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WESENTLICH SEIN<br />
SPIRITUALITÄT UND RELIGIOSITÄT<br />
IN BERATUNG UND PSYCHOTHERAPIE<br />
AM BEISPIEL DER PSYCHOTHERAPEUTISCHEN<br />
EXISTENZANALYSE<br />
Abschlussarbeit für die fachspezifische Ausbildung<br />
in Existenzanalyse und Logotherapie<br />
Februar 2013<br />
Eingereicht von: Mag. Gebhart Strigl<br />
Eingereicht bei: Dr. Silvia Längle<br />
DDr. Alfried Längle
Immer ist das<br />
Wichtigste die Stunde,<br />
die gegenwärtige,<br />
Immer ist der<br />
Wichtigste Mensch der,<br />
der dir gerade gegenübersteht.<br />
Immer ist die<br />
wichtigste Tat die Liebe.<br />
Meister Eckhart<br />
2
INHALT<br />
1. Einleitung 4<br />
2.<br />
2.1.<br />
2.2.<br />
Spiritualität und Religiosität (Begriff und Bedeutung)<br />
Spiritualität<br />
Religiosität<br />
5<br />
6<br />
3.<br />
3.1.<br />
3.2.<br />
3.3.<br />
3.4.<br />
Psychotherapie (Begriff und Bedeutung)<br />
Psychodynamische Therapierichtungen<br />
Verhaltenstherapierichtungen<br />
Kognitive Therapien<br />
<strong>Existential</strong>psychologische – humanistische Therapien<br />
7<br />
8<br />
8<br />
8<br />
9<br />
4. Spiritualität und Psychotherapie – zwei ungleiche Geschwister 10<br />
5.<br />
5.1.<br />
Transpersonale Psychologie und Psychotherapie<br />
Kritische Fragen an die Transpersonale Psychologie<br />
12<br />
15<br />
6. Religiosität und Spiritualität als Thema von Psychotherapie und Beratung 18<br />
7.<br />
7.1.<br />
7.2.<br />
7.3.<br />
Existenzanalyse<br />
Der Religiositätsbegriff in der Existenzanalyse<br />
Der Spiritualitätsbegriff in der Existenzanalyse<br />
Der Sinnbegriff in der Existenzanalyse<br />
20<br />
20<br />
21<br />
22<br />
8.<br />
8.1.<br />
8.2.<br />
8.2.1.<br />
Spiritualität in der Existenzanalyse. Zwei Zugänge:<br />
Die phänomenologische Haltung<br />
Spiritualität in den Grundmotivationen<br />
Der Begriff „Grundmotivationen“ in der Existenzanalyse<br />
24<br />
25<br />
26<br />
27<br />
8.2.2.<br />
8.2.2.1.<br />
8.2.2.2.<br />
8.2.2.3.<br />
8.2.2.4.<br />
Die Spiritualität der Grundmotivationen<br />
Die Spiritualität des Könnens und des Vertrauens (1. GM)<br />
Die Spiritualität des Mögens und der Werte (2. GM)<br />
Die Spiritualität des Dürfens und des Soseins (3. GM)<br />
Die Spiritualität des Sollens und des Sinnes (4. GM)<br />
29<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
9. Resümee 34<br />
10. Literatur 36<br />
3
1. EINLEITUNG<br />
Psychotherapie ist eine Behandlungsmethode von seelischen Krankheiten,<br />
Konflikten und Problemen durch Aktivierung von innerpsychischen Kräften. Das Ziel<br />
wäre die Heilung oder zumindest die Verminderung von körperlichem und<br />
seelischem Leid.<br />
Religiosität und Spiritualität kommen in allen psychotherapeutischen Fachrichtungen<br />
vor und auf seltsame Weise, doch nicht. Dieses Spannungsfeld wird ein Thema der<br />
vorliegenden Arbeit sein. Jährlich erscheinen eine Vielzahl an Publikationen zu<br />
diesem Bereich, welche sich in der Aussage ähneln, dass der Themenkreis<br />
„Spiritualität“ in den jeweiligen Fachrichtungen übergangen wird. Allein das Bedürfnis<br />
darüber nachzudenken und zu schreiben weist jedoch in eine gegenteilige Richtung.<br />
Das Themenfeld des Religiösen und Spirituellen ist zu komplex um übergangen zu<br />
werden. Zum einfacheren Verständnis verwende ich in meiner Arbeit die Begriffe<br />
Religiosität und Spiritualität synonym. Auch verwende ich wegen der einfacheren<br />
Lesbarkeit durchgängig das generische Maskulinum. Gemeint sind jeweils beide<br />
Geschlechter.<br />
Am Beispiel der psychotherapeutischen Existenzanalyse gehe ich den Fragen nach,<br />
wie die Auseinandersetzung mit Spiritualität und Religiosität aussieht und ob es so<br />
etwas wie eine „spirituelle Tiefendimension“ in der Existenzanalyse gibt.<br />
Ich arbeite seit über dreißig Jahren als Religionslehrer und begann vor zehn Jahren<br />
eine Ausbildung zum Psychotherapeuten. Auf dem Marktplatz der verschiedenen<br />
Fachrichtungen entschied ich mich für die Gesellschaft für Logotherapie und<br />
Existenzanalyse (GLE) weil ich hier die Dimensionen: Wert, Sinn, Glaube, Gespür,<br />
Berührtheit als wesentliche Bedingungen für spirituelle Tiefendimensionen für mich<br />
am überzeugendsten vertreten fand. Inwieweit meine mittlerweile beendete<br />
Ausbildung als Synergie für meinen Herkunftsberuf dienen kann, ob sich meine<br />
ursprüngliche Annahme bestätigte und es in der Existenzanalyse Platz für religiöses<br />
Leben und Erleben sowohl des Therapeuten als auch der Klienten geben kann und<br />
darf, sind wichtige Schwerpunkte der Arbeit.<br />
4
2. Spiritualität und Religiosität (Begriffe und Bedeutung)<br />
2.1. Spiritualität<br />
Der Begriff Spiritualität kommt aus dem lateinischen „spiritus“ und meint Luft, Hauch,<br />
Atem, Lebenshauch, Seele, Geist, Begeisterung, Schwung, Mut, Sinn, Gesinnung<br />
(Stowasser 1987, 430). Von der Bedeutung wird an Geistigkeit im weiteren Sinn als<br />
Gegensatz zur Materie oder aber auch im religiösem Sinn als eine auf Transzendenz<br />
oder dem Jenseits ausgerichtete Haltung gedacht (Duden 2004, 512). So umfasst<br />
Spiritualität auch eine besondere, nicht unbedingt als notwendig im konfessionellen<br />
Sinne verstandene Lebenseinstellung eines Menschen, der sich auf das<br />
transzendente oder immanente göttliche Sein konzentriert bzw. auf das Prinzip der<br />
transzendenten, nicht-personalen letzten Wahrheit oder höchsten Wirklichkeit.<br />
Aus der allgemeinen Bedeutung können eine engere und eine weitere Definition<br />
abgeleitet werden:<br />
Spiritualität im engeren Sinn wäre demzufolge eine persönliche Lebensgestaltung<br />
geleitet durch den „spiritus sanctus“: Leben durch und aus dem Geist.<br />
Spiritualität im weiten, umfassenden Sinn wäre ein tiefes Gefühl der Verbundenheit<br />
mit dem Heiligen, dem Ganzen. Der Mensch erlebt sich in Zusammenhängen. Dies<br />
wird veranschaulicht dargestellt durch die buddhistische Lehre der Verbundenheit<br />
(alles ist mit allem verbunden).<br />
Obwohl diese beiden Bedeutungen ähnlich klingen ergeben sich doch Unterschiede.<br />
Eine bis ins höchste geschulte und transzendierte Aufmerksamkeit auf das<br />
Geheimnis Gottes, welches in und durch mich wirkt, wie es beispielsweise der<br />
Mystiker in seiner Abgeschiedenheit erlebt, ist etwas anderes als das Erleben der<br />
Gottheit in zwischenmenschlichen Bezügen, auf die Ganzheit bezogen. Vereinfacht<br />
gesagt könnte hier von einer „Ich- und Du-Spiritualität“, versus einer „Wir-Spiritualität“<br />
gesprochen werden.<br />
Spiritualität kann nur unzureichend begrifflich erklärt werden, da jede Annäherung<br />
sich zwar allgemeiner Begriffe bedient, diese jedoch nur aus dem individuellen<br />
Erleben verstanden oder erlebt werden können. Ein möglicher Zugang wäre die<br />
spontane Assoziation, hier kommen Ideen wie: Geistigkeit, Bewusstseinserweiterung,<br />
Ganzheitlichkeit, Nicht-Dualismus, erlebte Erfahrung, Verbindung, Vernetzung,<br />
5
Verantwortung, Mitgefühl, Herzenswissen, Gemeinschaftsorientierung, Nichthierarchie,<br />
Weiblichkeit, Ökologie, Harmonie. Jedes einzelne dieser Bilder fasst<br />
wiederum nur Teilaspekte eines Ganzen. Es ist wie mit der Liebe, sie wird gespürt,<br />
viel wird darüber geschrieben, doch wenn man sie allgemein definieren wollte<br />
beginnen die Schwierigkeiten.<br />
Spiritualität hat mit Bedürfnissen zu tun unser alltägliches Bewusstsein zu erweitern<br />
und zu transzendieren. Bedürfnisse die wir als sinngebend erleben, die einen hohen<br />
Wert für uns ausstrahlen und uns mit etwas in Verbindung bringen, das größer ist als<br />
unser Ich und unsere Grenzen erweitert. Spiritualität ist kein theoretisches oder<br />
philosophisches Konzept, sondern erlebte Erfahrung, eine innere Haltung und<br />
Einstellung dem Leben gegenüber, die von Liebe und Verantwortung geprägt ist.<br />
Spirituelle Erfahrungen berühren uns im tiefsten Wesenskern. Sie ergreifen und<br />
verändern uns und sind Ausdruck des Kontaktes mit dem Geheimnis, dem<br />
Numinosen. Im spirituellen Erleben wird uns bewusst, dass die Natur unseres<br />
Wesens das "umgreifende Eine" ist, das keine Grenzen kennt.<br />
2.2. Religiosität<br />
Der Begriff Religiosität kommt ebenfalls aus dem lateinischen von „religere“ und<br />
meint „rückbinden“ (Stowasser 1987, 391). Ursprünglich bedeutete Religion nicht<br />
mehr als Rückbindung, geistige Rückbindung des Menschen, nicht einmal an einen<br />
Gott, sondern ganz allgemein an seine Mitwelt, an die menschliche Gemeinschaft, an<br />
die Natur, an das Weltganze, weil der Mensch im Gegensatz zum Tier durch seinen<br />
Geist von diesem Ganzen getrennt ist. Diese Trennung wirkt sich vor allem im<br />
Gefühlsbereich verunsichernd aus und muss geheilt werden, wenn ein<br />
befriedigendes, ganzheitlich gelebtes Leben in dem Gefühl und Verstand<br />
gleichermaßen zur Entfaltung kommen, erreicht werden soll. Religion ist demnach<br />
zunächst ein unspezifisches geistiges Heil-Mittel, das im Grunde nur in dem<br />
vermittelnden V<strong>org</strong>ang des Rückbindens des Einzelnen an das Weltganze besteht.<br />
Die Begriffe Spiritualität und Religiosität werden häufig synonym und undifferenziert<br />
verwendet, obwohl ihnen unterschiedliche Vorstellungen zugrunde liegen.<br />
Existentielle Fragen des Lebens, des Menschseins betreffen uns alle und bedingen<br />
daher die Ausprägung einer individuellen religiösen Grundeinstellung und<br />
Glaubensüberzeugung. Die persönliche Berührtheit des Einzelnen, seine<br />
Verbundenheit mit einem Ganzen oder außergewöhnliche Phänomene verlangen<br />
6
nach einem Erklärungsmodell, welches wiederum religiös oder spirituell ausfallen<br />
kann und auch offen für andere Deutungen ist.<br />
3. Psychotherapie: Begriff und Bedeutung<br />
Aus der Perspektive wissenschaftlicher Psychologie oder Psychotherapieforschung<br />
ist Psychotherapie die auf wissenschaftlichem Wege gefundene, besondere Form<br />
einer kontrollierten menschlichen Beziehung, in der der Therapeut die jeweils<br />
spezifischen Bedingungen bereitstellt, um für einen oder mehrere Patienten<br />
Veränderungen in Richtung einer Verminderung / Heilung von seelischem /<br />
körperlichem Leiden zu ermöglichen. Auch eine (gleichzeitige) persönliche<br />
Weiterentwicklung kann mit Psychotherapie verbunden oder sogar ihr ausdrückliches<br />
Ziel sein. Durch die jeweils besondere Beziehungsgestaltung und die ausgewählten<br />
Anregungen des Psychotherapeuten, die „Methoden“ genannt werden, steigert der<br />
Patient seine Fähigkeit, besser mit sich und seinen Problemen umgehen zu können,<br />
um ein Mehr an geistigem / seelischem und körperlichem Wohlbefinden zu erreichen.<br />
Gleichzeitig erfährt er auf unterschiedlichen Ebenen die verursachenden<br />
Zusammenhänge für sein Leben und vor allem sein Leiden.<br />
„Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktiver Prozess zur<br />
Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem<br />
Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für<br />
behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch<br />
Kommunikation) meist verbal aber auch nonverbal, in Richtung auf ein definiertes,<br />
nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und / oder<br />
Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer<br />
Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens“ (Strozka 1978, 73).<br />
7
3. Therapieformen im Überblick<br />
Zimbardo fasst die einzelnen Psychotherapierichtungen in vier Hauptrichtungen<br />
zusammen:<br />
3.1. Psychodynamische Therapierichtungen<br />
Der psychodynamische – auch psychoanalytische - Ansatz sieht das Leiden des<br />
Menschen als das äußere Symptom innerer ungelöster Traumata und Konflikte aus<br />
der Kindheit. „Die Psychoanalyse behandelt Störungen durch das Sprechen. Sie ist<br />
eine Redekur, in der der Therapeut dem Betroffenen hilft, Einsichten in die<br />
Beziehungen zwischen den offenliegenden Symptomen und den ungelösten<br />
verb<strong>org</strong>enen Konflikten zu gewinnen“ (Zimbardo 1988, 536).<br />
Therapierichtungen:<br />
Psychoanalyse (Sigmund Freud), Individualpsychologie (Alfred Adler), Analytische<br />
Psychologie (C.G. Jung), Gruppenpsychoanalyse (Pratt, Burrow, Schilder)<br />
3. 2. Verhaltenstherapierichtungen<br />
Das Verhalten des Klienten ist hier der Ansatzpunkt. Die Störungen, die es zu<br />
verändern gilt, werden als erlernte Verhaltensmuster betrachtet, die Linderung<br />
derselben durch eine Veränderung des Problemverhaltens (Desensibilisierung).<br />
Dieses wird verschieden erreicht, unter anderem durch Verändern der verstärkenden<br />
Kontingenzen für erwünschte und unerwünschte Reaktionen durch Extinktion<br />
(Löschung) konditionierter Furchtreaktionen und durch Bereitstellung von Modellen<br />
für effektives Problemlösen.<br />
Therapierichtungen:<br />
Verhaltenstherapie (Kanfer, Lazarus, Ellis u.a.).<br />
3. 3. Kognitive Therapien<br />
Die Art und Weise in der eine Person über sich nachdenkt, soll zu ihren Gunsten<br />
verändert werden. Dies wird erreicht, indem sie angeleitet wird, die oft verzerrten,<br />
selbstbezogenen Behauptungen über die Ursachen und die Änderungsmöglichkeiten<br />
eines Problems neu zu strukturieren (Zimbardo 1988, 536).<br />
8
Therapierichtungen:<br />
Autogene Psychotherapie (J. H. Schultz), Daseinsanalyse (Ludwig Binswanger),<br />
Dynamische Gruppenpsychotherapie (Raoul Schindler), Hypnosepsychotherapie<br />
(Milton Erickson), Katathym-Imaginative Psychotherapie (Hanscarl Leuner),<br />
Konzentrative Bewegungstherapie (Gindler, Stolze, Cserny), Transanktionsanalyse<br />
(Eric Berne).<br />
3. 4. <strong>Existential</strong>psychologische - humanistische Therapien<br />
Das Hauptaugenmerk bei diesen Therapierichtungen liegt auf den Wertvorstellungen<br />
des Klienten. Es geht um Selbstverwirklichung, psychische Weiterentwicklung und<br />
die Bildung befriedigender personaler Beziehungen. Es wird betont, dass jeder<br />
Mensch seinen Weg frei wählen kann.<br />
Therapierichtungen:<br />
Logotherapie (Viktor Frankl), Existenzanalyse und Logotherapie (Alfried Längle),<br />
Gestalttherapie (Perls, Goodman), Gesprächspsychotherapie (Carl Rogers),<br />
Psychodrama (Jakob Moreno).<br />
9
4. Spiritualität und Psychotherapie – zwei ungleiche Geschwister<br />
Nach einer weit verbreiteten Meinung haben die Psychotherapeuten das Erbe der<br />
spirituellen und religiösen Lehrmeister angetreten. In einer Zeit, in der längst schon<br />
nicht mehr die Kirchen ihren allgemeinen Anspruch auf Orientierung ausüben,<br />
sondern in der die unterschiedlichsten Wertesysteme parallel nebeneinander<br />
existieren, ist der Bedarf nach Sinngebung und Orientierung stark gestiegen. In<br />
einem immer stärker werdenden Ausmaß werden die Psychotherapeuten auch mit<br />
heil- und sinngebenden Erwartungen konfrontiert. Es werden ihnen seels<strong>org</strong>erliche<br />
Funktionen zugemutet. Dabei sind die Grenzen zwischen Wissenschaft,<br />
Weltanschauung und Religion nicht mehr so klar zu trennen.<br />
Doch wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Psychotherapie und privater<br />
Religiosität? Arnold Mettnitzer, ehemaliger Seels<strong>org</strong>er und Psychotherapeut,<br />
gebraucht im Vorwort zu seinem Buch „Couch und Altar“ den sympathischen<br />
Vergleich von zwei ungleichen Geschwistern. „Der Seels<strong>org</strong>er als der in die Jahre<br />
gekommene ältere Bruder mag für sich den Vorzug der längeren Erfahrung in<br />
Anspruch nehmen. Die Psychotherapie als die jüngere Schwester versucht mit<br />
größerem Charme die vergessenen Dimensionen menschlicher Grundbedürfnisse<br />
wieder zugänglich zu machen“ (Mettnitzer 2008, 8). Die Geschwister vertragen sich<br />
nicht, scheinen beide von Profilierungsneurosen und Geschwisterrivalität betroffen zu<br />
sein, wollen nichts miteinander zu tun haben und schon gar nicht miteinander<br />
verwechselt werden. Dennoch gehören sie zusammen und können nicht ohne<br />
einander. Seit der Geburt der jüngeren Schwester vor etwa 100 Jahren ging es um<br />
die Betonung der Unterschiede und um Ausgrenzung. Man warf sich gegenseitig Unwissenschaftlichkeit<br />
beziehungsweise Unglauben vor. Diese eifrige gegenseitig<br />
betriebene Grenzziehung schadet letztlich den Klienten. Therapeuten machen um<br />
das Thema religiöses Leben und spirituelles Erleben oft einen weiten Bogen, ohne<br />
dessen Wert für den Heilungsprozess zu berücksichtigen. Patienten hingegen sparen<br />
dieses Thema bewusst ihrem Therapeuten gegenüber aus, da sie diesen ja mit<br />
solchen Dingen nicht konfrontieren wollen, er ja für etwas anderes zuständig ist. Im<br />
6. Kapitel werde ich von einer persönlichen Fallgeschichte erzählen, in welcher es<br />
genau um dieses Thema ging.<br />
Dennoch haben die beiden Geschwister mehr miteinander zu tun, als sie es sich<br />
selbst vielleicht auch zugestehen wollen. Beiden geht es um Offenheit, Intimität,<br />
heilende Begegnung und um das nicht bewertende, verständnisvolle, einfühlende<br />
10
Wort. Die Liste wäre fortzusetzen, dennoch sollten bei der Betonung des<br />
Gemeinsamen auch die Unterschiede nicht übersehen werden und die Fragen die<br />
sich daraus ergeben ernst genommen werden.<br />
Wie gestaltet sich ein professioneller Umgang mit spirituellen Fragen? Was bedeutet<br />
Spiritualität überhaupt aus psychotherapeutischer Sicht? Braucht ein spirituell /<br />
religiös orientierter Klient einen spirituell / religiösen Therapeuten?<br />
11
5. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie (TP)<br />
Psychotherapieformen, die diese religiöse Dimension der Seele in ihre Konzepte und<br />
Methoden einbeziehen, werden unter dem Sammelbegriff „Transpersonale<br />
Psychologie“ zusammengefasst. Die Transpersonale Psychologie entstand in den<br />
sechziger Jahren in den USA. Ursprünglich als neue Psychologierichtung gedacht,<br />
versteht man heute darunter eher eine neue Dimension von Therapie (Galuska<br />
2003, 25).<br />
„Ein Hauptanliegen der TP ist es, besondere Erfahrungen oder Bewusstseinszustände,<br />
die spirituell oder religiös gedeutet werden, mit in die Forschung oder in<br />
die therapeutische Praxis einzubeziehen“ (Utsch 2005, 90). Transpersonale<br />
Erfahrungen treten spontan, ohne besondere äußere Bedingungen und<br />
Vorbereitungen, häufiger aber im Zusammenhang mit emotional überwältigenden<br />
Ereignissen, im positiven Sinne z. B. durch eine tiefe emotionale Begegnung oder<br />
eine andere ergreifende Gefühlserfahrung, durch das Erlebnis der Schönheit von<br />
Natur oder Kunst auf. Aber auch existentielle Krisen und Grenzsituationen im<br />
Umkreis von Krankheit, Leiden, Tod und Verzweiflung können ein Auslöser sein.<br />
Als Vorläufer der TP gilt die Humanistische Therapie, deren Anliegen die Umsetzung<br />
und Verwirklichung aller im Menschen gelegenen Möglichkeiten ist. In den Kapiteln 7<br />
und 8 wird es unter anderem um die Bezüge zwischen der Logotherapie Frankls, der<br />
Existenzanalyse Längles und der TP gehen.<br />
Einer ihrer Gründer ist der Entwicklungspsychologe Abraham Maslow. Dieser<br />
gelangte gegen Ende seiner Laufbahn zu der Überzeugung, dass die reine<br />
Selbstentfaltung der menschlichen Potentiale, wie er sie selber in die Psychologie<br />
eingeführt hatte, nicht ausreicht, um das menschliche Erleben zu verstehen. Höhere<br />
Bedürfnisse transpersonaler Art würden dann an Bedeutung gewinnen, wenn die<br />
biologischen Bedürfnisse nach Essen, Schlaf, Sexualität sowie die sozialen nach<br />
Dazugehörigkeit, Macht, Anerkennung und Geltung befriedigt seien (Maslowsche<br />
Bedürfnispyramide - Maslow 1985, 11 f). Maslow behauptete, dass es ein<br />
natürliches Bedürfnis nach Selbsttranszendenz gäbe, das sich in spontanen oder<br />
methodisch gesuchten Gipfelerlebnissen ausdrücke, und dass dies ebenso wie vitale<br />
und personale Grundbedürfnisse zur menschlichen Natur gehöre.<br />
„Nach der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie sei die humanistische<br />
Psychologie … die Vorbereitung für eine noch höhere Vierte Psychologie, die<br />
12
überpersönlich und transhuman ist, ihren Mittelpunkt im All hat und nicht auf<br />
menschliche Bedürfnisse und Interessen bezogen ist“ (Maslow, 1985, 12).<br />
Spiritualität bedeutet das Wahrnehmen des "Ganzen", die Erkenntnis, dass alles Eins<br />
ist und dennoch gleichzeitig in Vieles ausgefächert ist, dass das Ganze und der Teil<br />
zwei Seiten derselben Münze sind. Transpersonale Erfahrung geht mit Einsicht in<br />
das Wesen der Dinge und des eigenen Selbst einher, entsprechend dem<br />
"meditativen Bewusstsein", zu welchem erhöhte Klarheit der Wahrnehmung und<br />
Versunkenheit gehören. Alle religiösen Traditionen haben eine gemeinsame Quelle<br />
der Spiritualität, die sie miteinander verbindet. Religion ist in diesem Verständnis das<br />
Bemühen des Menschen, seine tiefste Bestimmung, seinen Sinn im Lebensganzen<br />
zu entdecken. Das Finden dieses Lebenssinns hängt von der Beziehung zum<br />
Unbewussten ab. Es ist eine Art Fenster zur Ewigkeit, das uns an den großen<br />
Lebensstrom anschließt. Wenn wir die Erfahrung machen können, dass in uns etwas<br />
wächst, das uns heilen lässt und wir Andere an diesem Heilenden teilhaben lassen,<br />
dann wissen wir um den "Gesamtsinn", den im weitesten Sinne religiösen<br />
Lebenssinn. Diese transpersonale Haltung ist für Maslow regelrecht eine ethischmoralische<br />
Orientierung „Ohne das Transzendente und Transpersonale werden wir<br />
krank, gewalttätig, nihilistisch oder sogar hoffnungslos und apathisch“ (Maslow 1985,<br />
12). Wenn wir von Sinnkrisen erschüttert werden, an unheilbaren Krankheiten leiden<br />
und einer physischen und psychischen Wandlung bedürfen, einer Neueinstellung uns<br />
selbst und der Welt gegenüber, ist die spirituelle Suche nach dem innersten<br />
Wesenskern besonders drängend.<br />
Heute gibt es eine Vielzahl von transpersonalen Bewegungen. Gemeinsam ist ihnen<br />
mehr ein Interesse an der geistigen Weiterentwicklung des Menschen, als eine<br />
einheitliche Lehre. Es geht um spirituell / religiöse Erfahrungen von Menschen und<br />
deren Relevanz für Wissenschaft und Lebenspraxis.<br />
Der Individuationsweg, wie C. G. Jung ihn beschrieben hat, ist unter anderem eine<br />
spirituell / religiöse Erfahrung, ein Weg zu dem, was der Mensch letztlich ist und<br />
damit zu einem Bewusstsein, zur großen Kette des Seins zu gehören, an der<br />
Ganzheit teilzuhaben. Jung gilt als Pionier und Klassiker der transpersonalen<br />
Psychologie (Jung, 1963).<br />
13
Es gehört zu den Grundannahmen der analytischen Psychologie, dass die spirituelle<br />
Dimension ein Teil der menschlichen Psyche ist und dass eine Art autonomes,<br />
spirituelles Prinzip in jedem von uns wirkt. Der Wandlungsprozess als Entwicklung<br />
zur Ganzheit, zur vollen Bewusstwerdung des eigenen Potentials und des<br />
Angeschlossenseins an den großen Lebensstrom, gilt als natürlicher Lebensprozess,<br />
der in der Psychotherapie unterstützt und begleitet wird. Zu dieser Bewusstseinsintensivierung<br />
und -erweiterung, die oft von schweren Wachstumsschmerzen und<br />
Leiden begleitet ist, gehört immer die Verantwortung das Erfahrene auch zu leben.<br />
Ein Mensch, der fest im Spirituellen gründet, erlebt den Wandlungsprozess als<br />
kontinuierliche Aufgabe und ethische Verpflichtung.<br />
Einer der wesentlichen Vertreter der TP im deutschen Sprachraum ist der Arzt und<br />
Psychotherapeut Joachim Galuska, Mitherausgeber der Zeitschrift: Transpersonale<br />
Psychologie und Psychotherapie. Er geht von einen monistischen Weltbild aus und<br />
setzt voraus, dass „Krankheit aus der kränkenden Verleugnung dessen herv<strong>org</strong>ehen<br />
kann, was wir im Innersten sind: Einheit, Weite und Stille. Die TP hat den Anspruch,<br />
den häufig krisenhaften Weg vom persönlichen Ich-Bewusstsein zu einem<br />
transpersonalen Bewusstseinzustand zu begleiten. Dieser wird als reines<br />
Gewahrsein oder unmittelbares Erleben der Seele verstanden“ (Galuska 2003, 22).<br />
In der Therapie unterscheidet er zwei Schwerpunkte: Einerseits soll in einer<br />
transpersonalen Behandlung durch spezifische Methoden ein besonderer<br />
Bewusstseinszustand erzeugt werden. Dabei sollen Menschen von einer personalen<br />
zu einer transpersonalen Wahrnehmung geführt und begleitet werden. Andererseits<br />
könne der transpersonale Bewusstseinszustand des Therapeuten gezielt zur<br />
Behandlung von Störungen und Krankheiten eingesetzt werden.<br />
Der „transpersonale Bewusstseinsraum“ bildet den Schlüssel zum Verständnis<br />
transpersonaler Psychotherapie. Darunter versteht Galuska eine besondere Form<br />
der Wahrnehmung, die man durch meditative Versenkung erreichen könne. Dieser<br />
Bewusstseinsraum ruhe in sich selber und ist charakterisiert durch Unberührbarkeit<br />
und Absichtslosigkeit. „Der transpersonale Therapeut sei dabei nicht mehr verankert<br />
im eigenen Erleben, sondern in reiner Präsenz, Freiheit, Leere und Weite, Stille,<br />
ästhetischem Empfinden, Verbundenheit, Offenheit für heilende Qualitäten“ (Galuska<br />
2003, 38).<br />
14
Ein Mensch im transpersonalen Bewusstseinszustand hat das „Potenzial zur<br />
Sensitivität, zur Medialität für feinstoffliche Energien, für jenseitige Kräfte und<br />
jenseitiges Wissen“ (Galuska, 2003, 24).<br />
In gewisser Weise knüpft die transpersonale Psychologie an die Mystik der<br />
Weltreligionen an. Mittels der Psychologie und psychotherapeutischer Methoden<br />
solle die Begegnung mit der verb<strong>org</strong>enen Wirklichkeit des Heiligen gesucht werden.<br />
Gotteserfahrungen, Extaseerlebnisse sind Forschungsgebiete der TP (Wiethaus<br />
1996). Andererseits nimmt die gegenwärtige theologische Mystikforschung auch<br />
Bezug auf die TP (Sudbrack 1999).<br />
5.1. Kritische Fragen an die Transpersonale Psychotherapie<br />
Der Schwerpunkt der TP sind höhere, veränderte, transzendierte Bewusstseinszustände.<br />
Nach eigenem Verständnis geht es um die seels<strong>org</strong>erische und geistliche<br />
Begleitung, Ursprungsdomänen nahezu aller Religionen, vor allem des Christentums.<br />
Seitens der Religionswissenschaft stellt sich natürlich die Frage, wie eine offene und<br />
weltanschaulich neutrale spirituelle Begleitung denn aussehen soll. Spiritualität ohne<br />
religiöse Einbindung, gestellt auf einen objektiv wissenschaftlichen Boden scheint<br />
schwer vorstellbar zu sein. Der Mystikexperte Sudbrack meint dazu: „Es widerspricht<br />
dem Reflexionsstand heutiger Wissenschaft und schlägt dem Mystiker der sein<br />
Innerstes darin findet, ins Gesicht, wenn man einen kalten, so genannten objektiven<br />
Begriff von Mystik konstruiert und die subjektive Individualität der Mystiker darin<br />
aufgehen lässt… Es gibt keine reine Erfahrung… Je näher man der existentiellen<br />
Erfahrung kommt, desto mehr spielt die persönliche Weltanschauung eine Rolle“<br />
(Sudbrack, 2002, 47). Selbstverständlich spielen auch in der TP menschenbildabhängige<br />
Vorentscheidungen, Prägungen, verschiedensten Einflüsse eine wichtige<br />
Rolle.<br />
Transpersonal bedeutet über die Person hinaus, durch die Person, aber auch<br />
jenseits der Person. Aus der Wortbedeutung wird die Perspektive deutlich mit der<br />
die Psyche untersucht wird. Die Seele ist apersonal. Es wird der Versuch<br />
unternommen ein klares weltanschauliches Konzept, welches aus dem asiatischen<br />
Raum kommt, mit der empirischen Sozialwissenschaft zu verknüpfen. „Im<br />
asiatischen Denken wird die Individualseele mit einem universellen unsterblichen<br />
Weltgeist gleichgesetzt – Atman ist identisch mit Braman“ (Utsch, 2005, 93). Hier<br />
zeigt sich ein für mich nicht zu lösender Widerspruch: Wie kann mit psychologischen<br />
15
Methoden etwas erforscht werden, was sich jenseits der Person und noch vielmehr,<br />
was sich hinter der Seele befindet? Worauf schaut der transpersonale<br />
Psychotherapeut beim Begriff Seele und wo findet sich die transpersonale Person?<br />
Aus Sicht der Wissenschaftspsychologie wäre zu sagen, dass die TP ein ähnliches<br />
Problem wie die Theologie hat. Der transpersonale Bewusstseinsraum, von dem die<br />
TP ausgeht, lässt sich ähnlich wie die Gottheit, nicht empirisch beweisen und<br />
belegen.<br />
Trotz dieser Einwendungen hat die TP zu einer ideologischen Wende innerhalb der<br />
Psychologie und den Psychotherapien mit beigetragen. Religiosität und Spiritualität<br />
wurde immer mehr zum Gegenstand der psychologischen Forschung und hat es<br />
sogar bis in die klinisch / diagnostischen Leitlinien geschafft. Im ICD-10 findet man<br />
eine neue Klassifikation. Wenn auch als Beeinträchtigung, findet sich unter dem<br />
Kapitel: „Trance und Besessenheit“ die Beschreibung einer „Störung, bei denen ein<br />
zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung<br />
der Umgebung auftritt; in einigen Fällen verhält sich ein Mensch so, als ob er von<br />
einer anderen Persönlichkeit, einem Geist einer Gottheit oder einer Kraft beherrscht<br />
wird“ (Dilling 2005, F44.3). Allerdings zeigt sich für mich gerade in dieser<br />
Beschreibung die Grenze psychologischer Aussagemöglichkeiten hinsichtlich<br />
religiöser Erfahrungen. Das unaussprechliche Geheimnis einer Gotteserfahrung ist<br />
psychologisch nicht zu beschreiben und in eine Klassifikation zu bringen.<br />
Nach Michael Utsch, einem Theologen und Psychotherapeuten, haben „gerade<br />
Menschen mit einem fragilen Selbstbild und wenig gefestigter Identität einen direkten<br />
Zugang zur spirituellen Ebene. Sie suchen in der Meditation oder besonderen<br />
spirituellen Erlebnissen Lösungen für ihre Persönlichkeits- und Lebenskonflikte“<br />
(Utsch, 2005, 94). Dieses Phänomen nur unter dem Aspekt einer psychischen<br />
Störung zu sehen, halte ich für entsprechend problematisch.<br />
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die TP von einem monistischen Weltbild<br />
ausgeht. Die Subjekt-Objekt-Trennung wird als Illusion gesehen, vieles wurde nicht<br />
hinterfragt dem indischen Kulturkreis entnommen und sie lässt sich sozialwissenschaftlich<br />
weder beschreiben noch beweisen. Ihre Gefahr liegt in einer<br />
„Psychologisierung der Religion und Sakralisierung der Psychologie“<br />
(Hanegraaff 1996, 224).<br />
16
Bewusstsein wäre nach transpersonaler Lesart ein evolutionäres Geschehen. Es<br />
befindet sich in einem Entwicklungsprozess, gesteuert durch den „inneren Heiler“.<br />
Gemeint ist damit „eine tiefere innere Intuition des Menschen, die immer weiß, was<br />
gut und heilend im entsprechenden Moment ist. Wir gehen davon aus, dass jeder<br />
Mensch über eine solche Intuition verfügt und dass die Menschheit als Ganzes gut<br />
beraten ist, wenn jedes einzelne Individuum die Wahrnehmung dieser inneren<br />
Weisheit schärft“ (Jahrsetz 1999, 64). Aus christlicher Sichtweise verkennt diese<br />
Haltung die Erlösungsbedürftigkeit und Gebrochenheit der Person, aus<br />
psychologischer Sicht die subjektiv erlebte Not und Ausweglosigkeit. Jede Person<br />
hätte in sich ein göttliches Selbst, durch welches alle Konflikte gelöst werden könnten<br />
wenn es nur zur Entfaltung käme. Theologische Fragen nach dem Bösen, der<br />
Ungerechtigkeit oder psychologische Fragen nach menschlicher Destruktivität kann<br />
die TP nicht schlüssig beantworten.<br />
Trotz dieser kritischen Einwände: Durch ihre Beschäftigung mit Spiritualität und<br />
Religiosität ist die TP ein wichtiges Bindeglied zwischen Religion und Psychotherapie<br />
geworden.<br />
17
6. Religiosität und Spiritualität als Thema von Psychotherapie und Beratung<br />
Die persönliche Glaubenseinstellung eines Klienten oder Patienten wird in der<br />
deutschsprachigen Psychotherapie bis heute vernachlässigt. Kaum wird diese im<br />
Erstgespräch erhoben und in den jeweiligen Lehrbüchern wird sie ignoriert. Auch<br />
seitens des Klienten gibt es die Meinung, dass für religiöse Fragen eher der<br />
Seels<strong>org</strong>er zuständig wäre. Zu diesem geht man aber nicht, weil der Bezug nicht da<br />
ist und das Vertrauen fehlt. Wohin also mit diesen Bedürfnis?<br />
Bei mir meldete sich im Jahre 2010 ein Herr F. zu einem Erstgespräch. Er habe von<br />
mir über Bekannte gehört und erfahren, dass ich Religionslehrer sei. Auf meine<br />
Frage, ob dies denn wichtig wäre antwortete er, wahrscheinlich nicht und irgendwie<br />
schon. Unser Gespräch schrieb ich nach der Stunde aus dem Gedächtnis nieder. Ich<br />
meine, dass die folgende Gesprächssequenz vieles von den angeführten Problemen<br />
wiedergibt:<br />
T.:<br />
F.:<br />
T.:<br />
F.:<br />
T.:<br />
F.:<br />
T.:<br />
F.:<br />
Was bedeutet das, mein Beruf ist wichtig und nicht wichtig? Wollen Sie mit mir<br />
über Religion sprechen?<br />
Nein, eigentlich nicht. Über Religion will ich nicht sprechen, ich habe ganz<br />
andere Probleme. Aber das sie auch Religionslehrer sind, war mir wichtig. Ich<br />
denke mir, wenn ich doch irgendwann einmal über meinen Glauben reden<br />
möchte, das mit ihnen kann.<br />
Sprechen sie gerne über Religion oder Glaube?<br />
Ja privat schon, aber noch nie mit einem Therapeuten. Ich bin nämlich<br />
therapieerfahren.<br />
Ich war schon zweimal in Therapie, aber dort habe ich niemals über diesen<br />
Teil von mir gesprochen.<br />
Und warum?<br />
Ich weiß nicht, da war immer so eine Scheu. Ich hatte das Gefühl, das gehört<br />
nicht hierher, der Therapeut kann damit sicher nichts anfangen, ich möchte ihn<br />
damit verschonen.<br />
Wie ist es dann mit mir?<br />
Ich kenne sie ja nicht, aber ich weiß schon einmal, dass sie sich beruflich mit<br />
Gott und den Glauben beschäftigen und außerdem meine ich, dass wir, wenn<br />
18
es wichtig ist darüber sprechen können. Sie würden mich wahrscheinlich<br />
verstehen.<br />
Danach ging es um andere Themen. Der Klient war 12 Stunden bei mir in Therapie.<br />
In keiner dieser Stunden sprachen wir jemals wieder über Religion. Die Atmosphäre<br />
war vertrauensvoll, es wurde intensiv gearbeitet. Beim Abschlussgespräch sprach ich<br />
die erste Stunde nochmals an. Der Klient meinte, dass er sich gut aufgehoben<br />
gefühlt hätte und die Tatsache, dass wenn er über Religion hätte reden wollen, dies<br />
auch tun hätte können. Dies wäre sehr gut gewesen. Dadurch sei etwas rund<br />
geworden, etwas Fehlendes sei dazu gekommen.<br />
Wie kam es zu dieser gegenseitigen Schonung? Warum lässt man sich in religiösen<br />
Fragen in dieser auffälligen Weise in Ruhe? Das Suchen einer Antwort wäre<br />
sicherlich ein eigenständiges und spannendes Thema. Ich beschränke mich auf eine<br />
Darstellung der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit Spiritualität und Religiosität,<br />
ohne spezifisch auf ihre Wirkung im therapeutischen Setting einzugehen.<br />
Die gesellschaftliche Wertedebatte, Sinnsuche und spirituelle Selbsterfahrung hat<br />
inzwischen auch die therapeutischen Praxen erreicht. Sind aber persönliche<br />
Glaubens- und Religionskonflikte nun tatsächlich ein Thema für die Therapie?<br />
Welche Kompetenzen würde man da den Therapeuten zusprechen? Wie sind<br />
religiöse Fragen und dahinterstehend: Religion aus klinisch psychologischer Sicht zu<br />
bewerten? Der Bogen spannt sich vom Krankheitsherd, den man bekämpfen und<br />
ausmerzen sollte bis zum Heilungspotential, das entdeckt und gehoben werden soll.<br />
Von der Gottesvergiftung (Tilmann Moser) bis zur Gottestherapie finden sich<br />
entsprechende Befürwortungen in den einzelnen Therapierichtungen und bei den<br />
Therapeuten.<br />
„Auf der einen Seite stehen eine wachsende Zahl spiritueller Beratungs- und<br />
Therapiemethoden, die gezielt mit weltanschaulicher Orientierung werben. Asiatische<br />
Bewusstseinskonzepte, buddhistische Meditationstechniken sowie schamanische<br />
und esoterische Praktiken boomen. Andererseits sind Psychologen seit jeher als eine<br />
besonders religions- und ideologiekritische Berufsgruppe bekannt“ (Utsch, 2005,<br />
132).<br />
19
7. Existenzanalyse (EA)<br />
Die Existenzanalyse kann definiert werden „als eine phänomenologische, an der<br />
Person ansetzende Psychotherapie mit dem Ziel, der Person zu einem freien<br />
Erleben, zu authentischen Stellungnahmen und eigenverantwortlichen Umgang mit<br />
sich selbst und ihrer Welt zu verhelfen“ (Längle, 2000, 17). In eigenen Worten: das<br />
Ziel wäre: Der sich selbst verantwortliche Mensch, welcher mit innerer Zustimmung<br />
zu sich und zur Welt leben kann. Existenzanalytische Psychotherapie soll dazu<br />
unterstützend und helfend zur Verfügung stehen.<br />
Begründet wurde die EA von Viktor Frankl (1926 – 1933). Weiterentwickelt und zu<br />
ihrer heutigen Bedeutung gebracht von Alfried Längle, einem ehemaligen Schüler<br />
und Freund Viktor Frankls.<br />
7.1. Der Religiositätsbegriff in der Existenzanalyse<br />
Der Begründer der Existenzanalyse, die wiederum aus der Logotherapie entwickelt<br />
wurde, war der österreichische Arzt und Psychologe Viktor Frankl. Frankl beschreibt<br />
einen radikal neuen Weg. Er setzt den Sinn vor das Sein, Metaphysik vor Physik, das<br />
Unendliche vor das Endliche und steht damit in einem klaren Gegensatz zu den<br />
meisten, der damalig herrschenden, psychologischen Strömungen, welche strikt<br />
diesseitsorientiert dachten und arbeiteten. Religion kam, wenn überhaupt, höchstens<br />
als Krankheit, als zu überwindende Neurose vor.<br />
Für Viktor Frankl waren religiöse Begriffe und Sprachgebrauch nahezu<br />
selbstverständlich. Immerhin heißt eines seiner Hauptwerke „Ärztliche Seels<strong>org</strong>e“, in<br />
welchem er sich und seine Arbeit mit der des christlichen Seels<strong>org</strong>ers verglich,<br />
allerdings mit einer klaren Abgrenzung zur christlichen Seels<strong>org</strong>e. In seinen<br />
Fähigkeiten zu lieben und tiefe, physisch nicht stillbare Sehnsucht zu verspüren, ist<br />
der Mensch auf eine Macht verwiesen die seine Grenzen übersteigt. „Am Grunde<br />
unseres Seins liegt eine Sehnsucht die dermaßen unstillbar ist, dass sie gar nichts<br />
anderes meinen kann als Gott“ (Frankl 1983, 364).<br />
Frankl führte den Begriff der unbewussten Religion ein, als klare Unterscheidung von<br />
der humanistischen Psychologie, welche von einer unbewussten Triebdynamik des<br />
Menschen spricht. Für ihn ist jeder Mensch unbewusst religiös, das heißt auf einen<br />
letzten Sinn, welcher nicht im Menschen liegen kann, ausgerichtet. Diese<br />
Ausrichtung kann entweder bewusst oder unbewusst sein, gespürt wird sie in jedem<br />
20
Fall. „Ahnungslos – nichts ahnend: das Nichts ahnend – setzt der Mensch Gott<br />
voraus“ (Frankl 1983, 340).<br />
Transzendenz, Verwiesenheit auf Gott und unbewusste Religiosität waren bei Frankl<br />
Zentralbegriffe, wurden jedoch niemals in Zusammenhang mit einer der<br />
herrschenden Religionen gestellt. Der Gott Frankls ist intimer, persönlicher; in der<br />
Stille und im persönlichen Gespräch auffindbar: „Gott ist der Partner unserer<br />
intimsten Selbstgespräche. Das heißt praktisch: Wann immer wir ganz allein sind mit<br />
uns selbst, wann immer wir in letzter Einsamkeit und in letzter Ehrlichkeit<br />
Zwiesprache halten mit uns selbst, ist es legitim den Partner solcher<br />
Selbstgespräche Gott zu nennen – ungeachtet ob wir uns nun für atheistisch oder<br />
gläubig halten“ (Frankl 1983, 340).<br />
7.2. Der Spiritualitätsbegriff in der Existenzanalyse:<br />
Da es schwierig ist über Unbegreifliches in Begriffskategorien zu sprechen, wähle ich<br />
bei der Beantwortung dieser Fragestellung als erste Annäherung einen anderen<br />
Zugang. Im Mai 2011 fand in Lindau am Bodensee ein existenzanalytischer<br />
Kongress mit dem Thema: „Spiritualität und Intimität“ (Existenzanalyse, 2011) statt.<br />
Ich zitiere nun einige der Hauptreferenten mit ihren Aussagen zur Spiritualität.<br />
Insgesamt bilden diese einen bunten Strauß von Näherungen zu diesem Phänomen.<br />
Für Anton Nindl ist Spiritualität ein „achtsames Wahrnehmen und offen sein mit allen<br />
Sinnen für alles was da ist“. Den Zugang zur Spiritualität findet Nindl „in der<br />
liebevollen Zuwendung zu sich selber, im Zeitnehmen und in einem tiefen<br />
Bewusstsein“.<br />
M. von Brück meint, dass „Spiritualität ein bewusster Umgang mit dem eigenen<br />
Bewusstsein in allen Lebensbezügen“ wäre. Auch für ihn ist die Achtsamkeitsbildung<br />
und Wahrnehmungsschule essentiell für eine tiefere spirituelle Erfahrung.<br />
Alfried Längle unterstreicht die Dialogdimension der Spiritualität: „Innere Tiefe<br />
verbindet sich mit äußerer Weite. Der Mensch findet sich in größeren<br />
Zusammenhängen vor und beginnt zu verstehen“. Sehr tief und persönlich wird<br />
Längle wenn er sagt: „Spiritualität ist ein tiefes Berührt sein durch eine unermessliche<br />
Größe“ (alle Zitate aus Existenzanalyse Nr. 2/2011).<br />
21
Eine zweite Annäherung zu dieser Fragestellung ergibt sich durch den Zentralbegriff<br />
Frankls „Sinn“ und dessen Erweiterung und Ausdifferenzierung durch Längle,<br />
einmündend in die Grundmotivationen.<br />
7.3. Der Sinnbegriff der Existenzanalyse<br />
„Am Anfang war das Wort (Logos) und das Wort war bei Gott, und das Wort war<br />
Gott. Im Anfang war es bei Gott. Durch das Wort ist alles geworden, und ohne das<br />
Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das<br />
Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat<br />
es nicht ergriffen“ (Joh. 1,1-5, Bibel 1976, 2271).<br />
Mit diesem Prolog beginnt der Evangelist Johannes sein Evangelium. Durch den<br />
Logos ist alles geworden. Der Begriff „Logos“ bedeutet sowohl „Wort“ als auch<br />
„Sinn“. Wir können die Bibelstelle also auch so lesen. „Im Anfang war der Sinn, ...<br />
durch den Sinn ist alles geworden,<br />
... und der Sinn ist bei Gott und Gott ist der Sinn“. Der Sinn Gottes liegt demzufolge<br />
darin zu erschaffen, neue Welten ins Leben zu rufen sich in Liebe auszuströmen.<br />
„...Im Sinn war das Leben und das Leben ist das Licht der Menschen“<br />
Für mich bedeuten diese Texte ein wesentliches Bindeglied zu Frankl und seiner<br />
Logotherapie, zu Längle und der Existenzanalyse, zur Transpersonalen Psychologie<br />
sowie zur Fragestellung dieser Arbeit.<br />
Für Frankl war die Frage nach dem Sinn und das Streben nach Sinn wohl der<br />
zentrale Begriff und wahrscheinlich „sinnstiftend“ für die Entwicklung der<br />
Logotherapie. Seine Erkenntnisse zu dieser Frage bekam er als KZ-Häftling in<br />
verschiedenen Lagern. Aus diesem traumatisierenden Erlebnis entstand sein<br />
Weltbestseller „Trotzdem ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das KZ“ (Frankl<br />
1977). In dem, wie aus einem Guss hingeschriebenen, Aufsatz stellte er die<br />
aufregende These auf, dass die tiefste Motivation des Menschen der Wille zum Sinn<br />
sei. Damit geht er auf klare Distanz zu den beiden anderen österreichischen<br />
psychologischen Schulen. Laut Frankl machen nicht das Streben nach Lust (Eros<br />
und Thanatos), wie bei Sigmund Freud und nicht der Wille zur Macht (Überwindung<br />
der eigenen Minderwertigkeit), wie bei Viktor Adler, machen den Menschen zum<br />
Menschen, sondern der Wille zum Sinn und persönlicher Sinnerfüllung. Schon im<br />
Jahre 1946 unmittelbar nach Kriegsende schrieb er die Grundzüge seiner „Ärztlichen<br />
22
Seels<strong>org</strong>e“, in welcher er seine Sinnlehre darstellte und die Logotherapie<br />
konstituierte.<br />
Frankl erlebt den Menschen als „Einen vom Leben befragten“ (Frankl 1987, 45). In<br />
der Beantwortung dieser Fragen vollzieht sich dessen Existenz und Sinnerfüllung.<br />
Aufgespürt kann der Sinn durch das Gewissen werden, bei dessen Fehlen kommt<br />
der Mensch in eine Krise („existentielles Vakuum“).<br />
Alfried Längle setzt 1998 eine wesentliche Unterscheidung in existentiellen und<br />
ontologischen Sinn. Ontologischer Sinn wäre nur aus der Religion zu begreifen, als<br />
Sinn aller Sinne. Ein Über-Sinn der unweigerlich zu Gott führt. Längle holt den Sinn<br />
auf die Erde, in die Existenz des einzelnen Menschen und bindet ihn an seine<br />
Theorie der Grundmotivationen. Dadurch wird dieser psychologisch erfassbar und<br />
psychotherapeutisch behandelbar (vgl Längle 1998).<br />
23
8. Spiritualität in der Existenzanalyse. Zwei Zugänge:<br />
Das Verhältnis Religion / Logotherapie / Existenzanalyse ist ein sehr nahes und nicht<br />
zuletzt aus diesem Grund genießt die Gesellschaft für Logotherapie und<br />
Existenzanalyse (GLE) bei religiös aktiven Menschen hohes Ansehen. Zentralbegriffe<br />
wie Sinn, Wert, Gewissen, Transzendenz und Person haben eine eindeutiges<br />
Naheverhältnis zur Religion. Daher sind diese Begriffe von den Religionen<br />
abzugrenzen und neu zu definieren, damit auch religiös desinteressierte Menschen<br />
den Zugang zu dieser Richtung nicht verlieren und vor allem der wissenschaftliche<br />
Anspruch gewahrt bleibt.<br />
Frankl versuchte dies, indem er vom Therapeuten als ärztlichen Seels<strong>org</strong>er sprach,<br />
dessen Aufgabe in der seelischen Heilung seines Patienten bestünde. Aufgabe des<br />
priesterlichen Seels<strong>org</strong>ers wäre es, sich um das „Seelenheil“ der Gläubigen zu<br />
kümmern (vgl Frankl 1994, 61-65). Ganz gelingt diese Abgrenzung nicht, da natürlich<br />
zwischen „heilen“ und „Heilung“ ein enger Zusammenhang besteht, es geht vielmehr<br />
um das Verhältnis Prozess und Lösung. Wie kann sich der Priester um das gesamte<br />
„Heil“ des Menschen auf einmal kümmern, ohne dabei einzelne Schritte des<br />
„Heilens“ zu setzen? Umgekehrt klingt die Unterscheidung Frankls so, als ob die<br />
Logotherapie im Dienste der Theologie stünde und der Therapeut ein Helfer des<br />
Priesters wäre. Dies wird von ihm auch bestätigt, wenn er meint: „dass die Religion<br />
auf einer höheren Seinsebene steht als die Therapie“ (Frankl 1994, 61), oder: „liegt<br />
doch der Endpunkt des existenzanalytischen Weges genau auf der Linie zum<br />
Religiösen“ (Frankl 1991, 75). Wenn auch die Unterscheidung Frankls zu kurz greift,<br />
ist diese dennoch ein wichtiger Versuch sich von den Religionen abzugrenzen und<br />
nicht aus der Logotherapie eine „neue Religion“ zu bilden.<br />
Alfried Längle geht in der EA einen klareren Weg. In seiner Tätigkeit als Gründer der<br />
GLE, Lehrtherapeut und Autor finden sich so gut wie keine Aussagen über Gott oder<br />
die Religion. Wahrscheinlich hat er damit einige religiös motivierte Erwartungen<br />
seiner Leserschaft enttäuscht. Ein wesentliches Anliegen liegt für ihn auf eine<br />
eindeutige Ausrichtung auf wissenschaftlich fundierte Psychotherapie. Wie in Kapitel<br />
7.3. beschrieben differenziert Längle „Sinn“ sowohl auf existentielle als auch auf<br />
ontologische Weise. Er führt damit die von Frankl begonnene Abgrenzung weiter fort,<br />
indem er einerseits die Therapie und Beratung der existentiellen Seinsebene und<br />
andererseits die Religion der ontologischen Seinsebene zuordnet. Damit wird die<br />
Situation klarer, dennoch ergeben sich neue Fragen. Gerade am Beispiel der<br />
24
Ontologie kann gezeigt werden, dass diese sich nicht eindeutig von der Existenz des<br />
Menschen abgrenzen lässt. In wesentlichen Fragen wie Freude, Sinn und Leid reicht<br />
die Frage nach dem „letzten Seinsgrund“ des Menschen tief in die Mitte der Person<br />
hinein. Es gibt innerhalb der GLE auch eine lebendige Auseinandersetzung zum<br />
Verhältnis Religion und EA. Als Beispiel nenne ich den erfrischenden Diskurs<br />
zwischen Werner Eichinger und Alfried Längle zu dieser Frage. Nachzulesen in:<br />
(Eichinger 2011, 92-99). Es werden wohl noch weitere Stellungnahmen zu dieser<br />
hochkomplexen Fragestellung folgen, bei der schon der Versuch einer Antwortfindung<br />
Dispute auslöst.<br />
Ich lasse mich bei meiner Spurensuche nicht weiter auf diesen Diskurs ein, sondern<br />
die werde die existenzanalytische Logotherapie selbst für sich sprechen lassen.<br />
Spirituelle Inhalte sind in vielen Begriffen der EA / LT implizit enthalten. Ich denke<br />
dabei beispielsweise an die Spiritualität des existenzanalytischen Personbegriffes,<br />
des Wertes oder der Noodynamik. Es würde den Umfang dieser Arbeit überschreiten<br />
allen Spuren nachzugehen. Daher beschränke ich mich auf zwei Zentralbegriffe der<br />
EA: die Phänomenologie und die existenzanalytischen Grundmotivationen.<br />
8.1. Die phänomenologische Haltung (p.H.)<br />
Darunter wird die eigentliche Haltung des existenzanalytischen Psychotherapeuten<br />
verstanden, welche in einer größtmöglichen Offenheit zum Patienten hin besteht, ihn<br />
in seiner Eigenart wahr-nimmt, sich von diesen berühren lässt und sich gleichzeitig<br />
von dieser Betroffenheit distanziert. „Es gilt also, die Bedeutung dessen, was ein<br />
Patient artikuliert, aus einer Perspektive innerhalb des Bezugrahmens des Patienten<br />
zu verstehen. Dies heißt Suspension des Urteils (Epoche´) über eine vermeintlich<br />
objektive Realität. Die einzige Realität, die phänomenalen Charakter aufweist, ist die<br />
subjektive Realität des Patienten und des Therapeuten; es ist die intersubjektive<br />
Realität des interpersonalen Feldes, aus dem Realität konstituiert wird “<br />
(Längle 2000, 35).<br />
Die p.H. ist die angewandte Praxis der „Philosophie der Phänomenologie“, welche<br />
von E. Husserl (1859 – 1938) gegründet wurde. Damit wurde eine grundlegende<br />
Erneuerung der damaligen Philosophie eingeleitet.<br />
Bekannt ist Husserls Ausspruch „Zu den Sachen selber“. Was sind nun Husserls<br />
Sachen? Es geht ihm um eine neue Herangehensweise an das „Wesen der Dinge“<br />
ohne diese mit schon Gewusstem oder mit Vorerfahrungen vorschnell zu<br />
25
interpretieren und sie dadurch zu zerstören. Die „Sachen“ sind die Phänomene<br />
selber, die sich uns vollkommen wertfrei zeigen. Es soll nicht gedeutet und erklärt,<br />
sondern das dargestellt werden, was sich „von sich her“ zeigt. Als Darstellungsmedium<br />
gelten nicht Vorerfahrungen, Interpretationen oder Theorien sondern<br />
lediglich das offene Bewusstsein im Hier und Jetzt (vgl. Husserl, 74-76).<br />
Aus der Phänomenologie entwickelte sich die phänomenologische Methode an der<br />
unter anderem auch M. Heidegger und M. Scheler mitarbeiteten. Mittels eines Dreischrittes<br />
(phänomenologische Reduktion, Destruktion, Konstruktion) soll es möglich<br />
sein das Wesen einer Sache, eines Problems oder einer Situation klarzulegen. Die<br />
Haltung des Schauenden ist trotz der wissenschaftlich anmutenden Methodologie ein<br />
„geistiges Schauen“, welche nur schwer zu beschreiben ist. Husserl lädt zu einer<br />
Schulung der Wahrnehmung ein.<br />
Hier finde ich nun den Bezug zur EA/LT welche die p.H. nicht nur anwendet sondern<br />
auch weiterentwickelt. Aus der Konstruktion wird die Deskription, die<br />
phänomenologische Analyse und die innere Stellungnahme. Die p.H. der EA ist eine<br />
konkrete Anwendung dieser Philosophie, dadurch hat sie eine spirituelle Qualität.<br />
„Der Mensch ist als geistiges Wesen (als Person) in seinem Lebensvollzug im<br />
Austausch mit der Welt auf ein geistiges Erfassen der Gegebenheiten angewiesen,<br />
um mit ihnen seinen eigenen (geistigen) Wesen gemäß umgehen zu können. Seine<br />
grundsätzliche Bezogenheit (auf Andersheit und auf sich selbst) kann als ´spirituelle<br />
Anlage` des Menschen angesehen werden. Diese ´existentielle` Geistigkeit besteht<br />
im Durchdringen der Gegebenheiten der Existenz auf ihren Grund, auf das was die<br />
´Gegebenheiten` geben. Das hat eine Art ´phänomenologische Offenheit` und ein<br />
Sich-berühren-Lassen zur Voraussetzung um zu dieser ´Logoshaftigkeit` des<br />
Gegebenen vordringen zu können“ (Längle 2001,201).<br />
8.2. Spiritualität in den Grundmotivationen.<br />
Im Folgenden weise ich darauf hin, dass die Grundmotivationen selbst mit denen in<br />
der Therapie gearbeitet wird, in sich eine spirituelle Qualität haben. Eine Qualität<br />
welche die Grenzen der eigenen Person übersteigt, die allem Sein, auch dem<br />
ontologischen Sein, zu Grunde liegt. Hier sehe ich auch die Brücke zwischen<br />
persönlicher Existenz und ontologischem Sein bzw. Sinn. Durch die Verwobenheit<br />
zwischen Dasein, Wertsein, Sosein und „für etwas Sein“ (= 4 Achsen der<br />
26
Grundmotivationen) erlebt der Mensch sich selbst in seinen Lebensvollzügen.<br />
Gleichzeitig erreicht ihn wie von außen Orientierung, Kraft, Kreativität und Vitalität.<br />
Besonderen Bezug nehme ich auf die Ausführungen von A. Längle: Zum Verhältnis<br />
von Immanenz und Transzendenz am Beispiel der Existenzanalyse, 2001;<br />
Spiritualität in der Psychotherapie, 2005; Zur inhärenten Spiritualität der Existenzanalyse,<br />
2011.<br />
8.2.1. Der Begriff „Grundmotivation“ (GM) in der Existenzanalyse<br />
Bei den Grundmotivationen handelt es sich um ein zentrales Thema der EA. Für<br />
Frankl bedeutete der Wille zum Sinn die erste und tiefste Motivationsstruktur des<br />
Menschen. Diese Theorie wurde von Längle erweitert und durch drei zusätzliche<br />
Motivationsstrukturen, welche dem Willen zum Sinn zugrunde liegen und ihn dadurch<br />
erst bedingen, ergänzt. Im Jahre 1993 spricht Längle erstmals von den vier personalexistentiellen<br />
Grundmotivationen (vgl Längle 1999).<br />
Es geht bei den GM um die Bedingungen erfüllter Existenz. Was soll vorhanden sein<br />
damit der Mensch gut leben kann?<br />
1. GM: In der Welt sein können. Dasein.<br />
Der Schwerpunkt wird hier auf das „Können“ gelegt: Ich bin in diese Welt gestellt.<br />
Kann ich so sein, so leben wie ich bin? Um gut „Sein“ zu können braucht es Halt,<br />
Schutz und Raum in dieser Welt. Die Fähigkeiten, die es dazu braucht wären<br />
Annahme, Mut, Loslassen können und etwas Aushalten können. Als Voraussetzung<br />
braucht es ein stabiles Grundvertrauen. Gemeint ist damit die Annahme, dass die<br />
Welt, so wie sich mir zeigt, es prinzipiell gut mit mir meint und ich mich ihr<br />
gegebenenfalls auch überlassen kann. Dieses Vertrauen in die Welt setzt zumindest<br />
die Ahnung eines Seinsgrundes voraus. Gemeint wäre damit eine<br />
bewusste/unbewusste Sicherheit, dass es etwas gibt was mich hält, auch wenn mich<br />
nichts mehr hält. Dass ich auf etwas verlassen kann, auch wenn ich mich auf nichts<br />
mehr verlassen kann. Ein schwaches, instabiles Grundvertrauen würde demzufolge<br />
Probleme mit der 1. GM des Menschen nach sich ziehen. Als Folge zeigen sich<br />
Unsicherheit, Unruhe, Verschlossenheit und Ängstlichkeit bis hin zur Grundangst.<br />
27
2. GM: Das Leben mögen. Wert-Sein.<br />
Ich lebe, mag ich dieses Leben, mit all seinen Höhen und Tiefen, mit meinen<br />
Beziehungen, mit meiner Zeit die für mich verstreicht? Lasse ich mich berühren,<br />
anrühren, habe ich Lust auf mein Leben und kann dieses entsprechend genießen?<br />
Dazu bräuchte es eine Zuwendung zu Werten, eine Wertefühligkeit die es mir<br />
gestattet mit anderen mitzufühlen, zu trauern, sich zu freuen, zu genießen und<br />
Dankbarkeit für das Geschenk „Leben“ zu empfinden. Der Wertefühligkeit zugrunde<br />
liegt der Grundwert. Längle versteht darunter: „das Gefühl für die eigene<br />
Leiblichkeit, die psychisch-vitale Verfassung, des sich Fühlens in der Welt und den<br />
dazu bezogenen Stellungnahmen“ (Längle 2000, 24). Bei einem stabilen Grundwert<br />
fühlt sich der Mensch gut in seinem Dasein, kann ein authentisches „Ja“ zu seinem<br />
Leben formulieren. Ein gering ausgeprägter Grundwert hat auch Auswirkungen auf<br />
die darauf aufbauende 2. GM. Wenn der Mensch nicht gut ins „Fühlen“ kommen<br />
kann wird er niedergeschlagen, ängstlich, seiner Vitalität verlustig, depressiv.<br />
3. GM: Darf ich leben? So-Sein.<br />
Ich bin – darf ich so sein, so leben? Es geht um: Ansehen und gesehen werden,<br />
Begegnung, sich selbst und andere wertschätzen, Respekt. Grenzen spüren und<br />
verteidigen, sich vor Grenzüberschreitungen schützen, seine eigenen Fehler sehen,<br />
bereuen, verzeihen, Person-werden und Person-sein, authentisch sein.<br />
Voraussetzung für all diese Haltungen wäre ein stabiler Selbstwert. Gemeint ist der<br />
Wert, den sich der Mensch selbst zumisst - auf der Basis einer authentischen<br />
Selbsteinschätzung und kontrolliert durch die Einschätzung von außen. Ein stimmiger<br />
Zugang zu den eigenen Fähigkeiten, Erfahrungen und Emotionen. Das Eigene kann<br />
vom Anderen in zustimmender Weise abgegrenzt werden. Ein instabiler oder<br />
niedriger Selbstwert führt zu Einsamkeit, erhöhter Kränkbarkeit, Sozialängsten („wie<br />
werden mich die anderen sehen?“) oder Abgrenzungsproblemen.<br />
4. GM: Soll ich so leben? Sinn.<br />
Der Mensch erlebt sich in seiner Existenz und will dieser eine Richtung geben.<br />
„Wofür ist mein Leben gut? Wo soll es hingehen?“ Sinnzusammenhänge werden<br />
gewollt und gesucht. Es geht sowohl um den existentiellen (die einzelne Person<br />
betreffend) als auch den ontologischen (die Ganzheit betreffend) Sinn. Im Erleben<br />
von Sinnzusammenhängen wird der Mensch offen für Grenzüberschreitungen - wird<br />
28
er transzendenzfähig. Sinnvolles Leben ist gestaltetes, aktives Leben. Bei<br />
Sinnverlust wird das Leben langweilig, Interessen gehen verloren, Apathie und Angst<br />
vor der Sinnlosigkeit (existentielles Vakuum) bedrohen den Menschen.<br />
8.2.2. Die Spiritualität der Grundmotivationen<br />
8.2.2.1. Die Spiritualität des Könnens und des Vertrauens (1. GM)<br />
Hier geht es um das Ursprünglichste der menschlichen Existenz: das Da-Sein, das<br />
In-der-Welt-sein-können. Ich bin, ich bin da, ich bin der, der ich bin. Mit diesem<br />
Namen stellte sich der Gott des alten Testamentes das erste Mal persönlich vor.<br />
Gleichzeitig meint der Name Gottes uns mit. Durch das Da-Sein sind wir Gott<br />
ähnlich, nach seinem Bilde geschaffen. Wir entspringen demselben Seinsgrund,<br />
werden wie Dietrich Bonhoeffer sagt „von guten Mächten wunderbar geb<strong>org</strong>en“ und<br />
können dadurch „getrost erwarten was kommen mag“ (Bonhoeffer 1986, 211).<br />
Wohin uns unser Sein führt, in ein Aufgehoben-Sein bei Gott oder in den Endgültigen<br />
Tod, ist nicht das Wesentliche. Wesentlich vielmehr ist die Sicherheit in dem<br />
Aufgehoben-Sein, der Seinsgrund. Wann immer wir von diesem Seinsgrund berührt<br />
werden oder ihn berühren sind wir gleichzeitig auch spirituell mitberührt, sind wir<br />
präsent.<br />
Der Seinsgrund stellt sich nicht einfach von selbst zum Menschen dazu, er will<br />
ergriffen / besiedelt werden. Dazu braucht es Offenheit und die persönliche<br />
Einwilligung des Menschen. Die Voraussetzung dieser Einwilligung wäre Vertrauen<br />
und Grundvertrauen. Vertrauen als Haltung, dass wir uns dem Sein zugehörig fühlen<br />
und Teil davon sind, wie Fische im Meer oder Blumen auf einem Feld. Es ist da<br />
immer etwas, es kann nicht „Nichts“ sein. Ob man dieses „Etwas“ dann Seinsgrund,<br />
die Hand Gottes aus der wir nicht fallen können oder universelle Kraft nennt, bleibt<br />
der individuellen Weltanschauung überlassen. Diese Gewissheit bringt Gelassenheit,<br />
weitet den Raum, hält den Menschen und schützt ihn vor Angst und<br />
Hoffnungslosigkeit. All diese Haltungen: im Sein leben zu können - vertrauen zu<br />
können - in Gewissheiten leben können setzen jeweils ein Können voraus. Es<br />
braucht Mut sich fallen zu lassen, eine große Treue zu sich selbst, die Hoffnung auf<br />
dem richtigen Weg zu sein und einen überzeugten Glauben.<br />
29
In der 1. GM findet ein Tanz zwischen Können und Fallen lassen, ganz bei sich sein<br />
und sich anderem überlassen, halten und loslassen in einer jeweils persönlich<br />
einzigartigen Weise statt.<br />
8.2.2.2. Die Spiritualität des Mögens und der Werte (2. GM)<br />
Wenn wir gut in der Welt sein können, mit der Welt können und in dieser Halt, Schutz<br />
und Raum erfahren, stellt sich das Leben dazu. Ein gutes, gewolltes, besiedeltes<br />
Leben, voll von glücklichen und unglücklichen Momenten, manchmal traurig,<br />
manchmal fröhlich, aber immer wesentlich, tief und innig erlebt. Unser Leben wird<br />
fühlend erlebt, je näher wir unserem Fühlen sind, desto intensiver leben wir unser<br />
Leben, welches so ganz unser eigenes ist und doch auf seltsame, niemals ganz<br />
erklärbare Weise von außen gegeben und geschenkt ist. Was ist nun wiederum<br />
dieses „Außen“?<br />
Ist es der Geist, der weht wo er will und dem wir uns öffnen können oder auch nicht?<br />
Ist es universelle Energie, Schöpferkraft, die aus und in uns wirkt? Ist es ein<br />
biologisch-evolutionäres Grundgesetz, welches nun endlich in uns lebt? Oder ist es<br />
etwas frühkindlich abgespaltenes, nun endlich Wiedererkanntes und in unser<br />
Personsein integriertes?<br />
Es gibt verschiedene Wege sich seinem Leben zu nähern, dieses wirken zu lassen.<br />
Neben dem schon erwähnten Fühlen ist es das Mögen wie Längle in der 2. GM<br />
darlegt. Eine mögliche phänomenologische Näherung an das eigene Leben könnte<br />
so aussehen:<br />
Ich lebe – ja sicher – aber mag ich mein Leben auch? Mag ich das was ich tue, was<br />
ich kann, wie ich aussehe? Wie geht es mir mit mir und meinem Leben? Wo, wann<br />
und wie spüre ich dieses? Mag ich auch mein ´Nicht-Mögen`? Wie geht es mir wenn<br />
ich traurig, wütend, allein bin? Wie geht es mir mit dem anderen, der Natur, den<br />
Menschen, wie nahe bin ich diesen? Wie wichtig und wertvoll ist es mir „In Beziehung<br />
zu sein“?<br />
David Steindl-Rast, ein katholischer Mönch und Mystiker beschreibt in seinem Buch<br />
„Achtsamkeit des Herzens“ die Haltung der Dankbarkeit als einen der wesentlichsten<br />
Wege zu einer tieferen Beziehung zu sich selbst, seinen Mitmenschen zu Gott und<br />
schließlich zur gänzlichen Vereinigung mit dem Sein (Steindl-Rast 2005, 16).<br />
30
Eine ähnliche Spur, hin zu lebendigeren Beziehungen, sehe ich in der Haltung des<br />
Mögens. Es wäre Thema einer eigenen Arbeit der Frage nachzugehen inwieweit<br />
diese Haltung des Mögens ein eventueller spiritueller Zugang zu einer intensiveren<br />
Gotteserfahrung sein könnte.<br />
Gutes Leben ist immer auch wertvolles Leben. Gemeint sind nicht nur allgemein<br />
ethische Werte, sondern die Erfahrung, dass das Leben an sich ein Wert ist und Wert<br />
hat. Diese Werterfahrung bekommen wir aus unserem eigenen Leben mit allen<br />
Höhen und Tiefen aber auch aus dem Leben der anderen, durch beobachtende,<br />
mitfühlende Anteilnahme. Allen Werten zugrunde liegt der Wert aus dem alle Werte<br />
gründen, der Grundwert. „Ähnlich wie die Tiefe des Seins uns zum Seinsgrund<br />
geführt hat sind wir hier am Grundwert angekommen am grundlegenden Wert,<br />
welcher sich in allen Werterfahrungen widerspiegelt. In der Erfahrung des Wertes<br />
des Lebens erfahren wir wieder etwas, was uns übersteigt, erfahren wir, dass dieser<br />
Wert nicht von uns abhängt und nicht von uns gemacht ist, sondern uns zukommt<br />
(Längle 2001, 195).<br />
Die Erfahrung des Grundwertes ist immer eine Erfahrung, die über den Menschen<br />
hinausweist und demzufolge nicht zur Gänze bewusst erlebt werden kann. Es ist die<br />
Erfahrung, dass mein Leben zwar mein Leben ist, aber trotzdem über mich<br />
hinausweist - größer ist als ich.<br />
8.2.2.3. Die Spiritualität des Dürfens und des Soseins (3. GM)<br />
Gut in der Welt zu sein, sein Leben zu leben ist eine wichtige Bedingung erfüllter<br />
Existenz. Runder und voller wird Leben durch das Erleben der Differenz, des<br />
Unterschiedes. „Person sein“ meint: in sich frei zu sein, verschiedene Handlungsmöglichkeiten<br />
zu haben, wählen zu können, einzigartig zu sein. Es ist genau diese<br />
Einzigartigkeit die den Menschen von allen anderen unterscheidet, abgrenzt, ihn<br />
einerseits zu etwas besonderen macht, gesellschaftszugewandt sein lässt und ihn<br />
andererseits allein, vielleicht sogar einsam sein lässt. Wir leben sowohl aus unserem<br />
„Ich“, gemeint ist in diesem Zusammenhang unsere innerste Intimität als auch durch<br />
das „Du“, stellvertretend für die anderen, durch welche wir unser „Ich“ erst<br />
reflektierend erfahren.<br />
Leben ist immer auch bezogenes Leben, ist Leben in Auseinandersetzung, mit sich,<br />
seinen Mitmenschen, der Natur. Wir können nicht ohne diese Beziehungen sein. Aus<br />
31
dieser Bezogenheit stellen sich wesentliche Fragen durch deren Beantwortung wir<br />
unser Personsein entfalten und immer wieder überprüfen:<br />
Ich bin; was ist dieses „Ich“ und was ist dieses „Sein“? Ist die Art und Weise wie ich<br />
bin gut für mich, für andere? Darf ich überhaupt so sein wie ich bin, oder soll ich ein<br />
anderer werden? Wer bestimmt „dürfen“?<br />
Die konstruktive Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann uns heben, unseren<br />
Selbstwert stärken, zu unserer Selbstfindung beitragen, ein stabiles ethischmoralisches<br />
Gebäude errichten, in welchem es sich gut leben lässt. Fremdbeachtung<br />
und Wertschätzung sind wesentliche Säulen auf denen unser Lebensgebäude<br />
aufruhen kann.<br />
Sich selbst als einzigartig, als wertvoll erleben macht die Würde des Menschen aus,<br />
seine innere Freiheit.<br />
8.2.2.4. Die Spiritualität des Sollens und des Sinnes (4. GM)<br />
Sein Leben als einzigartig und wertvoll zu erleben impliziert geradezu die Fragen<br />
worum es in diesem Leben gehen und wofür es gelebt werden soll. Damit sind wir<br />
beim Herzstück der Logotherapie und der existenzanalytischen Psychotherapie: Der<br />
Frage nach dem Sinn des Lebens. Das Streben des Menschen nach Sinn ist nach<br />
Frankl „Ausdruck des Menschseins schlechthin“, dadurch unterscheidet er sich von<br />
allen anderen Lebewesen, kann sich selbst in Frage stellen, seine Existenz<br />
transzendieren und auf etwas Höheres ausgerichtet sein (Frankl 1987, 56f). Der<br />
wesentliche Moment im Sinnverständnis Frankls wäre die „existentielle Wende“,<br />
jener Moment in welchem der Mensch auf die Fragen, welche das Leben an ihn<br />
stellt, antwortet. In der Beantwortung eben dieser Fragen erfüllt sich sein individueller<br />
„Sinn des Lebens“.<br />
Sinnvolles Leben und Handeln trägt in sich zwar schon einen möglichen Keim zur<br />
Spiritualität, ist aber noch nicht spirituelles Leben und Handeln. Wachsen kann dieser<br />
Keim in dem Maße in welchem der Mensch in seinen Tätigkeiten aufgeht, mit seinem<br />
Handeln eins wird und sein Selbst zu vergessen beginnt. Diese<br />
„Selbstvergessenheit“ wäre nach Frankl dann auch die höchste Möglichkeit der<br />
Selbst-Transzendenz, in welcher der Mensch sich gleichzeitig finden wie verlieren<br />
kann (Frankl 1983, 66).<br />
Eine weitere Steigerung des spirituellen Lebens können Menschen verspüren wenn<br />
sie künstlerisch tätig sind. „Wenn es mit mir malt, aus mir musiziert, durch mich<br />
32
hindurch schreibt, wenn man so die Kontrolle und das Steuern aufgegeben hat, da<br />
geschieht etwas mit uns, das uns ´zukommt`, das wir nicht selbst machen, das uns<br />
geschenkt wird. Es enthält die Elemente der vier GM: das Sich-Wundern und<br />
Staunen, das dankbare Gefühl für den Wert des Lebens, das Aufbrechen des in-mir-<br />
Sprechens/Spürens und das Gefühl des Eins-Seins mit einer Sinnhaftigkeit des<br />
Ganzen“ (Längle 2011, 28).<br />
Eine höchste Steigerung spirituellen Wachsens wären intensive Glaubenserlebnisse<br />
wie religiöse Ekstase, Erleuchtung, Verschmelzung oder mystische Versenkung.<br />
Jede Form also in welcher vor allem gläubige Menschen sich von der Gottheit<br />
berühren lassen und diese ihrerseits berühren.<br />
33
9. Resümee<br />
In der Einleitung stellte ich die Fragen, inwieweit die Existenzanalyse und<br />
Logotherapie die Tiefendimension des Menschen berührt und welchen Platz die<br />
Spiritualität in dieser Psychotherapierichtung innehat.<br />
Von ihrer Ausrichtung her ist eindeutig zu sagen, dass die EA/LT den Menschen als<br />
geistiges Wesen, das heißt seine Natur und die Materie übersteigend, sieht.<br />
Geistigkeit wird klar von „religiöser Geistigkeit“ (ich meine damit das Beseeltsein<br />
durch den Heiligen Geist) unterschieden. Insofern holt die EA/LT den Geist in die<br />
Existenzvollzüge des Menschen zurück, bezieht sich ausdrücklich auf dieses<br />
Potential und will zu dieser Energie auch vordringen bzw. sie wecken. Diese Haltung<br />
beinhaltet eine klare spirituelle Qualität.<br />
Weitere Spiritualitätskeime wären im Personbegriff und in der phänomenologischen<br />
Haltung der EA/LT zu finden. Über den Begriff „Person“ habe ich wenig geschrieben,<br />
daher fasse ich kurz ihre wesentlichen Bedingungen zusammen: Für Frankl ist die<br />
Person „das Freie im Menschen“, jene Haltung die diesen zur Selbstdistanzierung<br />
und zur inneren Freiheit führt. Als Dialogmöglichkeiten nennt er die Intuition und das<br />
Gewissen (Frankl 1990, 226).<br />
„Eine Erweiterung und Akzentverschiebung erfuhr das Person-Konzept durch A.<br />
Längle der vom Verständnis der Person als ´dem in mir Sprechenden` ausgeht, zu<br />
dessen Wesensbestimmungen der Dialog gehört“ (Längle 2000, 30). Kraft seiner<br />
Person kann der Mensch sich selbst gegenübertreten, sein Selbst transzendieren<br />
und auf seine innere Stimme hören.<br />
Die Person ist natürlich auch auf die Außenwelt ausgerichtet und lebt so in einer<br />
doppelten Bezogenheit. Diese Offenheit der Person, nach Innen wie nach Außen<br />
wäre demzufolge die Berührungsebene der Spiritualität, welche in der EA als<br />
„erlebende, geistige Offenheit für eine den Menschen in allen vier Grundbezügen<br />
übersteigende Größe oder tragende Schicht, die er als Ursprünglichkeit für das<br />
eigene Personsein und für die eigene Existenz empfinden kann und in der er seine<br />
letzte Geb<strong>org</strong>enheit spürt“ (Längle 2001, 201), verstanden wird.<br />
Ein weiterer spiritueller Aspekt in der EA/LT sind die Grundmotivationen, von denen<br />
jede einzelne als direkter spiritueller Weg zur eigenen Personmitte verstanden<br />
werden könnte (Spiritualität des Könnens, des Mögens, des Dürfens und des<br />
Vertrauens).<br />
34
Als wesentlicher Zugang zu einem spirituellen Verständnis des Seins wäre die<br />
„phänomenologische Haltung“ des Existenzanalytikers zu nennen. Wahr ist das was<br />
ich wahrnehme und nicht was ich mir zu einer Sache, Person denke oder<br />
interpretiere. In der konsequenten Anwendung dieser Haltung kann die EA/LT viel<br />
zur Erfassung und Erkenntnis der Wirklichkeit einer Sache, Person beitragen und so<br />
konkrete Hilfestellungen gewähren die durchaus auch auf einem spirituellen Boden<br />
stehen.<br />
Zusammenfassend auf die in der Einleitung gestellten Frage: „Gibt es in der EA/LT<br />
so etwas wie eine spirituelle Tiefendimension?“, lautet die Antwort eindeutig „ja“ und<br />
auf die Frage wo den diese aufzufinden sei wären die Geistigkeit des Menschen,<br />
seine Transzendenzfähigkeit, der Person-Begriff, die phänomenologische Haltung<br />
und die Grundmotivationen zu nennen.<br />
35
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