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Magazin 199311

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hier ereignete, war eine Informations­<br />

Katastrophe. Hin- und hergerissen<br />

zwischen Curie, Becquerel, Rem und<br />

Milli-Rem, das eine immer mit vielmehr<br />

Nullen als das andere, hatte unsere<br />

Bevölkerung seinerzeit sehr bald<br />

Überblick und Vertrauen verloren. Als<br />

kapitale Querschläger wirkten dabei<br />

noch die Meldungen von freien Organisationen<br />

und aus dem Universitätsbereich,<br />

die mit zum Teil wiederum<br />

anderen Maßeinheiten gänzlich andere<br />

Werte vermittelten und in der<br />

Bevölkerung den Eindruck erweckten,<br />

mit den staatlichen Informationen<br />

sollte vernebelt, verharmlost, abgewiegelt<br />

werden. Staatliche Informationspolitik<br />

im Fall Tschernobyl hat<br />

in unserer Bevölkerung ein tiefes<br />

Mißtrauen gegenüber öffentlichen<br />

Verlautbarungen begründet und es<br />

uns schwer gemacht, dieses Mittel<br />

zur Steuerung und Schadensminderung<br />

in Großschadenslagen einzusetzen.<br />

In der Folgezeit waren die zuständigen<br />

staatlichen Institutionen mit Eifer<br />

bemüht, durch Vereinheitlichung<br />

von Maßstäben und Verfahrensweisen<br />

wenigstens zu erreichen, daß<br />

gleichlautende Informationen an den<br />

Bürger gelangten. Wir mußten aber<br />

sehr bald erkennen, daß dies nicht<br />

viel mehr als ein Kurieren an den<br />

Symptomen sein konnte. Denn eine<br />

Fülle von beklagenswerten Ereignissen<br />

in Parteien und Politik sowie Stil<br />

und Charakter von Politik selber führten<br />

zu dem, was wir heute als Parteien-<br />

und Staatsverdrossenheit beklagen.<br />

Die Glaubwürdigkeit staatlicher<br />

Informationen und Verhaltensempfehlungen<br />

bei Großschadenslagen<br />

wurde natürlich in diesen Strudel mit<br />

hineingezogen. Als Folge davon<br />

droht die Gefahr, daß staatliche Informationspolitik<br />

als Steuerungsinstrument<br />

in einer Großschadenslage ihre<br />

Fähigkeit einbüßt, schadensverhindernd<br />

und schadensmindernd zu wirken.<br />

Dies ist ein Effekt, der uns alarmieren<br />

und unser ganzes Bemühen<br />

aktivieren muß, dem entgegenzuwirken,<br />

"<br />

Optimistische Einschätzung<br />

war, in entsprechende Entwicklungen<br />

mit einbezogen zu sein. Da war es<br />

gut, einen der führenden Vertreter der<br />

Justiz in Niedersachsen, den Präsidenten<br />

des Verwaltungsgerichts<br />

Hannover, Dr. Karlheinz Dreiocker, für<br />

das Grundsatzreferat des Symposions<br />

gewinnen zu können. Der Referent<br />

überraschte seine Zuhörerschaft<br />

zunächst mit der grundsätzlich optimistischen<br />

Einschätzung:<br />

"Ich hege keinen Zweifel daran,<br />

daß unsere Bevölkerung bereit ist,<br />

sich in aktuellen Großschadenslagen<br />

den Informationen, Gefahreneinschätzungen<br />

und Weisungen der Katastrophenschutzstäbe<br />

willig zu unterwerfen,<br />

wenn sich eine einsehbare<br />

Notwendigkeit hierfür ergibt, d. h.<br />

wenn die Bevölkerung selbst erkennt,<br />

daß sie von der Krise betroffen ist.<br />

Das haben die extremen Lagen z. B.<br />

bei der Flutkatastrophe 1962 in Hamburg<br />

und Schleswig-Holstein, aber<br />

wohl auch die Ölkrise 1974 eindrucksvoll<br />

gezeigt. Die Frage nach<br />

Autorität, Vertrauen und Akzeptanz<br />

stellt sich aber, wenn sich die Ausnahmesituation<br />

nicht ohne weiteres<br />

sichtbar vermitteln läßt, wie dies z. B.<br />

bei der Krisenlage nach dem Unfall in<br />

dem Kernkraftwerk Tschernobyl der<br />

Fall war. Die Strahlenbelastung wird<br />

nicht wahrgenommen und so hängt<br />

die Wirksamkeit der Gefahrenabwehr<br />

in derartigen Fällen vielfach von der<br />

Möglichkeit ab, kraft natürlicher<br />

Führungsautorität der Behörden notfalls<br />

auch das blinde Vertrauen der<br />

Bevölkerung in die hoheitliche Informationspolitik<br />

und ihre Einsicht in die<br />

Notwendigkeit von Zwangsmaßnahmen<br />

zu aktualisieren."<br />

Die Gründe für die damit umrissenen<br />

Zugangsschwierigkeiten behördlicher<br />

Empfehlungen bei den<br />

Bürgern sah der Referent zunächst<br />

einmal in einer tiefenpsychologi-<br />

Dr. Drelocker,<br />

Präsldenl des<br />

Verwaltungsgerlchls<br />

Hannover,<br />

in der Diskussion.<br />

links daneben<br />

der Verfasser.<br />

schen Diaposition des Menschen als<br />

Staatsbürger, definiert schon 1835<br />

von dem Staatswissenschaftier Alexis<br />

de Tocqueville in dessen Werk<br />

"Demokratie in Amerika":<br />

"Unsere Zeitgenossen werden immerfort<br />

durch zwei feindliche Leidenschaften<br />

bedrängt: Sie haben das<br />

Bedürfnis, geführt zu werden und das<br />

Verlangen, frei zu bleiben. Da sie weder<br />

den einen noch den anderen dieser<br />

entgegengesetzten Triebe ausrotten<br />

können, trachten sie, beide zu<br />

gleicher Zeit zu befriedigen."<br />

Dort, wo eine derartige Disponiertheit<br />

auf paßgerechte Verhaltensweisen<br />

von Staat und Behörden trifft,<br />

kann ein negativer Kumulationseffekt<br />

nicht ausbleiben. So hat nach Dr.<br />

Dreiocker die fast völlige Verwandlung<br />

hoheitlicher Gewalt in Versorgungs-<br />

und Sozialverwaltung bei<br />

weitgehendem Verzicht auf die Entfaltung<br />

staatlicher Macht und bewußt<br />

hingenommenen Vollzugsdefiziten zu<br />

entsprechenden Gewöhnungsprozessen<br />

bei den Bürgern geführt. Nicht<br />

nur, daß nunmehr jedes andere als<br />

verteilendes und begünstigendes<br />

Verhalten des Staates zu Mißtrauen<br />

und Ablehnung führt. Die Großzügigkeit<br />

des Sozialstaates bewirkt darüber<br />

hinaus "Unzufriedenheit und Unlust<br />

am Recht. Keine Kompromißsondern<br />

wachsende Konfliktbereitschaft."<br />

Als "äußerst kompliziert" bezeichnete<br />

der Referent die "Forschung<br />

nach den Ursachen für die offensichtliche<br />

Erosion staatlicher Autorität<br />

und Ihres Gegenstücks, des<br />

Rechtsgehorsams der Bürger". Bei<br />

der Umschau unter den staatlichen<br />

Gewalten Gesetzgebung, Regierung<br />

und Verwaltung, Justiz ortete der Referent<br />

die Ursachen für die Erosion<br />

staatlicher Autorität in der Unfähigkeit,<br />

staatliches Handeln der Breite<br />

Mit diesen Ausführungen waren<br />

die Grundfragen der Akzeptanz<br />

behördlicher Entscheidungen aufgeworfen<br />

und "Staat und Politik in der<br />

Vertrauens krise" zur Erörterung gesteilt.<br />

Natürlich konnte und durfte<br />

sich zu dieser Thematik kein Referent<br />

äußern, der dem Verdacht ausgesetzt<br />

20 1 BEVÖLKERUNGSSCHUTZMAGAZIN 11-12/93 1

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