Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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E<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen K<strong>in</strong>deswohlgefährdung<br />
nach BGB und Fürsorgeerziehung<br />
bei „Verwahrlosung“ nach RJWG<br />
wurde mit dieser Verän<strong>der</strong>ung gänzlich<br />
aufgehoben.<br />
Die Anordnung zur <strong>Heimerziehung</strong> g<strong>in</strong>g<br />
auch nicht mehr zw<strong>in</strong>gend mit dem vollständigen<br />
Entzug des Sorgerechts e<strong>in</strong>her.<br />
Ausschlaggebend für die Anordnung <strong>der</strong><br />
<strong>Heimerziehung</strong> war jetzt <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong><br />
„Erziehungsgefährdung“, <strong>der</strong> auch häufig <strong>in</strong><br />
den Begründungen zu f<strong>in</strong>den ist. Er f<strong>in</strong>det<br />
sich auch <strong>in</strong> den Begründungen <strong>der</strong> gerichtlichen<br />
Entscheidungen über den vollständigen<br />
Entzug des Sorgerechts. Das Oberste Gericht<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> erließ 1968 e<strong>in</strong>e Richtl<strong>in</strong>ie (<strong>in</strong> ihrer<br />
Verb<strong>in</strong>dlichkeit gleichzusetzen mit e<strong>in</strong>er<br />
Rechtsverordnung), die diesen Begriff näher<br />
def<strong>in</strong>ierte. E<strong>in</strong>e Erziehungsgefährdung lag<br />
danach dann vor, „[...] wenn die Erziehungsberechtigten<br />
den M<strong>in</strong>destanfor<strong>der</strong>ungen für<br />
e<strong>in</strong>e ausreichende körperliche, geistige und<br />
moralische Entwicklung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht gerecht<br />
werden und hierdurch die Vorzüge <strong>der</strong><br />
Familienerziehung nicht mehr bestehen“. 16<br />
Bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen selbst galt als<br />
Indiz für die Erziehungsgefährdung neben<br />
„Schulbummelei“ beispielsweise auch, dass<br />
diese sich „[...] dem erzieherischen E<strong>in</strong>fluss<br />
<strong>der</strong> Kollektive zu entziehen beg<strong>in</strong>nen“. 17<br />
Wichtig ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang, dass<br />
die „Republikflucht“ bzw. ihr Versuch durch<br />
die Eltern auch noch <strong>in</strong> den 1970er-Jahren<br />
als massive Erziehungsgefährdung und somit<br />
gefährdet und auch bei gesellschaftlicher und staatlicher<br />
Unterstützung <strong>der</strong> Erziehungsberechtigten nicht<br />
gesichert, kann <strong>der</strong> Jugendhilfeausschuß <strong>in</strong> Wahrnehmung<br />
se<strong>in</strong>er Aufgaben <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e […] .<br />
f. für den M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen die <strong>Heimerziehung</strong><br />
anordnen,<br />
g. für Jugendliche die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
im Spezialheim bed<strong>in</strong>gt unter Festlegung<br />
e<strong>in</strong>er Bewährungsfrist bis zur Dauer von 2 Jahren<br />
aussprechen.“<br />
16 Richtl<strong>in</strong>ie Nr. 25 des Plenums des Obersten<br />
Gerichts zu Erziehungsentscheidungen vom 25. September<br />
1968, GBl. II, 847 = NJ 1968, 651. In: Wapler<br />
2012, S. 50.<br />
17 Grandke und Autorenkollektiv 1981. In:<br />
Wapler 2012, S. 51.<br />
als Begründung des Entzugs des Sorgerechts<br />
dargestellt wurde.<br />
Es s<strong>in</strong>d hier weitere Auswertungen anhand<br />
vorhandener Aktenbestände notwendig, um<br />
e<strong>in</strong> genaueres Bild für die Gründe von Anordnungen<br />
zur Heime<strong>in</strong>weisung sowie e<strong>in</strong>es<br />
Entzugs des Erziehungsrechts nach § 51 FGB<br />
zeichnen zu können.<br />
Die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> oblag<br />
weiterh<strong>in</strong> den Organen <strong>der</strong> Jugendhilfe auf<br />
Kreisebene und damit den aus ehrenamtlich<br />
tätigen Bürger<strong>in</strong>nen und Bürgern zusammengesetzten<br />
Jugendhilfeausschüssen.<br />
E<strong>in</strong>geleitet werden konnte das Verfahren<br />
durch Funktionsträger<strong>in</strong>nen und -träger<br />
(Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Jugendhilfekommission,<br />
Schuldirektor<strong>in</strong>nen und -direktoren und<br />
Organe, die Ordnungsstrafen nach dem<br />
Ordnungswidrigkeitengesetz verhängen<br />
konnten), Bürger<strong>in</strong>nen und Bürger, staatliche<br />
E<strong>in</strong>richtungen, die Schieds- und Konfliktkommissionen<br />
<strong>in</strong> den Betrieben sowie<br />
Organe <strong>der</strong> örtlichen Volksvertretungen (vgl.<br />
Wapler 2012, S. 47). Erwähnenswert ist <strong>in</strong><br />
diesem Zusammenhang das zeitgleich e<strong>in</strong>setzende<br />
Bemühen des <strong>DDR</strong>-Rechtssystems,<br />
auffällige und gefährdete K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche<br />
zu erfassen. In <strong>der</strong> „Verordnung über die<br />
Aufgabe <strong>der</strong> örtlichen Räte und Betriebe bei<br />
<strong>der</strong> Erziehung krim<strong>in</strong>ell gefährdeter Bürger“,<br />
die im Rahmen des 11. Plenums <strong>der</strong> SED<br />
von 1965 erlassen wurde, wurden die Kreise<br />
ermächtigt, erzieherische Maßnahmen gegenüber<br />
„krim<strong>in</strong>ell gefährdeten“ Bürger<strong>in</strong>nen<br />
und Bürger zu ergreifen. In <strong>der</strong> Praxis führte<br />
dies offensichtlich zur E<strong>in</strong>richtung entsprechen<strong>der</strong><br />
Karteien „krim<strong>in</strong>ell gefährdeter<br />
Erwachsener und M<strong>in</strong><strong>der</strong>jähriger“. Vergleichbare<br />
Karteien s<strong>in</strong>d auch an Schulen geführt<br />
worden (vgl. Wapler 2012, S. 47 f.).<br />
E<strong>in</strong>e Anhörung aller Beteiligten war vorgesehen.<br />
Auch die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen<br />
– sofern sie die notwendige Reife besaßen<br />
und ihre Anhörung für die Entscheidung notwendig<br />
erschien – sollten angehört werden.<br />
Dieser Grundsatz wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Verordnung<br />
des Zentralen Jugendamtes von 1965 noch<br />
e<strong>in</strong>mal ausdrücklich hervorgehoben. Der Jugendhilfeausschuss<br />
des Magistrats von Groß-<br />
Berl<strong>in</strong> entschied sogar, dass Jugendliche über<br />
16 Jahren unbed<strong>in</strong>gt persönlich zu hören<br />
seien (vgl. Wapler 2012, S. 49).<br />
Den ehrenamtlichen Kräften <strong>der</strong> Jugendhilfekommissionen<br />
wurden weitreichende<br />
und gesetzlich nicht begrenzte Befugnisse<br />
e<strong>in</strong>geräumt, Informationen über das Privatleben<br />
<strong>der</strong> Familien zu erlangen – häufig auf die<br />
Ges<strong>in</strong>nung <strong>der</strong> Eltern ausgerichtet. In e<strong>in</strong>em<br />
Ratgeber für Jugendhilfekommissionen aus<br />
dem Jahr 1968 heißt es u. a.: „In diesem<br />
Zusammenhang ist zu ermitteln, wie sich<br />
die Eltern mit unserer sozialistischen Gesellschaft<br />
verbunden fühlen“ (M<strong>in</strong>isterium für<br />
Volksbildung 1968) 18 . Die Entscheidung über<br />
die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> hatte per<br />
Beschluss zu erfolgen, <strong>der</strong> begründet und<br />
den Eltern und dem K<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> <strong>der</strong> bzw. dem<br />
Jugendlichen (<strong>in</strong>sofern dies als erzieherisch<br />
vertretbar erschien) schriftlich zuzustellen<br />
war (§§ 39 Abs. 2, 43 Abs. 1 JHVO).<br />
Die Eltern hatten den Heimaufenthalt ihres<br />
K<strong>in</strong>des zu dulden. Was mit dem Sorgerecht<br />
<strong>in</strong> dieser Zeit geschah, war rechtlich nicht<br />
geregelt (vgl. Wapler 2012, S. 53).<br />
Solange ihr K<strong>in</strong>d sich im Heim befand,<br />
standen den Eltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht<br />
sowie das Recht <strong>der</strong> Erziehung,<br />
Betreuung und Beaufsichtigung ihres K<strong>in</strong>des<br />
nicht mehr zu. Sie mussten die Kosten des<br />
Heimaufenthaltes ihres K<strong>in</strong>des anteilig<br />
erstatten.<br />
Eltern sowie Jugendlichen über 16 Jahren,<br />
stand das Rechtsmittel <strong>der</strong> Beschwerde gegen<br />
die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> zur Verfügung.<br />
Sie musste <strong>in</strong>nerhalb von zwei Wochen<br />
bei dem Organ <strong>der</strong> Jugendhilfe e<strong>in</strong>gereicht<br />
werden, das die Entscheidung getroffen hatte<br />
(§ 50 Absätze 1 und 2 JHVO). Dieses konnte<br />
die Entscheidung selbst berichtigen, wenn<br />
es dies für angebracht hielt, o<strong>der</strong> sie zur<br />
Prüf ung an das übergeordnete Organ <strong>der</strong><br />
Jugendhilfe (auf Bezirksebene) weitergeben<br />
(§ 52 Abs. 1 und 2 JHVO). In e<strong>in</strong>igen wenigen<br />
Fällen wurden abgewiesene Beschwerden<br />
zur Entscheidung sogar an das M<strong>in</strong>isterium<br />
für Volksbildung weitergeleitet. Für alle<br />
18 M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung (Hrsg.) 1968:<br />
Leitfaden für Jugendhilfekommissionen, Berl<strong>in</strong>. In:<br />
Wapler 2012, S. 48.<br />
genannten Ebenen hat die Forschung ermittelt,<br />
dass bis zu 90 Prozent <strong>der</strong> auf Heime<br />
bezogenen Beschwerden abgewiesen wurden<br />
(vgl. Sachse 2010) 19 .<br />
b) Die Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> auf Grundlage des Strafrechts<br />
1949–1952<br />
In dem fraglichen Zeitraum galt zunächst<br />
e<strong>in</strong>e von nationalsozialistischen Inhalten<br />
bere<strong>in</strong>igte Fassung des Reichsjugendgerichtsgesetzes<br />
(RJGG) von 1923/1943 weiter.<br />
Demnach gab es zwei Möglichkeiten e<strong>in</strong>er<br />
Anordnung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong> im Rahmen<br />
e<strong>in</strong>es Strafverfahrens.<br />
(1) Das Strafgericht konnte nach § 12<br />
RJGG die Fürsorgeerziehung auf Basis e<strong>in</strong>er<br />
drohenden o<strong>der</strong> festgestellten Verwahrlosung<br />
anordnen o<strong>der</strong> (2) das Strafgericht<br />
verzichtete auf e<strong>in</strong>e Verurteilung und überließ<br />
es dem Vormundschaftsgericht, über<br />
die Fürsorgeerziehung zu entscheiden (vgl.<br />
Wapler 2012, S. 56).<br />
Über die Praxis dieser Wege <strong>in</strong>s Heim ist<br />
nur wenig bekannt. Man kann <strong>der</strong> Literatur<br />
jedoch entnehmen, dass es Streitigkeiten<br />
darüber gab, welche Vorschriften des RJGG<br />
wegen nationalsozialistischer Inhalte ihre<br />
Geltung verloren hatten.<br />
1952–1968<br />
1952 trat das Jugendgerichtsgesetz <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong> <strong>in</strong> Kraft (JGG-<strong>DDR</strong>). Es bezweckte den<br />
Schutz <strong>der</strong> Gesellschaft und die Erziehung<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen. Danach sollten Erziehungsmaßnahmen<br />
vorrangig gegenüber Strafen<br />
angeordnet werden. Dies ist auch <strong>der</strong> Grund,<br />
weshalb auf Grundlage <strong>der</strong> §§ 9, 14 JGG-<strong>DDR</strong><br />
das Jugendstrafgericht anstelle e<strong>in</strong>er Strafe<br />
die <strong>Heimerziehung</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jugendwerkhof<br />
anordnen konnte. E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Möglichkeit<br />
19 Sachse, Christian (2010): Der letzte Schliff.<br />
Jugendhilfe <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> im Dienst <strong>der</strong> Diszipl<strong>in</strong>ierung<br />
von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen (1945–1989), Schwer<strong>in</strong>,<br />
S. 141.<br />
18 19