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Ausgabe lesen - Rheinkiesel

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Erzählung<br />

Heiliger mit<br />

Handicap<br />

Stimmt es, daß in der Heiligen Nacht die Tiere sprechen können?<br />

Wer kann das schon so genau wissen. Aber manchmal<br />

treffen sich in diesen besonderen Stunden ganz zufällig<br />

Menschen, die sonst nicht ins Gespräch gekommen wären.<br />

Begegnungen am Heiligen Abend.<br />

Allmählich kroch die Kälte tief in<br />

seine Knochen. Ursprünglich hatte<br />

er vorgehabt, bis zum Ende der<br />

Christmette auszuharren. Jetzt war<br />

er sich nicht mehr so sicher. Schon<br />

den ganzen Tag hatte sich der<br />

Drachenfels in dichte Nebel -<br />

wolken gehüllt. Offenbar regnet es<br />

hier ständig. Auf der anderen Seite<br />

war er froh, nicht in Dresden zu<br />

sein. Dort war es im Dezember so<br />

kalt und windig, daß es einem<br />

schier ins Gesicht schnitt und ihm<br />

die Finger fast abfroren. Doch mit<br />

Handschuhen kam er einfach<br />

nicht zurecht.<br />

Plötzlich bemerkte er einen Schat -<br />

ten in der Nähe. Instinktiv spannte<br />

er sich an. Eine zierliche Gestalt<br />

trat näher. Eine blonde junge Frau,<br />

höchstens Ende zwanzig. Eine<br />

Sträh ne an ihrer Stirn schimmerte<br />

pink. Sie hockte sich vor ihn auf<br />

die Stufen. Mit einer gekonnt lässigen<br />

Bewegung zog sie ein Päck -<br />

chen Zigaretten aus der Jacken -<br />

tasche. Als ihr Feuerzeug aufflammte,<br />

blitzte kurz ihr Nasen -<br />

ring auf. Die junge Frau sog den<br />

Rauch tief ein und ließ die nikotingeschwängerte<br />

Luft dann mit<br />

einem tiefen Seufzen entweichen.<br />

„Na?“, fragte sie. Angesichts ihres<br />

enorm kurzen Rocks war er sich<br />

zuerst nicht ganz sicher, wie sie das<br />

meinte. Sie starrte auf seine Beine,<br />

beziehungsweise das, was davon<br />

übrig war. „Warst Du im Krieg<br />

oder was?“ Er zwang sich zu einem<br />

Lächeln. „Ne. Knochenkrebs.“ Sie<br />

fluchte und machte Anstalten, die<br />

Zigarette auszutreten. „Ach, laß<br />

nur“, beruhigte er sie. „Ist schon<br />

okay.“ „Echt? Ich meine, das ist ja<br />

so, als wenn ich vor meiner<br />

zuckerkranken Oma ein Stück<br />

Torte verputze, oder?“ „Mir egal.<br />

Ehrlich. Meine Beine bringt es<br />

nicht zurück. Aber gesünder wär’s<br />

schon.“<br />

Herbergssuche 2013<br />

Sie seufzte erneut. Ließ ihre Ziga -<br />

rette durch einen gierigen Zug wieder<br />

aufglimmen. In ihrer Strumpf -<br />

hose zählte er drei Laufmaschen.<br />

Offensichtlich war sie an den<br />

Beinen tätowiert. „Wie weit sind<br />

die denn?“, wollte sie wissen.<br />

„Psst!“ Beide schwiegen für einen<br />

Moment. Drinnen ertönte festliche<br />

Orgelmusik und Gesang. „Beim<br />

Credo. Dauert noch“, gab er zu -<br />

rück. „Wieso bist Du nicht drinnen?“,<br />

fragte sie. Er zwang sich zu<br />

einem Lächeln und zeigte auf seinen<br />

Rollstuhl. Sie schlug sich mit<br />

der flachen Hand vor den Kopf.<br />

„Klar, die Stufen. Konnte Dir keiner<br />

helfen? Soll ich’s mal versuchen?“<br />

„Ich bitte nicht gern um<br />

Hilfe. Von wegen, ich falle zur Last<br />

und so. Und ich bin zum ersten<br />

Mal hier. Ich wußte nicht, daß<br />

hier so viele Stufen sind“, ließ er<br />

sie wissen. „Das kenn ich. Ich bitte<br />

auch nicht gern um Hilfe. Mit<br />

Kinderwagen in der Stadt, das war<br />

die Hölle. Hab’s aber gelernt. Um<br />

meine Tochter durchzubringen“,<br />

berichtete sie. „Ich bin sogar zum<br />

Amt gegangen und hab Stütze be -<br />

antragt. Dabei behandeln die einen<br />

da wie den letzten Dreck, wenn du<br />

allein bist und ein Kind hast.“<br />

Er nickte. „Das kenn ich. Wenn<br />

ich mit meinem Kumpel durch<br />

die Stadt fahre und einem Ver -<br />

käufer etwas frage, antwortet der<br />

in aller Regel nicht mir, sondern<br />

meiner Begleitung.“ „Aber Du bist<br />

doch nicht im Kopf behindert!“,<br />

empörte sie sich. „Selbst wenn.<br />

Auch die haben Rechte, weißt Du.“<br />

Sie seufzte. „Die hab ich auch. Auf<br />

dem Papier. Unsere Nachbarn<br />

haben neulich die Polizei bei uns<br />

vorbeischickt. Nur weil jemand<br />

ihnen ein Rad geklaut hat. Und<br />

die haben gleich meine Tochter<br />

verdächtigt. So was passiert uns<br />

ständig“, seufzte sie und drückte<br />

die Zigarette sorgfältig aus. Sie<br />

ging ein paar Schritte zum Gully,<br />

wo sie die Reste entsorgte. Dann<br />

kehrte sie zurück. „Mein Ver mieter<br />

hat mich vor die Tür ge setzt, als<br />

ich operiert worden bin. Ich hatte<br />

darum gebeten, eine Rampe einbauen<br />

zu lassen“, be richtete er.<br />

„Plötzlich hatte er Eigen bedarf.<br />

Ich kam aus der Reha und konnte<br />

meine gepackten Koffer bei der<br />

Hausverwaltung abholen.“ „Voll<br />

krass!“ staunte sie. „Und Deine<br />

Möbel?“ „Gepfändet“, gab er zu -<br />

rück. „Ich habe 14 Monate in verschiedenen<br />

Krankenhäusern verbracht.“<br />

„Ich hatte auch nur einen<br />

Koffer, als ich mit Mandy abgehauen<br />

bin. Komisch, nicht wahr?<br />

Wenn’s drauf ankommt, braucht<br />

man nicht viel.“ „Warum bist Du<br />

weg?“, erkundigte er sich. „Das<br />

Schwein hat mich betrogen, mit<br />

so einer reichen Ziege“, schnaubte<br />

sie. „Ich bin mit Mandy ins<br />

Frauen haus. Die war damals vier<br />

Monate alt. Mittlerweile hat er<br />

schon die dritte Neue. Der tauscht<br />

seine Weiber einfach aus. Aber er<br />

rennt jeden Sonntag in die Kirche.<br />

Voll ätzend. Scheinheilig!“, schimpfe<br />

sie. „Solche kenn ich auch“, gab<br />

er zurück. „Meine Freundin ist<br />

auch auf und davon. Hat sich<br />

noch nicht mal verabschiedet.“<br />

Jobsuche 2013<br />

In der Kirche brauste die Orgel er -<br />

neut auf. „Das Sanctus“, beant-<br />

6 Dezember 2013

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