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Birgitta Weimer - Zeit Kunstverlag

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<strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong><br />

Ausgabe 73<br />

Heft 7<br />

1. Quartal 2006<br />

B 26079<br />

Eine Edition der<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs<br />

GmbH & Co. KG<br />

Künstler<br />

Kritisches Lexikon der<br />

Gegenwartskunst


Künstler<br />

Kritisches Lexikon der<br />

Gegenwartskunst<br />

erscheint viermal jährlich mit insgesamt<br />

28 Künstlermonografien auf über 500<br />

Text- und Bild-Seiten und kostet im<br />

Jahresabonnement einschl. Sammelordner<br />

und Schuber € 148,–,<br />

im Ausland € 158,–, frei Haus.<br />

www.weltkunst.de<br />

Postanschrift für Verlag und Redaktion<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Nymphenburger Straße 84<br />

D-80636 München<br />

Telefon 0 89/12 69 90-0<br />

Telefax 0 89/12 69 90-11<br />

Bankkonto: Commerzbank Stuttgart<br />

Konto-Nr. 525 55 34, BLZ 600 400 71<br />

›Künstler‹ erscheint in der<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Geschäftsführer<br />

Florian Wagner, Thomas Brackvogel,<br />

Dr. Rainer Esser<br />

Herausgeber<br />

Dr. Detlef Bluemler/Prof. Lothar Romain †<br />

Redaktion<br />

Dr. Detlef Bluemler (v. i. S. d. P.)<br />

Dokumentation<br />

Andreas Gröner<br />

Ständiger Redaktionsbeirat<br />

Dr. Eduard Beaucamp, Frankfurt/Main<br />

Dr. Christoph Brockhaus, Duisburg<br />

Prof. Dr. Johannes Cladders, Krefeld<br />

Prof. Rolf-Gunter Dienst, Baden-Baden<br />

Prof. Dr. Helmut Friedel, München<br />

Rainer Haarmann, Neuwittenbek/Kiel<br />

Prof. Dr. Wulf Herzogenrath, Bremen<br />

Prof. Klaus Honnef, Bonn<br />

Prof. Dr. Max Imdahl †<br />

Prof. Dr. Georg Jappe, Köln/Hamburg<br />

Prof. Dr. Jens Chr. Jensen, Hamburg<br />

Dr. Petra Kipphoff, Hamburg<br />

Dr. Ralph Köhnen, Bochum<br />

Prof. Kasper König, Köln<br />

Dr. Jochen Poetter, Köln<br />

Prof. Karl Ruhrberg, Oberstdorf<br />

Prof. Dr. Wieland Schmied, A-Vorchdorf<br />

Prof. Dr. Manfred Schneckenburger, Köln<br />

Prof. Dr. Uwe M. Schneede, Hamburg<br />

Dr. Pamela C. Scorzin, I-Mailand<br />

Dr. Dierk Stemmler, Mönchengladbach<br />

Prof. Dr. Karin Stempel, Kassel<br />

Prof. Dr. Eduard Trier, Bonn<br />

Dr. Rolf Wedewer, Leverkusen<br />

Dr. Christoph Zuschlag, Heidelberg/Berlin<br />

Prof. Dr. Armin Zweite, Düsseldorf<br />

Grafik<br />

Michael Müller<br />

Mein Werk setzt Zeichen der Verbindung in der<br />

fragmentierten Landschaft zeitgenössischer<br />

Weltanschauung, die sich vorwiegend durch die<br />

postmoderne Reflektion der Reflektion der<br />

Reflektion, das heißt endlose Selbstbespiegelung,<br />

auszeichnet.<br />

B. W. 2005<br />

Foto: Rosa M. Hessling, Köln<br />

Abonnement und Leserservice<br />

<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG<br />

Nymphenburger Straße 84<br />

Postfach 19 09 18<br />

D-80609 München<br />

Telefon 0 89/12 69 90-0<br />

›Künstler‹ ist auch<br />

über den Buchhandel erhältlich<br />

Prepress<br />

Franzis print & media GmbH, München<br />

Druck<br />

Aumüller Druck KG, Regensburg<br />

Die Publikation und alle in ihr<br />

enthaltenen Beiträge und Abbildungen<br />

sind urheberrechtlich geschützt. Jede<br />

Verwertung, die nicht ausdrücklich vom<br />

Urheberrechtsgesetz zugelassen ist,<br />

bedarf der vorherigen Zustimmung des<br />

Verlages. Dies gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Bearbeitungen,<br />

Übersetzungen, Mikroverfilmungen und<br />

die Einspeicherung und Verarbeitung<br />

in elektronischen Systemen.<br />

© <strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,<br />

München 2006<br />

© VG Bild-Kunst, Bonn 2006<br />

Cover<br />

aggregatrot (cube), 2004<br />

Acrylglas, Vinnylan<br />

30 x 30 x 30 cm<br />

Galerie Dorothea van der Koelen,<br />

Mainz/Deutschland und Venedig/Italien<br />

ISSN 0934-1730


Susanne Wedewer<br />

über <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong><br />

Kunst als Erkenntnisprozeß<br />

»Die Kunst hat ja eine andere Aufgabe als die Wissenschaft.<br />

Während die Wissenschaft erklärt, verständlich macht, soll die<br />

Kunst darstellen, erhellen, den Grund des menschlichen Lebens<br />

sichtbar machen [...]. Der Fortschritt der Kunst vollzieht sich<br />

wohl in der Weise, daß zunächst ein langsamer historischer<br />

Prozeß, der das Leben der Menschen umgestaltet, ohne daß<br />

der Einzelne darauf viel Einfluß ausüben könnte, neue Inhalte<br />

hervorbringt [...]. Dieses Wechselspiel oder [...] dieser Kampf<br />

zwischen dem Ausdrucksinhalt und der Beschränktheit der Ausdrucksmittel<br />

scheint hier – ähnlich wie in der Wissenschaft – die<br />

unumgängliche Voraussetzung dafür, daß wirkliche Kunst entsteht.«<br />

Soweit Werner Heisenberg in seinem Vortrag ›Die Tendenz<br />

zur Abstraktion in moderner Kunst und Wissenschaft«, gehalten<br />

1969 im Rahmen eines Symposiums der Karajan-Stiftung<br />

in Salzburg.<br />

Kunst und Wissenschaft – für die Bildhauerin <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong><br />

sind es gleichberechtigte Systeme, die die Wahrnehmung von<br />

Wirklichkeit definieren. Ihr Interesse gilt daher, wie sie es formuliert,<br />

»Ordnungssystemen, Mustern, Strukturen, Formeln, Codes<br />

der verschiedenen Wissenschaften, von der Kulturanthropologie<br />

bis hin zu den Life Sciences.«1<br />

Zunächst allerdings sind vor allem die Ethnologie und Anthropologie<br />

prägend für <strong>Weimer</strong>s künstlerischen Fragestellungen,<br />

die sich sehr knapp schon mit dem Titel einer ihrer ersten Ausstellungen<br />

1984 im Künstlerhaus Hamburg skizzieren lassen,<br />

›ATO – ein Ort, ein Spiel, ein System‹. Das Spiel als ein gesetztes,<br />

in sich geschlossenes System mit eigenen, nur in ihm geltenden,<br />

nicht übertragbaren Regeln! Die Erfahrung der Bedingtheit<br />

solcher Systeme, auch in kultureller Hinsicht, macht <strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong> nach Abschluß ihres Studiums der Freien Künste in<br />

Hamburg 1987. Während eines einjährigen Aufenthaltes in<br />

Gambia (Westafrika), taucht sie ein in eine fremde Kultur, ein<br />

unbekanntes Regelwerk, in ungewohnte Strukturen. In bezug<br />

auf ihre frühen Arbeiten formuliert sie 1989: »Meine Spielfelder<br />

sind Trainingsfelder für eine andere Art zu denken und zu handeln.<br />

Die vier Begriffe VARIABILITÄT, MEHRTEILIGKEIT, RE-<br />

GELHAFTIGKEIT und SYMMETRIE sind Kennzeichen des<br />

Spiels und liegen auf dem Kreis aller natürlicher Systeme.«2<br />

Doch kennzeichnen diese vier Begriffe nicht allein »alle natürlichen<br />

Systeme« – sie erweisen sich als kennzeichnend zugleich<br />

auch für die in den folgenden Jahren entstehenden Werkkomplexe,<br />

in denen sich <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> jeweils unterschiedlichen<br />

Themenschwerpunkten nähert, Themen aus Philosophie und<br />

Wissenschaft. »Ich setze Zeichen in der fragmentierten Landschaft<br />

zeitgenössischer Weltanschauung.«<br />

Tanz des Werdens<br />

Ungeachtet des Frühwerks, von dem Beispiele in Katalogen dokumentiert,<br />

nicht aber erhalten sind, markiert die Bodeninstallation<br />

›Nigredo‹ von 1990 (Abb. 1) den eigentlichen Beginn dieser<br />

für <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> so charakteristischen Arbeitsweise. 16 quadratische<br />

Felder aus schwarz lackiertem Holz mit kreisförmigen<br />

Vertiefungen in der Mitte werden schachbrettartig auf dem Boden<br />

angeordnet. Die ›Becken‹ sind mit Pflanzenöl angefüllt, in<br />

dem Farb-Pigmente schwimmen; sie verändern unter dem Einfluß<br />

von Raumwärme ihre Form, rufen schlierige Farbspuren<br />

hervor. Bilder momenthafter Ordnung entstehen, chromatische<br />

Feuerwerke einer steten Veränderung von Verdichtung und Verflüchtigung,<br />

gefaßt in der Form des Kreises, gerahmt durch das<br />

schwarze Quadrat. »Phasenübergänge erster Ordnung sind von<br />

der Art, die wir alle kennen, also sprunghaft und scharf abgegrenzt.<br />

Steigt zum Beispiel die Temperatur eines Eiswürfels<br />

über 0 Grad, verwandelt sich das Eis sofort in Wasser. Im Grunde<br />

werden die Moleküle dabei zu einer Entscheidung für Ordnung<br />

oder für das Chaos gezwungen [...]. Phasenübergänge<br />

zweiter Ordnung kommen in der Natur viel seltener vor [...]. Aber<br />

sie sind viel weniger abrupt, weil die Moleküle in einem solchen<br />

System nicht zu einer Entscheidung gezwungen werden. Sie<br />

kombinieren Chaos und Ordnung [...]. Ordnung und Chaos umringen<br />

sich in einem komplexen, ständig changierenden Tanz<br />

submikroskopischer Arme und Filamente. Die größten geordneten<br />

Strukturen strecken ihre Finger beliebig weit und beliebig<br />

lange aus. Nichts kommt je zur Ruhe.«3 Konzentriert, ausschnitthaft<br />

wird hier nur ein Blick gewährt auf diesen ›Tanz‹ des<br />

Werdens und Vergehens von Materie – uranfänglich, endzeitlich.<br />

1993 realisiert <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> die zweiteilige Installation ›Metagenneto‹<br />

(Abb. 2) in der Kölner St. Agnes-Kirche: ein Stahlbecken<br />

im Eingangsbereich, randvoll mit roter Flüssigkeit, gekrönt<br />

von einem weißen Baldachin aus geschliffenem Plexiglas,<br />

und ein durchsichtiger Schlauch, der, ebenfalls mit roter Flüssigkeit<br />

gefüllt, von der Vierung herabhängt und in einem roten<br />

Tuch endet. ›Metagenneto‹ ist ein Begriff aus der Gnosis4 und<br />

läßt sich wohl am ehesten übersetzen mit Erkenntnis bzw. im<br />

weiteren Sinne mit Wandlung – als Wandlungsfähigkeit, Veränderlichkeit,<br />

als innere Erneuerung, als Prozeß. Allerdings erweitert<br />

<strong>Weimer</strong> ihn um den Gedanken des Wunders der Geburt und<br />

um jene Wandlung, wie sie von alters her in allen Kulturen im<br />

monatlichen Zyklus der Frau gesehen wird. Rot = Blut = Energie,<br />

Lebenskraft, Lebenskreislauf, aber auch Verletzung, Tod<br />

und Wiedergeburt – Anknüpfungen an einen Themen- und Bedeutungskomplex,<br />

der weit über den christlich-abendländischen<br />

hinausgeht, weit vor ihm anzusiedeln und doch eng mit<br />

ihm verbunden ist. Zudem wird eine Ahnung um die uralte Farbsymbolik<br />

greifbar, kommen Sätze in den Sinn wie ›Weiß wie<br />

Schnee, Rot wie Blut, Schwarz wie Ebenholz‹ oder ›Schnee, befleckt<br />

von Blut‹.<br />

3


1 Nigredo, 1990<br />

Installation<br />

Öl, Pigmente, Metall, Holz<br />

16teilig, je 88 x 88 x 32 cm<br />

Im Besitz der Künstlerin<br />

2 Metagenneto I, 1993<br />

a<br />

zweiteilige Installation<br />

Teil I: 240 x 120 x 210 cm<br />

Metall, Acrylglas, Öl, Pigment<br />

b Metagenneto II, 1993<br />

Teil II; Schlauch 2.500 cm lang,<br />

Tuch, Öl, Pigment<br />

Im Besitz der Künstlerin<br />

3 Transmitter, 1994<br />

Vinnylan, Licht<br />

Innenraum, 640 x 240 x 180 cm<br />

Museum für konkrete Kunst,<br />

Ingolstadt/Deutschland<br />

4 Die Lagerung, Die Überquerung,<br />

Die Erregung, 1995<br />

patiniertes Kupfer, Paraffin<br />

48 x 144 x 24, 24 x 36 x 24,<br />

144 x 40 x 24 cm<br />

Privatbesitz<br />

1<br />

2 a 2 b<br />

4


<strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong><br />

3<br />

4<br />

5


Technisierung<br />

Vorstellungen von Schwarz wie erhaben, kostbar und zugleich<br />

auch tot, von Weiß wie Reinheit, Unberührtheit und Kälte, von<br />

Rot wie Leben werden unterschwellig auch wach bei der Installation<br />

›Transmitter‹ von 1994 (Abb. 3), für die <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> erneut<br />

die Materialien Stahl, PVC-Schlauch, Wasser, Öl und Pigmente<br />

einsetzt. Diesmal stehen zwei hohe Stahlblöcke<br />

nebeneinander zentral in einem leeren Raum, verbunden auf<br />

den Innenseiten durch 64 leicht durchhängende Schläuche, die<br />

mit roter oder klarer Flüssigkeit gefüllt sind, gespeist von außen,<br />

von wo je ein roter oder transparenter Schlauch in die Stelen<br />

führt, von den Außen-Wänden (oder aus dem Boden) kommend<br />

und dort vermeintlich verbunden mit einer außerhalb des<br />

Raumes sich befindenden ›Quelle‹ – vielleicht auch mit weiteren,<br />

sich unserer Sicht lediglich entziehenden Apparaturen? Denn<br />

wie ein Apparat erscheint diese raumgreifende, streng symmetrisch<br />

aufgebaute Arbeit, wie eine Herzmaschine, die den Transport<br />

der lebenswichtigen roten Flüssigkeit gewährleistet. Und<br />

noch halten sich rote und durchsichtige Schläuche die Waage,<br />

noch ist das Verhältnis in der Balance, ist die Zweipoligkeit, die<br />

unseren Körper prägt, die den Aufbau unseres Gehirns bestimmt,<br />

in Ordnung. Noch erfüllt die Übertragungsanlage<br />

›Transmitter‹ ihren Dienst, noch scheint durch ein Umschreiten<br />

Kontrolle möglich.<br />

Dieses Gefühl wird dem Betrachter der Arbeit ›Transfusion‹ dann<br />

aber genommen, in beiden Fassungen (Abb. 9). In der von 1998,<br />

für die im Außenraum ein Container als technoider Körper aufgebaut<br />

wurde, und in der 2001 für das Lehmbruck-Museum in<br />

Duisburg realisierten Version, in der der für die Installation gebaute<br />

Raum allerdings kaum als solcher in Erscheinung tritt, ist<br />

doch nur eine Seite sichtbar, eine gezogene Wand. Hier wie dort<br />

wird denn mehr als ein Einblick in das rot beleuchtete Innere<br />

auch nicht gewährt; es gilt im Außen, im Davor zu verharren. Und<br />

dennoch nimmt uns das aus diesem Raum strömende Rot gefangen,<br />

droht uns dieses dichte Bündel von rot-transparenten<br />

Schläuchen wie eine riesige Welle mitzureißen. Außen und Innen<br />

verschwimmen, wir scheinen uns in ihrem Sog zu verlieren und<br />

dabei einzutauchen in dieses Meer blutroter Bahnen, in das Innere<br />

eines Organismus, dessen Größe beängstigend ist, unkontrollierbar<br />

trotz aller Technik. Denn sind wir wirklich noch Beobachter<br />

oder nicht vielleicht schon lange Beobachtete: vermessen,<br />

entschlüsselt, vernetzt, regulierbar, maschinell am Leben zu erhalten?<br />

Dann wäre wirklich, wie <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> schrieb, »die<br />

vollkommene Technisierung des menschlichen Körpers mit dem<br />

Ende der Evolution gleichzusetzen«.5 Doch dies gilt wohl nicht<br />

allein für den menschlichen Körper, sondern für Leben überhaupt,<br />

zumal das pflanzlich-organische, entsteht doch in den Laboratorien<br />

weltweit schon längst künstliches Leben.<br />

Analog und parallel zur Natur<br />

Von 1995 datiert der mehrere Einzelarbeiten umfassende Werkkomplex<br />

›Tropen‹ (Abb. 8), von 1996 die Serie ›Ressourcen‹<br />

(Abb. 7).<br />

Strukturen vegetativer Lebensformen finden sich bei den ›Tropen‹,<br />

gefaßt in Stahl, Gummi, Silikon, Latex und Kautschuk, geformt<br />

als identisch dicke Stelen, variiert in der Zusammensetzung<br />

der jeweiligen Materialien und in der Farbigkeit. Erneut<br />

dominieren Rot, Weiß und Schwarz, eine Farbskala, die weniger<br />

Organisches assoziieren läßt denn vielmehr gegeben ist allein<br />

durch das verwendete Industriematerial. <strong>Weimer</strong> verzichtet<br />

denn auch bewußt auf jegliches Farb-Feuerwerk, auf alles Explosive.<br />

Vielmehr werden hier Strukturen pflanzlichen Wachstums<br />

wie unter dem Mikroskop vergrößert im Ausschnitt gesehen,<br />

und nur dieser wird ›übersetzt‹ – so ist jede einzelne Stele<br />

eine in sich schlüssige Formulierung und doch nur ein Teil fortsetzbar,<br />

ergänzbar, »das generelle Format der Serie ist von universeller,<br />

synthetischer Struktur, wobei jede einzelne Arbeit eine<br />

besondere, spezifische Äußerung ist.«6<br />

Jeder einzelnen Stele bereits inhärent ist das Potential von<br />

Wachstum, doch wird dieses erst in der Reihung ›buchstabiert‹,<br />

ja ›dekliniert‹: als Ordnung, als eine allem Wachstum zugrunde<br />

liegende Struktur herausgestellt, die die Möglichkeit der Veränderung<br />

bereits in sich trägt.<br />

Von Analogien zur Natur oder einem künstlerischen Schaffen<br />

parallel zur Natur kann hier allerdings nicht die Rede sein, was<br />

deutlich wird in dem Moment, in dem wir beide Begriffe ›Analog<br />

und ›Parallel‹ zumindest grob skizzieren anhand der künstlerischen<br />

Haltungen von Hans Arp und Piet Mondrian – pars pro<br />

toto seien diese beiden genannt.<br />

»Ich suchte«, so Arp, »nach neuen Konstellationen von Formen,<br />

wie sie die Natur in unendlicher Fülle stetig bildet. Ich versuche<br />

Formen wachsen zu lassen [...]. Und ich träumte von Bildern,<br />

die zahllose Bilder in sich vereinigen würden.«7 Die Differenz<br />

zwischen Kunst und Natur sollte für ihn so gering wie möglich<br />

sein und schließlich ganz überwunden werden. Die entscheidende<br />

Möglichkeit hierzu sah er in der analogen Übertragung<br />

natürlicher Formprozesse auf die Kunst. Zentrales Stichwort ist<br />

dabei ›Konkretion‹, also Transformation, Bewegung, Gesetz,<br />

Notwendigkeit, Zufall, Harmonie. Dementsprechend konzentriert<br />

sich die Naturvorstellung Arps auf diese allgemeinen Naturbegriffe<br />

und ihre Gesetzmäßigkeit. Denn Natur ist für ihn die<br />

Erscheinungsform der Wirklichkeit und der ihr zugrunde liegenden<br />

Strukturen, die sich der unmittelbaren Veranschaulichung<br />

verweigern – zu dieser Wirklichkeit müsse die Kunst führen,<br />

über den Weg der Natur. Analog der Natur bezeichnet mithin eine<br />

methodische Möglichkeit, mittels derer die Kunst für sich beanspruchen<br />

kann, eben dieses Nicht-Erreichbare via Ähnlich-<br />

6


<strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong><br />

keitsbeziehung wesentlicher Formmerkmale zugänglich zu machen.<br />

Daß dabei ein Moment von Empirie Voraussetzung ist,<br />

versteht sich von selbst.<br />

»Parallel zur Natur« hingegen beruht als Methode stets auf einer<br />

Setzung, entbehrt folglich, zumindest weithin, jedweden empirisch<br />

gegründeten Fundaments. Mithin verläuft für Mondrian die<br />

anschauliche Erkenntnis der Grundstrukturen von Natur und<br />

Wirklichkeit denn auch über den Akt der Gestaltung, der Konstruktion.<br />

»In der Natur sind alle Verhältnisse verschleiert durch<br />

die Materie. – Solange die Gestaltung sich irgendwelcher ›Form‹<br />

bedient, ist es ausgeschlossen, reine Verhältnisse zu gestalten.<br />

Der Weg der neuen Gestaltung ist eine Konstruktion, welche die<br />

Bildung begrenzender Formen vermeidet, dadurch kann sie ein<br />

objektiver Ausdruck der Realität sein.«8 Für ihn gilt es, die der<br />

unfaßbaren Vielfalt der Natur zugrunde liegende, sie prägende<br />

Struktur in eindeutigen Formen der Konstanz zu fassen, in<br />

Grundformen also wie etwa dem Quadrat.<br />

Beider Naturauffassung allerdings basiert auf einem Weltbild,<br />

das zu diesem <strong>Zeit</strong>punkt gemeinhin noch ein deutlich anthropozentrisches<br />

gewesen ist, kurz: der Mensch als Schöpfer einer<br />

kulturalisierten Natur. Folglich war und ist Natur nicht mehr eine<br />

ursprüngliche – wie noch für die Romantiker –, sondern nur<br />

noch eine durch Landschaft vermittelte. Doch wurde diese vom<br />

Menschen produzierte ›zweite‹ Natur schließlich zunehmend von<br />

Künstlern als eine problematische verstanden und nicht selten<br />

innerhalb des Gegensatzpaares Kultur – Natur thematisiert. Man<br />

denke in diesem Zusammenhang nur an die Land-Art. <strong>Zeit</strong>genössische<br />

Künstler nun beziehen ihr Formenrepertoire immer<br />

häufiger aus Forschungslaboratorien, aus der Welt der Wissenschaften,<br />

jener Welt, in der hartnäckig an der Verschiebung der<br />

seit Menschengedenken gültigen, unantastbaren Grenzen zwischen<br />

natürlichem und künstlichem Leben gearbeitet wird – der<br />

sogenannten Dritten Natur. Daher ist dann im ausgehenden 20.<br />

bzw. beginnenden 21. Jahrhundert, wie Söke Dinkla in ihrem<br />

Aufsatz ›Von der Ersten zur Dritten Natur‹ überzeugend darlegt,<br />

»der ›neue Mensch‹ [...] nicht der für seine Selbstüberschätzung<br />

bestrafte ›Übermensch‹, es ist auch nicht der ›secundus deus‹ –<br />

der Mensch als zweiter Gott –, der von der Renaissance bis in<br />

die Moderne überlebt hat, sondern es ist der Mensch als Mediator,<br />

als Vermittler zwischen den Überlappungen der ersten,<br />

zweiten und dritten Natur.«9<br />

So provozieren die Arbeiten von <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> Fragen, deren<br />

Beantwortung uns nicht allein zu den Natur-Wissenschaften<br />

führt. Und natürlich implizieren sie die Antworten nicht eindeutig,<br />

weisen eher die Richtung, wo diese vielleicht zu finden sind – in<br />

Bereiche, in denen wiederum nach Antworten gesucht wird.<br />

Denn auch wenn die Grenze des Erklärbaren noch immer weiter<br />

verschoben wird, auf die viel zitierte Frage nach dem, »was die<br />

Welt im Innersten zusammenhält«, gibt es nach wie vor keine<br />

endgültige Antwort. Die Arbeiten von <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> sind denn<br />

auch notwendigerweise Teil dieses Findungsprozesses, dieser<br />

Suche, sind als Setzungen der Offenheit, Fortsetzbarkeit, der<br />

Symmetrie und der Kontraste Teil der jeder fragenden Suche inhärenten<br />

Dynamik. Auf diesen ›stato nascendi‹ bezogen hat<br />

Werner Heisenberg für Natur-Wissenschaft und Kunst gleichermaßen<br />

gefolgert: »Obwohl es sich am Ende um neue Gestaltung<br />

und das Bilden neuer Formen handelt, können die neuen Formen<br />

nur aus dem neuen Inhalt entstehen; es kann nie umgekehrt<br />

gehen. Neue Kunst machen, heißt also, so würde ich vermuten,<br />

neue Inhalte sichtbar oder hörbar zu machen – nicht nur<br />

neue Formen erfinden.«10 <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> unternimmt immer<br />

wieder Ausgriffe auf jene Forschungsgebiete, deren Erkenntnisse<br />

eng mit der revolutionären Veränderung des Menschenbildes<br />

unserer <strong>Zeit</strong> zusammenhängen, wenn nicht sogar diese bedingen.<br />

Denn Kunst ist für sie anschauliches Denken, ist Erkenntnisprozeß<br />

– der sie auf jenen Weg zwischen Kunst und Wissenschaft<br />

führt, der weder analog noch parallel verläuft und<br />

Arbeiten entstehen läßt, die die Strukturen von Wirklichkeit imaginieren,<br />

nicht aber deren Gesetze. »Dieser Wieso-Effekt, das<br />

Erstaunen, das tou mazein im Griechischen, steht« für den Soziologen<br />

Niklas Luhmann, »ja überhaupt am Anfang der Kunst.<br />

Das ist (für den Betrachter) die schockartige Konfrontation mit<br />

einer anderen Realität, die auch Ordnung zu sein verspricht.«11<br />

Quelle Natur, Ressource Kunst<br />

Auf den Werkkomplex der ›Tropen‹ (Abb. 8) bezogen, spricht<br />

<strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> von der »Überführung der Source Natur in die<br />

Ressource Kunst«. Dies gilt auch in Hinblick auf die Serie ›Ressourcen‹<br />

von 1995 (Abb. 7). Die Unterscheidung zwischen Ressource<br />

und Source erklärt sich hierbei aus der französischen<br />

Bedeutung beider: Ressource bezieht sich auf das Materielle,<br />

auf Bodenschätze. »In seiner ökonomischen Sinngebung aber<br />

wird es zum Mittel, mit dem etwas – Handel, Tausch – möglich<br />

wird. Das Wort zerfällt somit in zwei Teile. Einerseits klingt in<br />

ihm der materielle Ursprung, eine Quelle (source) an, andererseits<br />

stellt es den Mechanismus dar, der die source zu einer ressource,<br />

zu einem Mittel innerhalb eines Mechanismus macht.<br />

Darin aber verliert der materielle Ursprung an Substanz, da er<br />

ohne die Mittel zu seiner Nutzbarmachung nutzlos bliebe.«12<br />

Parallelen zur ›Ressource‹ Kunst ergeben sich da von selbst.<br />

In dieser Serie hat <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> Körner und Samen in Paraffin<br />

eingegegossen, sie somit konserviert, doch zugleich auch ihrer<br />

Nutzbarmachung entzogen. Abhängig von der Farbigkeit der<br />

verwendeten Körner und ihrer jeweiligen Form entstehen leicht<br />

in sich strukturierte, beinahe monochrome Farbtafeln – Quadrate,<br />

geformt aus dem künstlichen Material Paraffin, eine ›künstliche‹<br />

Grundform, die die chaotisch anmutende Sammlung natür-<br />

7


5 6<br />

7<br />

8


<strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong><br />

6<br />

5 Das Zusammenhalten, 1995<br />

patiniertes Kupfer, Salz<br />

30 x 30 x 30 cm<br />

Kay Kimpton Contemporary Arts, San Francisco/USA<br />

6 Not to see, 1995<br />

Gummi, Stahl<br />

52 x 38 x 20 cm<br />

Privatbesitz<br />

7 Ressourcen, 1995/2000<br />

Paraffin, diverse Körner und Samen<br />

je 30 x 30 x 6 cm<br />

Privatbesitz<br />

8 Tropen, 1995/2000<br />

Stahl, Gummi, Silikon, Kautschuk<br />

6 von 12 Teilen, je 180 cm lang, Durchmesser ca. 12 cm<br />

Privatbesitz<br />

9


licher Körner in Form bringt, ordnet, ihr Einhalt gebietet. Vergleichbar<br />

der Grundform des Kreises, die <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> in den<br />

folgenden Jahren für die Installationen ›Circulation‹ (Abb. 12)<br />

und ›Morphogenesis‹ (Abb. 11) und ›aggregatrot‹ (Cover) aufgreift.<br />

In ›Circulation‹ dienen zehn transparente, zylinderförmige Acrylglaskörper<br />

als Knotenpunkte innerhalb eines rotfarbigen, sich in<br />

einer schier endlosen Schleife auf der Wand entfaltenden Lineaments:<br />

als Punkte der Kreuzung, der Überlappung, als Verbindungspunkte<br />

eines dichten Netzwerkes. Daher fiele, wollte man<br />

das Werk von <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> mit nur einer einzigen Arbeit charakterisieren,<br />

die Wahl wohl auf diese.<br />

›Morphogenesis‹, der naturwissenschaftliche Begriff, steht für<br />

die Untersuchung der fundamentalen Frage, wie biologische<br />

Formen und Strukturen generiert werden, und für einen Forschungsschwerpunkt<br />

in der regenerativen Medizin. Die Werkgruppe<br />

›Morphogenesis‹ umfaßt Tuschezeichnungen auf diversen<br />

Schichten Transparentpapier, Wandobjekte aus Acrylglas<br />

und Vinnylan sowie eine auf den Zeichnungen basierende Computeranimation.<br />

Ausgangspunkt bilden jeweils rote, leicht<br />

fließende Linien, die, eine imaginäre Kreisform durchziehend, in<br />

der Mitte Netzwerke jeweils unterschiedlich dichter Konzentrationen<br />

erzeugen. Diese werden intensiviert noch durch die Lagerung<br />

mehrerer Papiere, mehrerer dieser zarten linearen Gebilde.<br />

Aus dem Zweidimensionalen der Zeichnung entwickelt sich<br />

auf diesem Weg ein fast diffuser Körper, ein sich langsam verändernder<br />

und sich doch in den Grenzen des vorgegebenen<br />

Kreises bewegender, ja atmender Zellkörper.<br />

Dieser Eindruck des Atmens wird verstärkt in der Computeranimation,<br />

in der die Zeichnungen durch ›Morphing‹13 fortlaufend<br />

ineinander übergehen und dabei immer wieder neue komplexe<br />

Geflechte hervorbringen, die an Adern denken lassen, an sich<br />

unter dem Mikroskop verändernde Mikroorganismen. Begleitet<br />

wird diese Animation – dieses computergesteuerte Zum-Leben-<br />

Erwecken von einem extrem verlangsamten und verdunkelten<br />

Herzton, der den Takt des steten Wandels vorgibt.<br />

Klare Formen – ›Schnitte‹<br />

Das Thema der Mikroorganismen greift <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> 2004<br />

auch auf in der zehnteiligen Installation ›aggregatrot‹ auf: unterschiedlich<br />

große und verschieden hohe Zylinder aus dunkelrot<br />

gefärbtem Acrylglas beinhalten mehr oder weniger dichte Geflechte<br />

schwarzer Schläuche, halten sie unter Verschluß. Allerdings<br />

sind die Oberflächen der semitransparenten Behälter<br />

partienweise gelöchert, so daß hier und da schwarze Schaumstoffschläuche<br />

nach außen zu drängen scheinen, die ordnende<br />

Form des Kreises sprengend. Der Kreis als die Form ohne Anfang<br />

und ohne Ende gilt von jeher als Form für den ewigen<br />

Kreislauf von Werden und Vergehen. Im Zusammenhang mit<br />

dem Werk von <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> markiert er darüber hinaus auch<br />

jenen, vom Mikroskopieren her vertrauten Aus-Schnitt des zu<br />

Untersuchenden, des zu Entdeckenden. Er markiert den Rahmen<br />

des Wahrnehmbaren, erweitert diesen trotz seiner Begrenztheit<br />

– durch Schnitte, Schnitte in Gewebe, in Körper. <strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong> nennt Ihre Skulpturen denn auch ›Schnitte‹.<br />

Auffallend am Werk von <strong>Birgitta</strong> Weimar ist das Vorherrschen<br />

klarer Formen wie Kreis, Quadrat und Rechteck, diesen vom<br />

Menschen vor langem erdachten Setzungen als den Gegenpolen<br />

eines natürlichen, unkontrollierbaren Chaos'.<br />

Wir begegnen einer dieser Grundformen zuvor bereits in der<br />

Werkreihe der patinierten Kupfer-Paraffin-Objekte von 1995:<br />

blockhafte, meist dreiteilige Arbeiten, in denen Paraffin zwischen<br />

Kupfer gelagert, geschichtet, gefaßt wird. Kupfer, jenes<br />

Material, das Wärme leitet, patiniert von grünlich schwarzer Farbigkeit,<br />

nicht von rötlich hochglänzender. Dazwischen das synthetische<br />

Paraffin, erstarrt, in Form gepreßt und von purem<br />

Weiß. Ein Wechsel von Dunkel und Hell, Dichte und Transparenz,<br />

von Materialität und Immaterialität, von Präsenz und Auflösung.<br />

Die Klarheit ihres Aufbaus entrückt diese Wand- und Bodenobjekte<br />

in einen Bereich, den wir vorsichtig mit zeichenhaft<br />

umschreiben möchten – ähnlich <strong>Weimer</strong>s frühen Arbeiten zum<br />

Buch des I-Ging. Die Lesart wird vorgegeben schon durch das<br />

In-Eins konträrer Materialien, konträrer Eigenschaften, durch<br />

das Sich-Bedingen und Ergänzen von Gegensätzlichem. »Was<br />

uns hier im Kunstwerk begegnet, ist die ganzheitliche Sicht der<br />

Dinge, für die uns die fernöstlichen Religionen in den letzten<br />

Jahren stark sensibilisiert haben. Ihnen verdanken Künstler und<br />

Wissenschaftler gleichermaßen das heutige Weltbild zunehmend<br />

bestimmender Einsichten, schließlich auch jene, daß Naturwissenschaften<br />

und Kunst keine feindlichen Lager sind, sondern<br />

zwei unterschiedliche Wege zu letztlich denselben Zielen:<br />

Was ist die wahre Natur der Dinge, was die Formel der Welt?«14<br />

Diesen unterschiedlichen Wegen, den für die jeweilige Wissenschaft<br />

charakteristischen Frage- und Herangehensweisen galt<br />

von Anfang an das künstlerische Interesse von <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong>.<br />

So ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, daß sich ihre<br />

Formulierungen im Verlauf der Werkentwicklung nicht dem Diktat<br />

einer einzigen, auf Anhieb erkennbaren ›Handschrift‹ unterworfen<br />

haben; zumindest, was die Erscheinungsform ihrer Arbeiten<br />

betrifft. Und doch sind die einzelnen Werkgruppen<br />

miteinander verbunden – durch die Komplexität der ihnen zugrunde<br />

liegenden Fragestellung. Alle sind miteinander vernetzt,<br />

bilden ein Netzwerk. Ein Netzwerk »als der Summe möglicher<br />

Verbindungen zwischen mehr oder weniger zahlreichen Knoten.<br />

Man kann es nach Bedarf auf seine Verbindungen oder auf seine<br />

Knoten hin betrachten. Und man kann feste von losen Verbindungen<br />

und harte von weichen Knoten unterscheiden. Im<br />

10


<strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong><br />

Prinzip ist es der Sinn eines Netzwerkes, aus festen lose und<br />

aus losen feste Verbindungen machen zu können, sowie harte<br />

Knoten aufzulockern und lockere Knoten einschnüren zu können.<br />

Das heißt, ein Netzwerk eröffnet Dispositionsspielräume<br />

und läßt sich von Vorgaben nicht beeindrucken. Andererseits<br />

setzt es zur Ausnutzung der Dispositionsspielräume voraus, daß<br />

Organisationskenntnisse bestehen und für relevante Beteiligte<br />

wieder erkennbar abgerufen werden können. Ein Netzwerk ist<br />

eine Vorgabe möglicher Dispositionen über mögliche Formen<br />

von Organisation.«15<br />

Mögliche Formen von Organisation thematisiert die Werkgruppe<br />

›M-Spaces‹ (Abb. 10), von der <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> als »Verbildlichung<br />

unvorstellbarer Theorie durch Analogie« spricht. Den Begriff<br />

Analogie versteht sie hier als Dialogform, als bildlichen Gegenpol<br />

zu der von Zahlen bestimmten und sich in der Kategorie<br />

des Entweder/Oder bewegenden digitalen Denkens.<br />

Anstoß zu diesen Arbeiten der ›M-Spaces‹ gab die Beschäftigung<br />

mit der M-Theorie, einer neuen, sich empirischer Überprüfung<br />

entziehenden Vorstellung, daß jegliche Materie von unvorstellbar<br />

winzigen Schläuchen im zehndimensionalen Raum<br />

durchzogen ist.<br />

Unterschiedlich große, aus stählernen Rundrohren konstruierte<br />

Kästen werden hier so dicht von roten und transparenten<br />

Schläuchen durchzogen, daß nahezu undurchdringliche Geflechte<br />

entstehen. Nur die Augen finden ihren Weg hindurch zu<br />

der dahinter liegenden Wandfläche, vor der diese ›Spaces‹ plaziert<br />

sind: diese über die kastenförmige Rahmung auf der Wand<br />

definierten Räume. Die einzelnen Schläuche münden darin, lassen<br />

sich mühelos überführen in ähnlich geartete Strukturen: kleinere,<br />

größere, umfassendere. Ausschnitte nur aus einem nicht<br />

überschaubaren, nicht durchschaubaren Ganzen: makrohaft<br />

vergrößerte Gewebeschnitte und/oder Strukturen der Halbleitertechnologie<br />

und ihrer Vernetzungen. Jener Vernetzungen und<br />

Verkabelungen, die uns langsam vollkommen zu umgeben und<br />

einzuspinnen drohen – unentwirrbar, unentrinnbar!<br />

»Eine einheitliche Front alles Bildens und Forschens (Naturwissenschaft,<br />

Philosophie, Literatur, Kunst und Musik)«, so Willi<br />

Baumeister, »ist vorhanden. Betrachtet man wissenschaftliche<br />

Fotos, Mikrofotos, Diagramme in planiger oder skulptureller Art,<br />

so fällt eine gewisse Ähnlichkeit mit den Formungen innerhalb<br />

der neuzeitlichen Kunst auf [...]. Die äußere Ähnlichkeit von<br />

Kunstwerken mit solchen Dingen, die Forschen und Wissen ins<br />

Sichtbare und Tastbare (durch Modelle, Diagramme und so weiter)<br />

übersetzen, bleibt an der Oberfläche. Die tieferliegenden Beziehungen<br />

sind damit nicht aufgedeckt, nur angedeutet.«16<br />

Anmerkungen<br />

1 <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> im Gespräch mit der Autorin im<br />

November 2005. Soweit nicht anders ausgewiesen,<br />

gilt dies auch für die folgenden Zitate der<br />

Künstlerin.<br />

2 <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong>, in: Spielfelder, Kat. Kunstverein<br />

Springhornhof e.V. Neuenkirchen 1989<br />

3 Zitiert nach <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong> in: ›Holon‹, Ausst.-<br />

Kat. Bergisch-Gladbach, Kyoto, Sapporo 1998,<br />

S. 56<br />

4 Die Gnosis ist eine religiöse Bewegung des 2.<br />

Jahrhunderts n. Chr. Sie stellte ein Konglomerat<br />

unterschiedlichster Religionen des griechischrömischen<br />

und orientalischen Kulturkreises dieser<br />

<strong>Zeit</strong> dar und ist in ihrem Ansatz dualistisch.<br />

5 <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong>, in: Die Dritte Natur, Dokumente<br />

Unserer <strong>Zeit</strong> XXVIII, Kat. Dorothea van der Koelen<br />

Galerie, Mainz 2002, S. 48<br />

6 Vincent Carducci: <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong>, Review der<br />

Ausst. in der Sybaris Gallery 2004, in: ›sculpture‹,<br />

art magazin, New York, April 2004, S. 70<br />

7 Sophie Taeuber-Arp/Hans Arp, Zweiklang, ed. V.<br />

Ernst Scheidegger, Zürich 1960, S. 84 f.<br />

8 Zitiert nach Walter Hess, Dokumente zum Verständnis<br />

moderner Malerei, Hamburg 1958, S.<br />

100<br />

9 Söke Dinkla, Transformation des Biologischen in<br />

der Kunst, in: Unter der Haut, Ausst.-Kat. Wilhelm<br />

Lehmbruck Museum, Duisburg 2001, S. 26<br />

10 Werner Heisenberg, a. a. O., S. 274<br />

11 Hans Dieter Huber, Interview mit Niklas Luhmann<br />

am 13.12.90 in Bielefeld, veröffentlicht in:<br />

Texte zur Kunst, Vol. I, (Herbst 1991), Nr. 4, S.<br />

128<br />

12 Gregor Schwering, Zur Unterscheidung von<br />

source und ressource, in: <strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong>, Holon,<br />

Ausst.-Kat., a. a. O., S. 43<br />

13 Abgeleitet von Metamorphose, Verwandlung,<br />

bezeichnet der Begriff ›Morphing‹ die schrittweise<br />

und nahezu unmerkliche Verwandlung eines<br />

Objekts.<br />

14 Wolfgang Vomm. Die Kupfer-Paraffin-Objekte.<br />

Materialikonographische Überlegungen, in: <strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong>, Holon, Ausst.-Kat., a. a. O., S. 17<br />

15 Dirk Baecker, Kleines ABC des Netzwerks, in:<br />

<strong>Birgitta</strong> <strong>Weimer</strong>, Holon, Ausst.-Kat., a. a. O., S.<br />

60<br />

16 Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Kunst,<br />

Stuttgart 1947, S. 118 f.<br />

Fotonachweis<br />

Abb. 12<br />

Alle anderen<br />

Abbildungen<br />

Wolfgang Günzel, Offenbach<br />

Oliver Schuh,<br />

Palladium Photodesign,<br />

Köln/Berlin<br />

Die Autorin ist Kunstpublzistin und lebt in Leverkusen.<br />

11


9 Transfusionen I-III, 1998/2002<br />

Vinnylan, Licht<br />

Installation, Innenansicht (Detail)<br />

240 x 640 x 180 cm<br />

Stiftung Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg/Deutschland<br />

10 M-Space IV, 2000<br />

Stahl, Vinnylan<br />

180 x 180 x 45 cm<br />

Privatbesitz<br />

11 Morphogenesis, 2003/04<br />

a<br />

Acrylglas, Vinnylan<br />

Installation, diverse Maße<br />

Kreditanstalt für Wiederaufbau, Berlin/Deutschland<br />

b Morphogenesis, 2003/04<br />

Detail: Durchmesser 50 cm, Tiefe 16 cm<br />

Stiftung Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg/Deutschland<br />

9<br />

10<br />

12


<strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong><br />

11 a<br />

11 b<br />

13


Aisthesis bedeutet nach Aristoteles Fähigkeit zur Wahrnehmung<br />

und bildet die gemeinsame Grundlage von Kunst und Wissenschaft,<br />

die als gleichberechtigte Systeme unsere Wahrnehmung<br />

von Wirklichkeit definieren. Ich betrachte Kunst als Erkenntnisprozeß,<br />

künstlerische Arbeit als intuitives Denken.<br />

Hintergründe meiner Arbeit bilden biografische Erfahrungen in<br />

verschiedenen Kulturen und die permanente Beschäftigung mit<br />

dem <strong>Zeit</strong>geist, der Kulturanthropologie, der Philosophie und in<br />

den letzten zehn Jahren vermehrt den Naturwissenschaften, die<br />

als Biotechnologien unser Selbst- und Weltverständnis radikal<br />

verändern.<br />

Nach der ursprünglichen ersten und der vom Menschen kulturalisierten<br />

zweiten Natur befinden wir uns heute in einer Phase der<br />

dritten Natur, in der das Natürliche und Künstliche immer mehr<br />

miteinander verschmelzen.<br />

Weder die Illustration wissenschaftlicher Erkenntnisse oder die<br />

Anwendung von Laborästhetik noch die Beschwörung von Horrorszenarien<br />

oder naiver Cyber-Enthusiasmus definieren meinen<br />

Umgang mit der durch die Lifesciences geprägten dritten Natur,<br />

sondern ich benutze den altmodischen Begriff der Analogie, der<br />

Vielschichtigkeiten und Ambivalenzen mit einschließt, sich damit<br />

einem grundlegenden Diskurs öffnet.<br />

Sie bringen Strukturen in das Chaos unserer Wirklichkeit und<br />

bilden Identität.<br />

»... Art constructs a tenuous point of contact between an infinite<br />

mass of precisely firing neurons and the chaos of our monadic<br />

inner atmosphere. It makes visible both the compositional hard<br />

wiring as well as the emotional cloudiness of thought colliding<br />

with recalcitrant matter. Complex artworks themselves the incarnate<br />

demonstration of the sophisticated process of high-order<br />

cognition, go beyond the analytical issues being tackled in<br />

neuroscience laboratories ...<br />

So far nothing in chemistry, physics or biology explains the nature<br />

of this subjective experience or captures those moments of<br />

connectedness when we most vividly sense that someone is inside<br />

our heads ...<br />

Revitalizing forgotten or despised analogy, then might help us<br />

discover not only how the mind seeks out and binds clear with<br />

fuzzy arrangements, or manages to synthesize the vast quantities<br />

of chaotic data with which we are increasingly inundated,<br />

but how, time and again, it stitches our mutable, compound selves<br />

into a single self in periods of consciousness.«<br />

(Barbara Stafford: Visual Analogy. Consciousness as the Art of<br />

Connecting, p. 179, MIT-Press Cambridge MA, 1999)<br />

Visuelle Analogien knüpfen Verbindungen zwischen verschiedenen<br />

Systemen der Wahrnehmung, zwischen vorwissenschaftlichen<br />

und wissenschaftlichen Ordnungssystemen, zwischen<br />

Kunst und Naturwissenschaften.<br />

14


<strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong><br />

Ordnungssysteme aus verschiedenen Bereichen und <strong>Zeit</strong>en, angefangen<br />

von archaischen Weltmodellen wie dem I Ging bis hin<br />

zu zukunftsweisenden interdisziplinären Wissenschaftstheorien<br />

wie der Komplexitätslehre entfalten unvorhersehbare Zusammenhänge.<br />

Der altchinesische Begriff der Polarität, bei der das Eine immer<br />

im Anderen enthalten ist, übersteigt unsere dualistische Denktradition.<br />

Alle meine Arbeiten beruhen auf Polaritäten unterschiedlicher<br />

Ebenen. Ich bin davon überzeugt, daß Polarität die<br />

Basisstruktur sämtlicher Abläufe in komplexen Systemen ist.<br />

Wissenschaftliche Forschungen z. B. über die Bivalenz von<br />

DNA-Molekülen, den Grundbausteinen der komplexen Vorgänge<br />

der genetischen Reproduktion, bestätigen mich darin.<br />

Fasziniert vom Mythos des Santa-Fé-Institute, des berühmtesten<br />

Thinktanks der USA, begann ich Mitte der 90er Jahre mich<br />

mit der Komplexitätslehre zu beschäftigen, die so unterschiedliche<br />

Vorgänge wie Börsencrashs und Naturkatastrophen erklären<br />

kann. Es entstanden Installationen, die als nicht hierarchische<br />

Netzwerke in Größe und Zusammenstellung variabel sind<br />

(Holon, 1998, Constellation, 2001, Circulation, 2002).<br />

Übrigens interessiert mich an den Naturwissenschaften nicht irgendeine<br />

scheinbare Objektivität. Viele Untersuchungen zeigen,<br />

daß es ästhetische Qualitäten sind, die wissenschaftliche Forschungen<br />

bestimmen. Theorien der neuen Physik wie die Stringtheorie,<br />

die von der Zehndimensionalität des Raums ausgeht,<br />

haben ausgesprochen poetische Qualitäten und sind längst<br />

nicht mehr experimentell nachweisbar.<br />

Jede Erfindung, jede neue Theorie – sei es in der Kunst oder in<br />

der Wissenschaft – definiert die Grenzen zwischen Realität und<br />

Vision neu.<br />

Meine Arbeit mit den drei Dimensionen, die sich zwischen Plastik<br />

(dem Geformten) und Skulptur (dem Geschnittenen) bewegt,<br />

widmet sich der breiten Erforschung der plastischen Aggregatzustände.<br />

Im Studium mit dem plastischen Begriff von Josef Beuys konfrontiert,<br />

erforsche ich seit fünfzehn Jahren eine Fülle von Materialien,<br />

angefangen von Flüssigkeiten, wie Wasser und Öl (Nigredo,<br />

1990, Metagenneto, 1993) über weiche Materialien, wie<br />

Gummi und Silikon (Tropen, 1995 bis 2000), feste wie Wachs<br />

und Körner (Ressourcen, 1995-2000) bis hin zu harten wie Metall<br />

und Glas. Oft ›leben‹ diese Arbeiten durch polare Zusammenstellungen<br />

von Materialien (Arbeiten mit patiniertem Kupfer<br />

und Paraffin, 1992-1995). Seit einigen Jahren spielen auch immaterielle<br />

Faktoren wie künstliches Licht (Transfusionen I-III,<br />

1998-2002) und Tageslicht (Morphogenesis, 2003/2004, aggregatrot,<br />

2004) und die mit ihm einhergehenden Erscheinungen<br />

wie verschiedene Grade von Transluzenz eine zunehmende Rolle.<br />

In Computeranimationen von vielschichtigen Arbeiten auf<br />

Transparentpapier (Morphogenesis, 2005) taucht die vierte Dimension<br />

auf, die <strong>Zeit</strong>.<br />

B. W. 30.11.2005<br />

15


<strong>Birgitta</strong><br />

<strong>Weimer</strong><br />

12 Circulation (10), 2002/05<br />

Acrylglas, Vinnylan<br />

124 x 154 x 6,5 cm<br />

Museum im Kulturspeicher, Würzburg/Deutschland<br />

16

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