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4. Spiritualität und Psychotherapie – zwei ungleiche Geschwister<br />
Nach einer weit verbreiteten Meinung haben die Psychotherapeuten das Erbe der<br />
spirituellen und religiösen Lehrmeister angetreten. In einer Zeit, in der längst schon<br />
nicht mehr die Kirchen ihren allgemeinen Anspruch auf Orientierung ausüben,<br />
sondern in der die unterschiedlichsten Wertesysteme parallel nebeneinander<br />
existieren, ist der Bedarf nach Sinngebung und Orientierung stark gestiegen. In<br />
einem immer stärker werdenden Ausmaß werden die Psychotherapeuten auch mit<br />
heil- und sinngebenden Erwartungen konfrontiert. Es werden ihnen seels<strong>org</strong>erliche<br />
Funktionen zugemutet. Dabei sind die Grenzen zwischen Wissenschaft,<br />
Weltanschauung und Religion nicht mehr so klar zu trennen.<br />
Doch wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Psychotherapie und privater<br />
Religiosität? Arnold Mettnitzer, ehemaliger Seels<strong>org</strong>er und Psychotherapeut,<br />
gebraucht im Vorwort zu seinem Buch „Couch und Altar“ den sympathischen<br />
Vergleich von zwei ungleichen Geschwistern. „Der Seels<strong>org</strong>er als der in die Jahre<br />
gekommene ältere Bruder mag für sich den Vorzug der längeren Erfahrung in<br />
Anspruch nehmen. Die Psychotherapie als die jüngere Schwester versucht mit<br />
größerem Charme die vergessenen Dimensionen menschlicher Grundbedürfnisse<br />
wieder zugänglich zu machen“ (Mettnitzer 2008, 8). Die Geschwister vertragen sich<br />
nicht, scheinen beide von Profilierungsneurosen und Geschwisterrivalität betroffen zu<br />
sein, wollen nichts miteinander zu tun haben und schon gar nicht miteinander<br />
verwechselt werden. Dennoch gehören sie zusammen und können nicht ohne<br />
einander. Seit der Geburt der jüngeren Schwester vor etwa 100 Jahren ging es um<br />
die Betonung der Unterschiede und um Ausgrenzung. Man warf sich gegenseitig Unwissenschaftlichkeit<br />
beziehungsweise Unglauben vor. Diese eifrige gegenseitig<br />
betriebene Grenzziehung schadet letztlich den Klienten. Therapeuten machen um<br />
das Thema religiöses Leben und spirituelles Erleben oft einen weiten Bogen, ohne<br />
dessen Wert für den Heilungsprozess zu berücksichtigen. Patienten hingegen sparen<br />
dieses Thema bewusst ihrem Therapeuten gegenüber aus, da sie diesen ja mit<br />
solchen Dingen nicht konfrontieren wollen, er ja für etwas anderes zuständig ist. Im<br />
6. Kapitel werde ich von einer persönlichen Fallgeschichte erzählen, in welcher es<br />
genau um dieses Thema ging.<br />
Dennoch haben die beiden Geschwister mehr miteinander zu tun, als sie es sich<br />
selbst vielleicht auch zugestehen wollen. Beiden geht es um Offenheit, Intimität,<br />
heilende Begegnung und um das nicht bewertende, verständnisvolle, einfühlende<br />
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