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Eulenspiegel Ihre Gebote, bitte! (Vorschau)

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Wenn ich Spaß haben will, setz ich mich mit<br />

einer Tasse Radeberger vor den Fernseher<br />

und zappe mich von RTL zu Phoenix durch. Und<br />

dann beobachte ich mein Parlament, den sogenannten<br />

Souverän, beim Regieren. Meistens<br />

herrscht im Reichstag eine wohltuende gähnende<br />

Leere. Nehmen wir an, im Saal befinden sich zwei<br />

Abgeordnete, und fünf dieser Abgeordneten verlassen<br />

den Raum, dann müssen, nach Adam<br />

Riese, unbedingt drei Abgeordnete wieder rein,<br />

damit der Raum endgültig leer ist.<br />

Ein solcher Tag ist der 28. Juni 2012: Im Plenar -<br />

saal glänzen von 620 Abgeord neten 600 durch<br />

Abwesenheit. Diese haben Wichti -<br />

geres zu tun. Bei der Fußball-Europameisterschaft<br />

läuft nämlich das Halbfinalspiel<br />

Schland gegen Italien! Für<br />

den Deutschen Bundestag eine erstklassige Gelegenheit,<br />

im Handstreich und fast ohne Zeugen<br />

über den Tagesordnungspunkt 21 abzustimmen,<br />

über das MeldFortG, das Gesetz zur Fortentwicklung<br />

des Meldewesens. Um der einschlägigen Beschlussempfehlung<br />

des Innenausschusses zuzustimmen,<br />

benötigt dieses Hohe – und schnelle<br />

– Haus genau 57 Sekunden.<br />

Das MeldFortG fügt sich nahtlos ein in die Welt<br />

der schwarzgelben Nonsensgesetzgebung, die<br />

von Humbugdekreten wie der Herdprämie und<br />

dem Mövenpick-Privileg des »ermäßigten Mehrwertsteuersatzes<br />

fürs Hotelgewerbe« geprägt ist.<br />

Der Merkel-Regierung reicht es nicht mehr, dass<br />

der Steuerzahler mit seinen Spargroschen<br />

Banken rettet, nun lässt sie ihn außerdem mittels<br />

MeldFortG zur Ader. Dieses Meldegesetz ist ein<br />

Hohn auf den Datenschutz und ein krimineller<br />

Freibrief für die mannschaftsstarke Gang der Datendealer.<br />

Es erlaubt Einwohnermeldeämtern,<br />

alle persönlichen Daten der Untertanen meistbietend<br />

an Adresshändler und Inkasso-Agenturen<br />

zu verkloppen. Daran verdienen Geschäfte ma -<br />

cher und Internetschurken aller Art; denn mehr<br />

als tausend Firmen schachern fleißig mit den<br />

Adressen des deutschen Volkes. Die Meldeämter<br />

Das 57-Sekunden-Gesetz<br />

kassieren pro Datensatz zwischen fünf und 15<br />

Euro, der gläserne Datenbürger begnügt sich mit<br />

der Arschkarte zum Nulltarif.<br />

Künftig werden die mit Werbebotschaften<br />

längst randvollen Briefkästen alle Briefe, Karten<br />

und Rechnungen nicht mehr fassen können. Meinem<br />

Faxgerät entquellen bereits heute unerbetene<br />

Angebote in so gewaltigen Mengen, dass<br />

ich ständig das Farbband wechseln muss, Kostenpunkt<br />

25 Euro je Band. Der Swiss Money Report<br />

etwa verspricht mir Mega-Renditen von 1 000<br />

bis 10 000 Prozent: »Kursexplosion! Kaufen Sie<br />

unbedingt die Aktie von Vegas 77 Entertainment<br />

Wörtliche Betäubung<br />

S.E.! 42% Gewinn in einer Woche! Kurs-Rallye<br />

setzt sich fort!!!« Und jede zweite E-Mail stammt<br />

von einem Fräulein, das sich ein Date wünscht,<br />

bei dem ich als Kenner beurteilen soll, ob die<br />

neue Busenvergrößerung ihr Geld tatsächlich<br />

wert ist. Dies findet die absurdistanische Bürokratie<br />

zumutbar. Wenn ich mich dagegen wehren<br />

und wissen möchte, an wen das Meldeamt meine<br />

Daten verscheuert hat, darf ich beim Amt demütig<br />

Auskunft verlangen, und wenn ich tatsächlich<br />

rauskriege, welche Firma dahinter steckt, darf<br />

ich diese anschrei ben und feierlich Widerspruch<br />

ein le gen. Na, herzlichen Glückwunsch!<br />

Wie der süße Brei im Märchen wälzt<br />

sich ein schmuddeliger Papier- und<br />

Pappe-Tsunami auf uns zu, den die mit<br />

Fußball ausgelasteten Volksvertreter<br />

ums Verrecken nicht aufhalten werden. Auch<br />

wenn sie so tun. Die Väter des Gesetzes haben<br />

sich längst als Komplizen der Geschäftemacher<br />

enttarnt: Heuchlerisch rufen sie den Bundesrat<br />

gegen den Bundestag zu Hilfe. Nun soll ausgerechnet<br />

der Bundesrat das Komplott stoppen, obwohl,<br />

nein, weil Schwarzgelb dort gar keine Mehrheit<br />

hat. Die Bundesregierung aber, die unsere<br />

Daten so fleißig veruntreut, hält sich vornehm<br />

raus. Sie hat sich sogar schärfstens distanziert,<br />

und zwar von sich selbst. So weit für heute: Neues<br />

aus der Anstalt.<br />

Ernst Röhl<br />

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EULENSPIEGEL 9/12 17

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