf ihn einlassen, muss die Gefühle und Fragen des Trauernden<br />
und auch seine Hoffnungslosigkeit zulassen und sich<br />
die eigene Unsicherheit eingestehen. Trost ist keine Haltung<br />
von oben herab, Trost gelingt nur auf gleichem Niveau. Und<br />
Trösten ist keine milde Gabe, Trösten ist eher Arbeit und<br />
Opfer.<br />
Ich bin immer wieder erfreut, wir trostreich unsere ehrenamtlichen<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre schwere<br />
Aufgabe erfüllen – in der Sterbebegleitung und auch in der<br />
Trauerbegleitung der Angehörigen. Deshalb begrüße ich es,<br />
dass die Arbeitsgruppe dieses <strong>Freundesbrief</strong>es das Thema<br />
Trauerbegleitung so intensiv bearbeitet hat. Den Autoren<br />
und dem Redaktionsteam sage ich herzlichen Dank und<br />
wünsche den Lesern eine besinnliche Lektüre.<br />
Heinz Josef Breuer<br />
2
Melaten-Friedhof, Köln<br />
Schick mir keinen Engel<br />
der alle Dunkelheit bannt<br />
aber einen der mir ein Licht anzündet<br />
Schick mir keinen Engel<br />
der alle Antworten kennt<br />
aber einen der mit mir die Fragen aushält<br />
Schick mir keinen Engel<br />
der allen Schmerz wegzaubert<br />
aber einen der mit mir das Leiden aushält<br />
Schick mir keinen Engel<br />
der mich über die Schwelle trägt<br />
aber einen der in dunkler Stunde noch flüstert<br />
Fürchte dich nicht<br />
Elisabeth Bernet<br />
3
Jeder hat in irgendeiner Weise schon Trauer erlebt, sei es das<br />
Aus-dem-Haus-gehen der erwachsenen Kinder, die Trennung<br />
vom Partner oder ein nicht gewünschter Wohnungswechsel.<br />
Aber was einen wirklich bis ins Mark trifft, ist der Tod eines<br />
lieben Menschen, der einem sehr nahe stand. Wurde man früher<br />
von Freunden und der Nachbarschaft aufgefangen, ist man<br />
heute doch oft sehr allein in seiner Trauer. Im nachfolgenden<br />
Bericht zeigt Gerlinde Marzi den Wandel in der Trauerbegleitung,<br />
den sie aus den Arbeiten der bekanntesten professionellen<br />
Trauerbegleiter zusammengestellt hat.<br />
Trauerbegleitung<br />
gestern und heute<br />
Bei uns in Deutschland sind<br />
Sterbe- und Trauerbegleitung<br />
erst seit einigen Jahren<br />
in das Bewusstsein der breiten<br />
Bevölkerung getreten. Im<br />
englischsprachigen Raum<br />
haben sie schon eine längere<br />
Geschichte. In England<br />
gründete Dame Cicely Saunders<br />
in den sechziger Jahren<br />
die <strong>Hospizbewegung</strong>. In<br />
England und in den USA<br />
erregte die Schweizerin<br />
Elisabeth Kübler-Ross mit<br />
ihrem Buch „Interviews mit<br />
Sterbenden“ großes Aufsehen.<br />
Neben der praktischen<br />
Arbeit hatten beide auch<br />
4<br />
großes Interesse an der wissenschaftlichen<br />
Erforschung<br />
von Sterbe- und Trauerprozessen.<br />
Elisabeth Kübler-<br />
Ross entwickelte ein Modell<br />
der „Phasen des Sterbens“,<br />
und Cicely Saunders beauftragte<br />
den englischen Psychiater<br />
Colin Murray Parkes<br />
mit der wissenschaftlichen<br />
Begleitung von Trauernden.<br />
Er entwickelte ein Modell<br />
der „Phasen eines Trauerprozesses“.<br />
Anfang der neunziger Jahre<br />
machte Chris Paul erste Angebote<br />
für Trauernde. Mit
ihrem Buch „Neue Wege in<br />
der Trauer- und Sterbebegleitung“<br />
von 2001 hat sie in<br />
Deutschland die Trauerbegleitung<br />
in der Öffentlichkeit<br />
bekannt gemacht. Mittlerweile<br />
bietet sie in ihrem Institut<br />
in Bonn Ausbildungskurse<br />
für TrauerbegleiterInnen<br />
an. Seit 2002 leitet sie<br />
das Trauer-Institut Deutschland.<br />
In Deutschland ist die Trauerbegleitung<br />
fast vollständig<br />
von der internationalen Forschung,<br />
Lehre und Praxis<br />
abgekoppelt. Aber auch innerhalb<br />
unseres Sprachraums<br />
werden BegleiterInnen von<br />
verschiedenen Initiativen und<br />
Instituten nach unterschiedlichen<br />
Richtlinien und Modellen<br />
ausgebildet.<br />
Blumenhartriegel<br />
Stützte man sich am Anfang<br />
in der Trauerbewegung noch<br />
auf die Abfolgen der Phasen<br />
nach Bowlby, dem bekanntesten<br />
Vertreter der „Phasen“,<br />
die da sind:<br />
- Schock<br />
- Sehnsucht und Protest<br />
- Verzweiflung, Rückzug<br />
aus dem Sozialleben<br />
- Periode der schrittweisen<br />
Erholung,<br />
so weiß man heute, dass sie<br />
nicht immer hilfreich sind.<br />
Sie können Trauernde stark<br />
verunsichern, wenn sie bei<br />
sich die erwarteten Reaktionen<br />
nicht finden. Die einzelnen<br />
Phasen sind auch nicht<br />
grundsätzlich nachzuweisen.<br />
Freud definiert, dass ein<br />
Trauerprozess zur Ablösung<br />
der Gefühle und Erinnerungen<br />
von der oder dem Toten<br />
führen solle. Bowlby nennt<br />
als abschließende Phase des<br />
Trauerns die Reorganisation<br />
des trauernden Menschen.<br />
Verena Karst spricht vom<br />
neuen Selbst- und Weltbezug.<br />
5
Die Schlagworte „Abschied<br />
nehmen“ und „Loslassen“<br />
kennt jeder, der mit Trauer<br />
zu tun hat. So ist auch die<br />
Trauerbegleitung meist darauf<br />
ausgerichtet, den Trauernden<br />
bei der Orientierung<br />
in ihrem neuen Leben ohne<br />
den verstorbenen Menschen<br />
zu helfen. Gedanken und<br />
Gefühle sollen nicht mehr<br />
nur um den toten Menschen<br />
kreisen, stattdessen neue<br />
Bindungen geschaffen werden.<br />
Diese Zielrichtung für<br />
den Trauerprozess gilt jedoch<br />
nicht weltweit, sondern<br />
für die westlichen Industriegesellschaften<br />
des 20. und<br />
21. Jahrhunderts.<br />
Die Ahnenverehrung oder<br />
das Bewusstsein einer Anwesenheit<br />
der Toten in unserem<br />
Alltag werden bei uns<br />
oft als „verrückt“ abgetan.<br />
Dennoch erleben viele Trauernde<br />
dieses Phänomen. Sie<br />
sprechen mit ihren Toten,<br />
fragen sie um Rat, fühlen<br />
sich durch das Bewusstsein<br />
von Anwesenheit von ihnen<br />
beschützt und getröstet.<br />
Auch die Schweizer Psychologin<br />
Verena Kast arbeitet<br />
nach einem Modell mit<br />
Trauerphasen. Bei ihr sind es<br />
die Trauerphasen:<br />
- Nicht-wahrhaben-wollen<br />
- Aufbrechende Emotionen<br />
- Suchen und sich trennen<br />
- Neuer Selbst- und Weltbezug<br />
Bei ihr hat jede Phase einen<br />
klaren Anfang und ein klares<br />
Ende. Der Tod hat etwas<br />
Überwältigendes, und körperliche<br />
Reaktionen können<br />
von wenigen Stunden bis zu<br />
mehreren Wochen dauern.<br />
Letzte Hilfestellung,<br />
Beate Meffert-Schmengler<br />
6<br />
In der zweiten Phase bahnen<br />
sich Gefühle ihren Weg. Das<br />
kann von ein paar Wochen
is zu mehreren Monaten<br />
dauern. Man sollte diese<br />
Phase auf keinen Fall unterdrücken.<br />
In der dritten Phase kommt<br />
es zu einer Auseinandersetzung<br />
mit der gemeinsam<br />
verbrachten Zeit. Das kann<br />
sehr schmerzlich, aber auch<br />
sehr schön sein. Diese Phase<br />
kann Wochen, Monate oder<br />
Jahre dauern.<br />
Nachdem man seinen<br />
Schmerz herausschreien<br />
durfte, anklagen und Vorwürfe<br />
machen konnte, kehrt<br />
allmählich innere Ruhe und<br />
Frieden in die Seele zurück.<br />
Der Tote hat dort seinen<br />
Platz gefunden. Das Ende<br />
des Trauerprozesses ist<br />
durch eine Neuorientierung<br />
des gesamten Lebensgefüges<br />
zu sehen.<br />
„Das Erinnern an die/den<br />
Verstorbene/n schmerzt und<br />
tröstet zugleich“ sagt Roland<br />
Kachler in seinem Buch<br />
Meine Trauer wird dich finden.<br />
„Erinnerungen sind das<br />
Paradies, aus dem wir nicht<br />
vertrieben werden können“.<br />
Allerdings sind Erinnerungen<br />
an die Realität des Todes<br />
schmerzlich. „Nach einem<br />
längeren Prozess ist die/der<br />
Verstorbene in ganz verschiedenen<br />
Facetten im Hinterbliebenen<br />
lebendig: als<br />
persönliches Gegenüber, als<br />
lebendige Erinnerung, als<br />
Helfer und Begleiter, als<br />
Energie, als Kraftquelle, als<br />
innere Stimme, als Vermächtnis<br />
und Lebensaufgabe.“<br />
In der Trauer lebt<br />
die Liebe zu der/m Verstorbenen<br />
weiter.<br />
Melaten-Friedhof Köln<br />
7
Das Trauermodell von<br />
Dr. Ruthmarijke Smeding<br />
„Trauer umschließen“<br />
beschreibt drei Gezeiten<br />
der Trauer.<br />
- die Januszeit, mit der<br />
einmalig auftretenden<br />
Schleusenzeit<br />
- die Labyrinthzeit und<br />
- die Regenbogenzeit.<br />
Auch wenn die Phasenmodelle<br />
als überholt betrachtet<br />
werden können, lässt sich im<br />
Trauerprozess doch meistens<br />
ein Zeitfaktor erkennen. In<br />
der Januszeit geht es darum,<br />
die „Wucht“ des Verlustes<br />
auszuhalten und den Alltagsrhythmus<br />
wieder zurückzuerobern.<br />
Danach folgt die<br />
Zeit mit der Suche nach dem<br />
Selbst in Bezug auf den Verlust.<br />
Das kann Jahre dauern.<br />
Der Labyrinthzeit folgt die<br />
Regenbogenzeit. Hier ist es<br />
die Aufgabe zu lernen, das<br />
„Und … und“ des vorangegangenen<br />
Lebens und der<br />
Zukunft zusammenzuführen,<br />
um in ihm Halt zu finden.<br />
Diese zeitliche Reihenfolge<br />
ist nur von oben betrachtet<br />
und für den Trauernden erst<br />
rückblickend sichtbar. Kern<br />
des Modells „Trauer erschließen“<br />
sind die täglichen<br />
Erfahrungen der Trauernden.<br />
Sie erleben die Gezeiten eher<br />
als vor- und zurückspringend,<br />
ohne klare Muster. Schon in<br />
der Schleusenzeit dreht sich<br />
die Spirale der Gezeiten, und<br />
es geht in der Januszeit weiter.<br />
Es hilft, wenn man die<br />
kurz aufleuchtende Regenbogenzeit<br />
erkennen und zulassen<br />
kann. Die Labyrinthzeit<br />
umfasst den größten Teil des<br />
Trauerweges.<br />
Tote Wurzel im Kalkstein<br />
Im Zentrum des Modells<br />
befindet sich eine gedachte<br />
Mitte. Der Satz „Das Loch,<br />
in das ich fiel, wurde zur<br />
Quelle, aus der ich lebe“<br />
symbolisiert die Spirale der<br />
Gezeiten der Trauer.<br />
8
In der Regenbogenzeit können<br />
noch schwere Trauerreaktionen<br />
auftreten, obwohl<br />
man schon weit in seinem<br />
Trauerprozess fortgeschritten<br />
ist. Der Abschluss eines<br />
Trauerweges bedeutet nicht,<br />
dass damit die Trauer beendet<br />
ist.<br />
Trauerbegleiter bemühen<br />
sich, dem Gefühlsleben der<br />
Trauernden eine Struktur zu<br />
geben, die die Suchenden<br />
allein nicht finden können.<br />
Aber nicht jeder Trauernde<br />
braucht die Hilfe von professionellen<br />
Begleitern. Oft<br />
findet man in der Familie<br />
oder im engen Freundeskreis<br />
Ansprechpartner, mit denen<br />
man über den Verlust reden<br />
kann. Denn in allen Modellen<br />
ist eines wichtig: für den<br />
Trauernden da zu sein und<br />
ihm zuzuhören.<br />
Gerlinde Marzi<br />
Quellen:<br />
Chris Paul, Neue Wege in der<br />
Trauer- und Sterbebegleitung<br />
Roland Kachler, Meine Trauer<br />
wird dich finden<br />
Internet, Verena Kast,<br />
Ruthmarijke Smeding<br />
Erinnert Euch<br />
Wenn ich gestorben bin<br />
Singt keine traurigen Lieder.<br />
Pflanzt keinen Baum über mein Grab.<br />
Ich will ruhen unter dem Rasen,<br />
den der Regen nässt<br />
und der Tau berührt.<br />
Lasst mich ruhen!<br />
Doch – wenn ihr wollt:<br />
Erinnert euch!<br />
Irischer Segensspruch<br />
9
Ruth Braun, Helga Huch und Marianne Speckamp leiten seit<br />
zehn Jahren in Lintorf einen Gesprächskreis für Trauernde. Sie<br />
berichten über vielfältige Erfahrungen in ihrer Arbeit.<br />
Zehn Jahre Trauerwege<br />
(mit-)gehen<br />
Seit nunmehr zehn Jahren<br />
besteht in Lintorf der Gesprächskreis<br />
für Trauernde<br />
in der Pfarrei St. Anna.<br />
Gegründet wurde er auf<br />
Initiative des damaligen<br />
Pfarrgemeinderates, der<br />
die Not vieler Trauernder<br />
erkannte, die sich in ihrer<br />
Situation oft allein gelassen<br />
sahen. Fünf Frauen absolvierten<br />
die Ausbildung zur<br />
Trauerbegleiterin. Bis heute<br />
stehen noch drei von ihnen<br />
den Trauernden zur Seite,<br />
die den Weg in den Gesprächskreis<br />
finden. Auf<br />
Wunsch wird auch eine<br />
Einzelbegleitung oder ein<br />
Fahrdienst zu den Gruppenabenden<br />
ermöglicht.<br />
Durch die fast gleichzeitig<br />
erfolgte Ausbildung zur<br />
Hospizhelferin gehören diese<br />
Frauen auch der Hospizbe-<br />
10<br />
wegung <strong>Ratingen</strong> als Mitglieder<br />
an und werden dort<br />
durch Seminare, Vorträge<br />
und persönliche Begleitung<br />
weiter unterstützt und gefördert.<br />
Im Verlauf dieser zehn<br />
Jahre haben viele Menschen<br />
in ganz unterschiedlicher<br />
Trauer diesen Gesprächskreis<br />
besucht. Da kam die<br />
Mutter, die ihren erwachsenen<br />
Sohn verloren hat, es<br />
kamen Personen, die den<br />
Verlust ihres Partners zu<br />
beklagen hatten, und es<br />
kamen Trauernde, die den<br />
Tod der Eltern nicht verkraften<br />
konnten. Es wurden<br />
verstorbene Geschwister und<br />
Freunde betrauert, Scham<br />
und Schuldgefühle zur Sprache<br />
gebracht und Rituale, die<br />
in der Trauer helfen können,<br />
entdeckt. Immer wird die
Gruppe als hilfreich erlebt,<br />
voller Anteilnahme und Mitgefühl,<br />
was eine Atmosphäre<br />
schafft, die im Alltag oft so<br />
nicht zu finden ist.<br />
Madonna, Prof. Franz Gutmann<br />
Für Trauernde scheint oft die<br />
Welt still zu stehen. Nichts<br />
ist mehr, wie es vorher war,<br />
und daneben geht der ganz<br />
normale Alltag weiter, als ob<br />
nichts geschehen sei. Die<br />
Gruppe gibt Raum für Tränen<br />
und Gefühle, die im alltäglichen<br />
Leben meist nicht<br />
ausgesprochen und gezeigt<br />
werden. Die Gruppe ist auch<br />
ein Ort für ein befreiendes<br />
Lachen, für liebevolle Umarmungen<br />
und verständnisvolle<br />
Blicke.<br />
Der Gesprächskreis steht<br />
allen Trauernden offen. Die<br />
Teilnahme ist kostenlos. Die<br />
TeilnehmerInnen bestimmen<br />
selbst, wie lange sie die<br />
Gruppe in Anspruch nehmen.<br />
Wenn jemand für sich<br />
den Zeitpunkt des Ausscheidens<br />
gekommen sieht, besteht<br />
das Angebot einer gemeinsamen<br />
Verabschiedung<br />
mit einem kleinen Segensritual.<br />
Dies bedeutet jedoch<br />
nicht, dass der Gesprächskreis<br />
bei Bedarf nicht jederzeit<br />
wieder in Anspruch genommen<br />
werden kann.<br />
Die Erfahrungen in den<br />
vergangenen Jahre haben<br />
gezeigt, dass Menschen nicht<br />
nur aus Lintorf, sondern<br />
auch aus anderen Stadtteilen<br />
<strong>Ratingen</strong>s das Angebot<br />
wahrnehmen.<br />
Die Frauen, die die Trauernden<br />
ein Stück des Weges<br />
begleiten durften, erfahren<br />
dankbar das entgegengebrachte<br />
Vertrauen dieser<br />
Menschen und fühlen sich<br />
selbst auch immer als Beschenkte.<br />
Sie sind nicht nur<br />
die, die etwas bewirken,<br />
11
etwas machen können, sondern<br />
sie sind auch achtsame<br />
und Anteil nehmende<br />
Begleiterinnen in dem je<br />
eigenen Prozess der Trauer.<br />
Die Gespräche in der Gruppe<br />
sind vertraulich und unterliegen<br />
der Verschwiegenheit.<br />
Es steht Literatur zur Verfügung,<br />
die unterstützen kann<br />
und die auf Wunsch ausgeliehen<br />
wird. Wenn weitere<br />
Hilfsangebote erforderlich<br />
erscheinen, kann gemeinsam<br />
nach individuellen Wegen<br />
gesucht werden.<br />
Der Gesprächskreis trifft<br />
sich jeden zweiten Dienstag<br />
im Monat um 19.00 Uhr im<br />
Pfarrzentrum von St. Anna<br />
in Lintorf, Am Löken 69,<br />
und ist offen für alle, die<br />
den Weg dorthin finden.<br />
Auskunft erteilt das<br />
Pfarrbüro Lintorf,<br />
Telefon Nr.: 02102 35785<br />
Ruth Braun, Helga Huch,<br />
Marianne Speckamp<br />
*) Das gleiche Angebot besteht auch in <strong>Ratingen</strong> Mitte im<br />
Kirchenladen, Lintorfer Straße 16. Hier treffen sich Trauernde an<br />
jedem 1. Montag im Monat zum „Trauertreff“.<br />
* * * * * * * * *<br />
Jesus im Grab, Prof. Franz Gutmann<br />
12
An jedem zweiten Sonntag im Monat bietet die <strong>Hospizbewegung</strong><br />
<strong>Ratingen</strong> ein „Trauer-Café“ an. Auch hier stehen ausgebildete Trauerbegleiterinnen<br />
zur Verfügung. Sigrid Gräber ist eine von ihnen und<br />
hat einen kurzen Bericht über ihre Tätigkeit geschrieben.<br />
Trauer-Café<br />
Unser Trauer-Café ist seit März<br />
2006 ein Treffpunkt für Menschen<br />
in Trauer, die einsam<br />
sind, die ein Gespräch suchen,<br />
dabei einen Kaffee trinken<br />
wollen oder auch nur mal<br />
„schnuppern“ möchten.<br />
Das Trauer-Café in <strong>Ratingen</strong><br />
ist an jedem 2. Sonntag im<br />
Monat von 15.00-17.00 Uhr<br />
geöffnet und befindet sich in<br />
den Räumen des Kirchenladens<br />
in der Lintorfer Straße 16.<br />
Der Sonntagnachmittag wurde<br />
bewusst gewählt – oftmals ist es<br />
der Sonntag, der den Verlust<br />
eines Verstorbenen so spürbar<br />
macht – man fühlt sich verlassen<br />
– man fühlt sich allein gelassen.<br />
Heute ist wieder Sonntag. Zwei<br />
Trauerbegleiterinnen aus unserem<br />
Hospiz-Team machen den<br />
Dienst. Wir gestalten unseren<br />
kleinen Café-Raum gemütlich.<br />
Kleine runde Tische werden<br />
liebevoll gedeckt und jahreszeitlich<br />
mit Blumen, Blättern oder<br />
Zweigen geschmückt – und natürlich<br />
gehören viele Kerzenlichter<br />
dazu. Wir möchten eine<br />
wohlige Atmosphäre schaffen.<br />
Der Kaffee ist frisch zubereitet<br />
– es muss nach Kaffee duften–,<br />
und selbstgebackener Kuchen<br />
steht bereit. Wir erwarten<br />
unsere Besucher – die Zahl<br />
schwankt zwischen zwei und<br />
sieben Personen – Damen<br />
(überwiegend) und Herren<br />
jeden Alters.<br />
Zögernd betreten sie unser<br />
Café. Nach einer herzlichen<br />
Begrüßung und Vorstellung<br />
lassen sie sich auf uns ein. Sie<br />
nehmen in den gemütlichen<br />
Korbsesseln Platz. Die getrennt<br />
stehenden Tische werden zusammengerückt,<br />
und so sitzen<br />
alle in einer großen Runde.<br />
13
Kaffee und Kuchen und natürlich<br />
auch Tee und Wasser werden<br />
angeboten. Wir Begleiter<br />
setzen uns dazu und beginnen<br />
eine Unterhaltung. Es kann<br />
auch vorkommen, dass die<br />
Tische getrennt stehen bleiben<br />
und eine Trauerbegleiterin sich<br />
intensiver mit ein oder zwei<br />
Besuchern unterhält. Es sind<br />
Gespräche über ihre Verluste,<br />
ihre Trauer, die jetzige Situation<br />
und über das, was sie so sehr<br />
bewegt. Der erste Gedenktag,<br />
die Feiertage, die Freizeitgestaltung<br />
machen ihnen Angst,<br />
und sie fragen sich, wie es jetzt<br />
im ganz normalen Alltag weitergehen<br />
soll.<br />
Der Austausch in der Gruppe<br />
ist lebhaft. Die Besucher zeigen<br />
ihre Gefühle, sie lachen und<br />
weinen und verstehen so vieles<br />
nicht, was ihnen geschehen ist.<br />
Es tut ihnen gut, dass wir zuhören<br />
und mit ihnen im Gespräch<br />
sind.<br />
Wir geben ihnen Hilfestellung,<br />
vermitteln Adressen und weisen<br />
auf diverse Angebote für Trauernde<br />
hin und auf Angebote, die<br />
es im Rahmen unserer <strong>Hospizbewegung</strong><br />
gibt: das persönliche<br />
Beratungsgespräch, den Trauertreff,<br />
Trauergespräche und<br />
die Einzelbegleitung. Der eine<br />
oder andere Besucher kommt<br />
nur einmal, andere kommen<br />
wieder, sie knüpfen Kontakte<br />
und freuen sich auf das nächste<br />
Mal.<br />
Die zwei Stunden vergehen<br />
schnell. Wir verabschieden unsere<br />
Besucher. Vor dem Café<br />
befinden sie sich oft noch in<br />
intensiver Unterhaltung – dann<br />
gehen sie auseinander.<br />
Wir Begleiter freuen uns, wenn<br />
wir sagen können, es waren<br />
gute Gespräche mit vielen neuen<br />
Erfahrungen und Erkenntnissen,<br />
dass wir Hilfestellung und<br />
Rat geben konnten, und dass der<br />
Austausch im Miteinander so<br />
harmonisch war. Wir hoffen<br />
und wünsche sehr, dass wir heute<br />
unseren Besuchern etwas<br />
Hoffnung für ihren schmerzlichen<br />
und steinigen Weg mitgeben<br />
konnten. Möge jeder neue<br />
Tag auch ein neuer Anfang sein.<br />
Die <strong>Hospizbewegung</strong> <strong>Ratingen</strong><br />
möchte dazu beitragen. Dafür<br />
engagieren wir uns.<br />
Wir freuen uns auch auf das<br />
nächste Mal.<br />
Sigrid Gräber<br />
14
Neben „Trauertreff“ und „Trauer-Café“ gibt es einmal im Jahr,<br />
meistens im Februar, ein Angebot für eine geschlossene Trauergruppe,<br />
die „Gesprächsreihe für Trauernde“. Sie wird von Hildegunde<br />
Mühlmeyer und Joachim Lenninghausen geleitet. Nachfolgend<br />
eine kurze Einführung.<br />
Gesprächsreihe für Trauernde<br />
„Es bleibt von jedem<br />
Menschen irgendwo<br />
ein Stück zurück.“<br />
So lautet der Titel einer<br />
Schrift, die von der ökumenischen<br />
Hospizhilfe Mannheim<br />
herausgegeben wurde.<br />
Aber was ist zurückgeblieben,<br />
und wo finde ich die<br />
Spuren der Erinnerung? Das<br />
fragen sich Angehörige nach<br />
dem Tod eines lieben Menschen.<br />
Sie brauchen etwas,<br />
an dem sie sich festhalten<br />
können, nachdem sie durch<br />
den Tod und noch deutlicher<br />
durch die Beerdigung alles,<br />
was Halt gab, verloren haben.<br />
Die Suche nach neuer<br />
Ordnung für ihr Leben führt<br />
manchen Trauernden zur<br />
<strong>Hospizbewegung</strong>, zu deren<br />
Begleitangeboten auch die<br />
„Gesprächsreihe für Trauernde“<br />
gehört.<br />
Was bedeutet und beinhaltet<br />
dieses Angebot? Die Gesprächsreihe<br />
umfasst fünf<br />
Abende, an denen eine feste<br />
Gruppe (ca. vier TeilnehmerInnen)<br />
zusammenkommt.<br />
Der Blick auf den Abschied,<br />
was gesagt oder nicht gesagt<br />
werden konnte, die verunsichernden<br />
Erfahrungen im<br />
eigenen Erleben oder in den<br />
Kontakten des Umfeldes<br />
sind Themen dieser Treffen.<br />
Darüber hinaus suchen die<br />
Betroffenen mit Hilfe der<br />
geschulten Trauerbegleiter<br />
nach Möglichkeiten, selbständig<br />
vorsichtige Schritte<br />
in die Zukunft zu wagen und<br />
bei allem Schmerz über den<br />
Verlust des lieben Menschen<br />
das bleibende „Stück“ des<br />
15
Verstorbenen zu finden. Erinnerungen<br />
oder auch Orte<br />
bieten Möglichkeiten zu einer<br />
neuen, anderen Begegnung<br />
mit dem Verstorbenen.<br />
Das Zuhören, Nachspüren<br />
und Austauschen in der<br />
Gruppe sind wie eine ausgestreckte<br />
Hand, die dazu beiträgt,<br />
etwas Licht in der<br />
Dunkelheit zu erkennen.<br />
Hildegunde Mühlmeyer<br />
* * * * * * * * * *<br />
Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl;<br />
das macht die Seele still und friedevoll.<br />
Ist's doch umsonst, dass ich mich sorgend müh,<br />
dass ängstlich schlägt das Herz, sei's spät, sei's früh.<br />
Du weißt den Weg ja doch, Du weißt die Zeit,<br />
Dein Plan ist fertig schon und liegt bereit.<br />
Ich preise Dich für Deiner Liebe Macht,<br />
ich rühm die Gnade, die mir Heil gebracht.<br />
Du weißt, woher der Wind so stürmisch weht,<br />
und Du gebietest ihm, kommst nie zu spät;<br />
drum wart ich still, Dein Wort ist ohne Trug,<br />
Du weißt den Weg für mich, – das ist genug.<br />
Hedwig von Redern (1866 - 1935)<br />
16
Von einer Einzelbegleitung der <strong>Hospizbewegung</strong> <strong>Ratingen</strong><br />
berichtet Frau A. Sie hatte das Glück, gleich bei ihrem ersten<br />
Anruf in unserem Büro auf ihre Trauerbegleiterin zu treffen.<br />
Die Chemie zwischen beiden war stimmig, und es begann für<br />
beide Seiten ein fruchtbarer Gedankenaustausch.<br />
Meine Erfahrung mit der<br />
Trauerbegleitung<br />
Nach dem Tod meines Mannes<br />
vor fünf Jahren habe ich<br />
mich innerlich und äußerlich<br />
von allem und allen zurückgezogen.<br />
Ich wollte nur in<br />
meinen eigenen vier Wänden<br />
sein, habe mich im wahrsten<br />
Sinne des Wortes ins “Schneckenhaus”<br />
verkrochen.<br />
Mit einer Ausnahme: meine<br />
Tochter, die ja selbst in ihrer<br />
Trauer um den Vater Trost<br />
und Halt brauchte, kam jeden<br />
Tag mit ihrem damals<br />
drei Monate alten Sohn zu<br />
mir. Das war meine Rettung,<br />
und ich hoffe, auch Hilfe für<br />
meine Tochter.<br />
Nach einiger Zeit traf ich<br />
eine Bekannte, die mir Ihre<br />
– der <strong>Hospizbewegung</strong> –<br />
Angebote und Anliegen<br />
näher brachte. Bis dahin<br />
war für mich der Begriff<br />
“Hospiz” gleichbedeutend<br />
mit Tod. – Noch mehr Tod,<br />
nein, lieber nicht.<br />
Ich wurde allerdings eines<br />
Besseren belehrt. Nämlich,<br />
dass Ihr Augenmerk gerade<br />
auch den Hinterbliebenen<br />
gilt, dass Sie für diese Trauernden<br />
da sind, ihnen Ihre<br />
Zeit widmen und dass Sie für<br />
Gespräche und Austausch<br />
offen sind.<br />
Nach längerem Zögern fasste<br />
ich mir ein Herz und wählte<br />
die mir angegebene Telefonnummer.<br />
Ich hatte das Glück,<br />
dass sich direkt eine angenehme,<br />
aufgeschlossene<br />
17
Stimme meldete, die – wie<br />
sich später herausstellte – zu<br />
Frau Toppe gehörte. Meine<br />
Aufregung wurde etwas gedämpft,<br />
obwohl ich heute<br />
nicht mehr sagen kann, wie<br />
unser Gespräch begann und<br />
verlief. Nur soviel weiß ich,<br />
dass wir uns noch für den<br />
gleichen Abend verabredeten.<br />
Wir haben uns sofort gut verstanden.<br />
Ich konnte reden, sie<br />
hörte zu. Sie hat geredet, ich<br />
hörte zu. So war es bei jeder<br />
Begegnung. Es war immer<br />
wohltuend.<br />
Stele, Kath. Sozialinstitut, Bad Honnef<br />
Im Nachhinein möchte ich<br />
sagen: Durch unsere Gespräche<br />
habe ich mich aus meiner<br />
Isolation befreit. Ich bin<br />
meinem eigenen Leben gegenüber<br />
wieder aufgeschlossener<br />
geworden. Zwar stehen<br />
meine Tochter und Enkel<br />
(ein zweiter kam schnell<br />
hinterher) vorrangig und<br />
jederzeit an erster Stelle; für<br />
sie stehe ich immer mit Hilfe<br />
bereit (umgekehrt ist dies<br />
aber auch der Fall). Sie sind<br />
mein Hauptlebensinhalt.<br />
Aber ich fing wieder an,<br />
mein eigenes Leben aufzubauen,<br />
angefangen mit Teilnahme<br />
an Ihren sonntäglichen<br />
Treffen im Trauer-Café<br />
in der Lintorfer Straße, Eintreten<br />
in einen Club Alleinstehender,<br />
Treffen und Unternehmungen<br />
mit gleichgesinnten<br />
und gleichinteressierten<br />
Witwen.<br />
Zum Schluss möchte ich<br />
sagen: Ich bin dankbar, dass<br />
ich Sie, Ihre MitarbeiterInnen<br />
und Frau Toppe kennengelernt<br />
und Hilfe angenommen<br />
habe.<br />
18
Es kann passieren, dass Menschen, die einen Partner verloren<br />
haben, sich in ihrer Trauer auf verschüttet gegangene musische<br />
Begabungen und Neigungen besinnen, für die sie vorher keine<br />
Zeit fanden. Unserer ehrenamtlichen Mitarbeiterin im Arbeitskreis<br />
Öffentlichkeitsarbeit Wiltrud Sahl ist es so ergangen. Aber<br />
sie hat erst bei den Vorbereitungen zu diesem <strong>Freundesbrief</strong> erkannt,<br />
dass es für sie ein Weg aus der Trauer war.<br />
Wann endet die Trauer?<br />
Sie kennen das Märchen mit<br />
den drei offenen Wünschen?<br />
Was war schon immer Ihr<br />
größter Wunsch?<br />
Mein größter Wunsch war<br />
schon als Kind „Klavier<br />
spielen zu können“. Zwei<br />
Jahre Klavierunterricht<br />
waren mir während meiner<br />
Schulzeit vergönnt. Dann<br />
kam der Zweite Weltkrieg,<br />
und das Leben führte mich<br />
andere Wege.<br />
Viele Jahre später, nach dem<br />
Tod meines Mannes, dachte<br />
ich wieder an meinen Kindheitstraum.<br />
Ich kaufte ein<br />
Klavier und hatte das Glück,<br />
von einer sehr guten, einfühlsamen<br />
Klavierlehrerin<br />
unterrichtet zu werden. Ich<br />
übte sechs Jahre lang jeden<br />
Tag mit größter Begeisterung<br />
etwa ein bis zwei<br />
Stunden Klavier. Klavier<br />
üben und spielen wurde ein<br />
fester Bestandteil in meinem<br />
Tagesablauf. Ich hatte dadurch<br />
für viele andere Dinge<br />
keine Zeit mehr, was mich<br />
aber nicht störte. Meine<br />
Lehrerin war mit meinen<br />
Fortschritten sehr zufrieden,<br />
und ich war glücklich.<br />
Dann auf einmal merkte ich,<br />
dass ich mich immer öfter<br />
zwingen musste, täglich zu<br />
üben. Doch ich übte weiter,<br />
nicht mehr so oft, aber um<br />
meine Lehrerin nicht zu enttäuschen,<br />
die sich sehr viel<br />
Mühe mit mir gab. Aber<br />
schließlich wollte ich einfach<br />
19
nicht mehr üben. Es war nur<br />
noch Zwang. Mit viel Herzklopfen<br />
sprach ich offen mit<br />
meiner Lehrerin über mein<br />
Problem. Und sie verstand<br />
mich. Sie hatte diese Wende<br />
vielleicht auch schon vorhergesehen.<br />
Nach diesem<br />
Gespräch war ich sehr erleichtert<br />
und fühlte mich frei.<br />
Das ist nun schon über zwei<br />
Jahre her, und ich habe den<br />
Klavierdeckel kein einziges<br />
Mal wieder aufgeklappt!<br />
Gelegentlich stehe ich vor<br />
dem Klavier und wundere<br />
mich! Was war passiert?<br />
Man sagte mir jetzt, meine<br />
Trauer sei nun nach diesen<br />
sechs Jahren wohl zum Abschluss<br />
gekommen. Könnte<br />
das sein?<br />
Alles hat seine Zeit!<br />
Wiltrud Sahl<br />
Kreuz, Prof. Franz Gutmann<br />
Erinnerung ist ein Paradies,<br />
aus dem wir nicht vertrieben werden können.<br />
20<br />
Jean Paul
Da wir bei unserer Arbeit auch immer wieder Familien mit<br />
Kindern begleiten und uns das Thema Kindertrauer nicht fremd<br />
ist, stellte unsere Koordinatorin Martina Rubarth einige Fragen<br />
an Frau Melanie van Dijk vom Kinderhospiz Regenbogenland<br />
in Düsseldorf.<br />
Trauer bei Kindern<br />
M. Rubarth (R.): Frau van<br />
Dijk, Sie arbeiten schon seit<br />
sieben Jahren im Kinderhospiz<br />
Regenbogenland als<br />
Kindertrauerbegleiterin.<br />
Was ist das Besondere an der<br />
Kindertrauer?<br />
M. van Dijk (M.v.D.):<br />
Kindertrauer ist häufig verborgen,<br />
unregelmäßig und<br />
plötzlich. Man muss geduldig<br />
und einfühlsam an die<br />
Kinder herantreten, um sie<br />
zu entdecken. Sie ist facettenreich.<br />
Kinder haben die<br />
Begabung, sich von ihrer<br />
Trauer ablenken zu lassen.<br />
So trauern sie fünf Minuten<br />
lang und dann spielen sie<br />
eine Stunde wieder völlig<br />
unbekümmert. Sie können<br />
sehr schnell umschalten, was<br />
uns Erwachsene manchmal<br />
irritiert. Man sollte den<br />
Kindern Möglichkeiten und<br />
Räume bieten, in denen sie<br />
trauern können.<br />
R.: Kinder trauern anders als<br />
Erwachsene und sie trauern<br />
in unterschiedlichem Alter<br />
auch verschieden?<br />
M.v.D.: Kinder trauern in<br />
unterschiedlichen Altersstufen<br />
ganz anders. Auch Kinder<br />
unter zwei Jahren zeigen<br />
ihre Trauer durch Weinen<br />
und Suchen nach dem Verstorbenen.<br />
Die Trauer entwickelt<br />
sich mit der Entwicklung<br />
des Kindes. Verliert z.B.<br />
ein Junge im Alter von zwei<br />
Jahren seinen Bruder, so<br />
verändert sich die Trauer im<br />
Laufe des Lebens, weil sich<br />
das Todesverständnis des<br />
trauernden Kindes verändert.<br />
Wichtig ist immer ein<br />
21
offener und ehrlicher Umgang<br />
mit den Kindern. Wenn<br />
der Opa stirbt, ist es wichtig,<br />
dem Kind auch mitzuteilen,<br />
dass der Opa jetzt tot ist, und<br />
ihm nicht zu sagen, er sei<br />
verreist oder würde schlafen.<br />
Dann bekommt das Kind<br />
vielleicht Angst vor dem Einschlafen<br />
oder weigert sich zu<br />
verreisen. Ich möchte hier<br />
noch einen prägnanten Satz<br />
der Sterbeforscherin Elisabeth<br />
Kübler-Ross zitieren.<br />
Sie hat über Kindertrauer<br />
gesagt „Kinder trauern mit<br />
einer Intensität, mit der viele<br />
Erwachsene nicht rechnen,<br />
die sie erschüttern würde,<br />
wüssten sie mehr darüber.<br />
Grab von Oma und. Enkel<br />
Melaten-Friedhof, Köln<br />
R.: Sollen Kinder mit zur<br />
Beerdigung genommen<br />
werden?<br />
M.v.D: Kinder sollen in jedem<br />
Fall gefragt werden, ob<br />
sie an der Beerdigung teilnehmen<br />
wollen. Wichtig ist<br />
dabei, den Kindern vorher<br />
genau zu erklären, was bei<br />
der Beerdigung passiert und<br />
wie diese abläuft. Man sollte<br />
dem Kind während der Beerdigung<br />
eine feste Bezugsperson<br />
an die Seite stellen,<br />
welche persönlich nicht zu<br />
stark betroffen ist, um auf<br />
die Bedürfnisse und Wünsche<br />
des Kindes eingehen<br />
zu können. Diese Person<br />
kann mit dem Kind auch<br />
zwischendurch hinausgehen<br />
oder Fragen beantworten.<br />
Eine solche Begleitperson<br />
kann z.B. auch eine ehrenamtliche<br />
Mitarbeiterin oder<br />
ein Mitarbeiter der <strong>Hospizbewegung</strong><br />
sein. Genauso<br />
sollte man aber auch akzeptieren,<br />
wenn ein Kind oder<br />
ein Jugendlicher nicht mit<br />
zur Beerdigung gehen will.<br />
Kinder wissen sehr genau,<br />
was gut für sie ist und was<br />
nicht.<br />
22
R.: Was für Angebote haben<br />
Sie für trauernde Kinder?<br />
Wie sieht das Angebot ganz<br />
praktisch aus?<br />
M.v.D: Wir bieten Kindertrauergruppen<br />
für unterschiedliche<br />
Altersgruppen<br />
an: eine Gruppe für die achtbis<br />
zwölf- oder 14-jährigen<br />
und eine zweite Gruppe für<br />
die fünf- bis siebenjährigen<br />
Kinder. Die Trauergruppen<br />
finden alle 14 Tage für 1,5<br />
Stunden über einen Zeitraum<br />
von einem halben Jahr statt.<br />
Während der Gruppenstunden<br />
werden gemeinsame Rituale<br />
entwickelt, Erinnerungen<br />
wachgerufen, und es wird über<br />
den Verstorbenen gesprochen.<br />
Ganz intensiv erinnern sich die<br />
Kinder auch an den Todestag<br />
des geliebten Menschen. Es<br />
wird danach gefragt, wer an<br />
diesem Tag für das Kind/den<br />
Jugendlichen da war, wer unterstützt<br />
hat und auf wen man<br />
sich auch in Zukunft in schwierigen<br />
Zeiten verlassen kann.<br />
Die Ressourcen der Kinder<br />
werden hervorgehoben, und es<br />
wird betont, welche Dinge<br />
Kraft und Mut geben. Mit das<br />
wichtigste an den Trauergruppen<br />
ist der Austausch der Kinder<br />
untereinander. Dadurch<br />
erfahren sie, dass sie in ihrer<br />
Trauer nicht allein sind.<br />
R.: Können Sie ein besonderes<br />
Beispiel nennen?<br />
M.v.D.: Ja, es gibt viele besondere<br />
Beispiele für Trauer<br />
bei Kindern. Aber ich will<br />
von Zwillingen erzählen, die<br />
im Alter von zwei Jahren<br />
ihre große Schwester verloren<br />
haben. Sie sind auf das<br />
Bett der toten Schwester<br />
geklettert und haben sie gestreichelt<br />
und liebkost und<br />
ihre Kuscheltiere zu ihr gelegt.<br />
Dann sind sie hinausgegangen<br />
und haben einen<br />
Stern ausgeguckt, auf dem<br />
jetzt ihre Schwester sei.<br />
Dieses Ritual mit dem Stern<br />
haben sie lange Jahre beibehalten.<br />
Heute sind die<br />
Kinder acht Jahre alt und<br />
kommen immer noch hierher<br />
ins Kinderhospiz – sie haben<br />
hier einen Ort gefunden, wo<br />
ihre Schwester immer noch<br />
einen besonderen Platz hat.<br />
23
R.: Wann müssen wir bei<br />
Kindern besonders achtsam<br />
sein? Was sind Zeichen dafür,<br />
dass Kinder ihre Trauer<br />
nicht verarbeitet haben?<br />
M.v.D.: Das ist leider<br />
schwer zu erkennen. Manchmal<br />
sind es starke Wut oder<br />
Aggressionen, die die Trauer<br />
verdecken. Wut ist oft für<br />
Kinder leichter zu zeigen als<br />
Trauer. Durch ihre Trauer<br />
machen sie auch ihre Eltern<br />
oder Geschwister wieder mit<br />
traurig, und das wollen Kinder<br />
nicht. Sie wollen ihre<br />
Eltern schützen und fröhlich<br />
sehen. Wenn Kinder große<br />
Angst vor einem Besuch auf<br />
dem Friedhof haben oder<br />
sich z.B. nicht mehr in ein<br />
Krankenhaus trauen, so<br />
kann dies auch auf unbewältigte<br />
Trauer bzw. ein Trauma<br />
hinweisen. Dann empfehlen<br />
wir auch gezielt, einen Therapeuten<br />
aufzusuchen.<br />
Manchmal wird die unverarbeitete<br />
Trauer in der Kindheit<br />
aber auch erst im Erwachsenenalter<br />
sichtbar wie<br />
z.B. durch psychosomatische<br />
Erkrankungen.<br />
R.: Kindertrauer erleben wir<br />
ja nicht nur beim Tod eines<br />
Angehörigen, sondern auch<br />
nach einer Trennung und<br />
Scheidung. Gibt es dabei<br />
Unterschiede?<br />
M.v.D.: Die Trauer kann<br />
nach einer Scheidung sehr<br />
ähnlich sein. Oft ist diese<br />
auch verdeckt, da die Eltern<br />
ja meist sehr verletzt sind,<br />
und es auch um Schuldgefühle<br />
geht. Es gibt für diese<br />
Kinder spezielle Gruppen<br />
(Jugendamt oder Verband<br />
Alleinerziehender Mütter<br />
und Väter).<br />
R.: In <strong>Ratingen</strong> gibt es<br />
meines Wissens bisher kein<br />
solches Angebot. Würden<br />
Sie es unterstützen, wenn wir<br />
einige unserer ehrenamtlichen<br />
TrauerbegleiterInnen<br />
als Kindertrauerbegleiter<br />
ausbilden würden, um ein<br />
solches Angebot auch vor<br />
Ort in <strong>Ratingen</strong> zu haben?<br />
M.v.D:. Ja, 100%ig. Das<br />
wäre sogar ein großer<br />
Wunsch von mir, damit die<br />
Kinder ortsnah die Möglich-<br />
24
keit haben, solch ein Angebot<br />
wahrzunehmen. Wir wissen<br />
natürlich, dass die Ausbildung<br />
als Kindertrauerbegleiter<br />
für die <strong>Hospizbewegung</strong><br />
sehr teuer ist und<br />
aus Spendengeldern finanziert<br />
werden muss.<br />
R.: Wir haben jetzt viel<br />
über Trauer bei Kindern<br />
gesprochen. Was bedeutet<br />
der Verlust eines Kindes für<br />
die Eltern?<br />
M.v.D.: Das eigene Kind zu<br />
verlieren, ist das schlimmste,<br />
was Eltern passieren kann.<br />
Die Trauer dauert Jahre,<br />
und das gesamte Familiensystem<br />
gerät ins Wanken.<br />
Hier bei uns sind es meist<br />
Begleitungen über einen<br />
längeren Zeitraum der Erkrankung<br />
bis hin zu vielen<br />
Jahren nach dem Tod eines<br />
Kindes. Die Eltern sind in<br />
den meisten Fällen auf das<br />
Versterben ihres Kindes vorbereitet.<br />
Den Schmerz über<br />
den Verlust mindert dieser<br />
Tatbestand jedoch nicht.<br />
Doch Eltern sind froh, einen<br />
Ort zu haben, wo man auch<br />
nach Jahren noch über ihr<br />
Kind spricht, denn der oder<br />
die Verstorbene stirbt einen<br />
zweiten Tod, wenn niemand<br />
mehr über ihn/sie spricht.<br />
R.: Herzlichen Dank!<br />
Kindergräber, Melaten-Friedhof, Köln<br />
25
Eine Trauer, die früher oft totgeschwiegen wurde, ist die Trauer<br />
über den Tod von Kindern, die ganz am Anfang ihres Lebens<br />
sterben. Am 30. März diesen Jahres führte unsere Koordinatorin<br />
Martina Rubarth ein Interview mit der Heilpraktikerin Ulrike<br />
Bischopink, die die Selbsthilfegruppe „Kaya“ gegründet hat.<br />
Trauergruppe „Kaya“<br />
M. Rubarth (R.): Ihre Trauergruppe<br />
wird von Menschen<br />
besucht, die ihre Kinder während<br />
der Schwangerschaft,<br />
unter der Geburt oder kurz<br />
nach der Geburt verloren<br />
haben. Frau Bischopink, wie<br />
sind Sie auf die Idee gekommen,<br />
diese Selbsthilfegruppe<br />
ins Leben zu rufen?<br />
U. Bischopink (B.): Damals<br />
dachte ich, ich sei die einzige<br />
Frau auf der Welt, der<br />
ein Kind gestorben ist. Ich<br />
brauchte Gleichgesinnte, die<br />
diesen Verlust auch spüren<br />
können. Meine Freundinnen<br />
und natürlich die Familie<br />
haben mich getröstet, und<br />
das war auch gut, aber wirklich<br />
fühlen und nachvollziehen<br />
konnten sie diesen Verlust<br />
nicht. Als meine Tochter<br />
Kaya im Jahre 1998 kurz<br />
26<br />
nach der Geburt starb, fiel<br />
ich in ein Loch, und aus meiner<br />
Not heraus bin ich an die<br />
Öffentlichkeit getreten. Ich<br />
habe in der Rheinischen Post<br />
einen Presseartikel veröffentlicht,<br />
um andere Betroffene<br />
zu finden, und habe dann im<br />
Jahre 1999 diese Selbsthilfegruppe<br />
gegründet.<br />
R.: Besuchen nur die Mütter<br />
diese Gruppe oder kommen<br />
auch die Väter?<br />
B.: Es kommen auch Väter,<br />
manchmal alleine, aber in<br />
der Regel kommen Paare<br />
oder Mütter in diese Sitzung,<br />
die einmal im Monat für zwei<br />
Stunden bei mir zu Hause<br />
stattfindet. Telefonisch stehe<br />
ich immer zur Verfügung,<br />
und oft werden auch Gespräche<br />
außerhalb der Gruppensitzungen<br />
geführt.
R.: Wie viele Menschen besuchen<br />
regelmäßig Ihre Gruppe?<br />
B.: Zwischen fünf und zehn<br />
Personen kommen ziemlich<br />
regelmäßig, aber es ist auch<br />
in Ordnung, wenn sie nur<br />
ein- oder zweimal kommen.<br />
Es ist bewusst eine offene<br />
Gruppe. Es besteht kein<br />
Zwang zu einer regelmäßigen<br />
Teilnahme. Jeder kommt,<br />
wenn er sprechen möchte und<br />
Hilfe braucht. Ich bitte jedoch<br />
vor den Treffen um eine kurze<br />
Mitteilung: „Komme“ oder<br />
„Komme nicht“, damit ich<br />
mich auf die Teilnehmerzahl<br />
einstellen kann.<br />
R.: Geben Sie die Themen<br />
vor oder hat jeder Einzelne<br />
die Möglichkeit, sein eigenes<br />
Thema anzusprechen?<br />
B.: Oft entwickeln sich die<br />
Themen ganz von alleine. Zu<br />
Beginn des Abends zündet<br />
jeder ein Teelicht an und<br />
kann, wenn er möchte, etwas<br />
dazu sagen. Daraus ergeben<br />
sich gerne Gespräche. Zudem<br />
hat jeder natürlich die Gelegenheit,<br />
über das, was ihn im<br />
Moment bewegt, zu erzählen.<br />
Ev. u. Kath, Friedhof, <strong>Ratingen</strong><br />
Inschrift auf Stele:<br />
Keinen Schritt auf dieser Erde getan<br />
aber unauslöschliche Spuren<br />
in unserem Herzen hinterlassen<br />
R.: Warum tut es den Menschen<br />
gut, eine solche Gruppe<br />
zu besuchen?<br />
B.: Eltern, die einen solchen<br />
Verlust erlitten haben, brauchen<br />
einen geschützten Raum<br />
mit dem Wissen, dass alle<br />
ihren Schmerz verstehen und<br />
dass sie, auch wenn der Verlust<br />
schon einige Zeit her ist,<br />
verstanden werden und aufgehoben<br />
sind. Leider reagiert<br />
die Umwelt und oft auch die<br />
eigene Familie nicht immer<br />
positiv auf eine Trauerphase,<br />
und relativ schnell wird ver-<br />
27
langt, dass wieder „alles in<br />
Ordnung ist“. Phrasen und<br />
„gut gemeinte“ Ratschläge<br />
erleichtern die Trauer nicht<br />
wirklich. „Es muss jetzt doch<br />
wieder gut sein“ – „Wer<br />
weiß, wofür es gut war“ –<br />
„Es war doch noch gar kein<br />
richtiges Kind“ (im Falle eines<br />
frühen Verlustes), sind<br />
nur einige Phrasen, mit denen<br />
die Eltern sich auseinandersetzen<br />
müssen.<br />
In unserer Gruppe wird<br />
Trauer nicht bewertet, egal,<br />
ob der Verlust am Anfang der<br />
Schwangerschaft oder zu einem<br />
späteren Zeitpunkt stattfand.<br />
Alle müssen sich von<br />
ihren Träumen, Zukunftsideen<br />
und Planungen verabschieden.<br />
Die Gruppe bietet die<br />
Ruhe und auch die Zeit, miteinander<br />
zu sprechen.<br />
Manchmal entwickeln sich<br />
auch engere Bindungen zwischen<br />
Paaren oder Müttern,<br />
und sie treffen sich dann auch<br />
außerhalb der Gruppe.<br />
R.: Welche Rolle haben Sie in<br />
der Gruppe, einmal als selbst<br />
betroffene Mutter und auch<br />
als Leiterin der Gruppe?<br />
28<br />
B.: Seit etwa zwei Jahren sehe<br />
ich mich eher als Moderatorin.<br />
Sicher geben mir die Gespräche<br />
sehr viel, aber eben<br />
weil ich auch Betroffene bin,<br />
kann ich immer noch fühlen,<br />
wie es den anderen geht. Meine<br />
Trauer habe ich durchlebt,<br />
mit allen Tiefen und aller Verzweiflung.<br />
Ich möchte nun<br />
eher für die anderen eine Anlaufstelle,<br />
Raum und die Möglichkeit<br />
zum Austausch bieten.<br />
R.: Wenn ich diese Gruppe<br />
besuchen möchte, wie fange<br />
ich das an? Ist ein Vorgespräch<br />
nötig?<br />
B.: Ja, ich führe grundsätzlich<br />
ein Vorgespräch. Der<br />
erste Kontakt geschieht über<br />
das Internet oder das Telefon.<br />
Dann lernen wir uns<br />
kennen, und ich frage dabei,<br />
was passiert ist. Gespräche<br />
in der Gruppe setzen eine<br />
gewisse Gruppenfähigkeit<br />
voraus und auch ein Vertrauen<br />
zu mir. Im Erstkontakt<br />
wird noch geklärt, was die<br />
Menschen brauchen. Manchmal<br />
sind Einzelgespräche<br />
notwendig, und manchmal<br />
empfehle ich auch eine Psychotherapie.
R.: Früher wurden zu früh<br />
geborene oder auch totgeborene<br />
Kinder nicht bestattet.<br />
Das hat sich heute zum<br />
Glück verändert. Welche<br />
Rituale schlagen Sie den<br />
Eltern vor? Gibt es Rituale,<br />
die man auch im Nachhinein<br />
noch durchführen kann?<br />
B.: Es gibt viele Möglichkeiten:<br />
z. B. könnte man eine<br />
schöne Schachtel mit Andenken<br />
an das verstorbene Kind<br />
füllen, Mutterpass, eventuell<br />
vorhandene Schwangerschaftstests,<br />
Ultraschallbilder<br />
oder Kondolenzkarten.<br />
Auch ein Gedenkort in der<br />
Wohnung oder im Garten ist<br />
möglich. Mit Ton arbeiten,<br />
um dem Kind ein Gesicht zu<br />
geben, Bilder malen und<br />
auch Briefe schreiben, fallen<br />
mir da im Moment ein. Sein<br />
verstorbenes Kind mit Namen<br />
nennen, halte ich persönlich<br />
ebenfalls für wichtig. So wird<br />
es für die Umwelt zu einem<br />
„Menschen“ und ist nicht<br />
mehr nur ein „Bauch“ oder<br />
„noch kein Kind“. Dies alles<br />
ist auch nach vielen Jahren<br />
der ungelebten Trauer noch<br />
möglich.“<br />
R.: Wo finden Eltern, die<br />
sich aus verschiedensten<br />
Gründen für eine Abtreibung<br />
entschieden haben, ihren Ort<br />
der Trauer? Es ist meine<br />
Erfahrung, dass sich diese<br />
Menschen oft kurz vor ihrem<br />
eigenen Tod wieder mit diesem<br />
Verlust und den daraus<br />
resultierenden Schuldgefühlen<br />
auseinandersetzen. Und<br />
es sind oft auch die Väter, die<br />
lange Jahre nicht getrauert<br />
haben.<br />
B.: Diese Menschen kommen<br />
auch zu mir, meist aber bleibt<br />
es bei Einzelgesprächen.<br />
Manche kommen vor einem<br />
29
medizinisch indizierten Abbruch<br />
zu mir und möchten<br />
wissen, wie fühle ich mich<br />
danach?<br />
R.: Was können Sie Eltern,<br />
die einen solchen Verlust zu<br />
verarbeiten haben, mit auf<br />
den Weg geben? Was kann<br />
ihnen Kraft geben?<br />
B.: Die Gemeinsamkeit mit<br />
anderen Betroffenen, das<br />
intensive Gespräch und<br />
gemeinsames Fühlen gibt<br />
ihnen Kraft und Zuversicht.<br />
Paare trauern nicht immer<br />
gemeinsam, und das ist wichtig<br />
zu wissen. Es gibt auch in<br />
der Art zu trauern keine Wertigkeit.<br />
Manche Menschen<br />
brauchen eine kürzere Zeit<br />
als andere. Trauer ist immer<br />
individuell, und in der Trauer<br />
ist gefühlsmäßig alles erlaubt.<br />
Sich auf den Weg zu<br />
machen, trotz des Verlustes,<br />
und nach dem Sinn zu suchen,<br />
ist eine große Aufgabe.<br />
Man überdenkt sein Leben<br />
und legt manche Oberflächlichkeit<br />
ab. Ich beschäftige<br />
mich seit dem Tod meiner<br />
Tochter mit dem Thema Tod<br />
und Trauer sehr intensiv.<br />
Dies ist „ihr Vermächtnis“<br />
an mich.<br />
R.: Vielen Dank für das<br />
Gespräch.<br />
Literatur und Ansprechpartner<br />
– Literaturhinweis: „Gute Hoffnung, jähes Ende“ Hanna Lothrop, Kösel Verlag<br />
– E-Mail Ulrike Bischopink: selbsthilfegruppe.kaya@gmx.de, Tel.: 02102/399208<br />
– www.schmetterlingskinder.de<br />
– Selbsthilfekontaktstelle Gesundheitsamt Mettmann: Tel.: 02104/996698<br />
– Wiese e.V., Essen: 0201/207676<br />
– Patienteninformation „Bestattung von fehl- und totgeborenen Kindern“<br />
der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe im St. Marien-Krankenhaus<br />
in <strong>Ratingen</strong>, Tel.: 02102/8524206<br />
30
Wenn in der Familie oder im Bekanntenkreis jemand verstorben<br />
ist, befällt uns ein Gefühl der Trauer. Wir sind betroffen über<br />
diesen Verlust und erkennen die eigene Endlichkeit. Wie man<br />
mit der Trauer früher umging und heute umgehen kann, zeigt der<br />
nachfolgende Beitrag von Gerlinde Marzi.<br />
Riten und Rituale<br />
Riten und Rituale sind feierliche<br />
Bräuche oder Verhaltensabfolgen<br />
für Übergangssituationen.<br />
Sie sollen helfen,<br />
die Identität des Einzelnen<br />
oder der Gruppe zu stärken.<br />
Es ist interessant zu beobachten,<br />
wie sich Trauerrituale<br />
im Laufe der Geschichte<br />
gewandelt haben.<br />
Mit den „Hünenbetten“ im<br />
Umkreis der Lüneburger<br />
Heide begegnen uns die<br />
gleichen kulturellen Zusammenhänge,<br />
wie wir sie aus<br />
den Hochkulturen des Orients<br />
kennen. Hier wie dort existiert<br />
der „lebende Leichnam“<br />
nach der Scheinzäsur seines<br />
Todes weiter in dem Totenhaus,<br />
das ihm die noch<br />
„Diesseitigen“ errichtet<br />
haben. Dem Abgeschiedenen<br />
wurde oft mehr Ehre<br />
und Furcht, mehr Mühe<br />
und Fürsorge zuteil als dem<br />
Lebenden.<br />
Bei den Germanen bildete<br />
das Sterben wieder einen<br />
Übergang, eine Grenze.<br />
Der Verstorbene hatte zwei<br />
Möglichkeiten. Er konnte<br />
unter den verstorbenen Mitgliedern<br />
der Sippe in das<br />
Handeln und Denken der<br />
Lebenden einwirken oder in<br />
den Enkeln oder Urenkeln<br />
als Wiedergeborener erscheinen.<br />
Deshalb bekamen<br />
die nachgeborenen Kinder<br />
oft den Namen des Verstorbenen,<br />
damit er in ihnen<br />
weiterlebe.<br />
Für die frühzeitlichen Bestattungsrituale<br />
war eine Lärmentfaltung<br />
wichtig, um die<br />
Wiederkehr der Toten zu<br />
verhindern. Archäologische<br />
Funde lassen vermuten, dass<br />
31
schon in der Eiszeit den Toten<br />
vor dem Verbrennen der<br />
Mund mit Harz verschlossen<br />
wurde. Die Sitte, den Mund<br />
und die Augen zu verschließen,<br />
erstreckt sich über alle<br />
Zeiträume bis heute. Auch<br />
das Ritual der Totenwache<br />
scheint es bereits in der<br />
Frühzeit gegeben zu haben.<br />
Die Bestattungsplätze befanden<br />
sich in der Regel außerhalb<br />
der Siedlungen.<br />
Melaten Friedhof, Köln<br />
Durch die Christianisierung<br />
änderten sich der Bestattungsort,<br />
die Grabform und<br />
der Ahnenkult. Im Mittelalter<br />
starb man öffentlich. Im<br />
Beisein von Familie, Freunden<br />
und Passanten wurde die<br />
Beichte abgenommen und<br />
32<br />
die Absolution erteilt. Sie<br />
blieben bis zum letzten<br />
Atemzug bei dem Sterbenden.<br />
Die Totenklage danach<br />
half die Trauer auszudrücken.<br />
Während der Nacht<br />
wurde eine Totenwache<br />
gehalten. Zum christlichen<br />
Begräbnis gehörten die Aussegnung<br />
im Haus des Verstorbenen,<br />
der Trauergottesdienst<br />
in der Kirche, das<br />
Geleit zum Grab und die<br />
Fürbitte für den Toten mit<br />
der Verkündung der Auferstehung.<br />
Der Toten wurde<br />
durch Seelenmessen gedacht.<br />
Die Friedhöfe wurden im<br />
Mittelalter in die Siedlung<br />
und um die Kirchen verlegt.<br />
Im 16. Jahrhundert traten<br />
ungezügelte Emotionen, die<br />
im Mittelalter noch weit verbreitet<br />
waren, mehr und<br />
mehr zurück. Im 17. Jahrhundert<br />
setzte sich eine spezielle<br />
Trauerkleidung durch,<br />
die regionalen Besonderheiten<br />
angepasst war. Von nun<br />
an trat die meist schwarze<br />
Trauerkleidung an die Stelle<br />
der verbalen Trauer. Die<br />
Hinterbliebenen brachten<br />
wortlos ihre Trauer zum<br />
Ausdruck.
In der Zeit der Aufklärung<br />
verlor der Glaube an eine<br />
Auferstehung und das Jenseits<br />
an Bedeutung. Großer Wert<br />
wurde auf die äußerliche<br />
Schönheit beim Sterben und<br />
beim Begräbnis gelegt. In der<br />
Öffentlichkeit begann man,<br />
den Tod zu verschweigen. Der<br />
Verlust des Jenseitsglaubens<br />
hatte eine Hilflosigkeit zur<br />
Folge. Daraus resultierte ein<br />
Wandel im Umgang mit dem<br />
Sterben, dem Tod und den<br />
Trauernden. Die Rationalität<br />
siegte über das Gefühl.<br />
Da für Viele der Glaube keinen<br />
Halt mehr in der Trauer<br />
bieten konnte, musste die<br />
Trauer auf andere Art bewältigt<br />
werden. So wurde zum<br />
Beispiel das Tragen von<br />
schwarzer Trauerkleidung<br />
zeitlich begrenzt. Die Trauer<br />
sollte nur privat erfolgen.<br />
Beim Begräbnis hatte man<br />
emotional beherrscht zu sein.<br />
Die Gesellschaft nahm am<br />
Schmerz der Trauernden<br />
nicht teil.<br />
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />
ging mit dem Bau der<br />
ersten Leichenhallen die<br />
häusliche Aufbahrung immer<br />
mehr zurück. Sterben und<br />
Tod waren dem Bewusstsein<br />
der Gesellschaft, vor allem<br />
in den Städten, weitgehend<br />
entzogen. Das Zurechtmachen<br />
des Toten wird von<br />
Bestattungsunternehmen<br />
übernommen. Früher galten<br />
Haare waschen und Nägel<br />
schneiden als Trennungsrituale<br />
und wurden von den<br />
Angehörigen durchgeführt.<br />
Anubis, ägyptische Gottheit<br />
Auch heute ist es nach wie<br />
vor möglich, den Toten in<br />
der Wohnung aufzubahren.<br />
Die Beerdigungsinstitute<br />
übernehmen in der Regel die<br />
Formalitäten. Das geht auch,<br />
wenn ein Angehöriger im<br />
Krankenhaus gestorben ist.<br />
33
Bei den Beerdigungsinstituten<br />
hat in den letzten Jahren<br />
ein Umdenken stattgefunden.<br />
Manche binden die Angehörigen<br />
schon vor der Beerdigung<br />
in ihre Vorbereitungen<br />
dazu ein, animieren sie zu<br />
Grabbeigaben wie etwa kleinen<br />
Andenken, Abschiedsbriefen<br />
und Ähnlichem oder<br />
sogar zum Bemalen des Sarges.<br />
Und es gibt Bestatter,<br />
die ihre Arbeit auch auf die<br />
Trauerbegleitung ausweiten.<br />
Vielen Betroffenen wird der<br />
Tod erst mit dem Begräbnis<br />
bewusst. Die Rituale, den<br />
Toten vor der Beerdigung im<br />
Sarg noch einmal anzusehen,<br />
das Herablassen des Sarges in<br />
die Gruft und das Bewerfen<br />
mit Blumen und Erde unterstreichen<br />
die Endgültigkeit<br />
des Abschieds. Der Rückhalt<br />
der versammelten Gemeinschaft<br />
beim Gottesdienst und<br />
dem daran anschließenden<br />
„Leichenschmaus“ kann helfen,<br />
Gefühle auszulösen. Der<br />
Schockzustand kann durch<br />
die Begräbniszeremonie aufgelöst<br />
werden, und die Zeit<br />
der Trauer kann beginnen.<br />
34<br />
Das Begräbnis ist der öffentliche<br />
Ausdruck der Erklärung<br />
des Todes, der besonders<br />
den Hinterbliebenen,<br />
die den Tod nicht wahrhaben<br />
wollen, die Endgültigkeit vor<br />
Augen führt. Zur christlichen<br />
Bestattung gehören danach<br />
noch das Sechswochenamt<br />
und das Jahresgedächtnis für<br />
den Verstorbenen.<br />
Dass viele Trauerriten in der<br />
postindustriellen Gesellschaft<br />
verloren gingen, ist<br />
sehr schade, denn sie waren<br />
ein Auffangnetz für rastlose<br />
und untröstliche Trauernde.<br />
Es scheint zwar, dass die<br />
Welt ohne Trauerriten bunter<br />
geworden ist, ärmer geworden<br />
ist sie allemal.<br />
Heutzutage wünschen sich<br />
die Sterbenden oft fröhliche<br />
Musik und helle Kleidung<br />
bei ihrer Beerdigung. Auch<br />
die Trauerrituale ändern<br />
sich. Sprach man vor einigen<br />
Jahren noch davon, „die<br />
Trauer zu bewältigen“, wird<br />
heute davon gesprochen,<br />
“mit dem Verstorbenen im<br />
Herzen zu leben“. Das Leben<br />
ohne den Verstorbenen wird<br />
nicht mehr so sein wie zu-
vor, aber man kann ihn in<br />
Gedanken am Leben teilhaben<br />
lassen. Die Wiedergewinnung<br />
der Welt, sie in<br />
der Trauer nicht zu verlieren,<br />
ist das Ziel des heutigen<br />
Trauerprozesses.<br />
St. Patrokli, Soest<br />
Auch <strong>Hospizbewegung</strong>en<br />
helfen zur Findung neuer<br />
Rituale, die es den Angehörigen<br />
ermöglichen, besser<br />
mit dem Schicksalsschlag<br />
Tod zurechtzukommen. Sie<br />
begleiten die Angehörigen<br />
in der Trauer, lassen sie<br />
nicht alleine.<br />
Vielen Hinterbliebenen<br />
hilft ein Platz in der Wohnung<br />
mit einem Bild der/s<br />
Verstorbenen. Dort kann<br />
man auch Blumen oder<br />
eine Kerze hinstellen. Kürzlich<br />
hat mir jemand von<br />
einem schönen Ritual erzählt.<br />
Die Enkelin hatte<br />
ihrem Opa einen rührenden<br />
Abschiedsbrief geschrieben,<br />
den sie bei der Trauerfeier<br />
vorlas. Danach wurde er<br />
verbrannt und über den Sarg<br />
gestreut. Eine wunderschöne<br />
Art des Abschieds.<br />
Das Schreiben eines Abschiedsbriefes<br />
ist auch eine<br />
gute Möglichkeit zur Verarbeitung<br />
der Trauer. Der Hinterbliebene<br />
kann sein ganzes<br />
gemeinsames Leben Revue<br />
passieren lassen, mit allen<br />
guten und nicht so guten<br />
Momenten. Er kann sich im<br />
wahrsten Sinne des Wortes<br />
eine Last von der Seele<br />
schreiben. An einem guten<br />
Ort verwahrt, kann dieses<br />
Schreiben immer wieder<br />
Trost spenden.<br />
Quellen:<br />
H.-P. Hasenfrantz – Die religiöse<br />
Welt der Germanen<br />
Gunther Stephenson – Leben und<br />
Tod in den Religionen<br />
Antja Krumrey – Sterberituale und<br />
Todeszeremonien<br />
C.G. Jung – Der Weg ins Jenseits<br />
Gerlinde Marzi<br />
35
Unsere ehrenamtliche Mitarbeiterin Marianne Speckamp<br />
beschreibt uns hier ihre eigenen Erfahrungen mit Ritualen<br />
Erlebte Rituale<br />
Es gibt Möglichkeiten, das<br />
Begräbnis persönlich zu<br />
gestalten, sei es, dass man<br />
selbst oder Angehörige ein<br />
Gebet im Gottesdienst<br />
spricht oder Kinder Bilder<br />
malen lässt, die dem Verstorbenen<br />
mit in den Sarg<br />
gelegt werden. Eine Freundin<br />
von mir hat ihrer Mutter<br />
ganz viele kleine Zettelchen<br />
ins Grab mitgegeben. Die<br />
Mutter hatte die Angewohnheit,<br />
alles auf kleine Zettel<br />
aufzuschreiben und überall<br />
in der Wohnung als Erinnerung<br />
für sich oder ihre Tochter<br />
anzupinnen. Auf diesen<br />
Zetteln stand alles, was noch<br />
zu erledigen war. Die Tochter<br />
hat am Grab jeden einzelnen<br />
Zettel vorgelesen und<br />
ihn dann ins Grab geworfen<br />
und gesagt: „Mutter, das<br />
alles brauchst Du oder wir<br />
nun nicht mehr tun. Du<br />
darfst ausruhen von einem<br />
Leben in Arbeit und Sorge,<br />
ruhe in Frieden.“<br />
36<br />
Ich habe auch erlebt, dass<br />
bei dem Leichenschmaus die<br />
Gäste aufgefordert wurden<br />
zu erzählen, was sie mit dem<br />
Toten verband, welche Erinnerungen<br />
sie an ihn hatten<br />
usw. Aus den einander fremden<br />
Gästen wurden auf diese<br />
Art Vertraute, denen eines<br />
gemeinsam war, die Verbindung<br />
zu dem Toten und die<br />
Verbindung untereinander,<br />
die durch das Mitteilen entstanden<br />
ist.<br />
Für mich selbst war es sehr<br />
wichtig, meinen Mann, der in<br />
unserem Beisein im Krankenhaus<br />
gestorben ist, noch<br />
einmal nach Hause zu holen,<br />
ihn dort aufzubahren, wo er<br />
als Kranker lange gelegen<br />
und gelitten hatte. So hatten<br />
unsere Enkelkinder auch Zeit,<br />
von ihrem Großvater in Ruhe<br />
Abschied zu nehmen. Sie<br />
konnten allein oder mit ihren<br />
Eltern zu ihm gehen, ihn anschauen<br />
oder auch berühren,
um zu begreifen. Ich lud unsere<br />
Freunde und Verwandten<br />
ein, Abschied zu nehmen,<br />
meinen Mann noch einmal<br />
zu sehen. Manche taten es<br />
stumm, andere sprachen mit<br />
mir ein Gebet oder einen<br />
Segen, wir sangen ein Lied<br />
zusammen, das uns wichtig<br />
war, und das ganze Zimmer<br />
war ein Blumenmeer von<br />
mitgebrachten Blumen<br />
und Sträußen.<br />
Es duftete und blühte wie<br />
eine Verheißung, dass der<br />
Tod nicht alles war und dass<br />
Leben möglich war trotz und<br />
in aller Trauer. Zwei Tage<br />
hatten wir ihn noch daheim,<br />
mitten unter uns und doch<br />
schon weit weg.<br />
Mir war es wichtig, die<br />
Trauerrede für meinen Mann<br />
selbst zu halten. Ich wollte<br />
sein Leben unter uns noch<br />
einmal beschreiben und ihm<br />
danken und Adieu (à dieu –<br />
zu Gott) sagen. Das war mir<br />
wichtiger als die Beisetzung.<br />
Das war mein Abschied von<br />
ihm.<br />
Viele Rituale sind in der<br />
Trauer möglich. Jemand hat<br />
das Bild des Verstorbenen<br />
auf seinem Esstisch stehen,<br />
wo er es immer sieht. Bei uns<br />
hängt ein Foto meines Mannes,<br />
das bei seiner Beerdigung<br />
in der Kapelle stand,<br />
über der Essecke in unserer<br />
Wohnküche. Ein Symbol<br />
dafür, dass er bei uns ist und<br />
unser Leben teilt. Ein anderer<br />
zündet ab und zu eine Kerze<br />
vor dem Bild des Verstorbenen<br />
an. Für wiederum einen<br />
anderen Menschen ist der<br />
tägliche Gang zum Friedhof<br />
ein Symbol der Verbundenheit<br />
und auch eine Möglichkeit,<br />
sich der Unumstößlichkeit<br />
des Todes, die man zuerst<br />
gar nicht begreifen kann,<br />
zu vergewissern.<br />
37
In meinem Wohnzimmer<br />
steht in einer großen Schale<br />
eine kleine Friedhofslaterne<br />
mit roter Kerze inmitten<br />
schöner Steine, die sich gut in<br />
die Hand nehmen lassen. Auf<br />
jedem Stein steht der Name<br />
eines meiner Toten. Manchmal<br />
nehme ich einen dieser<br />
Steine in die Hand und spüre,<br />
wie er sich langsam erwärmt,<br />
wie der Widerschein der<br />
Liebe dieses Menschen auch<br />
jetzt noch mein Leben begleitet,<br />
weil er wichtig war in<br />
meinem Leben und etwas in<br />
mir bewirkt hat. Das kann ich<br />
am Todes- oder Geburtstag<br />
eines Menschen tun, ich kann<br />
es aber auch dann, wenn<br />
mich gerade etwas an diesen<br />
Menschen erinnert hat.<br />
Dankbarkeit für unser gemeinsames<br />
Leben verwandeln.<br />
Es gibt in unserem Leben<br />
aber auch Trauer über andere<br />
Verluste als über den Tod<br />
eines geliebten Menschen. Da<br />
ist der Verlust des Arbeitsplatzes<br />
zu betrauern, das<br />
Ende einer Beziehung, einer<br />
Ehe oder einer Freundschaft.<br />
Für alles lassen sich Rituale<br />
finden, die helfen und heilen<br />
können. Eine Freundin kam<br />
z. B. über das Scheitern ihrer<br />
Ehe nicht hinweg. Wut auf<br />
ihren Mann, der sie betrogen<br />
hatte, Wut auf sich selbst<br />
und auf die Umstände des<br />
Scheiterns lassen sie nicht zur<br />
Ruhe kommen.<br />
Manchmal zünde ich in einer<br />
ruhigen Minute auch einfach<br />
nur das Licht in der Schale<br />
an, setze mich in das dunkle<br />
Zimmer, das vom roten Licht<br />
erleuchtet ist und mir einen<br />
Raum von Geborgenheit in<br />
Gegenwart der mir lieben<br />
Menschen schenkt. Langsam,<br />
ganz langsam kann sich so<br />
meine Trauer in eine tiefe<br />
38
Vielleicht denken manche<br />
Menschen nicht an Wut im<br />
Zusammenhang mit Trauer,<br />
aber sie kommt oft in der<br />
Trauer vor und will angeschaut<br />
und WAHRgenommen<br />
werden. Verdrängte Wut<br />
oder verdrängte Trauer können<br />
zerstörerisch sein. Die<br />
Freundin sagte: "mach’ etwas<br />
mit mir", und wir beschlossen,<br />
zusammen zum Bach in<br />
unserem Wald zu gehen. Ihre<br />
Wut über verschiedene Dinge<br />
im Zusammenhang mit ihrer<br />
Scheidung hatte sie auf dicke<br />
Kieselsteine geschrieben. Sie<br />
schleuderte sie mit aller Kraft<br />
und manchmal unter Schreien<br />
in das Wasser. Dann schöpften<br />
wir in einem schönen<br />
kleinen Flakon Wasser aus<br />
dem Bach, das sie mit nach<br />
Hause nahm. Die Wut war<br />
nicht weg. Die Steine lagen<br />
am Grund des Baches, aber<br />
das Wasser des Lebens floss<br />
darüber hin, das Leben ging<br />
weiter. Sie konnte sich diese<br />
Symbolhandlung immer wieder<br />
vor Augen führen und<br />
sich dem Leben, so wie es<br />
war, zuwenden. Übrigens<br />
steht das schöne Fläschchen<br />
heute noch in ihrem Regal im<br />
Wohnzimmer, und ich freue<br />
mich, wenn ich es sehe.<br />
Für manche junge Menschen<br />
ist der Abschied von der<br />
Schule und der Schritt ins<br />
Leben mit Trauer und Angst<br />
verbunden. Trauer, weil etwas<br />
unwiederbringlich verloren<br />
ist, Angst vor dem, was<br />
kommen wird. Da hilft auch<br />
oft ein kleines Ritual, ein<br />
Segen, vielleicht verbunden<br />
mit einem Gegenstand, der<br />
etwas symbolisiert. Es könnten<br />
ein Paar Schuhe sein für<br />
den neuen Weg, den man nun<br />
geht. Es könnte ein Seil zerschnitten<br />
werden als Zeichen,<br />
dass der junge Mensch losgelassen<br />
wird. Der Phantasie<br />
sind keine Grenzen gesetzt,<br />
aber die Zeichen und Rituale<br />
entfalten eine Wirkkraft und<br />
bleiben im Gedächtnis.<br />
So kann man sich Rituale<br />
schaffen oder sich an hergebrachten<br />
Ritualen festhalten.<br />
Jeder Mensch wird finden,<br />
was ihm gut tut und was ihm<br />
hilft, in schwierigen Situationen,<br />
die ja meist mit Abschied<br />
und Trauer verbunden<br />
sind, zu überleben.<br />
Marianne Speckamp<br />
39
Nidda im Nebel, Frankfurt am Main-Nied<br />
Im Nebel<br />
Seltsam, im Nebel zu wandern!<br />
Einsam ist jeder Busch und Stein,<br />
Kein Baum sieht den andern,<br />
Jeder ist allein.<br />
Voll von Freude war mir die Welt,<br />
Als mein Leben noch licht war,<br />
Nun, da der Nebel fällt,<br />
Ist keiner mehr sichtbar.<br />
Wahrlich, keiner ist weise,<br />
Der nicht das Dunkel kennt,<br />
Das unentrinnbar und leise<br />
Von allen ihn trennt.<br />
Seltsam im Nebel zu wandern!<br />
Leben ist Einsamkeit.<br />
Kein Mensch kennt den andern,<br />
jeder ist allein.<br />
Hermann Hesse<br />
40
Von unseren ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen haben sich<br />
sowohl Ursula Roemer als auch Marianne Speckamp Gedanken<br />
über das Thema „Trauer in der Bibel“ gemacht.<br />
Trauer in der Bibel<br />
In der Bibel werden die<br />
Lebens- und Glaubensgeschichten<br />
vieler Menschen<br />
erzählt. Im alten Testament,<br />
im Buch des Predigers, steht:<br />
„Alles im Leben hat<br />
seine Zeit,<br />
Fröhlich sein hat seine Zeit<br />
und Weinen hat seine Zeit,<br />
Tanzen, Lachen und auch<br />
Trauern hat seine Zeit.“<br />
Im Lukas-Evangelium wird<br />
von einer Witwe berichtet,<br />
die auf dem Weg ist, um<br />
ihren einzigen Sohn zu beerdigen.<br />
Ihre Trauer ist groß,<br />
sie weint, und die sie begleiten,<br />
jammern und klagen.<br />
Im Johannes-Evangelium, in<br />
den Abschiedsreden, sagt<br />
Jesus zu seinen Jüngern:<br />
„Ihr werdet eine Weile<br />
traurig sein.“<br />
Nachdem Jesus gestorben<br />
war, gingen zwei seiner<br />
Freunde in ihren Heimatort<br />
nach Emmaus. Unterwegs<br />
kam Jesus zu ihnen. Sie erkannten<br />
ihn aber nicht sofort.<br />
Als Jesus sie fragte, warum<br />
sie so traurig sind, erzählten<br />
sie ihm, was sich in Jerusalem<br />
ereignet hatte. Sie luden<br />
ihn zu sich nach Hause ein,<br />
und am Tisch brach er das<br />
Brot, und sie erkannten ihn.<br />
Nachzulesen im Lukas-<br />
Evangelium, Kapitel 24.<br />
Im alten Testament im<br />
Psalm 23 heißt es:<br />
„Und ob ich schon wanderte<br />
im finsteren Tal, fürchte ich<br />
kein Unglück; denn du bist<br />
bei mir.“<br />
Was es heißt, durch ein finsteres<br />
Tal zu gehen, hat wohl<br />
jeder von uns schon erlebt.<br />
Krankheiten, Sorgen aller<br />
41
Art, Abschied nehmen von<br />
geliebten Menschen, alles<br />
das erschüttert uns, macht<br />
uns traurig. Wie gut, wenn<br />
ein Mensch weiß, dass er<br />
auch in schweren Zeiten von<br />
Gott begleitet und getragen<br />
wird.<br />
Im Psalm 102 wendet sich<br />
ein Mensch mit seiner Not<br />
und Traurigkeit, aber auch<br />
mit Hoffnung und Vertrauen<br />
im Gebet an Gott:<br />
„HERR, höre mein Gebet<br />
und lass mein Schreien zu<br />
dir kommen!<br />
Verbirg dein Antlitz nicht<br />
vor mir in der Not,<br />
neige deine Ohren zu mir;<br />
wenn ich dich anrufe, so<br />
erhöre mich bald!<br />
Denn meine Tage sind<br />
vergangen wie ein Rauch,<br />
und meine Gebeine sind<br />
verbrannt wie von Feuer.<br />
Mein Herz ist geschlagen<br />
und verdorrt wie Gras,<br />
dass ich sogar vergesse,<br />
mein Brot zu essen.<br />
Ich bin wie die Eule in<br />
der Einöde,<br />
wie das Käuzchen in<br />
den Trümmern.<br />
Ich wache und klage wie<br />
ein einsamer Vogel auf<br />
dem Dache.<br />
Meine Tage sind dahin wie<br />
ein Schatten,<br />
und ich verdorre wie Gras.<br />
Du aber HERR, bleibst<br />
ewiglich<br />
und dein Name für und für.“<br />
Ursula Roemer<br />
<strong>Ratingen</strong>, Waldfriedhof<br />
42
Emmaus<br />
– eine uralte Geschichte –<br />
Ja, uralt und doch zugleich neu und aktuell<br />
Was in dieser Geschichte<br />
berichtet wird, solche Trauersituationen,<br />
ja, die kenne ich<br />
auch: Ein Mensch ist gestorben,<br />
ein geliebter Mensch.<br />
Alles, was vorher voller<br />
Leben war, scheint vorbei.<br />
Aus, tot! Nichts ist mehr,<br />
wie es war. Keine Zärtlichkeit<br />
mehr, kein Lächeln aus<br />
verstehenden Augen, keine<br />
Hand auf meiner Schulter,<br />
kein Arm mehr, der mich<br />
umfängt. Was soll nun werden?<br />
Wie kann ich weiter<br />
leben? Wie erstarrt bleibe<br />
ich erst einmal an dem gewohnten<br />
Ort. Aber so leer ist<br />
alles! Nicht auszuhalten hier,<br />
hier, wo alles zu Ende ging,<br />
alle Hoffnungen begraben<br />
werden mussten.<br />
Wie kann Gott das zulassen?<br />
Warum musste der geliebte<br />
Mensch so qualvoll sterben?<br />
In meinem Kopf drehen sich<br />
die Fragen, ständig die gleichen<br />
Fragen nach dem Sinn<br />
dieses Leidens, nach dem<br />
Sinn allen Leidens in der<br />
Welt. Warum, warum, immer<br />
wieder warum? Und ich<br />
weiß, es gibt keine Antwort<br />
darauf. Was soll ich nur tun?<br />
Alles steht noch am gleichen<br />
Platz, alles ist wie sonst<br />
auch, und doch ist alles<br />
anders.<br />
Ich halte es nicht mehr aus<br />
an dem vertrauten Ort. Ich<br />
fliehe, wie die Jünger aus<br />
Jerusalem. Weg, nur weg<br />
von hier. Hinaus auf die<br />
Straße. Hier geht das Leben<br />
weiter, als sei nichts geschehen.<br />
Die Welt steht nicht<br />
still, ihr Lärmen und ihre<br />
Geschäftigkeit sind geblieben.<br />
Nichts hat sich geändert,<br />
nur für mich ist alles<br />
anders.<br />
Ein Mensch begegnet mir,<br />
einer, der nicht nur im Vorübergehen<br />
fragt: „Na, wie<br />
43
geht’s?“ oder vielleicht sogar<br />
die Straßenseite wechselt,<br />
wenn er mich kommen sieht.<br />
Nein, da ist ein Mensch, der<br />
mit mir geht, nach meiner<br />
Traurigkeit fragt, nicht aus<br />
Neugierde, sondern aus echter<br />
Anteilnahme, der mich<br />
reden lässt und mit mir<br />
schweigt, wenn die Trauer<br />
mich verstummen lässt. Ein<br />
Mensch ist da, der mich<br />
begleitet, der versteht, der<br />
zu wissen scheint. Vielleicht<br />
weil auch er Leid erfahren hat.<br />
Ich spüre, ich kann mich einlassen<br />
auf diesen Menschen,<br />
mich auf ihn verlassen.<br />
Nun ist es an mir zu sagen,<br />
bleibe bei mir, wie die Jünger<br />
es mit Jesus taten, bleibe<br />
bei mir, bitte bleibe bei mir,<br />
denn auch dieser Mensch<br />
braucht das Angenommensein,<br />
das Wissen, dass er<br />
willkommen ist und mir<br />
gut tut.<br />
In diesem Miteinander kann<br />
Nähe entstehen, Vertrauen<br />
wachsen. Und dann geschieht<br />
das Wunder, Liebe<br />
und Gemeinschaft werden<br />
zur Erfahrung, so dicht, dass<br />
spürbar wird: Gott ist in unserer<br />
Mitte. Er ist wirklich<br />
bei uns.<br />
Rabuni (der Auferstandene)<br />
Prof. Franz Gutmann<br />
Solche Augenblicke der Erfahrung<br />
– Gott ist bei uns –,<br />
dauern oft nicht sehr lange,<br />
wie auch in der Emmaus-<br />
Geschichte, wo Jesus wieder<br />
entschwand, aber sie geben<br />
Kraft und Zuversicht für<br />
unser Leben, und in dieser<br />
Kraft können wir wieder in<br />
unseren Alltag gehen, gestärkt<br />
durch das Brot. Brot<br />
bedeutet Leben. Wir teilen<br />
das Leben miteinander, indem<br />
wir Anteil nehmen aneinander,<br />
uns füreinander<br />
44
öffnen. Das bedeutet „Brot<br />
brechen“, die Erfahrung: Du<br />
bist nicht allein.<br />
Wie den Jüngern in der<br />
Emmaus-Geschichte gehen<br />
auch mir die Augen auf. Ich<br />
erkenne, es gibt nicht nur<br />
den Tod und die Einsamkeit.<br />
Es gibt auch das andere:<br />
Leben und Gemeinschaft.<br />
Wie sie gehe ich zurück,<br />
zurück in meinen Alltag,<br />
zurück ins Leben, zurück zu<br />
den Menschen. Vielleicht<br />
bin ich immer wieder einmal<br />
in Trauer; sie überfällt mich<br />
plötzlich und unverhofft und<br />
gehört zu meinem Leben.<br />
Vielleicht kann ich aber auch<br />
manchmal die Andere sein,<br />
die, die mitgeht, versteht und<br />
Leben ermöglicht.<br />
„Emmaus – eine uralte<br />
Geschichte!“ Ja, uralt und<br />
immer wieder neu erfahrbar,<br />
erlebbar, auch hier und<br />
heute.<br />
Marianne Speckamp<br />
Stehe nicht an meinem Grab und weine.<br />
Ich bin nicht dort. Ich schlafe nicht.<br />
Ich bin die tausend Winde, die wehen.<br />
Ich bin der Diamantglanz auf dem Schnee.<br />
Ich bin das Sonnenlicht auf reifem Korn.<br />
Ich bin der warme Herbstregen.<br />
Wenn du aufwachst in der Morgenstille<br />
bin ich der Flügelschlag der stummen Vögel.<br />
Ich bin die sanften Sterne, die nachts leuchten.<br />
Stehe nicht an meinem Grab und weine.<br />
Ich bin nicht dort,<br />
ich bin nicht tot.<br />
(Verfasser unbekannt)<br />
45
Inge Wuthe, Diplom-Sozialpädagogin und Gestalttherapeutin<br />
schrieb vor einiger Zeit ein Märchen über die Traurigkeit. Da im<br />
Internet die verschiedensten Texte veröffentlicht sind, hat Frau<br />
Wuthe uns den Originaltext überlassen.<br />
Märchen von der Traurigkeit<br />
Es war eine kleine alte Frau,<br />
die bei der zusammengekauerten<br />
Gestalt am Straßenrand<br />
stehen blieb. Das heißt, die<br />
Gestalt war eher körperlos,<br />
erinnerte an eine graue Flanelldecke<br />
mit menschlichen<br />
Konturen.<br />
„Wer bist du?“ fragte die<br />
kleine Frau neugierig und<br />
bückte sich ein wenig hinunter.<br />
Zwei lichtlose Augen<br />
blickten müde auf. „Ich…<br />
ich bin die Traurigkeit",<br />
flüsterte eine Stimme so<br />
leise, dass die kleine Frau<br />
Mühe hatte, sie zu verstehen.<br />
„Ach, die Traurigkeit!" rief<br />
sie erfreut aus, als würde sie<br />
eine alte Bekannte begrüßen.<br />
„Kennst du mich denn?"<br />
fragte die Traurigkeit misstrauisch.<br />
„Natürlich kenne<br />
ich dich,“ antwortete die alte<br />
Frau, „immer wieder einmal<br />
hast du mich ein Stück des<br />
Weges begleitet."<br />
„Ja, aber...", argwöhnte die<br />
Traurigkeit, „warum flüchtest<br />
du nicht vor mir, hast du<br />
denn keine Angst?"<br />
Melaten-Friedhof, Köln<br />
„Oh, warum sollte ich vor<br />
dir davonlaufen, meine Liebe?<br />
Du weißt doch selber<br />
nur zu gut, dass du jeden<br />
Flüchtling einholst und dich<br />
nicht vertreiben lässt. Aber,<br />
46
was ich dich fragen will, du<br />
siehst – verzeih diese absurde<br />
Feststellung – du siehst so<br />
traurig aus?" „Ich... bin<br />
traurig", antwortete die<br />
graue Gestalt mit brüchiger<br />
Stimme. Die kleine alte Frau<br />
setzte sich jetzt auch an den<br />
Straßenrand. „So, traurig<br />
bist du", wiederholte sie und<br />
nickte verständnisvoll mit<br />
dem Kopf. „Magst du mir<br />
erzählen, warum du so bekümmert<br />
bist?" Die Traurigkeit<br />
seufzte tief auf. Sollte<br />
ihr diesmal wirklich jemand<br />
zuhören wollen? Wie oft<br />
hatte sie vergebens versucht<br />
und... „Ach, weißt du", begann<br />
sie zögernd und tief<br />
verwundert, „es ist so, dass<br />
mich offensichtlich niemand<br />
mag. Es ist meine Bestimmung,<br />
unter die Menschen zu<br />
gehen und für eine Zeitlang<br />
bei ihnen zu verweilen. Bei<br />
dem einen mehr, bei dem<br />
anderen weniger. Aber fast<br />
alle reagieren so, als wäre<br />
ich die Pest. Sie haben so<br />
viele Mechanismen für sich<br />
entwickelt, meine Anwesenheit<br />
zu leugnen.“ „Da hast<br />
du sicher Recht“, warf die<br />
alte Frau ein. „Aber erzähle<br />
mir ein wenig davon.“<br />
Die Traurigkeit fuhr fort:<br />
„Sie haben Sätze erfunden,<br />
an deren Schutzschild ich<br />
abprallen soll. Sie sagen<br />
„Papperlapapp – das Leben<br />
ist heiter“, und ihr falsches<br />
Lachen macht ihnen Magengeschwüre<br />
und Atemnot.<br />
Sie sagen „Gelobt sei, was<br />
hart macht“, und dann haben<br />
sie Herzschmerzen. Sie<br />
sagen „Man muss sich nur<br />
zusammenreißen“, und spüren<br />
das Reißen in den Schultern<br />
und im Rücken. Sie sagen<br />
„Weinen ist nur für<br />
Schwächlinge“, und die aufgestauten<br />
Tränen sprengen<br />
fast ihre Köpfe. Oder aber<br />
sie betäuben sich mit Alkohol<br />
und Drogen, damit sie<br />
mich nicht spüren müssen."<br />
„Oh ja", bestätigte die alte<br />
Frau, „solche Menschen sind<br />
mir oft in meinem Leben<br />
begegnet. Aber eigentlich<br />
willst du ihnen ja mit deiner<br />
Anwesenheit helfen, nicht<br />
wahr?" Die Traurigkeit<br />
kroch noch ein wenig mehr<br />
in sich zusammen. „Ja, das<br />
will ich“, sagte sie schlicht,<br />
47
„aber helfen kann ich nur,<br />
wenn die Menschen mich<br />
zulassen. Weißt du, indem<br />
ich versuche, ihnen ein Stück<br />
Raum zu schaffen zwischen<br />
sich und der Welt, eine<br />
Spanne Zeit, um sich selbst<br />
zu begegnen, will ich ihnen<br />
ein Nest bauen, in das sie<br />
sich fallen lassen können, um<br />
ihre Wunden zu pflegen. Wer<br />
traurig ist, ist ganz dünnhäutig<br />
und damit nahe bei sich.<br />
Diese Begegnung kann sehr<br />
schmerzvoll sein, weil manches<br />
Leid durch die Erinnerung<br />
wieder aufbricht wie<br />
eine schlecht verheilte Wunde.<br />
Aber nur, wer den<br />
Schmerz zulässt, wer erlebtes<br />
Leid betrauern kann, wer<br />
das Kind in sich aufspürt<br />
und all die verschluckten<br />
Tränen leer weinen lässt,<br />
wer sich Mitleid für die inneren<br />
Verletzungen zugesteht,<br />
der, verstehst du, nur der hat<br />
die Chance, dass seine Wunden<br />
wirklich heilen. Stattdessen<br />
schminken sie sich ein<br />
grelles Lachen über die groben<br />
Narben. Oder verhärten<br />
sich mit einem Panzer aus<br />
Bitterkeit.“ Jetzt schwieg die<br />
Traurigkeit, und ihr Weinen<br />
war tief und verzweifelt. Die<br />
kleine alte Frau nahm die<br />
zusammengekauerte Gestalt<br />
tröstend in den Arm. „Wie<br />
weich und sanft sie sich anfühlt“,<br />
dachte sie und streichelte<br />
zärtlich das zitternde<br />
Bündel. "Weine nur, Traurigkeit",<br />
flüsterte sie liebevoll,<br />
"ruh dich aus, damit du<br />
wieder Kraft sammeln<br />
kannst. Ich weiß, dass dich<br />
viele Menschen ablehnen<br />
und verleugnen. Aber ich<br />
weiß auch, dass schon einige<br />
bereit sind für dich. Und<br />
glaube mir, es werden immer<br />
mehr, die begreifen, dass du<br />
ihnen Befreiung ermöglichst<br />
aus ihren inneren Gefängnissen.<br />
Von nun an werde<br />
ich dich begleiten, damit die<br />
Mutlosigkeit keine Macht<br />
gewinnt."<br />
Die Traurigkeit hatte aufgehört<br />
zu weinen. Sie richtete<br />
sich auf und betrachtete<br />
verwundert ihre neue Gefährtin:<br />
"Aber jetzt sage mir,<br />
wer bist du eigentlich?"<br />
"Ich?" antwortete die kleine,<br />
alte Frau und lächelte still.<br />
"Ich bin die Hoffnung."<br />
Inge Wuthe<br />
48
Unsere Mitarbeiterin im Arbeitskreis Öffentlichkeitsarbeit<br />
Ursula Zopes hat sich mit dem Buch „Schuld Macht Sinn“<br />
von Chris Paul intensiver beschäftigt und stellt es hier vor.<br />
Schuld Macht Sinn<br />
Unvorhergesehene Katastrophen<br />
zeigen immer wieder:<br />
Der Tod kommt oft unerwartet.<br />
Fragen nach Verantwortung<br />
und Schuld begleiten<br />
Angehörige nach vielen Todesursachen,<br />
nach Unfällen<br />
und Suiziden, aber auch nach<br />
Herzinfarkten und sogar<br />
nach lang andauernden Erkrankungen.<br />
Niemand hat<br />
damit gerechnet, und doch<br />
ist es passiert.<br />
Jetzt zählt vor allem eins:<br />
Hilfe für die Betroffenen.<br />
Hilfe im Umgang mit Trauer<br />
und Schuldgefühlen, mit<br />
Verzweiflung und Wut.<br />
Doch wie kann man helfen,<br />
wenn man selbst nicht weiß,<br />
was zu sagen ist, wie kann<br />
man Trost spenden und die<br />
Trauernden in ihrer Verzweiflung<br />
und ihren Selbstvorwürfen<br />
abholen und begleiten?<br />
Der erste Teil des Buches<br />
erläutert das von Chris Paul<br />
entwickelte Verständnis von<br />
Schuld und räumt gleich zu<br />
Beginn mit zwei Irrtümern<br />
auf: Es gibt keine „reale<br />
Schuld“ (im Unterschied zu<br />
einer gefühlten, eingebildeten<br />
Schuld), denn Schuld ist<br />
immer relativ zu individuellen<br />
und kollektiven Wertesystemen.<br />
Und es gibt kein<br />
„Schuldgefühl“, sondern<br />
vielmehr Schuldgedanken,<br />
welche Gefühle und Körperreaktionen<br />
auslösen.<br />
Der zweite und dritte Teil<br />
des Buches enthält gut strukturierte,<br />
ausführliche Arbeitsanregungen<br />
für TrauerbegleiterInnen<br />
und wie diese sich<br />
dem Thema Schuld im Umgang<br />
mit Hinterbliebenen<br />
nähern können. Die Autorin<br />
nennt das tief in uns verankerte<br />
System aus verinner-<br />
49
lichten Regeln und Vorstellungen<br />
von gerechter Strafe<br />
und Buße „ein ruhendes<br />
Schuldkonstrukt“. Werden<br />
diese Regeln übertreten, wird<br />
die Frage nach Schuld und<br />
Strafe aktiviert, gleich dem<br />
Mechanismus, mit dem eine<br />
Spieluhr in Gang gesetzt<br />
wird.<br />
Chris Paul bezeichnet ihr<br />
Buch als „ein im besten<br />
Sinne empirisches Buch“,<br />
entstanden durch Beobachtung,<br />
Zuhören, Ausprobieren<br />
und gedankliche Verknüpfung<br />
des Erlebten und Beobachteten.<br />
Sie richtet sich<br />
dabei in erster Linie an<br />
TrauerbegleiterInnen. Aber<br />
auch Betroffene sollen darin<br />
hilfreiche Ansätze für ein<br />
besseres Verständnis der<br />
eigenen Schuldthemen finden<br />
können.<br />
Fazit: Ihr ist damit ein inspirierender<br />
Ratgeber gelungen,<br />
der sowohl Trauerbegleiter-<br />
Innen als auch interessierte<br />
Laien dazu anregen wird,<br />
den eigenen Umgang mit<br />
Schuld zu überprüfen.<br />
Ursula Zopes<br />
„Schuld Macht Sinn“<br />
Chris Paul, € 19,95<br />
Verlag Gütersloher Verlagshaus<br />
ISBN 978-3-579-06833-6<br />
<br />
Ein Abschied verleitet immer dazu, etwas zu sagen, was man<br />
sonst nicht ausgesprochen hätte.<br />
Michel de Montaigne (1533-1592)<br />
50
Wir haben im Büro eine kleine Bibliothek und leihen gerne das<br />
eine oder andere Buch aus. Über Trauer haben wir einige Bücher<br />
zur Auswahl.<br />
Buch-Empfehlungen<br />
Meine Trauer wird dich<br />
finden<br />
Roland Kachler<br />
Der Autor, selbst Psychotherapeut<br />
mit Erfahrung in der<br />
Trauerbegleitung, spürte<br />
nach dem Unfalltod seines<br />
16jährigen Sohnes, dass ihm<br />
die gängige Methode vom<br />
„Loslassen“ des Verstorbenen<br />
nicht half. Er hat neue<br />
Wege in der Trauerbewältigung<br />
gesucht. Die praktischen<br />
Übungen und Tipps<br />
am Ende jeden Kapitels<br />
helfen dem Leser, diesen<br />
neuen Weg zu gehen.<br />
Neue Wege in der<br />
Trauerbegleitung<br />
Chris Paul<br />
Die Autorin macht in diesem<br />
Buch erstmals dem deutschen<br />
Publikum die wichtigsten<br />
englischsprachigen<br />
Veröffentlichungen zum<br />
Thema Trauer und Sterben<br />
zugänglich.<br />
In der Trauer lebt die<br />
Liebe weiter<br />
Elisabeth Lukas<br />
„Ja, Trauernde sind Wissende,<br />
in vielerlei Hinsicht.<br />
Doch seltsam: Das nicht<br />
abzuschüttelnde Wissen um<br />
das Verlorene kann ihnen bei<br />
der Bewältigung ihres Leides<br />
helfen.“<br />
Als der Tod uns trennte.<br />
Das Weiterleben als Witwe<br />
Esther Goshen-Gottstein<br />
Die Autorin war 38 Jahre<br />
lang verheiratet. Wie sie ihre<br />
plötzliche Witwenschaft<br />
erlebt hat, was der Verlust<br />
ihres Mannes, der Schmerz<br />
und die Trauer in ihrem<br />
Leben angerichtet haben,<br />
schildert die Psychologin<br />
in diesem Buch.<br />
Schuld Macht Sinn<br />
Chris Paul<br />
Siehe die Buchbesprechung<br />
auf Seite 48.<br />
51
Du fehlst mir, du fehlst mir<br />
Peter Pohl und Kinna Gieth<br />
- Deutscher Jugendliteraturpreis -<br />
Cilla und Tina sind eineiige<br />
Zwillinge und werden<br />
im Sommer 14 Jahre alt.<br />
Doch das wird Cilla nicht<br />
mehr erleben – sie wird bei<br />
einem Verkehrsunfall ums<br />
Leben kommen.<br />
Peter Pohl hat diesen Roman<br />
aufgrund von Tagebuchaufzeichnungen,<br />
Briefen und<br />
Erzählungen von Kinna<br />
Gieth geschrieben. Sie ist die<br />
Tina dieses Buches.<br />
Nur einen Seufzer lang<br />
Anne Philipe<br />
Dieses Buch der Witwe von<br />
Gérard Philipe ist Meditation<br />
über Liebe und Tod, Dialog<br />
mit einem Schatten,<br />
Gespräch mit sich selbst –<br />
jenseits aller Zeit. Ein<br />
Zeugnis der Liebe in unserem<br />
liebeleeren Jahrhundert.<br />
Kreuzaltar (Modell) Prof. Franz. Gutmann<br />
52
Termine:<br />
Montag Mitgliederversammlung<br />
10. Oktober <strong>2011</strong> Atrium St. Suitbertus,<br />
19.30 Uhr <strong>Ratingen</strong>, Schützenstraße 56<br />
Donnerstag „Wie wollen wir sterben?“<br />
20. Oktober <strong>2011</strong> Vortrag und Diskussion mit<br />
19.30 Uhr Dr. Michael de Ridder,<br />
Ärztehaus, <strong>Ratingen</strong>, Mülheimer Straße 37<br />
Sonnabend Weihnachtsmarkt<br />
10. Dezember <strong>2011</strong> St. Peter und Paul<br />
10.00-17.00 Uhr <strong>Ratingen</strong><br />
An jedem 1. Montag im Monat findet ein „Trauertreff“<br />
im Kirchenladen, <strong>Ratingen</strong>, Lintorfer Straße 16, statt.<br />
Die Zeit entnehmen Sie bitte der örtlichen Presse.<br />
An jedem 2. Dienstag im Monat finden von 19.00-21.00 Uhr Trauergespräche<br />
im Pfarrzentrum St. Johannes, Lintorf, Am Löken 57, statt.<br />
An jedem 2. Sonntag im Monat steht für alle Interessenten ab 15.00 Uhr<br />
unser Trauer-Café im Kirchenladen, <strong>Ratingen</strong>, Lintorfer Str. 16, offen.<br />
Impressum:<br />
Hans-Böckler-Str. 20<br />
40878 <strong>Ratingen</strong><br />
Tel.: (02102) 23847 Fax: (02102) 994801<br />
<strong>Hospizbewegung</strong>.<strong>Ratingen</strong>@t-online.de<br />
www.hospizbewegung-ratingen.de<br />
Fotos: Gerlinde Marzi, Wiltrud Sahl<br />
ViSdP: Gerlinde Marzi, Hildegunde Mühlmeyer, Wiltrud Sahl<br />
53
Hans-Böckler-Str. 20, 40878 <strong>Ratingen</strong><br />
Beitritts-/Spendenerklärung<br />
(Zutreffendes bitte ankreuzen)<br />
Ich möchte die Ziele der <strong>Hospizbewegung</strong> <strong>Ratingen</strong> e.V. unterstützen und<br />
□ beantrage hiermit meine Mitgliedschaft.<br />
□ werde jährlich/einmalig eine Spende leisten.<br />
Ich ermächtige die <strong>Hospizbewegung</strong> <strong>Ratingen</strong> e.V.,<br />
□ meinen Mitgliedsbeitrag in Höhe von € __________<br />
(mindestens € 18,-- pro Jahr)<br />
□ meine jährliche Spende von € __________<br />
□ meine einmalige Spende von € __________<br />
bis auf Widerruf zu Lasten meines Kontos durch Lastschrift einzuziehen.<br />
Name Vorname<br />
Straße PLZ, Wohnort<br />
Telefon E-Mail<br />
Kreditinstitut BLZ Konto-Nr.<br />
Kontoinhaber (falls abweichend)<br />
Datum Unterschrift<br />
Wegen Förderung von mildtätigen Zwecken sind wir vom Finanzamt Düsseldorf-Mettmann,<br />
Steuer-Nr. 147/5782/0510, berechtigt, Zuwendungsbescheinigungen auszustellen.<br />
Unsere Bankverbindung: Sparkasse HRV, Konto-Nr. 42 113 969, BLZ 334 500 00<br />
55