Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Fonds Heimerziehung
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Insbeson<strong>der</strong>e fehlende Freizeit und Intimsphäre<br />
– noch nicht e<strong>in</strong>mal bei <strong>der</strong> Körperhygiene<br />
– werden hier von Zeitzeug<strong>in</strong>nen<br />
Zeitzeugen vielfach benannt.<br />
E<strong>in</strong> Betroffener zu dem Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />
Pretzsch: „Alles wurde geme<strong>in</strong>sam erledigt,<br />
nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe, das Aufstehen, Frühstück,<br />
<strong>der</strong> Weg zur Schule, auf dem Heimgelände,<br />
das Mittagessen, geme<strong>in</strong>sam zwei Stunden<br />
Hausaufgaben machen, zwei Stunden Freizeit<br />
auf dem Gruppenbereich, geme<strong>in</strong>sam<br />
‚Aktuelle Kamera – Nachrichten‘ schauen,<br />
anschließend politische Diskussion über<br />
Themen <strong>der</strong> Zeit und dann schlafen gehen im<br />
Achtmann-Schlafraum, zwischendurch noch<br />
Schrankkontrolle, dass alles auf den Zentimeter<br />
genau lag“ (Ebb<strong>in</strong>ghaus und Sack 2012,<br />
S. 324).<br />
2.5.1.3. Arbeitserziehung<br />
Um 1955 wurde die Ausrichtung <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
an <strong>der</strong> Kollektiverziehung um den<br />
Schwerpunkt „Arbeitserziehung“ ergänzt. E<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>heitliches Konzept von Arbeitserziehung<br />
gab es nicht (vgl. Laudien und Sachse 2012,<br />
S. 223).<br />
Unterschieden werden muss hier zwischen<br />
<strong>der</strong> (1) allgeme<strong>in</strong>en Arbeitserziehung, die <strong>in</strong><br />
allen Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> betrieben wurde, und<br />
<strong>der</strong> (2) speziellen Arbeitserziehung <strong>in</strong> den<br />
Jugendwerkhöfen.<br />
Erstere be<strong>in</strong>haltete die <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> für alle<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen bzw. Bürger<strong>in</strong>nen<br />
und Bürger geltende „gesellschaftlich nützliche<br />
Arbeit“; also unentgeltliche Arbeitse<strong>in</strong>sätze<br />
bei <strong>der</strong> Ernte, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kommune o. Ä. Die<br />
Arbeitserziehung sollte zur Anerziehung „[…]<br />
von Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit,<br />
Fleiß, Ordnungsliebe und Aufopferungsbereitschaft<br />
für die Produktionsziele, aber auch<br />
Kreativität, permanente Lernbereitschaft und<br />
Flexibilität im Arbeitsprozess [...]“ 37 dienen.<br />
Zur allgeme<strong>in</strong>en Arbeitserziehung zählte demnach<br />
auch die sogenannte „Selbstbedienung“,<br />
bei <strong>der</strong> die K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendlichen zumutbar<br />
37 Über die Arbeitserziehung <strong>in</strong> den Heimen (undatiert).<br />
In: BArch DR 2/5571, S. 176, <strong>in</strong>: Laudien und<br />
Sachse 2012, S. 223.<br />
ersche<strong>in</strong>ende Dienstleistungen während ihrer<br />
Freizeit im Heim übernehmen mussten (Waschen,<br />
Re<strong>in</strong>igen, Bau- und Renovierungsarbeiten<br />
etc.).<br />
Im Jahr 1956 waren u. a. folgende Arbeiten<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Normalheim zu verrichten: Klei<strong>der</strong>pflege,<br />
Strümpfestopfen, Ordnungsdienst,<br />
Gartenarbeiten, Erntee<strong>in</strong>sätze (nur <strong>in</strong> Saisonzeiten),<br />
Arbeitse<strong>in</strong>sätze: Ausschachtungsarbeiten,<br />
Planierungsarbeiten, Transporte von Kies<br />
und Kohle, Pflege des Eigentums. E<strong>in</strong>e Stundenzahl<br />
wurde nicht angegeben, Verweigerungen<br />
wurden sanktioniert: „K<strong>in</strong><strong>der</strong>, welche sich<br />
weigern, die ihnen aufgetragenen Arbeiten zu<br />
verrichten, bekommen Son<strong>der</strong>aufgaben, um<br />
sich an die Arbeit zu gewöhnen.“ 38 Festzustellen<br />
ist, dass offensichtlich auch K<strong>in</strong><strong>der</strong> unter<br />
14 Jahren im Rahmen des üblichen Arbeitse<strong>in</strong>satzes<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> sogenannten Selbstbedienung<br />
für z. T. körperlich sehr schwere Arbeiten<br />
e<strong>in</strong>gesetzt wurden, die sich sicherlich <strong>in</strong> gesundheitlichen<br />
Folgeschäden <strong>der</strong> Betroffenen<br />
nie<strong>der</strong>geschlagen haben dürften.<br />
E<strong>in</strong> ehemaliges Heimk<strong>in</strong>d aus dem Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heim<br />
San<strong>der</strong>sleben berichtet:<br />
„Ich musste mit zwölf Jahren auf dem<br />
Heimgelände für den Bau e<strong>in</strong>er neuen Auffahrt<br />
nach <strong>der</strong> Schule Sand schaufeln, den<br />
Sand mit <strong>der</strong> Schubkarre verteilen, sonst<br />
oft tonnenweise Kohlen schaufeln und das<br />
Hofgelände re<strong>in</strong>igen.“ (Sack und Ebb<strong>in</strong>ghaus<br />
2012, S.326)<br />
Im Dezember 1956 wurde e<strong>in</strong>e neue Verordnung<br />
39 erlassen, die unter an<strong>der</strong>em auch die<br />
Arbeitserziehung an den Jugendwerkhöfen<br />
regelte. Mit dieser Verordnung trat <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz<br />
jugendlicher Insassen von Jugendwerkhöfen<br />
als billige Arbeitskräfte <strong>in</strong> den Vor<strong>der</strong>grund.<br />
Auffällig ist, dass viele <strong>der</strong> neuen Arbeitsstellen<br />
(und späteren Anlernberufe) von schwerer<br />
bis schwerster körperlicher Arbeit geprägt<br />
waren.<br />
38 Die Erziehung zur Arbeit <strong>in</strong> den Heimen (vom<br />
24. November 1956). In: BArch DR 2/5571, S. 144 ,<strong>in</strong>:<br />
Laudien und Sachse 2012, S. 226.<br />
39 Anordnung vom 11. Dezember 1956 über die<br />
Durchführung <strong>der</strong> Aufgaben <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen.<br />
In: GBl. <strong>DDR</strong> I 1956, S. 1336 (Entwurf <strong>in</strong> BArch DR<br />
2/5335), <strong>in</strong>: Laudien und Sachse 2012, S.225.<br />
Diese Zustände zeigen, dass die Arbeitserziehung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von Jugendwerkhöfen<br />
<strong>in</strong> die Nähe zur Zwangs- und Strafarbeit<br />
geriet (vgl. dazu auch Kapitel 2.5.6. ab S. 39<br />
dieses Berichts).<br />
2.5.2. Erzieher<strong>in</strong>nen und Erzieher <strong>in</strong> den<br />
Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong><br />
Alle Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter waren<br />
per Gesetz dem sozialistischen Erziehungsziel<br />
verpflichtet (§ 19 HeimO 1969). 40<br />
Aufgabe <strong>der</strong> Heimerzieher<strong>in</strong>nen und Heimerzieher<br />
<strong>der</strong> <strong>DDR</strong> war es dem ent sprechend,<br />
fehlende E<strong>in</strong>flussnahme <strong>in</strong> den „Ursprungsfamilien“<br />
auszugleichen o<strong>der</strong> gar zu übertreffen.<br />
Der Position <strong>der</strong> Heimleitung kam e<strong>in</strong>e<br />
beson<strong>der</strong>s starke Stellung <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
zu. Ihr oblag nach <strong>der</strong> Heimverordnung<br />
von 1969 die Gesamtverantwortung.<br />
Sie entschied – teilweise geme<strong>in</strong>sam mit<br />
dem Referat Jugendhilfe – über Verlegungen,<br />
Entlassungen und beson<strong>der</strong>e Strafmaßnahmen<br />
(vgl. Wapler 2012, S. 75).<br />
Die weitere Belegschaft bildete den sogenannten<br />
„Pädagogischen Rat“.<br />
2.5.2.1. Ausbildung und Qualifizierung<br />
Der Beruf <strong>der</strong> Heimerzieher<strong>in</strong> bzw. des<br />
Heimerziehers war schon nach Kriegsende<br />
geschaffen worden ebenso wie entsprechende<br />
Qualifizierungskurse, die bis zu e<strong>in</strong>em Jahr<br />
dauern konnten.<br />
Dennoch verfügten 1954 60 bis 80 Prozent<br />
<strong>der</strong> Heimerzieher<strong>in</strong>nen und Heimerzieher <strong>in</strong><br />
den Heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> über ke<strong>in</strong>e pädagogische<br />
Ausbildung und auch die Übrigen hatten<br />
nur e<strong>in</strong>e Kurzausbildung absolviert. Bis zum<br />
Ende <strong>der</strong> 1970er-Jahre konnte die Zahl <strong>der</strong><br />
Heimerzieher<strong>in</strong>nen und Heimerzieher ohne<br />
Ausbildung – zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> den Jugendwerkhöfen<br />
– auf 6,7 Prozent gesenkt werden (vgl.<br />
Zimmermann 2004, S. 367 41 ).<br />
40 Anordnung über die Bildungs- und Erziehungsarbeit<br />
<strong>in</strong> den Heimen <strong>der</strong> Jugendhilfe – Heimordnung<br />
– vom 01. September 1969. In GBl. <strong>DDR</strong> II, Nr. 90 vom<br />
17. November 1969, S. 555–562.<br />
41 Bei den folgenden H<strong>in</strong>weisen zu Zimmermann<br />
Ab 1953 gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> die sogenannte<br />
Vollausbildung zur Heimerzieher<strong>in</strong> bzw. zum<br />
Heimerzieher an den Instituten für Lehrerbildung,<br />
die mit e<strong>in</strong>er Prüfung zur Unterstufenlehrer<strong>in</strong><br />
bzw. zum Unterstufenlehrer<br />
abschloss. Diese durften – eigentlich nur als<br />
Notlösung e<strong>in</strong>geführt, aber dann bis zum<br />
Ende <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> so fortgesetzt – die Heimerzieher<strong>in</strong>nen<br />
und Heimerzieher, die bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Praxis tätig waren, als Fernstudium ablegen;<br />
man konnte auf die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis Tätigen<br />
nicht verzichten. Noch <strong>in</strong> den 1970er-Jahren<br />
waren nicht alle Planstellen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
besetzt (vgl. Zimmermann 2004,<br />
S. 365).<br />
Doch auch den ausgebildeten Heimerzieher<strong>in</strong>nen<br />
und Heimerziehern <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> fehlte<br />
damit e<strong>in</strong>e sozial- bzw. son<strong>der</strong>pädagogische<br />
Ausbildung. E<strong>in</strong>e Diszipl<strong>in</strong>, von <strong>der</strong> man<br />
annahm (wie bereits mehrfach erläutert),<br />
dass sie mit <strong>der</strong> sich entwickelnden sozialistischen<br />
Gesellschaft zunehmend unnötig<br />
werden würde. Das Ergebnis war, dass viele<br />
<strong>der</strong> Heimerzieher<strong>in</strong>nen und Heimerzieher<br />
sich angesichts <strong>der</strong> pädagogischen und<br />
sozialen Probleme <strong>in</strong> den Heimen gänzlich<br />
überfor<strong>der</strong>t fühlten. Insbeson<strong>der</strong>e die <strong>in</strong> den<br />
Spezialk<strong>in</strong><strong>der</strong>heimen <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> tätigen Heimerzieher<strong>in</strong>nen<br />
und Heimerzieher gaben den<br />
Beruf rasch wie<strong>der</strong> auf. Der Großteil arbeitete<br />
weniger als fünf Jahre <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Heimerziehung</strong><br />
(vgl. Zimmermann 2004, S. 367).<br />
1977 wurde an <strong>der</strong> Humboldt-Universität<br />
e<strong>in</strong> Lehrstuhl für Sozialpädagogik unter dem<br />
Titel Pädagogik <strong>der</strong> Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong><br />
e<strong>in</strong>gerichtet, <strong>der</strong> e<strong>in</strong> vierjähriges<br />
Studium zur Jugendfürsorger<strong>in</strong> bzw. zum Jugendfürsorger<br />
ermöglichte. E<strong>in</strong>ziger Inhaber<br />
dieses Lehrstuhls war bis zu dessen „Abwicklung“<br />
1991 Eberhard Mannschatz, <strong>der</strong> bis<br />
1977 (mit kurzer Unterbrechung) Leiter <strong>der</strong><br />
Abteilung Jugendhilfe/<strong>Heimerziehung</strong> im<br />
M<strong>in</strong>isterium für Volksbildung gewesen war<br />
(vgl. Zimmermann 2004, S. 367).<br />
2004 bezieht sich <strong>der</strong> Text auf folgende Literatur: Zimmerman,<br />
Verena (2004): Den neuen Menschen schaffen.<br />
Die Umerziehung von schwererziehbaren und<br />
straffälligen Jugendlichen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>DDR</strong> (1945–1990),<br />
Böhlau Verlag: Köln, Weimar, Wien.<br />
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