Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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immer, er sei gestorben. Ich habe sehr unter<br />
dem Verlust gelitten. Die Briefe an me<strong>in</strong>e<br />
ältere Schwester kamen auch nie an. Später,<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Heim, kannte e<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />
dortigen Erzieher zufällig me<strong>in</strong>en Bru<strong>der</strong><br />
und verriet mir, dass er doch lebt. Er hat mir<br />
dann geholfen und ermöglicht, den Bru<strong>der</strong><br />
heimlich zu besuchen. Der Erzieher hat dafür<br />
Ärger bekommen, aber ich b<strong>in</strong> ihm bis heute<br />
sehr dankbar. Ich habe seitdem immer Kontakt<br />
zu me<strong>in</strong>em Bru<strong>der</strong> gehalten“ (Ebb<strong>in</strong>ghaus<br />
und Sack 2012, S. 324)<br />
2.5.7.2. Religionsfreiheit im Heim<br />
An<strong>der</strong>s als K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche, die bei<br />
ihren Eltern lebten, konnten K<strong>in</strong><strong>der</strong> und<br />
Jugendliche <strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> Jugendhilfe<br />
nicht die Religionsfreiheit wahrnehmen.<br />
(Laudien und Sachse 2012, S. 216).<br />
2.5.8. Gesundheitsversorgung<br />
Inwieweit die Gesundheitsversorgung <strong>in</strong><br />
den Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> ausreichend war, ist <strong>in</strong><br />
großen Teilen nicht bekannt. Im e<strong>in</strong>gangs<br />
erwähnten Kontrollbericht <strong>der</strong> ABI 56 werden<br />
für die Mehrzahl <strong>der</strong> Heime große Probleme<br />
bei <strong>der</strong> ärztlichen Betreuung festgehalten.<br />
„Obwohl wir doch K<strong>in</strong><strong>der</strong> waren und eben<br />
oft mal krank wurden o<strong>der</strong> uns verletzten,<br />
gab es ke<strong>in</strong>en richtigen Arzt bei uns<br />
im Heim. Nur e<strong>in</strong>e Krankenschwester, die<br />
egal, was man hatte, immer dasselbe Mittel<br />
gab“(Ebb<strong>in</strong>ghaus und Sack 2012, S. 325).<br />
Alarmierend s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
auch die vielfachen Zeitzeugenberichte,<br />
die annehmen lassen, dass <strong>in</strong> den Heimen<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Jugendlichen ruhigstellende<br />
Medikamente verabreicht wurden.<br />
Erwähnung f<strong>in</strong>den hierbei beson<strong>der</strong>s häufig<br />
Tranquilizer und Neuroleptika. In den<br />
Son<strong>der</strong>heimen für Psychodiagnostik und<br />
pädagogisch-psychologische Therapie war die<br />
56 Komitee <strong>der</strong> ABI: Kontrolle <strong>der</strong> Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>in</strong> den Normal- und Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen<br />
sowie Jugendwerkhöfen vom 8. Mai 1974. In: BArch<br />
DR 2/12328 / siehe auch Anhang III <strong>der</strong> Expertise von<br />
Laudien und Sachse, S. 283 ff.<br />
Medikamenten-Vergabe sogar explizit Teil<br />
<strong>der</strong> Therapie.<br />
Laudien und Sachse weisen <strong>in</strong> ihrer Expertise<br />
darauf h<strong>in</strong>, dass auch Akten gefunden<br />
wurden, die den Schluss zulassen, dass <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>igen Heimen so unverantwortlich mit<br />
<strong>der</strong> Vergabe von Beruhigungsmitteln umgegangen<br />
wurde, dass dies bereits se<strong>in</strong>erzeit<br />
von den Verantwortlichen kritisiert wurde<br />
(vgl. Laudien und Sachse 2012, S. 249). Auch<br />
vere<strong>in</strong>zelte H<strong>in</strong>weise zur Testung von Arzneimitteln<br />
lassen sich f<strong>in</strong>den. In welchem<br />
Umfang und unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen<br />
diese stattgefunden haben, ist nicht bekannt.<br />
2.5.8.1. Schwangerschaften<br />
Zeitzeug<strong>in</strong>nen und Zeitzeugen berichten von<br />
Schwangerschaftsabbrüchen, die unter erheblichem<br />
Druck erfolgten o<strong>der</strong> gar erzwungen<br />
wurden (Ebb<strong>in</strong>ghaus und Sack 2012,<br />
S. 330; Sachse und Laudien 2012, S. 251;<br />
Wapler 2012, S. 84). Es konnten im Rahmen<br />
<strong>der</strong> Expertisen lediglich H<strong>in</strong>weise auf den<br />
Arbeitse<strong>in</strong>satz von schwangeren M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen<br />
<strong>in</strong> den Durchgangsheimen gefunden<br />
werden, die nur mit leichten Arbeiten beschäftigt<br />
werden und möglichst umgehend <strong>in</strong><br />
ihren Elternhäusern o<strong>der</strong> <strong>in</strong> Heimen untergebracht<br />
werden sollten. Es kann jedoch schon<br />
jetzt festgehalten werden, dass das Erzw<strong>in</strong>gen<br />
von Schwangerschaftsabbrüchen o<strong>der</strong><br />
von Adoptionsfreigaben, gegen geltendes<br />
Recht <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> verstieß (vgl. Wapler 2012,<br />
S. 85).<br />
2.5.8.2. Suizid<br />
Vollzogene Suizide wurden von den Heimen<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> unter <strong>der</strong> Rubrik „beson<strong>der</strong>e Vorkommnisse“<br />
dokumentiert. Archivmaterialien,<br />
so die Expertise von Laudien und<br />
Sachse, lassen jedoch die Feststellung zu,<br />
dass Erzieher<strong>in</strong>nen und Erzieher auf <strong>der</strong>artige<br />
Vorkommnisse nicht vorbereitet und<br />
somit gänzlich überfor<strong>der</strong>t waren.<br />
Mit Blick auf die belastenden Bed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, gilt hier hervorzuheben,<br />
welche Auswirkungen es auch auf die<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen hatte, Zeuge von<br />
vollzogenen als auch von versuchten Suiziden<br />
zu se<strong>in</strong> (vgl. Ebb<strong>in</strong>ghaus und Sack 2012,<br />
S. 332).<br />
2.5.9. Der Zustand <strong>der</strong> Gebäude<br />
Mit Blick auf die potenziell belastenden Bed<strong>in</strong>gungen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> ist auch <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Gebäude<br />
zu erwähnen, <strong>in</strong> denen sich die meisten<br />
Heime befanden. Aus zahlreichen E<strong>in</strong>zelberichten<br />
leitet sich ab, dass viele <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-K<strong>in</strong><strong>der</strong>heime<br />
<strong>in</strong> Gebäuden untergebracht waren<br />
(Burgen, Schlösser, Gutshäuser, Gefängnisse<br />
aus dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t u. Ä.), die Verfallsersche<strong>in</strong>ungen<br />
zeigten, ke<strong>in</strong>e funktionierenden<br />
Heizungssysteme hatten, über mangelhafte<br />
sanitäre Anlagen verfügten und damit<br />
für K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche ke<strong>in</strong>e angemessene<br />
Entwicklungsumgebung boten.<br />
2.6. Aufsicht und Kontrolle<br />
Der Alltag <strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> fand<br />
weitgehend <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> sich geschlossenen<br />
System statt. Grundlegende Kritik an <strong>der</strong><br />
Arbeit <strong>der</strong> Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter<br />
<strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe, die Verfolgung<br />
von Rechtsverstößen o<strong>der</strong> auch Anstöße<br />
zur Verän<strong>der</strong>ung von außen – wie sie <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Bundesrepublik <strong>in</strong> den 1960er-Jahren<br />
stattgefunden haben – waren hier nicht zu<br />
erwarten.<br />
“Gegen Akte <strong>der</strong> öffentlichen Gewalt gab es<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> bis 1989 nur verwaltungs<strong>in</strong>ternen<br />
Rechtsschutz. E<strong>in</strong>e Verwaltungs- o<strong>der</strong><br />
Verfassungsgerichtsbarkeit kannte das <strong>DDR</strong>-<br />
Recht bis zu diesem Zeitpunkt nicht“ (Wapler<br />
2012, S. 20).<br />
H<strong>in</strong>zu kam, dass auch ke<strong>in</strong>e unabhängige<br />
Rechtsprechung existierte. Nach den Verfassungen<br />
von 1968/1974 stand das Oberste Gericht<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> unter unmittelbarer Aufsicht<br />
des Staatsrats (Art. 74, Verf. 1968/1974) und<br />
damit standen auch die Richter<strong>in</strong>nen und<br />
Richter des Obersten Gerichts unter direkter<br />
politischer Kontrolle, obwohl sie nach Art. 96<br />
nom<strong>in</strong>ell unabhängig waren.<br />
Kommentierungen zur Rechtsanwendung<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Rechtswissenschaften wurden<br />
von den zuständigen M<strong>in</strong>isterien herausgegeben<br />
und waren damit eher als Auslegungsanweisungen<br />
zu verstehen.<br />
Rechtsschutz gegenüber öffentlicher<br />
Gewalt konnte <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> lediglich über<br />
e<strong>in</strong>e Verwaltungsbeschwerde o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />
sogenannte E<strong>in</strong>gabe nach Art. 103 <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>-<br />
Verfassung e<strong>in</strong>gefor<strong>der</strong>t werden, die <strong>in</strong> den<br />
meisten Fällen nicht zum Erfolg führten. 57<br />
Wie alle staatlichen Institutionen, unterlagen<br />
auch die Heime <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> dem Pr<strong>in</strong>zip<br />
<strong>der</strong> doppelten Kontrolle. Das heißt, die erste<br />
Kontroll<strong>in</strong>stanz war die jeweils höhere Verwaltungsebene<br />
(Fachaufsicht, pädagogisches<br />
Personal, Erziehungsmethoden und -pläne),<br />
die zweite Instanz <strong>der</strong> Rat des Kreises bzw.<br />
des Bezirkes (Unterhalt <strong>der</strong> Gebäude, technisches<br />
Personal).<br />
Mit <strong>der</strong> Jugendhilfeverordnung von<br />
1965/1966 (JHVO) 58 waren die Referate für<br />
Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong> <strong>der</strong> Kreise für<br />
die Normalheime, die Referate für Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong><br />
<strong>der</strong> Bezirke für die<br />
Spezialheime und das M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung<br />
für die Aufsicht <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>heime<br />
zuständig.<br />
Daneben gab es bis 1963 Kontrollen durch<br />
die Zentrale Kommission für staatliche<br />
Kontrolle und später (<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit von 1963<br />
bis 1989) durch die Arbeiter-und-Bauern-<br />
Inspektion 59 . In den Archiven f<strong>in</strong>den sich<br />
etliche dieser Prüfberichte, <strong>in</strong> denen über<br />
gravierende Missstände <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Heimen<br />
57 Sachse spricht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch „Der letzte<br />
Schliff“ von 90 Prozent <strong>der</strong> auf die <strong>Heimerziehung</strong><br />
bezogenen Beschwerden gegen Heime<strong>in</strong>weisungen<br />
(Sachse 2010, S.141).<br />
58 Verordnung über die Aufgaben und Arbeitsweise<br />
<strong>der</strong> Organe <strong>der</strong> Jugendhilfe – Jugendhilfeverordnung<br />
(JHVO) vom 22. April 1965, aufgehoben und<br />
neu erlassen am 3. März 1966.<br />
59 Die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion (ABI)<br />
war e<strong>in</strong>e Kontroll<strong>in</strong>stitution <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong>, die dem<br />
Zentralkomitee <strong>der</strong> SED und dem M<strong>in</strong>isterrat <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
unterstellt war. Sie sollte die unbed<strong>in</strong>gte Erfüllung <strong>der</strong><br />
Partei- und Regierungsbeschlüsse sichern.<br />
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