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Hedwig Rudolph / Helga Manthey /<br />

Christine Mayer / Helga Ostendorf /<br />

Ursula Rabe-Kleberg/Ingeborg Stahr (Hrsg.)<br />

Ungeschützte<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

Frauen zwischen Risiko<br />

und neuer Lebensqualität<br />

I<br />

VSA-Verlag, Hamburg 1987


;''1 : : ...<br />

I 'i..}1i. oJ <br />

AUTORINNEN \._.. _ _<br />

;:::----::7'<br />

Baur, Elke, Dr., Jg. 1942, 1968-1972 festangestelh'rrnatrreie Mitar<strong>bei</strong>terin <strong>bei</strong><br />

verschiedenen Rundfunkanstalten der ARD. 1972-1979 Wissenschaftliche Assistentin<br />

am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der FU Ber­<br />

Hn, Schwerpunkt: Film/Fernsehen. Seit 1979 Freie Fernsehproduzentin und Filmemacherin<br />

BiHtewski, Helga, Mitar<strong>bei</strong>terin von HYDRA, Treffpunkt und Beratung für Prostituierte,<br />

Kantstraße 54, 1000 Berlin 12<br />

Dieckhoff, Erika, Mitar<strong>bei</strong>terin des 4. Hamburger Frauenhauses<br />

Discher, Inga, DipI.-Soziologin, Dozentin an der Fachhochschule Wiesbaden/Rüsseisheim,<br />

Mitar<strong>bei</strong>t an der Untersuchung: "Telear<strong>bei</strong>t - Chancen und Risiken für<br />

Frauenerwerbstätigkeit in Hessen" im Auftrag der Bevollmächtigten der hessischen<br />

Landesregierung für Frauenangelegenheiten<br />

Döll, Regine, Mitar<strong>bei</strong>terin von HYDRA, Treffpunkt und Beratung für Prostituierte,<br />

Kantstraße 54, 1000 Berlin 12<br />

Eiche, Christiane, Dipl.-Politologin, Mitar<strong>bei</strong>terin von FRAU UN D ARBEIT e.V.<br />

in Hamburg<br />

Goldmann, Monika, Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin am Landesinstitut Sozialforschungsstelle<br />

Dortmund im Forschungsbereich "Berufsar<strong>bei</strong>t von Frauen"<br />

GottschaU, Karin, J g. 1955, Dipl.-Sozial wirtin, Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin<br />

am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), Forschungsschwerpunkte:<br />

Frauenerwerbsar<strong>bei</strong>t, Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik, Neue Technologien im Dienstleistungssektor<br />

Haas, Lu, 43, Soziologin, 1968-84 Lehre und Forschung an den Universitäten<br />

Frankfurt und Göttingen, Ar<strong>bei</strong>tsschwerpunkte: Berufsausbildung im kaufmännisc<br />

hen und gewerblich-technischen Bereich, Frauenforschung. 1982 Gründung der<br />

Frankfurter Frauenschule. Seit 1984 Konzeption, Projektleitung und wissenschaftliche<br />

Begleitforschung des Qualifikationskurses zur beruflichen Selbständigkeit<br />

für Frauen - Frauenbetriebe, Beratung von Frauenbetrieben, Konzeption<br />

der Ausbildung von Entwicklungsberaterinnen, Förderung der Markthalle GmbH.<br />

Mitglied des EG-Network on Local Initiatives of Women<br />

HUREN WEHREN SICH GEMEINSAM (HWG), Verein zur Förderung der Information<br />

und Kommunikation zwischen weiblichen Prostituierten e.V., Karlsruher<br />

Str. 5, 6000 Frankfurt 1<br />

Karsten, Maria-Eleonora, Dr. phil., Dipl.-Pädagogin, 37 Jahre, Hochschulassistentin<br />

im Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaft der Fernuniversität<br />

Hagen, Ar<strong>bei</strong>tsbereich: Interkulturelle Studien und Ausländerpädagogik<br />

Klug, Gabriele C., Jg. 1955, Juristin, Schwerpunkte: Ar<strong>bei</strong>tsrecht und jüngere<br />

Rechtsgeschichte. Mitar<strong>bei</strong>t an der Untersuchung: "Telear<strong>bei</strong>t - Chancen und<br />

Risiken für Frauenerwerbstätigkeit in Hessen" im Auftrag der Bevollmächtigten<br />

der hessischen Landesregierung für Frauenangelegenheiten<br />

t<br />

L


Krüger, Helga, Dr. phil., Professorin für Familiensoziologie, familiale und berufliche<br />

Sozialisation im Studiengang Berufliche Bildung an der Universität Bremen.<br />

Forschungsaktivitäten aktuell vor allem im Bereich der beruflichen Ausbildung<br />

von Mädchen und der Situation von Frauen in Dienstleistungsberufen<br />

Manthe y, Helga, Jg. 194 7, Politologin. Seit 20 Jahren I,.icht- und Schattenseiten<br />

ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse testend. Nach diversen "Jobs" während des<br />

Studiums 13jährige Tätigkeit auf Honorarbasis in der Erwachsenenbildung und<br />

4j ährige Ar<strong>bei</strong>t mit Honorar- und ABM-Verträgen im Wissenschaftsbereich<br />

Me yer, Christine, Jg. 1949, Dr., Dipl.-Pädagogin, Lehrerausbildung für berufsbi<br />

ldende Schulen. 1979-85 Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin an der Universität<br />

Hannover; seit 1986 Hochschulassistentin am Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik<br />

der Universität Hamburg<br />

Morokvasic, Mir jana, Dr., Soziologin, 1970-77 Dozentin an der Universität Lilie,<br />

Frankreich; seitdem am Centre National de la Recherche Scientifique, Paris.<br />

Schwerpunkte: Frauenfragen und internationale Migration. 1984/85 Alexander<br />

von Humboldt-Stipendiatin an der TU Berlin<br />

Nesemann, Christa, Jg. 1954, Dipl.-Soziologin, Mitar<strong>bei</strong>terin in einem Frauenberatungsprojekt,<br />

Projektberaterin im "Ar<strong>bei</strong>tskreis zur Förderung autonomer<br />

Frauen- und Alternativprojekte und Beschäftigungsinitiativen e.V."<br />

Ostendorf, Helga, Dr. rer.pol., Dipl.-Politologin, Ar<strong>bei</strong>ten zu Frauen in technischen<br />

Berufen und zu Staatsfinanzen, zur Zeit Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin<br />

an der Technischen Universität Berlin<br />

Pusch, Luise F., geboren 1944 in Gütersloh, Promotion (Anglistik) Hamburg<br />

1972, Habilitation (Sprachwissenschaft) Konstanz 1978. Apl. Professorin für<br />

Sprachwissenschaft, Universität Konstanz. Wegen ihres feministischen Engagements<br />

ohne Aussicht auf eine Stelle an der deutschen Männer-Universität. Ar :..<br />

<strong>bei</strong>tet seit 1982 (seit 1986 zusammen mit Ulla Reis) an einer Frauenchronik und<br />

'an einem Kalender mit Frauen-Gedenktagen<br />

Rabe-Kleberg, Ursula, Dr. phi!., Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin im Forschungsschwerpunkt<br />

"Ar<strong>bei</strong>t und Bildung" der Universität Bremen. Forschung zur Entwicklung<br />

von Frauenberufen und Frauenar<strong>bei</strong>t<br />

Richter, Gudrun, Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin am Landesinstitut Sozialforschungsstelle<br />

Dortmund im Forschungsbereich "Berufsar<strong>bei</strong>t von Frauen"<br />

Rudolph, Hed wig, Prof. Dr., seit 1975 Hochschullehrerin an der Technischen<br />

Universität Berlin, Ar<strong>bei</strong>ten über Strukturfragen des Bildungs- und Beschäftigu<br />

ngssystems, insbesondere zur Situation von Frauen im Spannungsfeld technischer<br />

und gesellschaftlicher Modernisierung<br />

Schütze, Paula (Pseudonym), freie Journalistin<br />

Schuster, Irene, Dipl.-Soziologin, war Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin am Sonderforschungsbereich<br />

101 der Universität München im Projektbereich "Familiale<br />

Ar<strong>bei</strong>t in ihrer Bedeutung für Berufsar<strong>bei</strong>t" und ar<strong>bei</strong>tete in diesem Rahmen an


einer Fallstudie über Teleheimar<strong>bei</strong>t. Forschungsschwerpunkte: Frauenar<strong>bei</strong>t,<br />

Neue Technologien und Ar<strong>bei</strong>tszeit<br />

Schwarz, Helga, Mitar<strong>bei</strong>terin des 4. Hamburger Frauenhauses<br />

Simon, Heide, Sozialar<strong>bei</strong>terin, Gruppenleiterin der Beratungsstelle Geschlechtskrankheiten<br />

des Bezirksamtes Charlottenburg von Berlin. Uberwiegend<br />

Ar<strong>bei</strong>t mit Prostituierten<br />

Stahr, Ingeborg, Dr. phii., geb e 1950, verheiratet, hat einen vierjährigen Sohn.<br />

Promotion in Erziehungswissenschaft. Seit 1979 Wissenschaftliche Assistentin<br />

an der Universität Gesamthochschule Essen (UGE) im Bereich Erziehungswissenschaft,<br />

1980 Ab ordnung an das Hochschuldidaktische Zentrum der UGE; seit<br />

1982 Aufbau eines Bereichs Frauenstudien. Forschungsschwerpunkt: Ar<strong>bei</strong>tsund<br />

Studiensituation von Frauen an der Hochschule<br />

Wehrda, Romy (Pseudonym), freie Journalistin<br />

Wulfers, Christa, 29, Dipl.-Sozialpädagogin, Studentin an der Universität Bre ­<br />

men mit dem Ziel Lehramt in der beruflichen Bildung. Vielfältige berufliche<br />

Tätigkeiten und Ausbildungen, u.a. als Kindermädchen in der Familie, Kinderkra<br />

nkenschwester und Arzthelferin. Existenzsicherung durch eine Reihe von<br />

"bad jobs"<br />

Zimmermann, Ursula, Mitar<strong>bei</strong>terin des 4. Hamburger Frauenhauses


I N H A L T<br />

Helga Manthey/Hedwig Rudolph<br />

Ungeschützt ins Reich der Freiheit?<br />

Memorandum: "Frauen in ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen"<br />

13<br />

25<br />

10 AR BEITS BESCHAFFUNGSMASSNAHM EN<br />

Helga Ostendorf<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen? Die Unzulänglichkeit<br />

des "wichtigsten ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitischen Instruments"<br />

Karin Gottschall<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik für Frauen? Zur Teilhabe erwerbsloser Frauen<br />

an Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

Christiane Eiche<br />

Den Mangel innovativ nutzen? Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen in<br />

Frauenpro ekten j<br />

29<br />

42<br />

53<br />

Ho "N EU E" S EL BST }\NDIG E<br />

Christine Mayer<br />

Zum Spannungsverhältnis von beruflicher Selbständigkeit<br />

von Frauen und eigenständiger Existenzsicherung 59<br />

Christa Nesemann<br />

Zur staatlichen Subventionierung von Frauenpro jekten:<br />

Entstehungszusammenhänge prekärer Ar<strong>bei</strong>tsplätze 70<br />

Lu Haas<br />

Frauenbetriebe - Ein Weg in ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse 79<br />

,/Mir jana Morokvasic<br />

" Ausländische Frauen: Selbständigkeit - Privileg als Uberlebenschance 91<br />

I H. T EL E-H EIMAR BEIT<br />

Hedwig Rudolph<br />

Heim - heimlich - unheimlich: Tele-Heimar<strong>bei</strong>t 101<br />

Monika Goldmann/Gudrun Richter<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t als 'neue Selbständigkeit' oder 'Vereinbarungsmodell'<br />

Zur Auslagerung von Fach- und Gebrauchsübersetzungen 1 1


Irene Schuster<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t - Neue Perspektiven für die Ar<strong>bei</strong>t in Familie und<br />

Beruf? 120<br />

Inga Discher<br />

Trautes Heim - Glück allein?<br />

Uber den vielfältigen Nutzen der Ansiedelung weiblicher Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

im Wohnbereich und seine kleinen Schattenseiten<br />

-"<br />

129 '<br />

Gabriele C. Klug<br />

Juristische Probleme und Gestaltungsmöglichkeiten der Telear<strong>bei</strong>t 136<br />

IV.<br />

TRADITION ELL E FRAU ENB ERUF E<br />

Ursula Rabe-Kleberg<br />

Traditionelle Frauenberufe - traditionell unsicher 147<br />

Helga Krüger<br />

Der Staat als Ar<strong>bei</strong>tgeber. Labilisierung und Stabilisierung in personenbezogenen<br />

sozialen Dienstleistungen 154<br />

Christ a Wulfers<br />

" ••• das kann man sich nicht bezahlen lassen."<br />

Die Hauspflegerin: ein neuer Beruf, eine alte Tradition 168<br />

Maria-Eleonora Karsten<br />

Migrantinnen. Traditionelle Frauenar<strong>bei</strong>t in ungeschützten und<br />

illegalen Verhältnissen 178<br />

V. PROSTITUTION<br />

Helga Manthey<br />

Berührungsängste oder: Der schöne Schein der Intimität<br />

Erika Dieckhoff/Helga Schwarz/Ursula Zimmermann<br />

Der Zwang zur Ab weichung - Prostitution und Recht<br />

Huren wehren sich gemeinsam (H WG)<br />

Ar<strong>bei</strong>tspla tz Prosti tution<br />

Heide Simon<br />

Das Geschäft mit der "Exotik"<br />

Erika Dieckhoff/Helga Schwarz/Ursula Zim mermann<br />

Aussteigen aus der Prostitution<br />

Helga Bilitewski/Regina Döl!<br />

Prostituierte organisieren sich<br />

185<br />

196<br />

20 3<br />

211<br />

219<br />

224


VI . M EDI EN UND WISS ENSCHAFT<br />

Ingeborg Stahr<br />

Frei zu sein bedarf es wenig •••<br />

Ob er die freiberufliche Tätigkeit von Fra uen in Medien und<br />

Wissenschaft<br />

Elke Baur<br />

Freie Journalistinnen, "Stille Reservearmee" oder das "Salz in<br />

der Suppe"<br />

Paula Schütze/Romy Wehrda<br />

Vorläufige Terrainerkundung - Zur Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />

<strong>bei</strong>m Hörfunk<br />

Luise Pusch/Ingeborg Stahr<br />

Frau Professor tingelt durch die Lande •••<br />

- Ein Interview mit Luise Pusch<br />

231<br />

240<br />

245<br />

255


Diese Veröffentlichung ist im Anschluß an den Workshop "Frauen in 'ungeschützten'<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen" im Rahmen der Hochschultage Berufliche Bildung<br />

'86 (I.-4. Oktober 1986 in Essen) entstanden.<br />

Die Durchführung des Workshops wurde durch Zuwendungen der Parlamentarischen<br />

Staatssekretärin für die Gleichstellung von Frauen und Männern des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen, Frau Fischer-Runde, sowie der Hans-Böckler-Stiftung<br />

gefördert. Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und die Hans­<br />

Böckler-Stiftung ermöglichten durch Zuschüsse die Publikation der Tagungs<strong>bei</strong>träge.<br />

Den genannten Personen und Institutionen gilt unser Dank.<br />

Die Herausgeberinnen


- 13-<br />

Helga Manthey /Hedwig Rudolph<br />

UNG ESCHUTZT INS R EICH D ER FREIH EIT?<br />

Noch nie seit Gründung der Bundesrepublik waren so viele Frauen erwerbstätig<br />

wie seit Beginn der 80er Jahre. Ihre Zahl hat sich zwischen '72 und ' 85 um ca.<br />

300.000 erhöht, während die der Männer um rd. 700.000 sank (Alex 1987). Aber<br />

es gibt selbst in den ansonsten überaus diskreten amtlichen Statistiken Hinweise<br />

darauf, daß hier Qu antität keineswegs in Qu alität umschlug - im Gegenteil.<br />

Daß der Terraingewinn von Frauen am Ar <strong>bei</strong>tsmarkt sich überwiegend nicht in<br />

den üppigen Gefilden abspiel t, wird signalisiert durch<br />

- den (erstmals '83) Wiederanstieg der mithelfenden Familienangehörigen, der<br />

für Frauen fast doppelt so hoch ausfiel wie für Männer;<br />

- den überproportionalen Zuwachs <strong>bei</strong> der Teilzeitar<strong>bei</strong>t, während Vo llzeitar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

vernichtet wurden; zwischen '77 und ' 83 geht allein 2/3 der Gesamtzunahme<br />

der abhängig erwerbstätigen Frauen auf das Konto der Teilzeitar<strong>bei</strong>t<br />

bis 20 Stunden/Woche;<br />

- die zunehmende Öffnung der Verdienstschere zwischen erwerbstätigen Frauen<br />

und Männern; 1982 hatten 3 von 4 Frauen über 15 Jahren entweder kein<br />

Ein kommen oder weniger als DM 1.200,-- im Monat (Möller/Hehr 1985).<br />

Es gibt Anhaltspunkte für die These, daß es <strong>bei</strong> der aktuellen technischökonomischen<br />

Rationali SierungsweIle und der damit verbundenen Umstrukturierung<br />

des Ar <strong>bei</strong>tsmarktes nicht um das Ziel geht, Frauen zurück an den Herd zu<br />

verbannen. Vielmehr wurden und werden materiell und sozialpsychologisch die<br />

Rahmenbedingungen geschaffen, um weibliche Ar <strong>bei</strong>tskräfte flexibel - und das<br />

heißt entsprechend dem jeweiligen Bedarf der Wirtschaft - als Versatzstücke<br />

der Modernisierung einsetzen zu können. Das von Politikern angestimmte Hohe<br />

Lied auf Familie und Mutterschaft steht in bemerkenswertem Kontrast zur Ve r­<br />

schlechterung bzw. Verzögerung sozialpolitischer Leistungen für eben diese<br />

gesellschaftlichen Institutionen.<br />

Seit einer Reihe von Jahren läßt sich beobachten, daß unbefristete Vollzeitar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

abgebaut und durch rechtlich, materiell und/oder sozial ausgehöhlte<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse ersetzt werden, eine Praxis, die zunehmend durch<br />

entsprechende Gesetze abgesichert wird (Zachert 1986). Gemeint sind Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

wie: Teilzeitar<strong>bei</strong>t, Ar<strong>bei</strong>t auf Abruf, Aushilfen, sog. geringfügige


- 14-<br />

Beschäftigung (unterhalb 43 0,- DM pro Monat), Job-sharing, Leihar<strong>bei</strong>t, Werkvertragsar<strong>bei</strong>t,<br />

"freie Mitar<strong>bei</strong>t", befristete Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, Heimar<strong>bei</strong>t,<br />

ABM-Stellen, Saisonar<strong>bei</strong>t, Zwangsar<strong>bei</strong>t Hir Sozialhilfeempfänger. Was sich aus<br />

betriebswirtschaftlicher Sicht als Moment der "Flexibilisierung von Unternehmensorganisation"<br />

darstellt -, ähnlich wie Unternehmensteilung, Betriebsaufspaltung,<br />

Betriebsstillegung - bedeutet eine Individualisierung von Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen,<br />

eine Differenzierung und Fraktionierung von Belegschaften, wo<strong>bei</strong> kollektive<br />

Regelungen unterlaufen werden.<br />

Diese "modernen" Ar<strong>bei</strong>tsformen der Erwerbsar<strong>bei</strong>t lassen sich nach den<br />

Kriterien ordnen, durch die sie von der Norm unbefristeter, tarifrechtlich abgesicherter<br />

Vollzeitar<strong>bei</strong>t abweichen: Befristung, Teilzeit, nicht bzw. nicht voll<br />

tariflich oder sozialversicherungsrechtlich eingebunden sowie nicht existenzsicherndes<br />

Einkol)1men und damit unzureichende Altersversorgung (Möller/Hehr<br />

1985). Anfang der 80er Jahre waren davon schätzungsweise 3 Mio. Frauen betroffen,<br />

d.h. fast 30% aller weiblichen Erwerbstätigen.<br />

Frauen ist diese Art des Modernismus nicht neu, denn die genannten<br />

Merkmale sind solche, die immer schon als typisch Hir die Frauenerwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

galten. Die aktuelle Diskussion, ausgelöst durch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz<br />

und Günter Wallraffs Enthüll ungen der skandalösen illegalen<br />

Praktiken des Leihar<strong>bei</strong>tsgewerbes, sollte nicht den Blick dafür verstellen, daß<br />

für Frauen die Norm unbefristeter, tariflich abgesicherter Vollzeitar<strong>bei</strong>t immer<br />

schon die Ausnahme war. Der vorliegende Band greift deshalb mit den Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen,<br />

der Tele-Heimar<strong>bei</strong>t und den "neuen" Selbständigen<br />

nicht nur "neue" Fomen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>t auf, sondern weist ebenso mit<br />

den traditionellen Frauenberufen, der Prostitution, den Medien und der Wissenschaft<br />

auf die Kontinuität im Wandel hin.<br />

1. Vom notwendigen Ende der Verschwiegenheit<br />

Wenn die Ausweitung ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse in steigender Zahl auch<br />

Männer einbezieht, ist es dennoch nicht zufällig, daß diese Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

vor allem Frauen zugemutet werden. Wenig hat sich nämlich verändert an den<br />

Ausgangsbedingungen, der gesellschaftlich normierten Zuständigkeit von Frauen<br />

für unbezahlte Haushalts- und Familienar<strong>bei</strong>t, und ihrer daraus resultierenden<br />

begrenzten Verfügbarkeit für den Erwerbsar<strong>bei</strong>tsmarkt.


- 15-<br />

Gerade die "alten" Formen ungeschützter Erwerbsar<strong>bei</strong>t, im besonderen<br />

die Traditionellen Frauenberufe und die Prostitution, verweisen nachdrücklich<br />

auf ihren strukturellen Zusammenhang mit privat erbrachten Reproduktionsar<strong>bei</strong>ten<br />

von Frauen als Hausfrauen und Mütter. Wenn - wie hier im Bereich der<br />

sozialen, erziehenden und pflegenden Ar<strong>bei</strong>t - die vordergründige Ahnlichkeit<br />

der beruflichen Tätigkeit von Erzieherinnen oder Hauswirtschafterinnen die<br />

Vorstellung verfestigt, daß eine gelungene weibliche Sozialisation für die Ausübung<br />

dieser Tätigkeit genüge, dann ergeben sich daraus weitreichende Folgen<br />

für Status, Entlohnung, Professionalisierungsgrad und Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen dieser<br />

Berufe (vgl. Rabe-Kleberg in diesem Band). Während nämlich die beruflichen<br />

Anforderungen mit der Umformung dieses weiblichen Verhaltensrepertoires in<br />

eine berufliche Form kalkulieren, negieren sie gleichzeitig den Wert dieser<br />

Anstrengungen. Entsprechend geht der Umformungsprozeß nicht in die Definition<br />

von Qualifikationsanforderungen ein und findet auch kein Aquivalent in<br />

der Bezahlung. Darüber hinaus werden diese "verschwiegenen" Qualifikationen<br />

insbesondere dort verlangt, wo die Bedingungen ihrer Realisierung in besonderer<br />

Weise entgegenstehen. Dadurch verstärkt sich das Spannungsverhältnis zwischen<br />

den Anforderungen an die Ar<strong>bei</strong>t und den Bedingungen, unter denen sie<br />

zu erbringen sind (ebenda).<br />

Wiederholen sich hier bekannte Kriterien für die Erklärung, warum Frauenar<strong>bei</strong>t<br />

selbst hier vorzugsweise die unteren Ränge der beruflichen Hierarchie<br />

einnimmt,. so verdankt sich die Möglichkeit ihrer "ungeschützten" Ausgestaltung<br />

einem Bündel von Faktoren: der nicht ausreichenden Existenzsicherung, der<br />

einfachen Austauschbarkeit von Ar<strong>bei</strong>tskräften aufgrund niedriger formaler<br />

Qualifikation sowie dem Einsatz eines relativ hohen Anteils nicht entsprechend<br />

oder gar nicht beruflich qualifizierter Frauen unter den Erwerbstätigen, die als<br />

Laien gleiche oder vergleichbare Aufgaben unbezahlt ausüben und in Konkurrenz<br />

zueinander eingesetzt werden können (ebenda). Als Nebeneffekt bleiben<br />

die Möglichkeit und Legitimation für eine Rückverlagerung der Aufgaben in<br />

den privaten Bereich, sollte sie aus wirtschaftlichen und/oder politischen Erwägungen<br />

opportun erscheinen.<br />

Auch <strong>bei</strong> der Prostitution läßt sich aufzeigen, daß die Umformung privaten<br />

sexuellen Verhaltens in die berufliche Form nicht als Faktum akzeptiert wird,<br />

was wesentlich zur negativen sozialen Bewertung dieses Berufes <strong>bei</strong>trägt. Der<br />

Tabuierung kommt in diesem Zusammenhang noch eine besondere Funktion zu,


- 16 -<br />

nämlich die Realität dieses Berufszweiges zu verleugnen nach dem Motto: daß<br />

nicht sein kann, was nicht sein darf (vgl. Manthey in diesem Band).<br />

Bei den "neuen" Formen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse gehen - anders<br />

als <strong>bei</strong> den "alten" - die aus der Familienar<strong>bei</strong>t abgeleiteten Fähigkeiten nicht<br />

in das berufliche Anforderungsprofil ein. Hier wird - wie das Beispiel der Tele­<br />

Heimar<strong>bei</strong>t zeigt - das Dilemma der Frauen profitabel ausgenutzt, Kinderbetreuung<br />

und Erwerbsar<strong>bei</strong>t zu verknüpfen. Ihre aufgrund familialer Versorgungsaufgaben<br />

eingeschränkte Verfügbarkeit wird zum Anlaß genommen, ihnen wenig<br />

attraktive, ar<strong>bei</strong>tsintensive und schlecht entlohnte Tätigkeiten anzudienen (vgl.<br />

das Beispiel der Hausfrauenübersetzerinnen <strong>bei</strong> Goldmann/Richter in diesem<br />

Band). Wenn Tele-Heimar<strong>bei</strong>t auch neue Technik und Ar<strong>bei</strong>tsorganisation nutzt,<br />

setzt sie doch eher die Tradition der Ausbeutung von Ar<strong>bei</strong>tskräften fort, die<br />

aufgrund ihrer Lebensumstände auf Heimar<strong>bei</strong>t angewiesen sind (vgl. Rudolph in<br />

diesem Band). Das betriebliche Profitkalkül realisiert sich in diesem Bereich<br />

häufig in erzwungener Selbständigkeit. Daß Frauen seltener in der Lage sind,<br />

die in der ökonomischen Selbständigkeit auch angelegten Chancen zu ihren<br />

eigenen zu machen, belegen Goldmann und Richter vor dem Hintergrund eines<br />

Vergleichs zwischen männlichen und weiblichen Fach- und Gebrauchsübersetzern.<br />

Während Männer <strong>bei</strong>m mehr oder weniger erzwungenen Ausscheiden aus<br />

dem Betrieb häufiger Werkverträge mit Auftragsgarantien erhalten, die ihnen<br />

einen regelmäßigen Umsatz sichern, erwähnen Frauen lediglich mündliche Zusagen,<br />

daß sie mit Aufträgen rechnen können (ebenda). Diese ungleichen Startbedingungen<br />

verschärfen sich noch durch eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche<br />

Gestaltung der neuen Situation. Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen,<br />

die in kürzester Zeit den Eindruck gut situierter Selbständigkeit durch<br />

gerätetechnische und repräsentative Ausstattung vermitteln, sind Frauen zögerlich,<br />

sich als Selbständige zu begreifen, betrachten die Situation als Not- oder<br />

Ubergangslösung, scheuen langfristig orientierte Investitionen und verfahren<br />

insgesamt seltener nach betriebswirtschaftlichen Kriterien (ebenda). Folgerichtig<br />

sind es die Männer, die den Schritt in die Selbständigkeit als gelungene<br />

Weiterentwicklung ihrer Karriere auch dann bewerten können, wenn er nicht<br />

freiwillig erfolgte. Sie schaffen sich die Rahmenbedingungen, um ihre Interessen<br />

an Qualifikationszuwachs, höherem Einkommen, Flexibilität und selbstgestaltetem<br />

Leben zu erfüllen (ebenda).<br />

Frauen behindern sich demnach - zusätzlich zu den Benachteiligungsfaktoren,<br />

die an sie herangetragen werden - offensichtlich auch selbst durch jene


- 17 -<br />

Ambivalenzen, die Prokop (19 76 ) treffend auf die "Fesselung weiblicher Produktivkräfte<br />

durch die Produktionsverhältnisse" zurückführt. Ihrem mangelnden<br />

----.<br />

Selbstvertrauen, ihrer Scheu, Risiken einzugehen und Chancen innovativ zu<br />

nutzen, ist es auch zuzuschreiben, daß ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse für<br />

_f ra ___<br />

lJ_


- 18 -<br />

eine offen profitable Nutzung der eingeschränkten Verfügbarkeit für den Erwerbsar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

unterstellt werden.<br />

Auf diesem Hintergrund gewinnt das Beispiel der Frauenbetriebe seine<br />

besondere Brisanz. Es wird versucht, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />

der Frauen, die aus ihrer Sozialisation für die Familienar<strong>bei</strong>t resultieren, gezielt<br />

für eine Selbständigkeit zu nutzen und die Vergrößerung der Erfolgschancen<br />

der Frauen mit qualitativen Zielbestimmungen für die Gestaltung und das<br />

Produkt der Ar<strong>bei</strong>t zu verbinden. Sie machen damit den Prozeß der Umformung<br />

reproduktiver Fähigkeiten zu einem beruflichen Selbstverständnis öffentlich,<br />

weisen ihn als qualifikatorischen aus und brechen ein Qualifikationsverständnis,<br />

dessen Maßstäbe ausschließlich der traditionellen Lohnar<strong>bei</strong>t entstammen. Sie<br />

greifen darüber hinaus die "Andersartigkeit" dieser reproduktiven Fähigkeiten<br />

auf, um damit eine qualitative Beeinflussung gesellschaftlicher Zielbestimmung<br />

vorzunehmen, und zwar im Sinne einer Symbiose aus den hier herauszukristallisierenden<br />

qualitativen Elementen und den markterforderlichen Qualifikationen.<br />

Nur wenn diese Symbiose gelingt, sehen sie eine Chance zu verhindern, daß<br />

Frauen als Selbständige Strategien übernehmen, die Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit oder Ungeschütztheit<br />

für andere zur Folge haben. Nur dann besteht auch Hoffnung, daß<br />

Frauen Ar<strong>bei</strong>tsplätze schaffen, an denen sie sich wohlfühlen und eine neue<br />

Qualität betrieblichen Handeins definieren, die die ausschließliche Orientierung<br />

am Ertrag bricht (ebendaj zur weiteren Präzisierung der Symbiose vgl. Haas<br />

1985).<br />

2. Die Schattenseiten der Freiheit<br />

Das Beispiel der Frankfurter Frauenbetriebe weist mit seinem experimentellen<br />

Charakter auf eine qualitative Dimension ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse hin,<br />

die <strong>bei</strong> den sich verstärkenden Kassandra-Rufen unterzugehen droht. So berechtigt<br />

die Sorge über die Ausweitung ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse und<br />

deren Qualität ist, sollte sie dennoch nicht als Anlaß einer pauschalen Ablehnung<br />

dienen. Die gegenwärtig stattfindende Umstrukturierung des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes<br />

kann nur deshalb ideologisch durch die Argumentation gestützt werden, daß<br />

Ungeschütztheit immer schon der Preis für mehr Selbständigkeit, Kreativität<br />

und Selbstbestimmung sei, weil diese Ideologie einen materiellen Kern enthält.<br />

Sie greift ein tatsächlich ansteigendes Bedürfnis der Ar<strong>bei</strong>tnehmer/innen nach


- 19 -<br />

flexibler Gestaltung, vor allem auch der Ar<strong>bei</strong>tszeit, auf und spiegelt wider,<br />

daß Schutz rechte, die sich an dem Ideal einer möglichst lebenslangen, weisungsgebundenen<br />

Vollzeitar<strong>bei</strong>t orientieren, tatsächlich auch ein Aquivalent für<br />

fremdnützige Ar<strong>bei</strong>t und Unterwerfung unter fremde Weisungsbefugnis sind (vgl.<br />

Klug in diesem Band). Ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse stellen deshalb immer<br />

auch eine Alternative für Menschen dar, die sich dieser Norm nicht fügen können<br />

oder wollen, sei es, weil<br />

- ihre "eigentliche" Ar<strong>bei</strong>t sich schwerlich oder gar nicht marktförmig gestalten<br />

läßt und sie daher zusätzliche Möglichkeiten einer Existenzsicherung in<br />

zeitlich begrenztem Rahmen benötigen,<br />

- sie sich in Lebensstadien befinden oder Lebensperspektiven verfolgen, die<br />

mit der Norm lebenslanger Vollzeitar<strong>bei</strong>t nicht verträglich sind,<br />

- sie Experimentierräume und alternative Gestaltungen suchen, die geschützte<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse aufgrund ihrer häufig restriktiven Eingangs- und Rahmenbedingungen<br />

nicht zulassen.<br />

Ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse liefern somit einerseits - ganz profan -<br />

die Subsistenzmittel als Basis für andere Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensformen, die selbst<br />

keine Existenzsicherung bieten; andererseits müssen sie selbst aber auch strukturelle<br />

Ahnlichkeit mit solchen qualitativen Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensformen haben.<br />

Eine der Vielschichtigkeit des Problems angemessen differenzierte Diskussion<br />

hätte zudem zu berücksichtigen, daß es Gruppen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

gibt, die durchaus Momente der Geschütztheit <strong>bei</strong>nhalten. Dazu zählen<br />

<strong>bei</strong>spielsweise die Medien, Erwachsenenbildung oder Wissenschaft, die in<br />

ihrer ursprünglichen Intention darauf aufbauen, daß sie ausreichende Existenzund<br />

Sicherungsmöglichkeiten bieten (Medien), als Nebenerwerb gelten (Erwachsenenbildung)<br />

oder aber ein vorübergehendes Stadium in einem letztlich geschützten<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis darstellen (Wissenschaft, auch Medien). Diese Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

gewinnen als ungeschützte erst dadurch an Brisanz, daß ihre<br />

relative Geschütztheit durch Ar<strong>bei</strong>tsmarktveränderungen aufgehoben wird, die<br />

Nebenar<strong>bei</strong>ten zu nicht existenzsichernden Hauptar<strong>bei</strong>ten werden lassen, vorübergehende<br />

Stadien der Ungeschütztheit in dauerhafte verwandeln und durch<br />

Verschärfung der Konkurrenz eine ausreichende Existenzsicherung verhindern.<br />

Ungeschütztheit ist demnach ein relatives Kriterium; sie kann nur im Kontext<br />

der Ar<strong>bei</strong>tsmarktsituation, d.h. an der Quantität, Qualität und auch Durchlässigkeit<br />

des sonstigen Ar<strong>bei</strong>tsangebotes angemessen eingeschätzt werden. Die<br />

Ungeschütztheit verliert an Gewicht, wenn zusätzliche Sicherungen oder die


- 20 -<br />

Möglichkeit des Umsteigens auf geschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse bestehen. Sie ist<br />

weiter relativ in der subjektiven Bewertung der Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, da nicht<br />

nur Erwartungshaltungen an soziale Sicherheit unterschiedlich sind, sondern<br />

Ungeschütztheit auch in dem Maße an Bedeutung verliert, wie andere mit dieser<br />

Ar<strong>bei</strong>t verbundene Bedürfnisse an Wichtigkeit gewinnen. Beispielsweise<br />

spielen die Einstellung zu den Ar<strong>bei</strong>tsinhalten wie auch die Tatsache, daß die<br />

berufliche Tätigkeit das Ergebnis eigener Entscheidungen ist, eine relativierende<br />

Rolle. Zwangsweise Ungeschütztheit lähmt die Ar<strong>bei</strong>tsfähigkeit und produziert<br />

Leidensdruck, während die Wahrnehmung der Ar<strong>bei</strong>t als selbstgewählte,<br />

produktive, schöpferische Tätigkeit trotz mangelnder Sicherheit Befriedigung<br />

verleihen kann (vgl. Stahr in diesem Band).<br />

Entsprechend muß eine differenzierte Beurteilung ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

das Augenmerk darauf richten, wie sich die Konfliktlinien für die<br />

Durchsetzung von Interessen und Bedürfnissen auf dem Hintergrund der Ar<strong>bei</strong>tsmarktentwicklung<br />

verschieben, welche neuen Formen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

sich da<strong>bei</strong> herausbilden und wie sich bestehende dadurch verändern.<br />

Aufgrund der überwiegend quantitativen Analysen (Büchtemann/Burian<br />

1986; Büchtemann/Schupp 1986; Forsa Analysen 1986) bleibt die Einschätzbarkeit<br />

der qualitativen Entwicklung beschränkt. Die Anzeichen sprechen für einen<br />

Trend zum Schlechteren. Die anhaltend hohe Erwerbslosigkeit, die politische<br />

Unterstützung von Flexibilisierungstendenzen im Interesse der Betriebe sowie<br />

die Defensivhaltung der Gewerkschaften markieren ein für die Ar<strong>bei</strong>tnehmer/innen<br />

ungünstiges Kräfteverhältnis. Die Zunahme befristeter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse,<br />

<strong>bei</strong> Frauen häufig gekoppelt mit Teilzeit, stellt eine Gefährdung der Existenzgrundlagen<br />

für wachsende Beschäftigtengruppen dar. Daneben bilden sich Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

heraus, denen selbst in geschützter Form nichts abzugewinnen<br />

wäre. Hierzu zählen die in diesem Band dargestellten Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

(vgl. Ostendorf) und die weniger anspruchsvollen Tätigkeiten der Tele­<br />

Heimar<strong>bei</strong>t, aber auch eine Reihe von Ar<strong>bei</strong>ten im sogenannten Grauzonenbereich.<br />

An Gewicht gewinnen vor allem die Ar<strong>bei</strong>ten in der Grauzone unterhalb<br />

der sog. Geringverdienergrenze, die mangels Material in diesen Band nicht aufgenommen<br />

werden konnten.<br />

Bei abnehmendem Anteil geschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse verschärft sich<br />

die Konkurrenz selbst um die ungeschützten. Als Folge bilden sich, wie das Beispiel<br />

der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen zeigt, zweite und dritte Ar<strong>bei</strong>tsmärkte


- 21 -<br />

heraus, die es sich trotz schlechter Rahmenbedingungen leisten können, anspruchsvolle<br />

Auswahlkriterien an die Bewerber/innen anzulegen.<br />

Auch die bestehenden Formen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse bleiben<br />

von dieser Entwicklung nicht unberührt, ,wie etwa die Verschiebungen in den genannten<br />

Bereichen Medien, Erwachsenenbildung und Wissenschaft belegen. Aber<br />

nicht nur die Existenzgefährdung nimmt zu. Wie alle Beispiele in diesem Band<br />

zeigen, lassen die einschränkenden Rahmenbedingungen auch die Qualität von<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen und -produkt nicht unangetastet, wirken sich abträglich auf<br />

dfe-Quä.Üfikationsentwicklung aus, erschweren die Verfolgung berufsbiographischer<br />

Perspektiven und beschneiden insbesondere auch die Chancen, Gesch'lechtsrollenstereotypen<br />

und geschlechtshierarchische Ar<strong>bei</strong>tsteil ung zu verändern.<br />

Der offensichtlich gewachsene Problemdruck fällt vor allem <strong>bei</strong> der<br />

Därstellung jener Bereiche auf, die eher Kreativität und Selbstbestimmung versprechen.<br />

Hier ist die Wahrnehmung der positiven Seiten dieser Berufsausübung<br />

nahezu gänzlich der Betonung ihrer Schwierigkeiten gewichen.<br />

Liegt die Verschärfung der Gesamtentwicklung demnach ebenso in einem<br />

Qualitätsverl ust ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, so potenziert sich dieser<br />

Aspekt, weil sich der Raum für Experimente und alternative Formen verengt.<br />

Das wachsende Risiko der hier angesiedelten Versuche ist mit der Gefahr gekoppelt,<br />

daß ihre Zielsetzungen unterlaufen werden durch eine Han dlungsorientierung,<br />

die stärker von einer Flucht aus der Erwerbslosigkeit als von einem<br />

Interesse an den spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten geleitet ist.<br />

Ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse breiten sich zunehmend aus als Zwangsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

für Personen, die solche Bedingungen nicht suchen und<br />

schwer ertragen. Für einzelne mag zwar gelten - wie das Beispiel von Luise F.<br />

Pusch in diesem Band zeigt -, daß sie gerade in Extremsituationen ihre kreativen<br />

Potentiale entdecken. Derartige. Schocktherapien können aber nicht beliebig<br />

als Empfehlung für andere gelten.<br />

Auch <strong>bei</strong> denjenigen, die bislang ungeschützte Erwerbsar<strong>bei</strong>t dadurch relativieren<br />

konnten, daß dies der Preis für ihnen wichtigere Bedürfnisse war, verschieben<br />

sich die Relationen. Einerseits nimmt die materielle Gefährdung objektiv<br />

zu, andererseits schwindet die Bedeutung, der sie relativierenden Faktoren,<br />

eine Auswirkung, die im Zusammenhang mit der qualitativen Veränderung<br />

. der Ar<strong>bei</strong>tsbereiche steht. Die Verdrängung der Ungeschütztheit erfordert immer<br />

mehr Kraft, damit die Ar<strong>bei</strong>tsfähigkeit erhalten bleibt und der Spaß an der<br />

Ar<strong>bei</strong>t nicht gänzlich verlorengeht (vgl. Schütze/ Wehrda in diesem Band).


- 22 -<br />

Wenn eine solche Entwicklung berufs- und lebensperspektivisch keine<br />

Wahlmöglichkeiten mehr läßt, falsche Entscheidungen mangels Alternativen<br />

nicht mehr korrigiert werden können, kein Raum für Experimente und vielfältige<br />

Lebensformen bleibt, Existenzsicherung immer mehr in Gegensatz zu sinnvoller<br />

und befriedigender Ar<strong>bei</strong>t gerät, dann beschreibt dies einen enormen<br />

Verlust an individueller und gesellschaftlicher Lebensqualität.<br />

3. Einmischung mit Eigensinn<br />

Die skizzierte Betonung der qualitativen Dimensionen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>t<br />

sollte den Blick darauf lenken, daß die Problematik nicht in der Ungeschützheit<br />

allgemein liegt, sondern daß sie dort angesiedelt ist, wo Ungeschütztheit zum<br />

Zwangsar<strong>bei</strong>tsverhältnis wird und in einen reinen Uberlebenskampf mündet. Die<br />

qualitativen Dimensionen gilt es zu bewahren, solange sie als Korrektiv zu geschützten<br />

Ar<strong>bei</strong>tsformen dienen, in denen sie sich schwer entfalten können.<br />

Für den Medienbereich formuliert eine Journalistin polemisch, daß sie sich <strong>bei</strong>m<br />

besten Willen keine "Kreativ beamten" vorstellen könne (vgl. Baur in diesem<br />

Band). Wenn lso in den Beiträgen die Absicherung der verschiedenen Formen<br />

ungeschützter Ar<strong>bei</strong>t zur Diskussion steht, dann immer auch unter dem Gesichtspunkt<br />

ihres Sinns und der Art und Weise ihrer Ausgestaltung.<br />

Die Diskussion wäre aber verkürzt, würde sie die Sicherung qualitativer<br />

Dimensionen von Ar<strong>bei</strong>t als Frage nach der Alternative zwischen geschützter<br />

und ungeschützter Ar<strong>bei</strong>t definieren. Statt der platten Behauptung, Sicherheit<br />

saturiere und sei mit Flexibilität, Kreativität und Eigeninitiative nicht vereinbar,<br />

gilt es grundsätzlicher zu hinterfragen<br />

die Struktur und Organisation von (bezahlter) Ar<strong>bei</strong>t, die offenbar einen<br />

Gegensatz zwischen <strong>bei</strong> dem schafft,<br />

- die Ar<strong>bei</strong>tsdefinition, die in einseitig interessengeleiteter Verengung weite<br />

Teile gesellschaftlich notwendiger Ar<strong>bei</strong>t ausgrenzt mit der Folge, daß sich<br />

- auch auf die Weltbevölkerung bezogen - die Existenzsicherung Weniger an<br />

die materielle und psychische Verelendung Vieler koppelt und die Lebensgrundlagen<br />

des Menschen weiter durch eine <strong>bei</strong>spiellose Umweltzerstörung<br />

bedroht werden,<br />

- die Relevanz des zentralen Dogmas einer Ar<strong>bei</strong>tsgesellschaft, die Sinnhaftigkeit<br />

des Lebens ausschließlich an Erwerbsar<strong>bei</strong>t bindet und damit nicht nur


- 23 -<br />

den Zwang der Existenzsicherung über (bezahlte) Ar<strong>bei</strong>t idealisiert, sondern<br />

umgekehrt auch nur dem Tun gesellschaftliche Anerkennung verleiht, das<br />

sich über (bezahlte) Ar<strong>bei</strong>t legitimiert.<br />

Muß sich demnach die langfristige Perspektive an einer Umstrukturierung<br />

gesellschaftlicher Ar<strong>bei</strong>t und anderen Formen der Existenzsicherung orientieren,<br />

heißt es kurzfristig, den mit der Ausweitung ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

verbundenen Entwicklungen gegenzusteuern. Können Frauen weder auf<br />

eine Beeinflussung der konzeptionellen Gestaltung zukünftiger Ar<strong>bei</strong>t verzichten,<br />

ist ihre Einmischung erst recht dort gefragt, wo sie als Vorhut der Moderne<br />

der größten Gefahr ausgesetzt sind, zu ihrer Manövriermasse funktionalisiert<br />

zu werden. In ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen setzt sich für Frauen<br />

eine Ausbeutungstradition fort, die darauf beruht, daß ihre Distanz zur Norm<br />

des unbefristeten geschützten "Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnisses" immer schon Quelle<br />

profitabler Nutzung war. Ihre Situation verschärft sich dadurch, daß sie einerseits<br />

die Folgen der Ausweitung unbezahlter Ar<strong>bei</strong>t zu tragen haben und andererseits<br />

im Verdrängungswettbewerb durch Männer um die relativ "besseren"<br />

ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse unterlegen sind. Zudem wirkt sich für die<br />

subjektiven Bewältigungsstrategien erschwerend aus, daß Frauen mit dieser ihre<br />

Ambitionen blockierenden Situation konfrontiert werden, nachdem in den letzten<br />

<strong>bei</strong>den Jahrzehnten ihr allgemeines und berufliches Bildungsniveau, ihre<br />

Berufsmotivation und ihre Ansprüche auf eigenständige Existenzsicherung erheblich<br />

gestiegen sind.<br />

Daß Frauen zu "Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnissen" seltener Zugang finden, ist<br />

nicht nur Ursache ihrer leidvollen Erfahrungen, sondern auch Ausdruck ihrer<br />

anderen Bedürfnisorientierung. Eine Fülle berufskritischer Ansätze und Annahmen,<br />

daß Frauen für alternative Lebensformen offener seien, finden hier ihren<br />

Erklärungshintergrund. Die seit Jahren geführte Auseinandersetzung um einen<br />

"weiblichen Lebenszusammenhang" hat nicht nur zu einer Vielzahl theoretischer<br />

und praktischer Erkenntnisse geführt, sondern eine Haltung von Frauen geprägt,<br />

die sie ihre Vorstellungen von anderen Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensformen selbstbewußt<br />

ei _ läßt. Dieser Eigensinn spiegelt die vielfältige Suche von Frauen wider,<br />

sich aus der Orientierung auf Männer zu lösen und eine weibliche Identität<br />

auf dem Hintergrund eigener Interessen und Bedürfnisse aufzubauen. Sie müssen<br />

da<strong>bei</strong> ihre Zerrissenheit und Ambivalenzen, Ausdruck ihrer Prägung durch ein<br />

patriarchales System, als Bausteine dieser Entwicklung akzeptieren, sich der<br />

Unterschiedlichkeit ihrer Lebenssituationen und -interessen stellen sowie ihre


- 24 -<br />

eigene Verflochtenheit in traditionelle Strukturen zur Kenntnis nehmen. In diesem<br />

Prozeß sind sie zwar den Risiken von Spaltungs- und Einbindungsversuchen<br />

ausgesetzt; sie haben jedoch - davon zeugt die Geschichte der Frauenbewegung<br />

- schmerzhaft lernen müssen, daß die Gemeinsamkeit der Unterdrückung von<br />

Frauen in einem patriarchalen System als Basis für eine Solidarität nicht trägt,<br />

solange diese Prägungen und die Verschiedenartigkeit der Lebenslagen ausgeblendet<br />

werden.<br />

Die Beispiele ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse in diesem Band vermitteln<br />

Bilder von der Vielschichtigkeit dieses Problems; sie lassen aber gleichzeitig<br />

auch erkennen, daß Frauen, stellen sie sich ihrer Realität, eine historisch <strong>bei</strong>spiellose<br />

Chance für die Entwicklung einer kollektiven Basis haben, die ihnen<br />

erlaubt, vielfältige Lebensformen zu integrieren und zu tolerieren.<br />

LITERATUR<br />

Alex, Laszlo: Ausbildung und Beschäftigung von Frauen. Vortragsmanuskript IG<br />

Chemie. Hattingen, 23.3.1987<br />

Büchtemann, Ch.F./Burian, K.: Befristete Beschäftigungsverhältnisse: ein internationaler<br />

Vergleich. In: Internationale Chronik zur Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik<br />

24, April 1986<br />

Büchtemann, Ch.F./Schupp, J.: Zur Sozio-Ökonomie der Teilzeitbeschäftigung in<br />

der Bundesrepublik Deutschland. Wissenschaftszentrum Berlin, discussion<br />

papers IIM/LMP 86-15. Oktober 1986<br />

FORSA Analysen: Ungeschützte und Statusgeminderte Ar<strong>bei</strong>tverhältnisse. Gesellschaft<br />

für Sozialforschung und statistische Analysen mbH. Dezember<br />

1986<br />

Haas, Lu: Frauenbetriebe zwischen den Stühlen. In: Beiträge zur feministischen<br />

Theorie und Praxis (19 85) 15/16<br />

Möller, C./Hehr, I. : Der Zusammenhang von Ar<strong>bei</strong>t, Armut und geschlechtshierarchischer<br />

Ar<strong>bei</strong>tsteilung. Forschungsbericht für das Hamburger<br />

Institut für Sozialforschung. 198 5<br />

Prokop, Ulrike: Weiblicher Lebenszusammenhang. Von der Beschränktheit der<br />

Strategien und der Unangemessenheit der Wünsche. Frankfurt am Main<br />

19 76<br />

Zachert, Ulrich: Ein Jahr "Beschäftigungsförderungsgesetz". In: WSI-Mitteilungen<br />

(1986) 5


- 25 -<br />

MEMORANDUM:<br />

"FRAUEN IN 'UNGESCHU TZ TEN' AR BEITSVERHA LTNISSE N' "<br />

im Rahmen der Hochschultage Berufliche Bildung an der Universität/ Gesamthochschule<br />

Essen am 3.10.1986 verabschiedet.<br />

Der Ar<strong>bei</strong>tsmarkt modernisiert sich: Seit 11 Jahren liegen die Erwerbslosenzahlen<br />

über einer Million, seit vier Jahren übersteigen sie zwei Millionen.<br />

Da<strong>bei</strong> verengen sich die beruflichen Chancen insbesondere für Frauen immer<br />

mehr. Vor dem Hintergrund wachsender Konkurrenz auf dem "ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt"<br />

- mit den besseren Plätzen, den unbefristeten Stellen, der Weit erqualifizierung<br />

und dem Aufstieg - werden Frauen auf nachrangige Ar<strong>bei</strong>tsmärkte 1<br />

abgedrängt.<br />

Wei l sie Mütter sind, waren oder sein könnten, und weil sie wegen "ihrer"<br />

Zuständigkeit für Haushalt und Familie als für den Ar<strong>bei</strong>tsmarkt nur begrenzt<br />

verfügbar angesehen werden, sind sie gezwungen, zu Be dingungen zu ar<strong>bei</strong>ten,<br />

die weitgehend abgekoppelt sind von ar<strong>bei</strong>ts- und sozialrechtlichen Standards.<br />

Der Status der "ungeschützten" Ar<strong>bei</strong>tskraft verbaut Perspektiven im Be ­<br />

rufsverlauf; Weiterkommen durch Qualifizierung und Aufstieg sind nicht vorgesehen,<br />

selbst der Verbleib im Beruf ist nicht gesichert. "Ungeschützte" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

stellen auf die - meist zeitlich begrenzte - Nutzung der Qualifikationen<br />

von Frauen ab, ohne ihnen Möglichkeiten mittel- und längerfristiger Planung<br />

ihres Berufsverlaufs zu bieten.<br />

In manchen Ar<strong>bei</strong>tsbereichen von Frauen haben "ungeschützte" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

Tradition, in anderen nehmen sie rapide zu. Im Bereich der Gebäud e­<br />

reinigung ist Ar<strong>bei</strong>t unterhalb der Geringverdienerinnengrenze zum "Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnis"<br />

geworden, und fast ein Drittel der im Einzelhandel neu Eingestellten<br />

erhält nur befristete Verträge.<br />

"Ungeschützte" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse können darüber hinaus genutzt werden<br />

als Instrumen t der Spaltung unter den Frauen hinsichtlich Berufs- und Ar<strong>bei</strong>tsanforderungen.<br />

Insbesondere ausländische Frauen müssen selbst diese unsicheren<br />

Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnisse im Rahmen ihrer Lebensbedingungen unsichtbar halten.<br />

Um "ungeschützten" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen gegenzusteuern, müssen<br />

- alle Formen von Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnissen rechtlich und sozial abgesichert<br />

werden;


- 26 -<br />

- einers eits Frau en in zukunftsträchtig en Ausbildung en, W eit erbildung en und<br />

Umschulung en verstärkt Zugang<br />

er halt en und muß and er ers eits di e Wirtschaftsstrukturpolitik<br />

nicht nur an beruflich e Qualifikation en von Männ ern<br />

ori en ti ert w erd en, sond ern auch auf di e Qualifikation en von Frau en abst ellen;<br />

- arb eitsmarkt - und wirtschaftsstrukturpolitisch e Maßnahm en mit ein er besonder<br />

en Förd erung von Frau en verbund en werd en;<br />

- Frau enförd erplän e v erbindlich en Charakt er er halt en. All e Arb eitg eb er öffentlich<br />

e und privat e - sind zu verpflicht en, aktiv Chanc engl ei ch heit zwisch<br />

en Mä nern und Frau en herz ust el en. Zur Ums etzung d er Förd erplän e sind<br />

in B etri eb en und Behörd en Frau enb eauftragt e einzus et z en;<br />

- Politik en der Gl eichst ellung der Frau en auf dem Arb eitsmarkt sozialpolitisch<br />

flanki er t werd en: Einrichtung en zur Kind erb etr euung in ausr eich end er<br />

Zahl, famili enfr eundlich e Arb eitsz eit en, mat eri ell e Absich erung von er w erbslos<br />

en Frau en und Frau en in der W eit erbildung usw.<br />

In bezug auf di e V ert eilung g es ellschaftlich er Arb eit muß di e P ersp ektiv e<br />

ein e Gl eichv ert eilung auf Frau en und Mä ner sein.<br />

In den Arb eitsgrupp en des Workshops wurd en di es e Ford erung en im Hinblick<br />

auf Tel e-H eimarb eit, "n eu e" Selbständig e, tradition ell e Frau enb eruf e,<br />

Arb eitsb eschaffungsmaßnahm en, Prostitution sowi e Frau en in M edi en und Wissen<br />

schaft konkr etisi ert.<br />

Sp ezifisch e Ford erung en im Hinblick auf einz eln e Form en "ung eschützt er"<br />

Arb eitsv erhältniss e:<br />

T ele-Heimar<strong>bei</strong>t<br />

1. T el e-H eimar eit ist arb eitsr echtlic h umfass end abzusich ern.<br />

2. Betri eblich e und auß er b etri eblich e Beschäftigt e sind b ezüglich Arb eitsb edingung<br />

en, -z eit und -entlohnung gl eich zu behand eln.<br />

3. Di e betri eblich e und gew erkschaftlich e Int er ess env ertr etung ist zu sich ern,<br />

z. B. durch int ensiv e Betr euung von T el earb eit erinn en durch di e Betri ebsrät e.<br />

4. Di e (R e- )Int egration der Tel earb eit erinn en in den Betri eb ist zu gewäh rl eist<br />

en .


- 27 -<br />

Neue Selbständige<br />

1. Z ur Förderung von Frauen, die sich individuell oder als Kollektiv selbständig<br />

machen wollen, sollte ein öffentlich finanzierter Fonds eingerichtet werden.<br />

2. Es sind regionale und lokale Be ratungs- und Weiterbildungseinrichtungen zu<br />

institutionalisieren und zu fördern, die Frauen <strong>bei</strong> Be triebsgründungen unterstützen<br />

und ihnen fehlende Qualifikationen vermitteln.<br />

3. Zur Finanzierung von Frauenprojekten, die sozialstaatliche Aufgaben übernehmen,<br />

und deren Kosten nicht über Gebühren oder Leistungen der Sozialversicherung<br />

gedeckt werden können, ist ein ressortübergreifender Fonds<br />

einzurichten, aus dem eine tarifliche Entlohnung bezahlt wird. Diese Frauen ­<br />

projekte dürfen nicht auf ehrenamtliche Ar<strong>bei</strong>t und freiwilliges Engagement<br />

verwiesen werden.<br />

Ar<strong>bei</strong>t in Medien und Wissenschaft<br />

1. Frauenförderpläne in den Medien und in wissenschaftlichen Einrichtungen<br />

sollten nicht nur die Gesamtbeschäftigtenzahlen der Frauen erhöhen, sondern<br />

speziell ihre Be förderung in höhere Positionen und mit unbefristeten<br />

Verträgen unterstützen, d.h. in den Hochschulen Positionen mit selbständigen<br />

Forschungs- und Lehraufgaben.<br />

2. Qualifizierungsmaßnahmen sind zugunsten von Frauen zu quotieren und sollten<br />

<strong>bei</strong> den Medien auch für freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen vorgesehen werden.<br />

Traditionelle Frauenberufe<br />

1. Die Be dingungen in sog. Frauenberufen erfüllen i.d.R. heute nicht die Voraussetzungen<br />

für langfristige, qualifizierte, existenzsichernde Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

von Frauen. Als Gegensteuerung zu der Tendenz in diesen Be reichen, Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

durch "ungeschützte" Be schäftigungsformen bis hin zum<br />

(neuen) Ehrenamt zu verdrängen, ist der Erhalt von Be schäftigungspositionen<br />

und die Schaffung z usätzlicher Stellen zu fordern.<br />

2. Angesichts der Erhöhung der Konkurrenz durch das Eindringen männlicher<br />

Be werber müssen Frauen durch Weiterbildung und Regelung des Zugangs zu<br />

Ausbildung, Weiterbildung und <strong>bei</strong> der Be setzung leitender Positionen gefördert<br />

werden (Quotierung).


- 28 -<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbesc ha ffungsma ßna hmen<br />

1. Um dem Stellenabbau durch Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsma ßnahmen gegenzusteuern,<br />

müssen im AF G zusätzliche Ar<strong>bei</strong>tsplätze, nicht nur zusätzliche Ar<strong>bei</strong>t gefordert<br />

we rden.<br />

2. Statt kurzfristiger Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsma ßnahmen in der bisherigen Form,<br />

die Frauen keine beruf ichen l Perspektiven bieten, sollten - mindestens im<br />

derzeitigen Umfang von A BM - zum Abbau der Erwerbslosigkeit verstärkt<br />

mittelfristige Ar<strong>bei</strong>tsvorhaben als Vorbereitung von Dauerar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />

durchgeführt werden. Die Zeitdauer der Finanzierung sollte der Projektzeitda<br />

uer entsprechen, damit eine fundierte Einar<strong>bei</strong>tung und Qualifizierung<br />

durch die Tä tigkeit ermöglicht wird.<br />

3. Die für Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen und andere Programme aufgewendeten<br />

Mittel müssen proportional zum höheren Anteil von Frauen an der Erwerbslosigkeit<br />

für Frauenar<strong>bei</strong>tsplätze eingesetzt werden. Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

und andere Programme sollten durch Fort- und Weiterbildungsma<br />

ßnahmen ergänzt werden, die nicht nur auf die jeweiligen betrieblichen<br />

Be dürfnisse begrenzt sind.<br />

Prostitution<br />

1. Die Prostitution ist durch eine ar<strong>bei</strong>ts- und sozialrechtliche Anerkennung zu<br />

entdiskriminieren.<br />

2. Die Frauenbeauftragten sollen mit den betroffenen Frauen und beteiligten<br />

Institutionen verstärkt Be ratungsangebote einrichten und berufliche Alternati<br />

ven entwickeln.


- 29 -<br />

I. AR BEI TS BESCHAFFUNGS MASSNAHMEN<br />

Zur Einführung:<br />

Helga Ostendorf<br />

AR BEITS BESCHAFFUNGS MASSNAHMEN FU R FRAUEN ?<br />

DIE UNZU L}\NG LICHKEIT DES "WICHTIGSTEN AR BEITS MARKTPO LITISCHEN<br />

INSTRUMENTS"<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) werden für viele Bevölkerungs- und Berufsgruppen<br />

immer mehr vom "zweiten" zum "ersten" Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Für viele<br />

sind sie die einzige Möglichkeit, überhaupt einen Einstieg in Erwerbsar<strong>bei</strong>t zu<br />

finden, und zunehmend bleiben sie auch die einzige Möglichkeit, erwerbstätig<br />

zu sein. Vorbilder der AB-Maßnahmen waren der Reichsar<strong>bei</strong>tsdienst und die<br />

Notstandsar<strong>bei</strong>ten z.B. in Berlin in den 50er und 60er Jahren.<br />

In größerem Umfang werden Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen erst seit 1976<br />

eingesetzt. Im Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetz (AFG) von 1969 waren sie geplant als<br />

antizyklisches Instrument, das der - vorübergehenden - Unterbeschäftigung entgegenwirken<br />

sollte (vgl. Kühl 1982). Auf der Basis der Erfahrungen mit den<br />

Kr isen 1966/67 und 1971 wurde noch Mitte der 70er Jahre von einer baldigen<br />

konjunkturellen Erholung und damit einem Wiedererreichen der Vollbeschäftigung<br />

ausgegangen. Als sich herausstellte, daß die "Baisse" andauernder war, als


- 30 -<br />

die Erfahrungen lehrten, wandelte sich auch das ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische Instrument<br />

"A BM": es wurde von einem antizyklischen zu einem problemgruppenorientierten.<br />

Seither ging - und geht - es darum, den Gruppen, die besonders<br />

von Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit betroffen sind, den (Wieder-)Einstieg zu ermöglichen. Die<br />

Definition, wer zu den "Problemgruppen" zählt, wird da<strong>bei</strong> immer breiter: neben<br />

Schwerbehinderten und Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen zählen<br />

heute die unter 25- und die über 40jährigen dazu ( öTV 1984). Umgekehrt gewendet:<br />

Nu r noch denjenigen zwischen 25 und 40 Jahren werden - auch von<br />

offizieller Seite - Chancen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt eingeräumt.<br />

AB-Maßnahmen müssen folgende Kriterien erfüllen (vgl. §§ 91 ff. AFG):<br />

- Sie müssen im öffentlichen Interesse liegen und<br />

- zusätzlich sein: ohne die Finanzierung durch die Mittel der Bu ndesanstalt<br />

für Ar <strong>bei</strong>t dürfen die Ar<strong>bei</strong>ten nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt<br />

durchgeführt werden können.<br />

Nach de r Einschätzung des La ndesar<strong>bei</strong>tsamtes Be rlin sind die AB-Maßnahmen<br />

das wichtigste ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische Instrument des Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetzes<br />

(AFG), denn es ist das einzige Instrument, das direkt auf den Ar<strong>bei</strong>tsmarkt einwirkt<br />

(vgl. taz v. 22.1.1986). Die Ziele sind:<br />

- Abbau der Erwerbslosigkeit,<br />

- dauerhafte und qualifikationsgerechte Wiedereingliederung erwerbsloser Ar<strong>bei</strong>tnehmer,<br />

- Impulse zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur und zu sonstigen Strukturverbesserungen<br />

zu geben mit dem Ziel der Schaffung von Dauerar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />

(vgl. A BM-Anordnung v. 13. Dez. 1984, § 1).<br />

In diesem Aufsatz wird aufgezeigt werden,<br />

- daß Ar <strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen lediglich die Erwerbslosigkeit verwalten,<br />

indem sie Erwerbslose an verschlechterte Ar <strong>bei</strong>tsbedingungen und an berufliche<br />

Perspektivlosigkeit gewöhnen;<br />

- daß Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen den verkürzten beruflichen Planungshorizon<br />

t von Frauen aufnehmen, reproduzieren und weiter verkürzen;<br />

- daß Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen ein Instrument des keynesschen Krisenmanagements<br />

sind, das in der gegenwärtigen Situation einer langfristigen<br />

ökonomischen Stagnation nicht nur wirkungslos ist und bleiben muß, sondern<br />

zum Mißbrauch und damit zur Verkehrung der Ziele einlädt. Letztlich wird<br />

f ür eine Abschaffung der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen plädiert. In Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

finden gegenwärtig ca. zwei von einhundert


- 31 -<br />

Erwerbslosen eine Beschäftigung; der Anteil von Frauen schwankt zwischen<br />

28 und 38%. Diese Benachteiligung von Frauen selbst in den AB-Maßnahmen<br />

hat ihre Ursachen sowohl in der Struktur der Maßnahmen, die auf männertypische<br />

Berufsstrukturen zugeschnitten sind, als auch in der vom "ersten"<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmarkt bekannten Diskriminierung.<br />

1. Neue Ar<strong>bei</strong>tsplätze durch Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen?<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen sind zu ca. 80% im öffentlichen Dienst angesiedelt,<br />

der Rest entfällt auf Wohlfahrtsverbände, Kirchen und die kleinen "freien<br />

Träger" wie Bürgerinitiativen, autonome Proj ekte usw. Gelingt es nun mit Hilfe<br />

von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen, die Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit abzubauen und die<br />

Wiedereingliederung der Ar<strong>bei</strong>tslosen zu erreichen?<br />

Von Kritikern und Kritikerinnen werden Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

auch als "AVN", als Ar<strong>bei</strong>tsvernichtungsmaßnahmen, bezeichnet. Zeitgleich mit<br />

der Ausweitung der AB:'Maßnahmen wurden in den öffentlichen Haushalten zunehmend<br />

Einsparungen vorgenommen (Ostendorf 1987). Viele Dienststellen der<br />

öffentlichen Verwaltung nutzten daher die Möglichkeit, erzwungene Personaleinsparungen<br />

durch "zugewiesene" Ar<strong>bei</strong>tskräfte, die aus Mitteln der Bundesanstalt<br />

für Ar<strong>bei</strong>t bezahlt wurden, zu ersetzen. Gleiches gilt für die freien Träger,<br />

die reduzierte Zuschüsse der öffentl ichen Hand ausgleichen mußten.<br />

Ohne die AB-Maßnahmen könnten viele Dienststellen und freie Träger ihre<br />

Aufgaben nicht mehr erfüllen. So werden die Lohnabrechnungen in den Berliner<br />

Gartenbauämtern seit nunmehr 11 (!) Jahren von ABM- Beschäftigten erstellt<br />

(taz v. 22.1.1986); im Kreuzberger Gartenbauamt gibt es 210 ABM-Kräfte, aber<br />

nur 157 Planstellen; insgesamt wurden in Berlin mit der Einrichtung von 6.600<br />

ABM-Stellen 3.000 Planstellen gestrichen (Ochs 1985). Um solche Substitutionseffekte<br />

zu vermeiden, sind die Ar<strong>bei</strong>tsämter ,<br />

gehalten, die Personalentwicklung<br />

der jeweiligen Träger zu überprüfen. Doch, auch wenn sie Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

verweigerten, würde keine neue Planstelle geschaffen.<br />

Bei den freien Trägern, den Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Selbsthilfeprojekten<br />

wird oftmals vorher ehrenamtlich oder auf Honorarbasis geleistete<br />

Ar<strong>bei</strong>t in eine AB-Maßnahme umgewandelt. Auch hierdurch werden keine neuen<br />

Stellen geschaffen, für die ehemaligen Ehrenamtlichen oder Honorarkräfte be-


- 32 - ,<br />

deutet ABM jedoch eine bessere finanzielle Absicherung. Diese Wirkung ist<br />

aber im AFG nicht intendiert und in diesem Sinne ein Mitnahmeeffekt.<br />

Ein weiterer Mitnahmeffekt ergibt sich durch die Finanzierung von zeitlich<br />

be grenzten Ar<strong>bei</strong>ten durch ABM statt durch Zeitverträge. Solche Aufgaben,<br />

die sich leicht als zusätzliche ausweisen lassen, scheinen prädestiniert für<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen. Selbst Forschungsprojekte werden heute mit<br />

Mitteln der Bundesanstalt für Ar<strong>bei</strong>t bezahlt, unabhängig davon, ob die Bundesanstalt<br />

Interesse am Ergebnis des Projekts hat. Neue Aufgaben der öffentlichen<br />

Verwaltungen, die zu Zeiten der Vollbeschäftigung durch unbefristet Beschäftigte<br />

- oft zusätzliche Kräfte - erledigt oder durch Modellversuche zunächst<br />

erprobt wurden, werden heute als Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen definiert. So<br />

werden in Hessen Umweltberater vom Ar<strong>bei</strong>tsamt finanziert und vielerorts Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />

<strong>bei</strong> Frauenbeauftragten bzw. Gleichstellungsstellen.<br />

Die Antwort auf die Frage, ob Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen neue Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

schaffen oder ob Ar<strong>bei</strong>tsplätze vernichtet werden, beantwortet sich<br />

von selbst: Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen blockieren die Schaffung neuer Ar<strong>bei</strong>tsplätze.<br />

Es besteht kein Handlungsdruck, solange die Personalkosten statt<br />

durch den jeweiligen Haushalt auch von der Bundesanstalt für Ar<strong>bei</strong>t bezahlt<br />

werden können.<br />

2. Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

Ar<strong>bei</strong>ten in AB-Maßnahmen werden nicht selten unterhalb der tariflichen Stellenbewertungen<br />

bezahlt: Sachbear<strong>bei</strong>terinnentätigkeit wird als Schreibar<strong>bei</strong>t<br />

umdefiniert, sozialwissenschaftliche Ar<strong>bei</strong>t als Sozialar<strong>bei</strong>t und damit bis zu<br />

fünf Tarifgruppen niedriger bezahlt. Ablehnen können die Betroffenen eine<br />

Stelle in einer AB-Maßnahme kaum. Auch wenn die persönlichen Lebensumstände<br />

es ermöglichten, weiterhin erwerbslos zu sein, so würde die Ablehnung des<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplatzes einen dreimonatigen Verlust der Ar<strong>bei</strong>tslosenunterstützung zur<br />

Folge haben. Die Zuweisung einer Stelle erfolgt zwangsweise: Ar<strong>bei</strong>t in AB­<br />

Maßnahmen ist Zwangsar<strong>bei</strong>t! Die 1982 erlassene Zumutbarkeits-Anordnung legitimiert<br />

da<strong>bei</strong> die tarifliche Herabgruppierung. Je länger jemand erwerbslos<br />

ist, um so niedriger qualifizierte und bezahlte Ar<strong>bei</strong>t muß er/sie annehmen. Daß<br />

tarifliche Zusatzleistungen wie z.B. Urlaubsgeld oder 13. Gehalt häufig nicht<br />

gezahlt werden, erscheint fast selbstverständlich. Wie <strong>bei</strong> anderen Zeitverträ-


- 33 - ,<br />

gen auch, fehlen oft die Anspruchsvoraussetzungen, weil an den festgelegten<br />

Stichtagen das Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis entweder noch nicht bestand oder schon beendet<br />

ist.<br />

Die Betroffenen müssen jedoch nicht nur diese finanziellen Restriktionen<br />

hinnehmen, manchmal entsprechen die Bedingungen am Ar<strong>bei</strong>tsplatz nicht einmal<br />

Minimalstandards. In den AB-Maßnahmen werden lediglich die Personalkosten<br />

bezuschußt, zusätzliche Sachmittel werden nicht gewährt. Streng genommen<br />

bedeutet dies, daß z.B. für eine Büroangestellte weder ein Schreibtisch<br />

noch Ar<strong>bei</strong>tsmittel und eigentlich auch gar kein Büro zur Verfügung stehen. Im<br />

allgemeinen werden für solche "Nebenkosten" ca. 50% der Personalkosten kalkuliert.<br />

Diese Mittel müssen aus dem Haushalt des jeweiligen Trägers aufgebracht<br />

werden. Für Bürgerinitiativen, alternative Projekte usw. wird dadurch<br />

die Nutzung von Mitteln der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen schwierig, manchmal<br />

unmöglich (vgl. den Beitrag von Christiane Eiche). Aber auch etablierte<br />

Träger von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen tun sich vielfach schwer, zumutbare<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen zu geWährleisten.<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, wie im folgenden skizziert, dürften keine Seltenheit<br />

sein: Eine ABM-Kolonne eines Gartenbauamtes mußte die Ar<strong>bei</strong>tspausen auf der<br />

Ladefläche eines Kleinlasters verbringen, während den Gärtnern die LKW-Kabine<br />

mit Standheizung zur Verfügung stand; für 90 Beschäftigte gab es nur drei<br />

Toiletten; acht Ar<strong>bei</strong>tskräfte mußten sich ein Büro teilen, das für fünf zu eng<br />

war (Kurbj uweit 1986).<br />

In A BM Beschäftigte können sich gegen solche Bedingungen kaum wehren,<br />

denn damit würden sie nicht nur die Aussicht auf eine Festanstellung zusätzlich<br />

in Frage stellen, sondern vor allem müßten sie ihre eigenen Hoffnungen<br />

aufgeben. Zu dem großen Anpassungsdruck, dem "Gefühl , immer 'ja' sagen zu<br />

müssen", kommt der Drang, "immer alles ganz besonders gut zu machen, weil<br />

dann vielleicht eine Planstelle winkt. Darauf hofft jeder, auch wenn bekannt<br />

ist, daß die Chancen sehr gering sind" (ebd.). Der Anpassungsdruck wird noch<br />

verstärkt durch die ständige berufliche und ökonomische Unsicherheit. "Man<br />

konnte nichts richtig planen, war ständig von Existenzsorgen bedrängt" (ebd.).<br />

Anpassung ist eine der Verar<strong>bei</strong>tungsmöglichkeiten, Gleichgültigkeit die<br />

andere. Je häufiger jemand eine ABM-Stelle hatte und dann wieder erwerbslos<br />

wurde, um so mehr belasten die psychischen Folgen von Erwerbslosigkeit.<br />

"Fruchtbare Benlfserfahrungen in AB-Maßnahmen machen die folgende Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit<br />

nur noch schwerer" (Schindler 1987, S. 43). Je mehr es gelingt, keine


- 34 -<br />

Hoffnungen auf Festanstellung aufkommen zu lassen, "desto eher ist er/sie in<br />

der Lage, emotional damit umzugehen, psychisch zu überleben" (König 1987, S.<br />

31). Das bedeutet aber auch, sich nicht richtig für die Ar<strong>bei</strong>t zu engagieren<br />

und "damit den letzten Hauch einer Chance, doch noch übernommen zu werden",<br />

zu verspielen (ebd.).<br />

3.


- 35 -<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen, die keine oder nur eine geringe<br />

berufliche Qualifikation aufweisen, ein beruflicher Status, der für Frauen durch<br />

die geschlechtsspezifische Segmentierung des Ausbildungs- und Ar<strong>bei</strong>tsmarktes<br />

typisch ist. Sie konstatiert die Unzulänglichkeit der bisherigen AB-Maßnahmen<br />

für Frauen. Da<strong>bei</strong> rekurriert sie auf die typische Berufsstruktur • Im folgenden<br />

wird eine andere, zusätzliche Folie unterlegt: Inwieweit gehen AB-Maßnahmen<br />

auf die typischen Bruchstellen im Erwerbsverlauf von Frauen ein? Erleichtern<br />

AB-Maßnahmen den Übergang von der Schule in die Berufsausbildung, den Einstieg<br />

nach der Ausbildung und den Berufswechsel bzw. das Wiedereinsteigen in<br />

der Lebensmitte? Zwar liegen empirische Daten dazu nicht vor (nicht einmal<br />

di e Altersstruktur der in AB-Maßnahmen beschäftigten Frauen ist bekannt),<br />

dennoch läßt sich aufzeigen, daß Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen keine Unterst<br />

ützung <strong>bei</strong> der Überwindung typischer Bruchstellen der weiblichen Berufsbiographie<br />

bieten.<br />

4.1 Nach der Schule in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffnsmaßnahmen?<br />

In den letzten Jahren wurden AB-Maßnahmen zunehmend für Jugendliche eingesetzt,<br />

einige wenige wurden mit Bildungsmaßnahmen gekoppelt. Die Maßnahmen<br />

haben vorrangig eine Verwahrfunktion, denn sie sind nicht auf Perspektiven<br />

ausgerichtet, die sich für Jugendliche anschließen könnten. Die Ar<strong>bei</strong>tsämter<br />

teilen die Jugendlichen den Maßnahmen zu, ohne - zumindest in Berlin - Kenntnis<br />

von deren konkreter Ausgestaltung zu haben (vgl. Weißmann 1986). Anschließende<br />

Ar<strong>bei</strong>tsperspektiven und Möglichkeiten des Erwerbs beruflicher<br />

Qualifikationen werden von den Vermittlern in den Maßnahmen nicht ausgemacht.<br />

Die einzigen Ziele aus der Sicht der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung sind eine soziale<br />

Integration und finanzielle Absicherung der Jugendlichen, denen mannigfaltige<br />

soziale Defizite zugesprochen werden.<br />

Das Projekt "Jonas" untersuchte AB-Maßnahmen für Jugendliche. Soziale<br />

Defizite der Teilnehmer/innen wurden von dem Projekt nicht ermittelt - selbst<br />

wenn, wären AB-Maßnahmen sicherlich die unzureichendste aller Hilfsmöglichkeiten<br />

(Vock/Weißmann/Wordelmann 1987, S. 4). Eine große Anzahl der Jugendlichen<br />

verfügt über einen Schulabschluß, und für viele sind die AB-Maßnahmen<br />

eine Notlösung, weil ihre Bewerbungen um Ausbildungs- oder Ar<strong>bei</strong>tsplätze erfolglos<br />

blieben.<br />

Mädchen sind von der Krise am Erwerbs- und Ausbildungsmarkt besonders<br />

betroffen: Seit Jahren sind ca. 100 Ts. Mädchen erwerbslos gemeldet, 2/3 der


- 36 -<br />

Ausbildungsplatzsuchenden sind Mädchen; davon haben wiederum ca. 2/3 einen<br />

Realschulabschluß vorzuweisen. Angesichts der Strukturen und der fehlenden<br />

Perspektiven können Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen keine Lösung für diese<br />

Mädchen darstellen. Sie bieten weder eine Qualifizierung noch sonstige berufliche<br />

Aussichten. "Was den Qualifizierungseffekt betrifft, so wird bestätigt, was<br />

angesichts der durchweg einfachen Tätigkeitsinhalte auf Hilfsar<strong>bei</strong>terniveau zu<br />

vermuten ist. Von beruflich verwertbarer beruflicher Qualifizierung kann nicht<br />

gesprochen werden, allenfalls vom Einüben von Ar<strong>bei</strong>tstugenden und von der<br />

Vermittlung von Hilfsar<strong>bei</strong>terfähigkeiten, soweit diese nicht ohnehin vorhanden<br />

sind" (Jonas 1986, S. 9). Das mit den AB-Maßnahmen vermittelte eher negative<br />

Bild des Ar<strong>bei</strong>tslebens hat in Schweden dazu geführt, daß Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

für Jugendliche unter 18 Jahren seit 1982 verboten sind und stattdessen<br />

Bildungsmaßnahmen gefördert werden (Auer/Maier 1984, S. 163 f.). Auch<br />

das Jonas-Projekt spricht sich dafür aus, "Jugend-ABM als Programm unter<br />

Vorausplanung von Alternativen ersatzlos zu streichen" (Vock/Weißmann/Wordelmann<br />

1987).<br />

4.2 Nach der Ausbildung in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen?<br />

Nahezu die Hälfte der Mädchen wird in nur 10 der 430 Ausbildungsberufe qualifiziert.<br />

Diese Berufe sind wiederum die mit den höchsten Ar<strong>bei</strong>tsmarktrisiken,<br />

und sie ermöglichen selten, unter Verwertung des Gelernten in anderen Berufen<br />

unterzukommen (O stendorf 1986). Die traditionelle Perspektive für gelernte<br />

Friseurinnen, Arzthelferinnen usw. war die einer Tätigkeit als un- oder angelernte<br />

Industriear<strong>bei</strong>terin. Dieser Weg ist in den letzten Jahren zunehmend versperrt.<br />

Diese Frauen haben heute weder Chancen in ihrem Beruf noch zeichnen<br />

sich für sie andere Erwerbsmöglichkeiten ab. In AB-Maßnahmen können sie nur<br />

in einfachen Tätigkeiten unterkommen, in denen sie keine neue, auf anderen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmärkten verwertbare Qualifikation erwerben, sondern sogar ihre berufliche<br />

Qualifikation verlieren.<br />

"Erwerbslosigkeit nach der Lehre" ist relativ häufig in den Berufen, die in<br />

erster Linie auf eine Erwerbstätigkeit im öffentlichen Dienst ausgerichtet sind.<br />

Dies sind gleichzeitig die Bereiche, in denen Frauen verstärkt in AB-Maßnahmen<br />

vertreten sind. Hier zeigen sich die Rekrutierungsmuster innerhalb der<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen und gleichzeitig die Substitutionseffekte im öffentlichen.<br />

Dienst am deutlichsten. Bei ABM im Sozial- und Erziehungsbereich<br />

sind <strong>bei</strong> 91,6% der Beschäftigten Herkunfts- und Einmündungsberufe deckungs-


- 37 -<br />

gleich (S pitznagel 1985). In diesen Berufen wird ABM allmählich vom "zweiten"<br />

zum "ersten" Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Gleiches gilt in den Verwaltungs- und Büroberufen,<br />

wo <strong>bei</strong> 67% die Herkunftsberufe den Einmündungsberufen entsprechen.<br />

4.3 Wiedereinsteigen oder Umsteigen mit Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen?<br />

Zur Eignung von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen im Hinblick auf den dritten<br />

"Stolperstein" im Berufsverlauf von Frauen liegen kaum empirische Befunde<br />

vor. Dazu gehören der Wiedereinstieg nach einer Phase familienbedingter Berufsunterbrechung<br />

und das Umsteigen aus einem Beruf, der ab Mitte 30 nicht<br />

mehr auszuüben ist, wie z.B. Angelernte in der Elektroindustrie (vgl. Bednarz­<br />

Braun 1983) oder Friseurin (vgl. Cremer 1984). Hausfrauen, die wieder erwerbstätig<br />

sein wollen, haben außerdem nur bedingt Zugang zu ABM, weil sie oftmals<br />

die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllen (vgl . Karin Gottschall in diesem<br />

Band). Für diese Frauen, ebenso wie für die "älteren" - über 39jährigen -<br />

bieten AB-Maßnahmen keine Perspektive: sie bereiten nicht auf neue berufliche<br />

Anforderungen vor. Notwendig wäre eine Nachqualifizierung bzw. Umschulung<br />

und vor allem eine ausreichende Zahl von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen.<br />

5. Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen für Frauenprojekte nutzen?<br />

Autonome Projekte nutzen verstärkt Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen, da diese<br />

eine der wenigen Finanzierungsmöglichkeiten für ihre Ar<strong>bei</strong>t darstellen. Die<br />

zweischneidigen Konsequenzen, di e dieser "Finanzsegen" für Frauenprojekte<br />

hinsichtlich der inhaltlichen Ar<strong>bei</strong>t und der Hierarchisierung der Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />

hat, beschreibt Christiane Eiche (in diesem Band).<br />

Auf Wohlwollen stießen die . autonomen Projekte vor allem, weil sich abzeichnete,<br />

daß die Ansiedlung von AB-Maßnahmen in den öffentlichen Verwaltungen<br />

und <strong>bei</strong> den etablierten Wohlfahrtsverbänden sowie den Kirchen an Sättigungsgrenzen<br />

stieß. Diese Projekte leisten oftmals einen Beitrag zur Verbesserung<br />

der sozialen Infrastruktur, eine Aufgabe, die im § 91 AFG explizit als<br />

Einsatzfeld für AB-Maßnahmen vorgesehen ist. Die feste Zeitvorgabe des AFG<br />

für AB-Maßnahmen entspricht allerdings in keiner Weise den Anforderungen der<br />

Projekte. Im allgemeinen wird für Innovationen im sozialen Dienstleistungsbereich<br />

mit einer Anlaufphase von fünf Jahren gerechnet (Maier 1982). Auch<br />

Ausweichst:ategien der Projekte, z.B. die Kontinuität der Ar<strong>bei</strong>t durch di e


- 38 -<br />

zeitlich versetzte Beantragung von AB-Mitteln zu gewährleisten, funktionieren<br />

nur solange, wie die Mitar<strong>bei</strong>ter/innen bereit sind, zwischenzeitlich ohne Bezahlung<br />

zu ar<strong>bei</strong>ten.<br />

Die stärkere Nutzung von AB-Maßnahmen für experimentelle Programme<br />

im sozialen Sektor, wie Maier (1982) fordert, ist <strong>bei</strong> der gegenwärtigen Ausgestaltung<br />

der ABM nicht problem angemessen. (Maier geht es allerdings nicht um<br />

die Bezahlung bisher kostenlos geleisteter Ar<strong>bei</strong>t, sondern um die "finanzielle<br />

Entlastung des sozialen Sicherungsnetzes".) Dennoch sind viele Projekte - insbesondere<br />

auch Frauenprojekte - auf diese Finanzquelle angewiesen. Vor allem<br />

ist die Ansiedlung dieser Projekte in den AB-Maßnahmen mit weniger Widerständen<br />

verbunden als etwa in den kommunalen Haushalten. Gerade Frauenprojekte<br />

sind innerhalb der Verwaltungen und der Parlamente oftmals politisch<br />

umstritten und brisant: die Finanzierung aus Mitteln der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung<br />

befreit von sonst notwendigen Auseinandersetzungen. Die Projekte werden von<br />

den öffentlichen Verwaltungen oftmals als "experimentelle Programme" deklariert:<br />

Wenn das Projekt sich als gut und nützlich erweist, soll eine Regelfinanzierung<br />

über die öffentlichen Haushalte erwogen werden. Im Grunde ist ein solches<br />

Vorgehen sowohl der öffentlichen Verwaltungen als auch der Projekte ein<br />

Mißbrauch der Mittel der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung. Im Vordergrund steht nicht das<br />

Ziel des AFG, Ar<strong>bei</strong>tslose zu (re-)integrieren und Ar<strong>bei</strong>tsplätze zu schaffen,<br />

sondern das Ziel ist vielmehr, politische Ansprüche durchzusetzen bzw. die<br />

Auseinandersetzung mit diesen Ansprüchen zu vertagen.<br />

6. Fazit<br />

Das Instrument Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen, das für kurzfristige ökonomische<br />

Krisen geschaffen wurde, ist in langfristigen Stagnationsphasen nicht geeignet:<br />

Wenn in ein oder zwei Jahren die Vollbeschäftigung nicht wieder erreicht<br />

ist, gelingt keine dauerhafte (Re-)Integration der Erwerbslosen. Im Gegenteil,<br />

die Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen setzen an den Bruchstellen der Berufsbiographie<br />

von Frauen an und reproduzieren diese: Der Planungshorizont<br />

der Frauen wird auf ein bis zwei Jahre verkürzt.<br />

- Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen entwickeln sich zum Rotationsar<strong>bei</strong>tsmarkt:<br />

Die Maßnahmen bleiben bestehen, nur die dort Beschäftigten wechseln gemäß<br />

der gesetzlichen Höchstförderungsdauer • Mit der Kopplung der Aufgaben<br />

- der (Re-)Integration von Problem gruppen und der Schaffung neuer<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplätze durch die Vorbereitung strukturverbessernder Maßnahmen -


- 39 -<br />

werden die Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen überfrachtet. Struktur verbessernde<br />

Innovationen durch Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen können nicht dauerhaft<br />

sein, solange eine Anschlußfinanzierung nicht gesichert ist.<br />

- Inhaltlich anspruchsvolle Projekte, von denen ein Anstoß für die Strukturverbesserung<br />

erwartet werden kann, haben überwiegend hohe Ansprüche an<br />

die Qualifikation des Personals. Die Problemgruppen des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes lassen<br />

sich durch solche Projekte nicht (re-)integrieren.<br />

7. Forderungen<br />

Die zwei Ziele der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen, die Strukturverbesserung<br />

und die (Re-)Integration der Problemgruppen sind zu trennen. Bei innovativen<br />

Projekten stellt sich - zumindest <strong>bei</strong> langanhaltender Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit · -<br />

Frage, warum sie aus Mitteln der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung bezahlt werden sollen.<br />

Strukturverbesserungen sind Aufgaben des Staates, sie sollten auch von diesem<br />

bezahlt werden und nicht mit Geldern der Versicherungen. Die (Re-)Integration<br />

der sogenannten Problemgruppen kann unter den gegenwärtigen Ar<strong>bei</strong>tsmarktbedingungen<br />

mit AB-Maßnahmen nicht gelingen. Notwendig sind auf die jeweiligen<br />

Problemgruppen zugeschnittene Programme:<br />

a) Für Mädchen, die keinen Ausbildungsplatz finden, müssen Ausbildungsplätze<br />

geschaffen werden, statt sie an anspruchslose Ar<strong>bei</strong>t zu gewöhnen.<br />

b) Für junge Frauen, die nach der Ausbildung keinen Ar<strong>bei</strong>tsplatz in ihrem Beruf<br />

finden, sind Umschulungsmaßnahmen und Anpassungsfortbildungen notwendig.<br />

Der Fehlausbildung in Berufen ohne Ar<strong>bei</strong>tsmarktchancen ist durch<br />

zukunftsorientierte Ausbildungsangebote gegenzusteuern.<br />

c) Für Frauen, die nach einer Zeit ausschließlicher Familienar<strong>bei</strong>t wieder in<br />

die Erwerbstätigkeit zurück wollen, sind berufliche Auffrischungskurse und<br />

Anpassungsmaßnahmen einzurichten; Frauen, die den Beruf wechseln müssen,<br />

be nötigen Umschulungsmaßnahmen.<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen sind für Mädchen und Frauen ungeeignet,<br />

sie leisten keinen Beitrag zur Verbesserung ihrer Chancen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt.<br />

Im AFG stehen teilweise entsprechende Instrumente für Ausbildung und<br />

Umschulung zur Verfügung. Sie gilt es, stärker zu nutzen, auf die Bedürfnisse<br />

von Frauen auszurichten und nicht zuletzt zugunsten von Frauen zu quotieren.<br />

Die <strong>bei</strong>den Ziele - die Förderung von strukturverbessernden Maßnahmen und die<br />

(R e-)Integration von Problem gruppen - lassen sich da<strong>bei</strong> zugunsten der Frauen<br />

in der Weise verbinden, daß die beruflichen Vor erfahrungen von Frauen aufgegriffen<br />

und Bestandteil der Strukturpolitik werden.<br />

die


- 40 -<br />

Abschaffung von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen!<br />

Strukturpolitik unter Einbeziehung der Qualifikationen von Frauen!<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplätze für Frauen (und Männer)!<br />

LITERATUR<br />

Auer, P./Maier, H.E. : Strategien zur Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffung in der Bundesrepublik<br />

Deutschland und im Ausland: Erfahrungen aus fünf Ländern. In: MittAB<br />

2/84<br />

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vo n Anlernung und Ar<strong>bei</strong>t an gewerblich-technischen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen von<br />

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Berghahn, S./Klähn, M.: Projekt Jonas. Pretest-Ergebnisse. Jonas-Ar<strong>bei</strong>tspapiere<br />

4. Berlin 1986. Hekt. Manuskript<br />

Cremer, Christa: Schönheit wird zur Pflicht. Friseurin - Beruflichkeit auf Zeit.<br />

In: Mayer, Christine u.a.: Mädchen und Frauen. Beruf und Biographie.<br />

München 1984<br />

Jonas: Projekt Jonas: Jugendliche ohne Ar<strong>bei</strong>t - Nutzen von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen.<br />

Jonas-Ar<strong>bei</strong>tspapiere 6. Zwischenbericht. Berlin 1986.<br />

Hekt. Manuskript<br />

König, Detlef: Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. In: König, D./Krüger,<br />

H. /Schröder, U.: "Eine Zeitlang gehöre ich dazu". ABM und zweiter Ar<strong>bei</strong>tsmarkt.<br />

Hamburg 1987<br />

Kühl, Jürgen: Das Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetz (AFG) von 1982. Grundzüge seiner<br />

ar <strong>bei</strong>tsmarkt- und beschäftigungspolitischen Konzeption. In: MittAB<br />

3/ 1982<br />

Kurbjuweit, Dirk: "Ein ständiges Gefühl der Unsicherheit". Zweifelhafte Erfolge<br />

<strong>bei</strong> Jobs auf Zeit. Die Zeit v. 18.4.1986<br />

Maier, H.E. unter Mitar<strong>bei</strong>t von L. Deutz und D. Schulze: Experimentelle Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

<strong>bei</strong> kleinen freien Trägern. IIM/LMP 82-20.<br />

Berlin 1982<br />

Ochs, Jürgen: Enttäuschung garantiert. ABM- Skandal in Kreuzberg. Blickpunkt<br />

34/1985<br />

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Honorarverträgen, Werkverträgen und der ABM-Beschäftigten im öffentlichen<br />

Dienst sowie zu den Rechten der Ar<strong>bei</strong>tslosen. Hrsg.: ÖTV-Bezirksleitung<br />

Berlin. Berlin 1984<br />

Ostendorf, Helga: Dilemma Staatsverschulung. Austerity-Politik in der Bundesrepublik<br />

Deutschland von 1975 bis 1981. Berlin 1987<br />

Ostendorf, Helga: Mädchen am Start: Gute Kondition aber schlechte Wegstrecke.<br />

In: Rudolph, Hedwig u.a.: Berufsverläufe von Frauen. Lebensentwürfe<br />

im Umbruch. München 1986<br />

Schindler, Hans: "Von Jägern und Gejagten" oder Psychosoziale Folgen sogenannter<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen. In: König, D./Krüger, H./Schröder,<br />

U.: "Eine Zeitlang gehöre ich dazu". ABM und zweiter Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Hamburg<br />

1987<br />

Spitznagel, Eugen: Über ABM zurück ins Ar<strong>bei</strong>tsleben? Berufsspektrum in ABM<br />

verhältnismäßig schmal - Geförderte beweisen in hohem Maße berufliche


- 41 -<br />

Mobilität - Knapp die Hälfte nach ABM in "normalem" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis.<br />

In: materialien aktuell 1/1985<br />

taz: Anhörung zu ABM Mißständen: "Ar<strong>bei</strong>tsvernichtungsmaßnahme". taz v.<br />

22.1.1986<br />

Vock, R./Weißmann, H./Wordelmann, P •. : Projekt Jonas. Lösungsüberlegungen<br />

und Umsetzungsempfehlungen. Jonas-Ar<strong>bei</strong>tspapiere. 13/1987. Berlin 1987.<br />

Hekt. Manuskript<br />

Weißmann, Hans: Projekt Jonas. Expertenbefragung - Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung -. Jonas<br />

Ar<strong>bei</strong>tspapiere 9. Berlin 1986. Hekt. Manuskript<br />

Zillich, Christian: "Wir ABM' ler sind Behinderte". In: König, D./Krüger,<br />

H. /Schröder, U.: "Eine Zeitlang gehöre ich dazu". ABM und zweiter Ar<strong>bei</strong>tsmarkt.<br />

Hamburg 1987


- lJ.2 -<br />

Karin Gottschall<br />

ARBEITSMARKTPOLITIK FUR FRAUEN?<br />

ZUR TEILHABE ERWERBSLOSER FRAUEN AN<br />

ARBEITSBESCHAFFUNGSMASSNAHMEN<br />

Frauen sind bereits seit Jahren von den Schrumpfungs- und Umverteilungsprozessen<br />

der Erwerbsar<strong>bei</strong>t gravierend betroffen: Die Zahl der registrierten ar<strong>bei</strong>tslosen<br />

Frauen hat sich seit 1980 mehr als verdoppelt und beläuft sich gegenwärtig<br />

auf über eine Million. 1 Trotz der in jüngster Zeit konstatierbaren<br />

leichten Beschäftigungszuwächse 2 ist die registrierte Frauenerwerbslosigkeit<br />

weiter überproportional gewachsen: Während die Männerar<strong>bei</strong>tslosigkeit von<br />

1981J. zu 1985 (Ende September) um ca. 2% abgenommen hat, ist <strong>bei</strong> den Frauen<br />

im selben Zeitraum ein Anstieg von mehr als 3% zu verzeichnen (vgl. ANBA Nr.<br />

3, 1986). Geschlechtsspezifische Ar<strong>bei</strong>tsmarktstrukturen und die spezifische<br />

Konstitution sozialer Absicherung in dieser Gesellschaft bewirken, daß der<br />

Ausschluß von bezahlter Ar<strong>bei</strong>t für Frauen besonders schnell zu sozialer Ausgrenzung<br />

führt (Stichwort: Neue Armut). Gegenwärtig sind _ ca. 30% der ar<strong>bei</strong>tslos<br />

gemeldeten Frauen länger als ein Jahr erwerbslos, ca. 40% haben keinen<br />

Anspruch auf Ar<strong>bei</strong>tslosenunterstützung (vgl. ANBA, ebenda); selbst diejenigen,<br />

die Leistungen vom Ar<strong>bei</strong>tsamt beziehen, sind häufig zusätzlich auf Sozialhilfe<br />

angewiesen (vgl. Welzmüller 1985, S. 329; Bahlsen u.a. 1981J., S. Ill, 1lJ.3).<br />

Gleichzeitig gilt unter den gegenwärtigen Bedingungen stärker als je zuvor,<br />

daß die Mehrzahl der Frauen auf eine eigenständige Absicherung ihres Lebensunterhalts<br />

bzw. Aufbringung des Familieneinkommens durch Erwerbsar<strong>bei</strong>t angewiesen<br />

ist.<br />

Die genannten Ausgrenzungsprozesse treffen nicht alle Frauen gleichermaßen.<br />

Ein wesentliches Moment der Strukturierung der Frauenerwerbslosigkeit<br />

liegt in der überproportionalen Betroffenheit von Frauen ohne berufliche bzw.<br />

mit nur geringer formaler Qualifikation (d.h. ungelernte Industrie- und Dienstleistungsar<strong>bei</strong>terinnen<br />

sowie Frauen mit einfacher verkaufs- und bürobezogener<br />

Qualifikation). Diese Gruppe umfaßt gegenwärtig mehr als die Hälfte der registrierten<br />

weiblichen Erwerbslosen (vgl. ANBA, a.a.O.). Im Unterschied zu formal<br />

höherqualifizierten erwerbslosen Frauen sind sie - in der Regel in Kombination<br />

mit weiteren sogenannten "einschränkenden" Merkmalen wie <strong>bei</strong>spiels-


- 43 -<br />

weise gesundheitlichen Einschränkungen, höherem Alter usw. - in besonderem<br />

Ausmaß von Dauererwerbslosigkeit und "Abrutschen" in die Sozialhilfebedürftigkeit<br />

betroffen. Offensichtlich gelingt diesen Frauen unter den gegenwärtigen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmarktbedingungen der Wiedereintritt in reguläre Beschäftigungsverhältnisse<br />

nur schwer (vgl. Gottschall 1986, S. 514 f.). Zu fragen ist, was in dieser<br />

Situation staatliche Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik, die ja insbesondere in bez ug auf das<br />

Instrument der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen mit dem Anspruch auf Prot>lemgruppenorientierung<br />

und Kompensationswirkung auftritt, zur Reintegration von<br />

Frauen als einer besonders benachteiligten Ar<strong>bei</strong>tskräftegruppe leistet.<br />

1. ABM als ein Mittel zielgruppenorientierter staatlicher Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik<br />

Staatliche Ar<strong>bei</strong>tsförderung in Form eines individuellen Rechtsanspruchs auf<br />

finanzielle Unterstützung der Teilnahme an Blldungs- und Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

wurde in der Bundesrepublik erstmals 1969 mit Inkrafttreten des<br />

Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetzes (AFG vom 25.6.1969) etabliert. Die ursprüngliche<br />

Ausrichtung auf Qualifizierung von (beschäftigten) Ar<strong>bei</strong>tnehmern für beruflichen<br />

Aufstieg hat mit der in der zweiten Hälfte der 70er Jahre einsetzenden<br />

Beschäftigungskrise eine Schwerpunktverlagerung hin auf die Reintegration von<br />

Erwerbslosen erfahren (Garlichs/Maier 1982, S. 89). In diesem Zusammenhang<br />

gewann auch das zunächst gegenüber den Weiterbildungsmaßnahmen nachrangige<br />

Instrument der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahme aufgrund der Möglichkeiten<br />

gezielter Anpassung an regionale und strukturelle Erfordernisse des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes<br />

an Bedeutung. Weiterhin wurden mit Bezug auf die starke Strukturierung<br />

der Erwerbslosigkeit, d.h. die überproportionale Betroffenheit von "gering<br />

Qualifizierten" und von "Frauen" diese <strong>bei</strong>den Gruppen zu bevorzugt zu fördernden<br />

Zielgruppen erklärt. Diese den objektiven Veränderungen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

Rechnung tragenden Umakzentuierungen wurden allerdings durch<br />

verschiedene fiskalpolitisch motivierte Anderungen des Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetzes<br />

(vgl. die 5. Novellierung des AFG 1979, das Ar<strong>bei</strong>tsförderungskonsolidierungsgesetz<br />

(AFKG) von 1982 sowie die Haushaltsbegleitgesetze von 1983 und<br />

1984) zum Teil nachhaltig konterkariert. Ohne hier näher auf die Veränderungen<br />

in Konzeption und Förderungsbedingungen (Maier 1982, S. 119) von ABM<br />

einzugehen, soll im folgenden für erwerbslose Frauen in bezug auf die gegenwärtige<br />

Situation gefragt werden, (1) in welchem Umfang Frauen überhaupt an


- q.q. -<br />

ABM partizipieren; (2) welche Gruppen von Frauen mit ABM erreicht werden;<br />

(3) welche Chancen und Probleme mit der Teilhabe an ABM verbunden sind; (q.)<br />

ob und inwieweit der Übergang in Dauererwerbsar<strong>bei</strong>tsplätze, in den sogenannten<br />

"ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt", gelingt. 3<br />

Basis der folgenden Aussagen zu Umfang und Struktur der Teilhabe von<br />

Frauen an ABM ist die Auswertung der amtlichen Ar<strong>bei</strong>tsmarktstatistik und<br />

eine kürzlich durchgeführte, im wesentlichen qualitativ angelegte Studie zum<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmarkt in Hamburg (Gottschall 1985). Die Ergebnisse zu den strukturellen<br />

Problemen der Partizipation von Frauen resultieren vornehmlich aus der in<br />

Hamburg durchgeführten Untersuchung.<br />

2. Zur quantitativen Repräsentanz von Frauen in ABM<br />

Die Beteiligung von Frauen an Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen ist bundesweit in<br />

den letzten zehn Jahren, d.h. seitdem ABM in nennenswertem Umfang eingesetzt<br />

worden sind (vgl. dazu im folgenden Tab. 0, gestiegen; sie ist gleichwohl,<br />

bezogen auf den Umfang der Frauenerwerbslosigkeit, bis heute unzulänglich.<br />

Tabelle 1:<br />

Frauenerwerbslosigkeit und Teilnahme von Frauen an Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

1980 bis 1985<br />

ar<strong>bei</strong>tslose Frauen I Beschäftigte in ABM 2<br />

in % an al-<br />

davon Fauen<br />

len Ar<strong>bei</strong>ts-<br />

Jahr abs. losen insgesamt abs. in %<br />

1978 475.73 9 55,0 51.236 13.881 27.1<br />

1979 419.815 57 ,0 51.192 17.047 33,3<br />

1980 454. 199 55,2 41.251 15.927 38,6<br />

1981 640.067 50,9 38.461 15.109 39,2<br />

1982 836.228 46,0 29. 198 10.652 36,5<br />

1983 988.988 46 ,3 44.680 12.927 28 ,9<br />

1984 988.41 4 46 ,1 70.938 22.86 2 32,2<br />

47,4<br />

1985 1.0 18.653<br />

1986 1.006.026 49,2<br />

87.026 29.467 33,9<br />

1 Jeweils Ende September<br />

2 J ahresdurchschni ttszahlen (an hand von 12 Stichtagen)<br />

Quelle:<br />

Anba Nr. 3, 1981 bis 1986, sowie AN BA Ar<strong>bei</strong>tsstatistik 1980, 1982, 1984, 1985<br />

Jahreszahlen (Sondernummer 29. Jg. 29. Juli 1981 , 31. Jg. 12. Auust 1983; 33.<br />

Jg. 18. Juli 1985; 34. Jg. 15. Juli 1986); <strong>bei</strong> den Zahlen für 1986 (aus Presseinformation<br />

Nr. 56/86 der Bundesanstalt für Ar<strong>bei</strong>t, Nürnbeg vom 03.10.1986)<br />

ha ndelt es sich um nicht saisonbereinigte Monatszahln; eigene Berechnungen.


- 45 ,-<br />

Erwerbslose Frauen sind in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen im Vergleich<br />

zu Männern immer schon unterrepräsen"tiert. 1985 betrug der Anteil der Frauen<br />

an allen gemeldeten Ar<strong>bei</strong>tslosen 47,7%, in ABM waren sie jedoch nur mit<br />

33,9% vertreten. Diese Relation war <strong>bei</strong> dem starken Rückgang von ABM Anfang<br />

der 80er Jahre ebenso wie <strong>bei</strong> der neuerlichen Ausweitung seit 1983/84<br />

kennzeichnend. Bezogen auf die Steigerung der Frauenerwerbslosigkeit muß<br />

weiterhin konstatiert werden, daß die Anwendung von ABM trotz der enormen<br />

Ausweitung in den letzten Jahren bis heute nicht einmal den Wirkungsgrad<br />

vom Ende der 70er Jahre wieder erreicht hat: Während 1979 immerhin auf 25<br />

ar<strong>bei</strong>tslos gemeldete Frauen durchschnittlich eine weibliche ABM-Beschäftigte<br />

kam, sieht die Relation 1985 mit 35:1 wesentlich schlechter aus. Gleichwohl<br />

hat die absolute Höhe weiblicher Beschäftigter in ABM mit ca. 29.500 1985<br />

einen vorläufigen Höchststand erreicht.<br />

3. Zur Struktur der weiblichen ABM-Beschäftigten und zur Struktur von ABM<br />

Die Beteiligung von Frauen an ABM ist auch in bezug auf die Struktur der<br />

Frauenerwerbslosigkeit unzulänglich. Wie bereits eingangs angeführt, sind insbesondere<br />

formal geringqualifizierte Frauen von Dauererwerbslosigkeit und sozialer<br />

Ausgrenzung betroffen, und diese Gruppe stellt mit ca. der Hälfte aller<br />

weiblichen Ar<strong>bei</strong>tslosen eine quantitativ bedeutsame Problemgruppe dar. Ein<br />

Blick auf die Verteilung der in ABM beschäftigten Frauen zeigt, daß sich mehr<br />

als drei - mit nur geringfügigen Schwankungen im Zeitverlauf - auf die<br />

Einsatzfelder "Soziale Dienste" (ca.· 56%) und "Büro und Verwaltung" (ca. 22%)<br />

konzentrieren. In den ABM-Einsatzbereichen mit überwiegend gewerblicher<br />

Aufgabenstruktur (z.B. Bau- und Verkehrswesen, Landwirtschaft, Gartenbau)<br />

sind Frauen mit Ausnahme des Bereichs Gartenbau/Landwirtschaftspflege (ca. ,<br />

5%) so gut wie gar nicht vertreten (vgl. Tab. 2). Für die Mehrzahl der in ABM<br />

beschäftigten Frauen sind entsprechend vergleichsweise hohe Schul- und Berufsabschlüsse<br />

insbesondere im Bereich sozialer, zum Teil auch kaufmännischer<br />

Berufe kennzeichnend. Bezogen auf die Qualifikations- und Altersstruktur erwerbsloser<br />

Frauen sind in ABM gering qualifizierte Frauen aus gewerblichen<br />

Tätigkeiten und aus Büro und Verkauf sowie Frauen mittlerer und höherer Altersgruppen<br />

deutlich unterrepräsentiert. Für männliche Ar<strong>bei</strong>tslose konnte der<br />

Einbezug insbesondere von gewerblichen Ar<strong>bei</strong>tnehmern eher realisiert werden;


- 46 -<br />

ca. zwei Drittel der männlichen AßM-ßeschäftigten sind in Einsatzfeldern mit<br />

überwiegend gewerblich-handwerklicher Aufgabenstruktur tätig, nur ca. 15% in<br />

dem stark akademisch geprägten Einsatzfeld "Soziale Dienste" (vgl. dazu auch<br />

ßreuer/Hellmich 1979).<br />

Tabelle 2:<br />

Beschäftigte (Männer und Frauen) in AB-Maßnahmen nach Art der Maßnahme<br />

1985 (Jahresdurchschnittszahlen)<br />

Beschäftigte geförderte Ar<strong>bei</strong>tnehmer/innen<br />

Män ner<br />

Frauen<br />

Art der Maßnahme abs. in % abs. in %<br />

L<br />

Landwirtschaft, Gartenund<br />

Landschaftsgartenbau 17.960 31,5 1.537 5,2<br />

II.<br />

Küstenschutz und Landgewinnung<br />

486 0,8 6<br />

III.<br />

Forstwirtschaft 5.212 9,2 147 0,5<br />

N.<br />

Verkehrswesen 1.771 3,1 35 0,1<br />

V.<br />

Bau-, lnd.- und FreizeitgeländeerschIießung<br />

sowie<br />

Hochbau 6.069 10,7 337 1,3<br />

VI.<br />

Versorgungsanlagen 921 1,7 35 0,1<br />

VII.<br />

Büro und Verwaltung 6.370 11,2 6.547 22,3<br />

VIII.<br />

.soziale Dienste 8.547 15,0 16.664 56,7<br />

IX.<br />

Sonstige 9.570 16,8 4.038 13,7<br />

----------------------------------------------------------------------------------------<br />

Zusammen 56.906 100 29.386 100<br />

QueUe:<br />

AN BA, Ar<strong>bei</strong>tsstatistik 1985, Jahreszahlen, Sondernummer vom 15. Juli 1986


- 47 -'<br />

4. Chancen und Probleme <strong>bei</strong> der Teilnahme an ABM<br />

Die Chancen, die in der Teilnahme an ABM liegen, sind aus der Perspektive der<br />

betroffenen Frauen:<br />

- die damit erreichte materielle Absicherung, die selbst <strong>bei</strong> Eingruppierung in<br />

die untersten Gruppen des Manteltarifvertrages der Länder bzw. des Bundesangestelltentarifvertrages<br />

die Haushaltseinkommen der Frauen gegenüber<br />

der vorangegangenen Situation soweit verbessert, daß sie ihre Lebensführung<br />

eigenständig bestreiten können und der mit der ABM- Beschäftigung neu begründete<br />

bzw. stabilisierte Anspruch auf Leistungen aus der Ar<strong>bei</strong>tslosenversicherung.<br />

Gerade für die formal gering qualifizierten Frauen gilt darüber<br />

hinaus, daß eine Beschäftigung in ABM in der Regel die einzige Alternative<br />

zur Aufnahme nicht sozialversicherungspflichtiger Tätigkeiten als<br />

Reinigungskraft, Ladenhilfe, Buffetkraft usw. darstellt.<br />

- die soziale und psychische Stabilisierung, die durch die - wenn auch befristete<br />

- Integration ins Erwerbsleben erfolgt; die betroffenen Frauen heben<br />

unabhängig von Qualifikationsniveau und der ausgeübten Tätigkeit positiv<br />

die Chancen zur Kommunikation mit anderen und die Teilhabe an gesellschaftlich<br />

sinnvoller Ar<strong>bei</strong>t hervor.<br />

In der Wahrnehmung der betroffenen Frauen liegen die Probleme:<br />

- in einer Minderung des Gehalts durch den Ausschluß von verschiedenen im<br />

Rahmen von Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnissen gewährten Leistungen wie <strong>bei</strong>spielsweise<br />

Weihnachts- und Urlaubsgeld, Anspruch auf Bildungsurlaub usw.<br />

- in Uberforderung durch den zugewiesenen Ar<strong>bei</strong>tsplatz; dies gilt insbesondere<br />

für gering qualifizierte Frauen, die zum Teil zur angemessenen Ausübung<br />

der Tätigkeit, aber auch in bezug auf die weitere Beschäftigungsperspektive<br />

auf begleitende Qualifizierungsangebote angewiesen sind, die ABM-tellen<br />

jedoch in der Regel nicht enthalten.<br />

- in Diskrepanzen zwischen den abgeforderten Fähigkeiten und Leistungen<br />

einerseits, der gewährten Bezahlung und dem beruflichen Status andererseits;<br />

dies gilt insbesondere für die akademisch-sozialpädagogischen Einsatzfelder,<br />

wo verstärkt durch die neue Abgruppierungspraxis für 'Berufsanfänger/innen<br />

im Öffentlichen Dienst, das Qualifikationspotential gerade auch in<br />

bezug auf Motivation, Kreativität, Handlungskompetenz und soziale Unvoreingenommenheit<br />

von Lehrerinnen, Geistes- und Naturwissenschaftler/innen<br />

einerseits voll ausgeschöpft wird, andererseits die ABM- Beschäftigten fak-


- 48 -<br />

tisch unter Tarif bezahlt werden und auch innerhalb der jeweiligen Institution<br />

nur begrenzt Handlungs- und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten erhalten.<br />

- in fehlender praktischer sozialer Unterstützung zur Regelung der häufig<br />

während der Erwerbslosigkeit entstandenen materiellen und sozialen Probleme<br />

(Schuldenregelung, Wohnungsfragen, Rechtsstreitigkeiten <strong>bei</strong> Scheidung,<br />

Kinderunterbringung usw.).<br />

Das sicher härteste Problem liegt in der Befristung der Beschäftigung und<br />

der fehlenden oder unsicheren Anschlußperspektive.<br />

5. Ubergangschancen in den ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

über die Wirksamkeit von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen in bezug auf den<br />

Übergang in Dauerar<strong>bei</strong>tsplätze liegen keine verläßlichen Daten vor. Auf der<br />

Basis von Experten/innengesprächen in der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung sowie einzelnen<br />

empirischen Untersuchungen (vgl. Nachweise <strong>bei</strong> Gottschall 1985, S. 88) ergibt<br />

sich folgendes Bild: Offensichtlich wird nur ein sehr geringer Teil von ABM­<br />

Stellen - insbesondere im Bereich "soziale Dienste", wo in erster Linie höher<br />

qualifizierte Ar<strong>bei</strong>tskräfte beschäftigt werden - in feste Stellen umgewandelt. 4<br />

Nur wenigen Frauen - wiederum eher den höher qualifizierten - gelingt es, innerhalb<br />

der Institutionen einen anderen Ar<strong>bei</strong>tsplatz oder aber anderweitig<br />

Beschäftigung zu finden. Die überwiegende Mehrheit der weiblichen ABM-Beschäftigten<br />

und insbesondere die formal gering qualifizierten Frauen sind jedoch<br />

nach Auslaufen von AB-Maßnahmen wieder erwerbslos. In der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung<br />

wird nicht zuletzt deshalb die wesentliche Wirkung von ABM in der<br />

materiellen und psychosozialen Stabilisierung sowie der sozialisierenden Wirkung<br />

der ein- oder zweijährigen Beschäftigung gesehen, die die Betroffenen im<br />

Unterschied zu Dauererwerbslosen befähigen, die Suche nach einem Erwerbsar<strong>bei</strong>tsplatz<br />

nicht aufzugeben. Zusammenfassend kann also festgehalten werden,<br />

daß die Partizipation von Frauen an ABM in quantitativer und qualitativer Hinsicht<br />

unzulänglich ist und insbesondere die mit dem Instrument ABM verknüpfte<br />

ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische Zielsetzung der Reintegration von gering qualifizierten<br />

Dauererwerbslosen <strong>bei</strong> Frauen nur begrenzt realisiert wird.


- 49 -'<br />

6. Strukturelle Grenzen der Wirksamkeit von ABM<br />

Die Gründe für die unzulängliche Teilhabe von Frauen verweisen auf strukturel<br />

le Grenzen des Instruments Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen in bezug auf die<br />

j -- _,"Ne-_<br />

,"",-::,=c""=,,;;;,;<br />

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: e . .<br />

r.::b::sl:,o::se:r Frauen. Als struktureller Mangel in bezug auf die<br />

rein quantitativ unterproportionale Beteiligung von Frauen (im Unterschied zu<br />

Männern) sind die rechtlichen Fördervoraussetzungen zu nennen:<br />

Voraussetzung für die Zuweisung in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen ist neben<br />

registrierter 6monatiger Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit der Bezug von Ar<strong>bei</strong>tslosengeld bzw.<br />

Ar<strong>bei</strong>tslosenhilfe oder - seit Mai 1985 - der Anspruch auf Unterhaltsgeld. Die<br />

Anspruchsvoraussetzung "Leistungsbezug" wirkt sich negativ für dauererwerbslose<br />

Frauen aus, da Frauen in weitaus stärkerem Maße als Männer <strong>bei</strong>m Anspruch<br />

auf Ar<strong>bei</strong>tslosenhilfe an der Bedürftigkeitsprüfung scheitern. Dies trifft<br />

insbesondere für verheiratete Frauen zu. Mit der Neuregelung der Zuweisungsberechtigung<br />

<strong>bei</strong> Anspruch auf Unterhaltsgeld seit Mai 1985 ist nunmehr sowohl<br />

ein Teil der Frauen ABM-berechtigt, die nach längerer Unterbrechung wegen<br />

Kinderbetreuung wieder ins Berufsleben zurückkehren wollen als auch derjenigen,<br />

deren Anspruch auf Ar<strong>bei</strong>tslosenhilfe wegen fehlender Bedürftigkeit entfallen<br />

ist. Trotz veränderter Rechtslage bleiben diejenigen erwerbslosen Frauen<br />

von der ABM- Berechtigung ausgeschlossen, die entweder nur eine kurze (d.h.<br />

weniger als zwei Jahre) oder diskontinuierliche Erwerbsbiographie haben oder<br />

die überwiegend in Teilzeitar<strong>bei</strong>tsverhältnissen mit weniger als 20 Stunden pro<br />

Woche beschäftigt waren oder mit einem Kind die Erwerbstätigkeit für mehr<br />

als acht Jahre unterbrochen haben. Faktisch sind von dieser Regelung insbesondere<br />

erwerbslose Frauen betroffen, die Sozialhilfe beziehen. In einzelnen<br />

Städten ist man dazu übergegangen, in Anlehnung an die Konstruktion von<br />

ABM, auf freiwilliger Basis und zu tariflicher Entlohnung Beschäftigungs -<br />

... <br />

lichkeiten für Sozialhilfeempfänger/innen zu schaffen.<br />

Die unzulängliche Zielgruppenwirksamkeit von ABM, d.h. der geringe Einbezug<br />

dauererwerbsloser gering qualifizierter Frauen hängt zunächst eng mit<br />

'---..<br />

der Konstruktion von ABM als "zusätzlicher Leistung im öffentlichen Interesse"<br />

zusammen. Zusatzbedarf an Tätigkeiten läßt sich gerade in der öffentlichen<br />

Verwaltung am ehesten in Bereichen finden, die nicht zu den Pflichtaufgaben<br />

(nach bisheriger Definition) gehören und/oder bisher gar nicht abgedeckt wurden:<br />

Das sind unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen dann am<br />

ehesten Aufgaben im ökologischen und sozial pflegerischen Bereich sowie generell<br />

Evaluierungstätigkeiten, die formal höher, in der Regel akademisch qualifizierte<br />

Ar<strong>bei</strong>tskräfte erfordern.<br />

Die Schaffung von ABM-Stellen im gewerblichen Bereich bzw. <strong>bei</strong> eher einfachen<br />

Tätigkeiten <strong>bei</strong>spielsweise in der Verwaltung ist in der Regel schwerer<br />

möglich bzw. politisch problematisch, da hier am offensichtlichsten wird, daß<br />

mit ABM in der Tendenz eine Substitution von Dauerar<strong>bei</strong>tsplätzen durch befristete<br />

Beschäftigung erfolgen kann: Personalvertretungen sind deshalb <strong>bei</strong> der<br />

Beantragung von ABM-Stellen <strong>bei</strong>spielsweise für die Verwaltung, für Reinigungstätigkeiten<br />

oder Gartenar<strong>bei</strong>ten usw. besonders zurückhaltend, weil genau


- 50 -<br />

in diesen Bereichen im Öffentlichen Dienst bereits seit Jahren Personaleinsparungen<br />

erfolgen; einzelne Tätigkeitsbereiche, wie <strong>bei</strong>spielsweise das Reinigungswesen,<br />

sind durch Privatisierung zum Teil völlig abgeschafft worden. Insgesamt<br />

gilt, daß der Schutz von Substituierungsprozessen, Mitnahmeeffekten und Umverteilung<br />

<strong>bei</strong> der Anwendung von ABM durch die gegenwärtig gültigen Bewilligungsregeln<br />

eher gering ist.<br />

Die o.g. geschlechtsspezifischen<br />

Zuweisungsprozesse verdeutlichen ein<br />

weiteres strukturelles Problem von AB-Maßnahmen. Indem AB-Maßnahmen vom<br />

Tätigkeitszuschnitt her wie auch von den Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen, insbesondere<br />

der Entlohnung, an die im Beschäftigungssystem etablierten Ar<strong>bei</strong>tsplatzstrukturen<br />

anknüpfen, konservieren sie auch alle darin enthaltenen Diskriminierungen<br />

von Frauen: Dies gilt sowohl für den tendenziellen Ausschluß von Frauen aus<br />

bestimmten Tätigkeitsfeldern wie auch die an Frauenar<strong>bei</strong>tsplätzen insbesondere<br />

im gewerblichen Bereich übliche, in unteren Lohngruppeneinstufungen verfestigte<br />

geringere Bewertung weiblicher Ar<strong>bei</strong>tskraft. Gemessen daran, daß es<br />

sich <strong>bei</strong> ABM um ein frei gestaltbares Mittel staatlicher Politik handelt, sind<br />

in der gegenwärtigen Konstruktion und Anwendungspraxis von ABM wesentliche<br />

Chancen zu Frauen positiv diskriminierenden Korrekturen im Beschäftigungssystem<br />

verpaßt worden. Neben der systematischen Erschließung neuer Tätigkeitsfeider<br />

für Frauen und der Entwicklung zielgruppenadäquater Maßnahmetypen<br />

würden dazu auch berufsfachliche, im ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt verwertbare Qualifizierungen<br />

für bestimmte Gruppen von Frauen gehören.<br />

Als letzter, gleichwohl zentraler Mangel von ABM sei die fehlende Absicherung<br />

von Substitutionsprozessen bzw. die faktisch nicht realisierte Strukturkomponente<br />

der Schaffung von Dauerar<strong>bei</strong>tsplätzen genannt. Um ABM zu einem<br />

wirksamen Instrument der Beschäftigungspolitik werden zu lassen, müßten eben<br />

die durch AB-Maßnahmen nachgewiesenen "Bedarfe" als gesellschaftlich sinnvolle<br />

und notwendige Tätigkeiten ,in den Kanon öffentlicher Pflichtaufgaben<br />

eingehen und dürften gerade nicht den Sparprioritäten öffentlicher Haushalte<br />

zum Opfer fallen.<br />

7. Fazit: Offensive Nutzung und Verbesserung von ABM im Interesse<br />

erwerbsloser Frauen<br />

Trotz der angeführten strukturellen Grenzen der Wirksamkeit von ABM sollte<br />

auf eine offensive Nutzung und Gestaltung dieses ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitischen Instruments<br />

im Interesse erwerbsloser Frauen nicht verzichtet werden, denn auch


- 51 -<br />

<strong>bei</strong> dieser befristeten Beschäftigungsform geht es um die Verteilung bezahlter<br />

Ar<strong>bei</strong>t zwischen Männern und Frauen und damit die Verteilung sozialer Chancen.<br />

Notwendig sind<br />

- die Öffnung des Zugangs für alle erwerbslosen Frauen durch Verzicht auf<br />

den Leistungsbezug als Eintrittskriterium, so daß insbesondere auch Sozialhilfeempfängerinnen<br />

beteiligt werden können;<br />

- die Erschließung neuer Tätigkeitsfelder für ABM;<br />

- "Quotierungen" <strong>bei</strong> der Vergabe von ABM-Stellen sowie<br />

- die konsequente Verbindung von Ar<strong>bei</strong>t und Qualifizierung innerhalb der<br />

Maßnahmen.<br />

Dessen ungeachtet bleiben die gerechte Verteilung von bezahlter und unbezahlter<br />

Ar<strong>bei</strong>t sowie die Schaffung dauerhafter Existenzsicherungsmöglichkelten<br />

für aUe im ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt die zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Da<strong>bei</strong> ist zu berücksichtigen, daß die amtliche Statistik das Ausmaß der Betroffenheit<br />

gerade (aber nicht nur) <strong>bei</strong> Frauen nur unvollständig wiedergibt.<br />

Nach neueren Berechnungen beläuft sich bundesweit die Stille Reserve der<br />

Frauen auf 690.000 (1984). Für eine exaktere Bestimmung des Ausmaßes der<br />

Frauenerwerbslosigkeit müßte diese Größe zu den gemeldeten weiblichen<br />

Ar<strong>bei</strong>tslosen von 988.400 (1984) hinzugezählt werden (vgl. MittAB 1/1985,<br />

Tab. 6c, S. 29).<br />

2 Von 1984 zu 1985 (jeweils 30.6.) ist die sozialversicherungspflichtige Frauenbeschäftigung<br />

global um 2% gestiegen (der Gesamtbeschäftigtenanstieg betrug<br />

1,7%). Eine genauere Betrachtung <strong>bei</strong> den Frauen zeigt allerdings einen<br />

überproportionalen Anstieg <strong>bei</strong> Teilzeitar<strong>bei</strong>t sowie sogenannten Jede-Frau­<br />

Tätigkeiten im Dienstleistungssektor (vgl. ANBA Nr. 3, 1986).<br />

3 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier zur Einschätzung der Wirkungsmöglichkeiten<br />

staatlicher Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik unter den gegenwärtigen ökonomischen<br />

Rahmenbedingungen folgendes angemerkt: Umfang und Struktur<br />

der Erwerbslosigkeit von Frauen - wie auch der von Männern - resultieren<br />

nicht in erster Linie aus Qualifikationsdefiziten der Betroffenen, sondern<br />

vielmehr aus strukturellen Begrenzungen der Ar<strong>bei</strong>tskräftenachfrage: Solange<br />

das Vol umen bezahlter Ar<strong>bei</strong>t nicht steigt oder anders verteilt wird, kann<br />

die Förderung von Teilgruppen von Erwerbslosen zu weiteren Verdrängungsprozessen<br />

im Ar<strong>bei</strong>tsmarkt führen. Qualifizierungsmaßnahmen im weitesten<br />

Sinn (d.h. incl. ABM) bewirken insofern "nur" eine Verbesserung der individuellen<br />

Marktchancen in der Konkurrenz um die verbleibenden Ar<strong>bei</strong>tsplätze.<br />

Daneben bleibt jedoch die eigenständige Bedeutung beruflicher Qualifizierung<br />

als Alternative zur Erwerbslosigkeit und der damit verbundenen<br />

materiellen und sozialen Deprivation bestehen. Dies gilt fnsbesondere für die<br />

gering qualifizierten dauererwerbslosen Frauen, die einerseits mehrheitlich


- 52 -'<br />

zur Realisierung einer selbstbestimmten Lebensführung auf die Teilhabe an<br />

bezahlter Ar<strong>bei</strong>t angewiesen sind und deren Erwerbsar<strong>bei</strong>tsbiographie andererseits<br />

in der Regel bisher in hohem Maß fremdbestimmt verlaufen ist.<br />

4 Mit der quantitativen Ausweitung von ABM in den letzten Jahren zeichnet<br />

sich zunehmend auch der Charakter von ABM als Rotationsar<strong>bei</strong>tsmarkt ab;<br />

d.h., die ABM- Stellen bleiben über Jahre hinweg als solche erhalten, die<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplatzinhaber/innen wechseln jedoch spätestens nach zwei Jahren.<br />

Nicht wenige erwerbslose Akademiker/innen haben inzwischen "Berufskarrieren",<br />

die sich durch den Rhythmus von Erwerbslosigkeit/ ABM-Beschäftigung/Erwerbslosigkeit<br />

und erneute ABM- Beschäftigung auszeichnen.<br />

LITERATUR<br />

Bahlsen, Werner u.a.: Die neue Arm ut. Köln 1984<br />

Breuer, W./Hellmich, A.: Frauen in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen. Hrsg. Ministerium<br />

für Ar<strong>bei</strong>t, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen,<br />

Ar<strong>bei</strong>t und Beruf, Reihe 25. Köln 1979<br />

Garlichs, D./Maier, F.: Die ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische Wirksamkeit der beruflichen<br />

Weiterbildung. In: Scharpf, F. W. u.a. (Hrsg.): Aktive Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik.<br />

Frankfurt/New York 1982<br />

Gottschall, Karin: Frauen und Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik. Zur Teilhabe erwerbsloser<br />

Frauen an Weiterbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen in Hamburg. Untersuchung<br />

im Auftrag der Leitstelle Gleichstellung der Frauen <strong>bei</strong>m Hamburger<br />

Senat. Forschungsbericht Göttingen/Hamburg 1985<br />

Dieselbe: Frauen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt: Verdrängung statt Integration? In:<br />

WSI-Mitteilungen 8 (1986)<br />

Maler, Hans E. : Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen als Instrument aktiver Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik.<br />

In: Scharpf, F. W. u.a. 1982, a.a.O.<br />

Welzmüller, Rudi: Ungleichheit der Einkommensverteilung gewachsen - Aktuelle<br />

Daten zur Verteilungsentwicklung. In: WSI-Mitteilungen 6 (1985)


- 53 -<br />

Christiane Eiche<br />

DEN MANGEL INNOVATIV NUTZEN?<br />

ARBEITSBESCHAFFUNGSMASSNAHMEN IN FRAUENPROJEKTEN<br />

Autonome Frauenproj ekte, die vor allem im Sozial-, Kultur-, Beratungs- und<br />

Bildungsbereich tätig sind, leisten überaus notwendige und nützliche Ar<strong>bei</strong>t.<br />

Als Beispiele für Hamburg seien genannt: die BIFF's (Beratungs- und Informationsstellen<br />

für Frauen), die Frauenhäuser, das Frauenbildungszentrum,<br />

die EFA (Erwerbslose Frauen Altona) und das Projekt "Frau und Ar<strong>bei</strong>t", alles<br />

Initiativen, die seit mehreren Jahren Angebote "von Frauen für Frauen" organisieren<br />

und Frauen in den unterschiedlichsten Lebenslagen beraten und unterstützen.<br />

Zunehmend verweisen die Hamburger Behörden auf die Angebote der<br />

Gruppen und schicken aus ihren eigenen Beratungsstellen Frauen dorthin. Durch<br />

die Ar<strong>bei</strong>t der Projekte werden soziale Handlungsbedarfe nachgewiesen und<br />

aufgegriffen, die eigentlich Pflichtaufgaben von Behörden wären oder deren<br />

Durchführung durch freie Träger zumindest vom Staat bezahlt werden müßte.<br />

Dies geschieht jedoch, was die Ar<strong>bei</strong>t der Frauenproj ekte betrifft, nur in geringem<br />

Umfang. Die Ar<strong>bei</strong>t ist für den Staat billig oder sogar kostenlos, die Projekte<br />

"leben" von viel unbezahlter, sogenannter ehrenamtlicher Ar<strong>bei</strong>t. Die<br />

Anerkennung der Behörden führt bisher kaum zu einer finanziellen Absicherung<br />

über den Hamburger Haushalt. Von den Frauenprojekten erhalten nur vier eine<br />

Regelförderung aus Landesmitteln. Laut Aussage des Senats soll auch mittelfristig<br />

keine weitere Frauengruppe laufend aus Haushaltsmitteln finanziert werden,<br />

obwohl Frauenpolitik in Hamburg nach Bürgermeister von Dohnanyi ein<br />

"Prioritätsbereich der Senats politik " ist. 1 Die anderen Initiativen finanzieren<br />

sich über einmalige Sondermittel aus den Bezirks- und Landesbehörden, aus<br />

Spenden, aus Privatgeldern der Gruppenmitglieder und/oder - neuerdings zunehmend<br />

- über Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen (ABM).<br />

AB-Maßnahmen wurden für Frauenprojekte attraktiv, nachdem der Hamburger<br />

Senat für 1983 ein 100-Mio.-Mark-ABM-Programm verabschiedete - 1987<br />

werden es 190 Mio. sein -, mit dem der Massenerwerbslosigkeit in der Hansestadt<br />

begegnet werden soll. Bei der Beschreibung der Einsatzbereiche für die<br />

Maßnahmen erwähnt die entsprechende Senatsdrucksache ausdrücklich auch die


- 54 -<br />

Frauenprojekte als Beschäftigungsorte für langfristig erwerbslose Lehrerinnen,<br />

Sozialar<strong>bei</strong>ter innen, Psychologinnen usw. 2<br />

Der Beschluß des Senats, für jede AB-Maßnahme zusätzliche Mittel für<br />

Sachkosten bereitzustellen und eventuelle Restpersonalkosten, die die Bundesanstalt<br />

für Ar<strong>bei</strong>t nicht bewilligt, zu übernehmen, öffnete das Programm auch<br />

für kleinere freie Träger. Gerade diese Verknüpfung von Personal- und Sachkosten<br />

macht auch die Attraktivität von ABM für autonome Frauenproj ekte aus.<br />

Hier ergibt sich eine Möglichkeit, einen Teil der Ar<strong>bei</strong>t zumindest befristet<br />

bezahlen zu können. Der finanzielle Druck und die hohe Ar<strong>bei</strong>tsbelastung der<br />

Frauen sowie die Chance, Ar<strong>bei</strong>tsplätze für einen gewissen Zeitraum zu schaffen,<br />

ließen die politischen Vorbehalte gegen dieses ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische In­<br />

,:;trument in den Hintergrund treten.<br />

Im Dezember 1986 ar<strong>bei</strong>teten 80 Frauen in 32 Frauenproj ekten, die aus<br />

Mitteln für ABM finanziert wurden. Zum Vergleich: Ende Oktober 1986 waren<br />

in Hamburg 4400 Menschen in ABM beschäftigt, der Anteil der Frauenprojekte<br />

beträgt also noch nicht einmal zwei Prozent. Im Gegensatz zu den "alten" Initiativen,<br />

in denen Frauen vor der Finanzierung durch ABM oft jahrelang unbezahlt<br />

tätig waren, entstehen jetzt Frauengruppen, die nach kurzer Vorlaufzeit<br />

gleich auf der Basis von ABM ihre Ar<strong>bei</strong>t beginnen. Diese Projekte sind teilweise<br />

nicht mehr nur im sozialen, sondern auch im gewerblichen Bereich angesiedelt.<br />

Das Ziel, sich selbst Ar<strong>bei</strong>tsplätze zu schaffen, tritt - neben der ehemals<br />

vorrangigen politischen Motivation - in den Vordergrund. Dies geschieht<br />

oft aus der Not der Erwerbslosigkeit heraus, da sich zunehmend auch für qualifizierte<br />

Berufsgruppen von Frauen der sogenannte "erste Ar<strong>bei</strong>tsmarkt" verschließt.<br />

Für den Hamburger Ar<strong>bei</strong>tsmarkt z.B. prognostiziert das Ar<strong>bei</strong>tsamt<br />

mittelfristig über 90.000 erwerbslose Frauen, das ist mehr als das Doppelte<br />

gegenüber Ende 1986.<br />

Die positiven Aspekte der ABM - die Finanzierung sinnvoller frauenpolitischer<br />

Ar<strong>bei</strong>t und die Schaffung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen für Frauen - sind jedoch<br />

verknüpft mit einer Reihe von Problemen, die Auswirkungen auf die inhaltliche<br />

Ar<strong>bei</strong>t der Projekte und die dort beschäftigten Frauen haben.


- 55 -<br />

1. Schattenseiten des Finanzierungsinstruments<br />

Um Personals teIlen mit Mitteln der Bundesanstalt für Ar<strong>bei</strong>t zu finanzieren,<br />

sind die Projekte gezwungen, die Tätigkeitsbereiche den entsprechenden Richtlinien<br />

anzupassen. Vor allem müssen die Voraussetzungen des "öffentlichen Interesses"<br />

und der "Zusätzlichkeit" erfüllt sein.<br />

Das Kriterium der Zusätzlichkeit schließt aus, daß die Ar<strong>bei</strong>ten eines Projekts,<br />

wie sie in der Vereinssatzung niedergeschrieben sind, die Regelar<strong>bei</strong>ten,<br />

über ABM bezahlt werden können. Um in den "Genuß" einer Maßnahme zu gelangen,<br />

entsteht ein Zwang, neue Ar<strong>bei</strong>tsbereiche zu entwickeln. Das heißt<br />

auch, daß das Ziel, endlich die geleistete, erwiesenermaßen gesellschaftlich<br />

notwendige Ar<strong>bei</strong>t bezahlt zu bekommen, damit nicht erreicht werden kann.<br />

Die - meist unbezahlte - eigentliche Projektar<strong>bei</strong>t wird im Gegenteil<br />

noch belastet durch Beantragung und Verwaltung der AB-Gelder.<br />

Ein besonderes Problem ist die Finanzierung zu Beginn der Maßnahme. Oft<br />

dauert es Wochen, bis das Geld eintrifft. Kleine Träger verfügen nicht über<br />

genügend Rücklagen, um Gehälter, Sozialversicherungs<strong>bei</strong>träge, Lohnsteuern,<br />

Büromiete usw. vorzufinanzieren. Die Frauen sind oftmals gezwungen, dieses<br />

Geld selbst auszulegen.<br />

Eine längerfristige finanzielle Absicherung eines Projekts ist durch ABM<br />

nicht möglich. Nicht nur, weil die Stellen höchstens für zwei Jahre bewilligt<br />

werden, sondern vor allem auch, weil die Vergabe-Richtlinien den jeweiligen<br />

Verhältnissen des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes angepaß t werden. Es bleibt unsicher, ob in<br />

dem Projekt auch weiterhin Stellen durch ABM finanziert werden können.<br />

Gegenwärtig zeichnet sich in Hamburg noch eine politisch gewollte Zunahme<br />

der AB-Maßnahmen ab, aber auch ein Trend, mehr gewerbliche ABM-Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

zu schaffen. Dies kann dazu führen, daß die sozialen und Bildungsinitiativen<br />

Schwierigkeiten bekommen, "ihre" AB-Maßnahmen zu erhalten.<br />

Sollte der Hamburger Senat die Finanzierung der Sachkosten einstellen,<br />

könnte dies zur Gefährdung ganzer Projekte führen, da diese die nicht vom<br />

Ar<strong>bei</strong>tsamt übernommenen Mittel nicht aufbringen können.<br />

Die Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen verhindern eine langfristige personelle<br />

Kontinuität. Spätestens nach zwei Jahren muß eine neue Frau auf die Stelle<br />

kommen, es sei denn, der Verein ist in der Lage, nach dem 3. Jahr einen Dauerar<strong>bei</strong>tsplatz<br />

einzurichten. Das ist aber nur möglich, wenn eine laufende Fi-


- 56 -<br />

nanzierung aus Bundes- oder Landesmitteln erreicht wird, eine Bedingung, die<br />

die "autonomen" Projekte meist nicht erfüllen.<br />

Ziel der politisch Verantwortlichen in Hamburg ist eine höhere "Effektivität"<br />

von ABM, also eine größere statistisch belegbare Zahl. Geplant sind für<br />

1987 rund 7000 Maßnahmen. In diesem Zusammenhang ist die Tendenz zu sehen,<br />

Maßnahmen nur noch für ein Jahr zu bewilligen. Damit wird aber die personelle<br />

Kontinuität der Proj ekte noch mehr verschlechtert. Vor allem <strong>bei</strong> Therapieund<br />

Beratungseinrichtungen ist die Kurzfristigkeit der ABM hinderlich für eine<br />

effektive Ar<strong>bei</strong>t. Denn gerade hier ist eine personelle Kontinuität überaus<br />

wichtig, nicht nur für die Zielgruppe, sondern auch für die Mitar<strong>bei</strong>terinnen.<br />

Eine erfolgreiche Beratung erfordert ein hohes Maß an Erfahrung und Wissen,<br />

das sieh nicht in kurzer Zeit aneignen und nicht an andere kurzfristig weitervermitteln<br />

läßt. Der "Rotationsar<strong>bei</strong>tsmarkt ABM" ist für diese Frauenprojekte<br />

völlig ungeeignet.<br />

Wenn sich ein Proj ekt für ABM entscheidet, ist es abhängig von den entsprechenden<br />

Richtlinien. Nicht jede Frau in der Gruppe erfüllt die Voraussetzungen<br />

für eine ABM- Stel le, obwohl sie vielleicht selbst erwerbslos ist. Frauen<br />

werden durch die rechtlichen Bestimmungen, die die Voraussetz ungen für eine<br />

"ABM-Berechtigung" festlegen, benachteiligt. Sie erfüllen aufgrund ihres nicht<br />

li nearen Berufsverlaufes oftmals nicht die geforderten Kriterien. Das bedeutet<br />

für die Gruppe, daß sie eventuell eine "neue" Frau aufnehmen muß, deren Ar<strong>bei</strong>tskraft,<br />

im Gegensatz zu der der "alten" Frauen, bezahlt wird. Dadurch können<br />

gruppeninterne Probleme entstehen. Durch die Bezahlung der ABM- Frauen<br />

im Gegensatz zu den weiterhin "ehrenamtlich" tätigen Frauen entsteht eine<br />

fi nanzielle Hierarchie, die gleichberechtigte Ar<strong>bei</strong>tsstrukturen gefährdet.<br />

2. Was ABM für autonome Frauenprojekte attraktiv macht<br />

Für viele Frauenproj ekte sind Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen die einzige Möglichkeit,<br />

überhaupt eine Bezahlung der Ar<strong>bei</strong>t zu erreichen. Die oben beklagte,<br />

aus formalen Gründen ,notwendige Ausweitung der Ar<strong>bei</strong>t des jeweiligen Projektes<br />

kann auch eine Chance sein, die Ar<strong>bei</strong>t zu professionalisieren. Diese Professionalisierung<br />

ist allerdings begründet in der Finanzierung überhaupt, nicht<br />

im Instrument "ABM". Zum Beispiel können - <strong>bei</strong> geschickter AntragsteIlung -


- 57 -<br />

das Kurskonzept weiterentwickelt, ein Archiv angelegt, bessere Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t<br />

gemacht und unterstützende Forschung betrieben werden.<br />

Die den AB-Maßnahmen immanente Diskontinuität der Ar<strong>bei</strong>t - der erzwungene<br />

Personal wechsel nach längstens zwei Jahren - kann durch eine zeitlich<br />

versetzte Beschäftigung mehrerer ABM-Kräfte relativiert werden. Zumindest<br />

ist eine Kontinuität für zwei Jahre gesichert. Im Gegensatz zu den "ehrenamtlich"<br />

neben ihrer Erwerbsar<strong>bei</strong>t ar<strong>bei</strong>tenden Frauen haben die mit Mitteln<br />

der ABM bezahlten "hauptamtlichen" Frauen eher die Möglichkeit, sich<br />

weiterzuqualifizieren und damit auch die Qualität der Ar<strong>bei</strong>t des Proj ektes zu<br />

verbessern.<br />

3. Der Januskopf der Ar<strong>bei</strong>t in einer ABM<br />

Die ABM- Kräfte in den Projekten sind in der Regel hochqualifiziert. Für Sozialar<strong>bei</strong>terinnen,<br />

Lehrerinnen, Psychologinnen und Sozialwissenschaftierinnen<br />

bieten diese Proj ekte oftmals eine der wenigen Möglichkeiten einer ausbildungsadäquaten<br />

Tätigkeit.<br />

Gerade Frauen dieser Berufe haben auf dem sogenannten ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

kaum Chancen, ihre beruflichen Fähigkeiten auszuprobieren und zu erweitern.<br />

Für Berufsanfängerinnen ist die Zeit in einer ABM ein Probierfeld.<br />

Hier können sie sich berufliche Fähigkeiten aneignen und Erfahrungen sammel<br />

n. Die Frauen entwickeln Kompetenzen und Selbstwertgefühl, was eine zunehmende<br />

Motivierung auch für die Projektar<strong>bei</strong>t zur Folge hat.<br />

Für Frauen, die vor ihrer AB-Maßnahme lange erwerbslos waren, ist diese<br />

Zeit eine Chance, die psychischen Folgen abzubauen. Die skeptische Bewertung<br />

der eigenen Fähigkeiten verringert sich allerdings erst langsam. Da reicht ein<br />

Jahr ABM nicht aus, um wieder Selbstvertrauen in den Wert der eigenen Ar<strong>bei</strong>t<br />

zu erlangen. Nach meinen eigenen Erfahrungen ist ein zweites Jahr unbedingt<br />

notwendig, um neue berufliche Kompetenzen und ein stabiles Selbstwertgefühl<br />

zu entwickeln. Die Entwicklung wird allerdings durch das Bewußtsein gestört,<br />

nachher ja doch wieder erwerbslos zu sein. Es entsteht das ABM- Karussell: Ich<br />

brauche Erwerbsar<strong>bei</strong>t, um mich gut zu fühlen. Da ich sonst keine Chance auf<br />

dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt habe, muß ich in eine AB-Maßnahme. In dieser ar<strong>bei</strong>te ich<br />

die psychischen Folgen der Erwerbslosigkeit auf und mache mich gleichzeitig


- 58 -<br />

wieder "fit" für die nächste Zeit ohne Erwerbsar<strong>bei</strong>t. Danach "brauche" ich<br />

dringend wieder eine ABM. Aus der Unsicherheit bezüglich der eigenen langfristigen<br />

finanziellen Absicherung und der des Projektes, resultiert eine immer<br />

wi ederkehrende Um- und Neuorientierung, die verhindert, daß alle Energien in<br />

die Ar<strong>bei</strong>t gesteckt werden können. Die drohende Zeit ohne bezahlte Ar<strong>bei</strong>t<br />

nötigt die ABM'lerinnen, sich nach anderen beruflichen Alternativen umzuschauen.<br />

4. Ausblick<br />

Die autonomen Proj ekte in Hamburg haben sich mit den Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />

arrangiert. Ohne die Maßnahmen könnte die Ar<strong>bei</strong>t<br />

in dem Umfang nicht geleistet werden.<br />

Langsam wächst jedoch unter den Initiativen die Erkenntnis, daß sie ihr<br />

individuelles Vorgehen bezüglich ABM überwinden und die Problematik dieses<br />

Finanzierungsinstruments offensiv und gemeinsam diskutieren müssen.<br />

Das "Hamburger Frauenprojekttreffen" formuliert derzeit eine gemeinsame<br />

Kritik und will über ABM hinausgehende Forderungen entwickeln. Ziel ist, ABM<br />

langfristig abzuschaffen und aus Steuergeldern eine gesicherte Finanzierung zu<br />

erhalten. Um dies zu erreichen, ist ein einheitliches Vorgehen der Proj ekte notwendig:<br />

Sie müssen sich ihre eigene Lobby schaffen.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Bürgerschaft der Freien und Hans·estadt Hamburg. Drucksache 11/55555, S. 1<br />

2 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg. Drucksache 10/392, S. 14


- 59 -<br />

IL "NEUE" SELBST}\NDIGE<br />

Zur Einführung:<br />

Christine Mayer<br />

ZUM SPANNUNGSVERH}\L TNIS VON BERUFLICHER SELBST}\NDIGKEIT<br />

VON FRAUEN UND EIGENST}\NDIGER EXISTENZSICHERUNG<br />

1. Zum Begriff "neue Selbständige"<br />

Seit Beginn der 80er Jahre bemühen sich Frauen vermehrt, durch Selbstorganisation<br />

von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen - sei es im Rahmen von Frauenprojekten, Frauensel<br />

bsthilfeinitiativen oder Betriebsgründungen - eine Berufs- und Erwerbsperspektive<br />

aufzubauen. Die durch die Strukturkrise des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes hervorgerufene<br />

Vielfalt innovativer Ar<strong>bei</strong>tsaktivitäten von Frauen läßt sich nur schwer<br />

unter einen Begriff fassen. Vor dem Hintergrund des Ar<strong>bei</strong>tsmarkt- und Wertewandels<br />

entstehen neuartige, auf individuelle Lebenslagen bezogene Eigendefinitionen<br />

wirtschaftlicher Rollen, die in das traditionelle Schema von Erwerbsund<br />

Nichterwerbsrollen und das Kategoriensystem der Erwerbsstatistik häufig<br />

nicht passen (Vonderach 1980, S. 153).<br />

Aufgrund des erschwerten Zugangs zu stabilen Beschäftigungsverhältnissen<br />

ist für Frauen die Schaffung einer Erwerbsperspektive häufig nur über den Weg


- 60 -<br />

in die berufliche Selbständigkeit realisierbar; eine Abkoppelung vom System der<br />

sozialen Sicherung wird damit in Kauf genommen.<br />

Auch Frauenproj ekte und Initiativen der Frauenselbsthilfe, die - jedenfalls<br />

soweit sie soziale Dienstleistungen übernehmen - auf staatliche Förderung angewiesen<br />

sind, weichen von herkömmlichen Formen der Lohnar<strong>bei</strong>t häufig ab.<br />

Die neu entstandenen Erwerbsformen lassen Momente erkennen, die mit selbständiger<br />

Erwerbsar<strong>bei</strong>t vergleichbare Züge aufweisen, wie z.B. selbstverantwortliche<br />

Organisation, Dispositonen über Mittel und Ar<strong>bei</strong>tseinsatz.<br />

Bei Frauenprojekten wie auch <strong>bei</strong> vielen Existenzgründerinnen handelt es<br />

sich jedoch zumeist nicht um eine selbständige Erwerbsar<strong>bei</strong>t im traditionellen<br />

Sinne. Unterschiede zeigen sich z.B. in den Zielsetzungen und Wertorientierungen<br />

dieser Frauen, an den Ar<strong>bei</strong>tsschwerpunkten in spezifischen Dienstleistungsbereichen<br />

(vornehmlich Bildung, Gesundheit und Freizeit) und im Aufbau<br />

von Klein- bzw. Kleinstunternehmen, wie sie aus der angloamerikanischen Literatur<br />

unter der Bezeichnung "small businesses" und "local enterprises" bekannt<br />

sind.<br />

Zur Charakterisierung der durch strukturelle Veränderungen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

hervorgerufenen neuen Art beruflicher Selbständigkeit wurde in der<br />

Literatur der Begriff "neue Selbständige" eingeführt. Nach der Definition von<br />

Gerd Vonderach (1980, S. 154) werden darunter sowohl äußerlich eher konventionelle<br />

Formen von Selbständigkeit als auch ausgesprochene alternative, Konzepte<br />

verstanden, mit subsistenzwirtschaf tlicher, gemeinschaftlicher oder auch<br />

erwerbswirtschaftlicher Orientierung; gemeinsam ist ihnen die Eigeninitiative<br />

der Betroffenen.<br />

Diese unscharfe Begrifflichkeit kann für den vorliegenden Diskussionszusammenhang<br />

jedoch lediglich eine Hilfskonstruktion sein: Der Trend zur neuen<br />

Sel bständigkeit ist empirisch kaum erfaß t und stellt eine statistische Grauzone<br />

dar; geschlechtsspezifische Ausdifferenzierungen wurden bisher weitgehend<br />

vernachlässigt. Die Frage, inwieweit neue Formen selbständiger Ar<strong>bei</strong>t für<br />

Frauen eine Erwerbsperspektive eröffnen, kann damit nur unter Vorbehalt beantwortet<br />

werden.<br />

Die folgenden <strong>bei</strong>den Abschnitte skizzieren die Bedingungen und Perspektiven<br />

in Frauenprojekten (2.) und von Frauen als selbständige Unternehmerinnen<br />

(3.).


- 61 -<br />

2. Selbstorganisation von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen im Rahmen von Frauenprojekten<br />

Seit Mitte der 70er Jahre zeigt sich eine Verschiebung der Gründungsmotive<br />

<strong>bei</strong> Frauenprojekten. War das frauenpolitische Engagement der 70er Jahre noch<br />

eng mit dem Gedanken der Selbsthilfe und der ehrenamtlichen Ar<strong>bei</strong>t verbunden,<br />

zentrierte sich die Diskussion in den nachfolgenden Jahren zunehmend auf<br />

die Frage nach Bezahlung der geleisteten professionellen Dienste, d.h. nach<br />

Einrichtung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen (vgl. auch Nesemann in diesem Band).<br />

Die Frauen des Goldrausch-Frauennetzwerks Berlin beschreiben diesen<br />

Entwicklungsprozeß wie folgt:<br />

"Die ersten, eher kommerziellen Projekte wie Buchläden, Verlage und<br />

Zeitschriflten, die bereits Mitte der siebziger Jahre entstanden, hatten<br />

nur in ganz wenigen Fällen auch den Anspruch, dauerhafte Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

für Frauen zu schaffen. Auch in den aus den Frauenzentren<br />

herauswachsenden Sozial- und Bildungsinitiativen war es nicht<br />

üblich, die eigene Ar<strong>bei</strong>t in Lohn und Pfennig zu sehen. Hier war ein<br />

strikter Selbsthilfegedanke maßgeblich. Autonomie und gleichzeitig<br />

staatliche Finanzierung von Projekten erschien zumeist als ein ziemlich<br />

abwegiger Gedanke. Einen Job suchten Frauen anderswo. Und<br />

erst mit Frauenseminaren an Universitäten und Fachhochschulen,<br />

Frauenforen an Volkshochschulen, Frauenhausinitiativen und Mädchenar<strong>bei</strong>t<br />

usw. begann ein Prozeß der Professionalisierung, in dem<br />

Erwerbstätigkeit und Engagement für Frauen nicht mehr völlig unvereinbar<br />

waren. Neben der direkten Schaffung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />

nach dem amerikanischen Modell - z.B. über Beiträge von Kursteilnehmerinnen<br />

- erfolgte ein starker Einstieg in die Ökonomie über<br />

öffentlich finanzierte Sozial- und Bildungsproj ekte" (Cramon-Daibler/Heinisch/<br />

Kavemann 1985, S. 143) 1<br />

Die Verschiebung in den Gründungsmotiven von Frauenprojekten ist auf<br />

unterschiedliche Bedingungsmomente rückführbar • Sie ist einerseits Ausdruck<br />

des sich entwickelnden Selbstbewußtseins von Frauen durch Anerkennung und<br />

Erfolg der jahrelang ehrenamtlich erbrachten "Aufbauar<strong>bei</strong>t"; andererseits kann<br />

sie nicht losgelöst von der aufkommenden Diskussion über die neue Arm ut von<br />

Frauen betrachtet werden. Parallel dazu verschärfte sich die Ar<strong>bei</strong>tsmarktsituation<br />

von Frauen, insbesondere von Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen<br />

sowie 50zialpädagoginnen, die - wie eine Berliner Umfrage ergab (vgl. Nesemann<br />

in diesem Band) - den "Akademikerinnen-Uberhang" in Frauenproj ekten<br />

bilden.<br />

Die Uberrepräsentation von Frauen mit hohem Qualifikationsniveau in<br />

Frauenproj ekten läßt sich jedoch kaum als Berliner Spezifikum werten, sondern<br />

ist Ausdruck der allgemeinen strukturellen Veränderungen auf dem Stellenmarkt.<br />

So ist für die hohe Anzahl an Hochschulabsolventinnen, deren fachliche


- 62 -<br />

Ausbildung traditionell auf eine Beschäftigung im öffentlichen Sektor zugeschnitten<br />

ist, der Zugang aufgrund der restriktiven staatlichen Personalpolitik<br />

und des Abbaus sozialstaatlicher Leistungen in den letzten Jahren weitgehend<br />

versperrt (Blossfeld 1985, S. 102 ff.). Als Gruppe mit eingeschränkter sektoraler<br />

Mobilität sind sie von Erwerbslosigkeit besonders stark betroffen (vgl . Engel<br />

en-Kefer 1986).<br />

Angesichts drohender bzw. faktischer Erwerbslosigkeit sind Frauen somit<br />

immer mehr gezwungen, eigeninitiativ tätig zu werden, wollen sie Qualifikation<br />

und frauenpolitisches Engagement mit einer Berufs-<br />

und Erwerbsperspektive<br />

verknüpfen. Der Umfang der Erwerbsar<strong>bei</strong>t, der über Frauenprojekte erschließbar<br />

ist, kann kaum abgeschätzt werden (vgl . hierzu die Projektdarstellungen in<br />

BBJ Consult 8/86). Die bisher vereinzelt vorliegenden Hinweise rechtfertigen<br />

eher eine skeptische Einschätzung.<br />

Swantje Gertner und Ingrid Rieken (1984), die Frauenselbsthilfeinitiativen<br />

in den unterschiedlichsten Bereichen analysieren, sprechen ihnen zwar hohes<br />

Innovationspotential zu; es sei ihnen bisher jedoch kaum gelungen, im Rahmen<br />

der Aktivitäten auch neue Ar<strong>bei</strong>ts- und Tätigkeitsfelder mit Erwerbsperspektive<br />

für Frauen zu schaffen. Hierzu führen sie aus:<br />

"Im Bereich Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t wird fast ausschließlich unbezahlte<br />

Ar<strong>bei</strong>t geleistet, im Bildungsbereich gibt es so gut wie keine Projekte,<br />

die ihre Mitar<strong>bei</strong>terinnen entsprechend der gel eisteten Ar<strong>bei</strong>t<br />

angemessen bezahlen können, und Ahnliches gilt für den Produktionsund<br />

Dienstleistungsbereich. Für die Schaffung neuer Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

und als Entlastung des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes für Frauen sind die untersuchten<br />

Selbsthilfeprojekte also kaum von Bedeutung; sie bieten keine<br />

realistische und längerfristige Alternative zu herkömmlichen Formen<br />

der Erwerbsar<strong>bei</strong>t" (5.86).<br />

Auch die Studie von Kreutz/Fröhlich/Maly (1984), in der 84 alternative<br />

Projekte (darunter auch Fraueninitiativen der autonomen Frauenbewegung) hinsichtlich<br />

ihres Sel bstverständnisses un d der Projektrealität untersucht wurden,<br />

kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die Autoren ermitteln, daß nur zwei von drei<br />

Projekten überhaupt in der Lage sind, eine Erwerbsbasis zu bieten und dies<br />

wiederum für nur ein Drittel der in ihnen aktiv Ar<strong>bei</strong>tenden. Im Durchschnitt<br />

schafft erst die nichtbezahlte, ehrenamtliche Ar<strong>bei</strong>t von sechs Personen die<br />

Voraussetzung für bezahlte Erwerbsar<strong>bei</strong>t von drei weiteren Personen (vgl .<br />

ebd., S. 271). Alternative Projekte können mithin für Hochschulabsolventen insbesondere<br />

der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen eine wichtige<br />

Ubergangs- und Qualifikationschance bieten; als Basis für eine realistische<br />

Erwerbsperspektive können sie jedoch kaum gel ten.


- 63 -<br />

Da ein großer Teil der Frauenprojekte sich auf den Bereich der sozialen<br />

Dienste konzentriert, sind hinsichtlich der ökonomischen Situation besondere<br />

Probleme gewichtig, die <strong>bei</strong> einer geschlechtsneutralen Betrachtung alternativer<br />

Proj ektstrukturen und -realitäten leicht aus dem Blickfeld geraten. Die<br />

Ar<strong>bei</strong>tsaktivitäten von Frauenproj ekten richten sich in der Regel auf gesellschaftlich<br />

defizitäre Aufgabenbereiche, die von den Leistungen der sozialstaatlichen<br />

Versorgung nicht oder nicht zureichend abgedeckt werden. Die Hilfestellungen<br />

und Beratungsangebote wenden sich zudem an eine zumeist weniger zahlungskräftige<br />

weibliche Klientel. Für viele Frauenproj ekte besteht somit kaum<br />

die Chance einer eigenständigen Existenzsicherung, sie sind aufgrund ihrer spezifischen<br />

Aufgabenwahrnehmung und Zielgruppen auf ständige staatliche Förderung<br />

und/oder Spenden angewiesen.<br />

Die Kriterien für die Vergabe staatlicher Förderung gehen mithin an den<br />

Voraussetzungen und Bedingungen dieser Frauenproj ekte vor<strong>bei</strong>, wenn sie wirtschaftlichen<br />

Erfolg voraussetzen in dem Sinne, daß die Kosten wenigstens mittelfristig<br />

eigenständig gedeckt werden. Schwierigkeiten können sich für Frauenproj<br />

ekte aber auch <strong>bei</strong> staatlichen Maßnahmen ergeben, deren Ziel die Förderung<br />

von Selbsthilfegruppen ist. Wie Christa Nesemann (in diesem Band) am<br />

Beispiel des "Berliner Modells" aufzeigt, wird als maßgebliches Vergabekriteri<br />

um von einer sehr engen Bestimmung des Selbsthilfegedankens ausgegangen. In<br />

Form einer Anschubfinanzierung mit jährlicher Eigenbeteiligung werden nur<br />

"reine" Selbsthilfemaßnahmen gefördert, d.h. "Laienhilfe" mit dem Ziel der Aktivierung<br />

von ehrenamtlicher Ar<strong>bei</strong>t. Anstelle der Sicherung einer angemessenen<br />

Entlohnung besteht hier die Gefahr, daß mit dem Abbau sozialstaatlicher<br />

Leistungen und der Verlagerung sozialer Aufgaben auf Eigeninitiativen das innovative<br />

und frauenpolitische Engagement unter der Hand in den Bereich der<br />

ehrenamtlichen Ar<strong>bei</strong>t abgedrängt wird.<br />

3. Schaffung von Erwerbsperspektiven durch Existenzgründungen<br />

Die Zahl der selbständigen Frauen in der Bundesrepublik ist in den letzten Jahren<br />

sprunghaft angestiegen, allein zwischen 1982 und 1984 hat sich ihre Anzahl<br />

von 500.000 auf 565.000 erhöht (Stat. Bundesamt 1983 und 1986). Ihr Anteil<br />

unter den in der Erwerbsstatistik ausgewiesenen Selbständigen beträgt derzeit<br />

ein knappes Viertel (23,3%). Der Trend zur beruflichen Selbständigkeit von


- 64 -<br />

Frauen hält weiterhin an und läßt sich ansatzweise auch <strong>bei</strong> ausländischen<br />

Frauen beobachten (vgl. Morokvasic in diesem Band). So erfolgt mittlerweile<br />

jede vierte Neugründung eines Betriebes durch eine Frau, und in Berlin wird<br />

sogar jedes dritte Unternehmen von einer Frau eröffnet (vgl. Assig/Gather/Hübner<br />

1985). Zeitschriften- und Büchermarkt reagieren mit Tips und Ratschlägen<br />

auf diese Tendenz und versuchen anhand biographischer Beispiele von Frauen,<br />

die den Schritt in die Selbständigkeit gewagt und geschafft haben, die selbständige<br />

Tätigkeit als neuen Weg und lockende Alternative zum traditionellen<br />

Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnis den Frauen näherzubringen.<br />

Die Propagierung von "selbständig machen" und die Erfolgsmeldungen verbergen<br />

jedoch eine bisher kaum diskutierte Schattenseite. Die von Frauen mit<br />

diesem Schritt angestrebte eigenständige Existenzsicherung ist in vielen Fällen<br />

prekär. Nach der Erwerbsstatistik von 1984 lag das monatliche Nettoeinkommen<br />

<strong>bei</strong> nahezu einem Viertel (24,3%) der selbständigen Frauen unter 800 DM; 17,7%<br />

verdienten sogar weniger als 600 DM monatlich. Werden die Einkommensgruppen<br />

noch weiter gefaßt, so erwirtschaftete jede dritte weibliche Selbständige<br />

(32,8%) ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1.000 DM. Im Vergleich dazu<br />

verdienten nur 2,8% der männlichen Selbständigen weniger als 800 DM monatlich,<br />

und nur 4,7% lagen unter der l.OOO-DM-Grenze (Stat. Bundesamt 1984, S.<br />

79/80; eigene Berechnungen),<br />

Ohne Zweifel ergeben sich mit dem Schritt in die Selbständigkeit für<br />

Frauen vielfältige Chancen zu selbstbestimmter , unabhängiger und kreativer<br />

Ar<strong>bei</strong>t. Wie die Daten zur ökonomischen Situation von weiblichen Selbständigen<br />

jedoch verdeutlichen, ist dieser Weg für Frauen häufig mit erhöhten Risiken<br />

und Gefahren des Scheiterns verbunden.<br />

Als Gründe für die prekäre Einkommensstruktur von selbständigen Frauen<br />

geben die bisher vorliegenden Untersuchungen zu Existenzgründungen von Frauen<br />

und Frauenbetrieben (vgl. Assig/Gather/Hübner 1985, 1986; Wloch/ Ambos<br />

1986 und Haas in diesem Band) erste Hinweise auf besondere Schwierigkeiten<br />

und Probleme, auf objektive und subjektive Barrieren.<br />

Wenn Frauen beabsichtigen, sich selbständig zu machen, geschieht dies<br />

zumeist nicht vor dem Hintergrund eines kontinuierlichen Berufsverlaufs. Bei<br />

der Mehrzahl der Frauen wird der Start in die Selbständigkeit durch äußere<br />

Anlässe motiviert, unter denen Veränderungen der Lebens- und Familiensitua­<br />

!ion (wie Ehescheidung, drohende oder faktische Erwerbslosigkeit, Wunsch nach<br />

Erwerbsar<strong>bei</strong>t nach der Familienphase) von ausschlaggebender Bedeutung sind.


- 65 -<br />

Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Probleme und Bedürfnisse der<br />

Frauen, die sich als Selbständige etablieren. Sie sind heterogen, was die einzelnen<br />

Lebenssituationen, Berufswege, Qualifikationen und Interessen der Frauen<br />

betrifft, divers auch in der Frage, ob die Existenzgründung als freiwilliger Entschluß<br />

oder als ökonomischer Zwang zu werten ist.<br />

Vor dem Hintergrund häufiger Brüche in der Berufsbiographie von Frauen<br />

erscheint der Schritt in die Selbständigkeit als entscheidender Wendepunkt ihres<br />

Lebens, als Ubergang "von einer eher fremdbestimmten, kurzfristigen Lebensplanung<br />

zu einer längerfristigen, selbstbestimmten Lebensplanung" (Assig/Gather/Hübner<br />

1986, S. 39). Der Erfolg ist problematisch aufgrund der oftmals<br />

geringen formalen Qualifikationen, die Frauen vorweisen können. Da Qualifikationen<br />

und Berufserfahrungen wesentliche Kriterien <strong>bei</strong> der Vergabe von<br />

Krediten bilden, frauenspezifische Qualifikationen dagegen, wie z.B. in der<br />

Familienar<strong>bei</strong>t erworbene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Erfahrungen, aus dem<br />

Bewertungsraster herausfallen, haben es die Frauen schwer, in ihren Gründungsabsichten<br />

und Betriebskonzeptionen von Beratungsinstitutionen ernst genommen<br />

zu werden und positive Entscheidungen <strong>bei</strong> Kreditanträgen zu bewirken.<br />

Frauen, die sich selbständig machen, gründen zumeist Klein- oder Kleinstunternehmen,<br />

und zwar schwerpunktmäßig im Bereich des Einzelhandels, speziell<br />

in "frauentypischen" Bereichen wie <strong>Text</strong>il! Bekleidung, Schuhe/Leder, Kosmetik,<br />

Lebens-<br />

und Genußmittel und im Dienstleistungsgewerbe (vor allem in<br />

der Körperpflege und im Bürobereich). Eine zunehmende Tendenz von weiblichen<br />

Existenzgründungen läßt sich des weiteren im Hotel- und Gaststättengewerbe<br />

beobachten (vgl. hierzu W loch/ Ambos 1986; Schiller 1986).<br />

Die Konzentration auf "frauentypische" Bereiche ist auf die spezifischen<br />

Qualifikationen und beruflichen Vorerfahrungen von Frauen rückführbar • Es<br />

sind zudem Branchen, wo kein hoher Kapitaleinsatz erforderlich ist. Da Frauen<br />

in der Regel über geringe finanzielle Mittel verfügen, dominiert <strong>bei</strong> weiblichen<br />

Existenzgründungen der Aufbau von Ein-Personen-Betrieben. Diese Bedingungen<br />

führen häufig dazu, daß Frauen von zinsgünstigen Starthilfen und staatlichen<br />

Maßnahmen zur Förderung von Existenzgründungen ausgeschlossen bleiben.<br />

Bei öffentlichen Förderhilfen wird davon ausgegangen, daß die selbständige<br />

Tätigkeit eine gewisse Größenordnung erreichen muß, damit<br />

auf Dauer ein hinreichendes Einkommen ermöglicht wird. Nach den<br />

Förderrichtlinien muß es sich da<strong>bei</strong> um einen nachhaltig tragfähigen<br />

Vollerwerb handeln (vgl. Schiller 1986, S. 7). Kleinstunternehmen,<br />

deren Startkapital (Eigen- und Fremdkapital) zumeist <strong>bei</strong> 10.000 DM


- 66 -<br />

liegen, erfüllen diese Bedingungen nicht; für sie kommt eine Förderung<br />

nicht in Betracht. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gründungsvo<br />

rhaben gefördert wird, ist dann gegeben, wenn die Gründungsinvesti<br />

tionen die 50.000-DM-Grenze übersteigen (vgl . ebd., S. 12). Die Betriebskonzeptionen<br />

von Frauen sind auf ein derartiges Kostenvolumen<br />

häufig nicht angelegt.<br />

Aber auch <strong>bei</strong> den einzelnen Darlehensprogrammen ergeben sich für<br />

Frauen häufig Barrieren. So baut z.B. die Förderung im Rahmen des<br />

Eigenkapitalhilfe-Programms primär auf die einzusetzenden Eigenmittel<br />

auf. Voraussetzung ist ein Eigenkapitalsockel von mindestens<br />

12% der förderfähigen Gründungskosten, der bis auf 40% mit Eigenkapitalhilfe<br />

aufgestockt werden kann (vgl. ebd., S. 24). Auch Maßna<br />

hmen, in denen langfristige Finanzierungsmittel mit niedrigem<br />

Zinssatz vermittelt werden - wie z.B. das ERP-Existenzgründungsprogramm<br />

- gehen, da Frauen häufig die erforderlichen banküblichen<br />

Sicherheiten zur Absicherung des Kreditrisikos nicht aufbringen können,<br />

an den Bedingungen von Existenzgründerinnen vor<strong>bei</strong>.<br />

Aufgrund der skizzierten Momente wird das Problem der Finanzierung für<br />

Frauen zur Hauptschwierigkeit <strong>bei</strong>m Schritt in die Selbständigkeit. Die spezifisc<br />

hen Hindernisse für Frauen <strong>bei</strong> der Kreditbeschaffung resultieren daraus, daß<br />

als Maßstab <strong>bei</strong> der Beurteilung der männliche Gründer gilt. Vor dieser Rolle<br />

erscheinen Frauen defizitär. Potentiellen Gründerinnen werden die fachliche<br />

Qualifikation und die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens abgesprochen, und ihre<br />

Leistungsfähigkeit und Kompetenz müssen im Vergleich zu Männern nachhaltig<br />

unter Beweis gestellt werden. Dennoch werden ihnen in der Regel vergleichswe<br />

ise schlechtere Konditionen eingeräumt (vgl. Wloch/ Ambos 1986, S. 19, und<br />

Assig/Gather/Hübner 1985, S. 112 ff.).<br />

Neben den angeführten Bedingungen und Sch wierigkeiten, die dazu <strong>bei</strong>tragen,<br />

daß Frauen eher kleinere und weniger kapitalintensive Unternehmen mit<br />

geringem Umsatzpotential gründen, wirken sich auch subjektive Barrieren <strong>bei</strong> m<br />

Start in die Selbständigkeit von Frauen aus. Zu nennen wäre hier das besondere<br />

. Verhältnis von Frauen zu Gel d. Zwar ist der Forschungsstand hierzu äußerst<br />

dürftig, doch gibt es Hinweise, daß Frauen durch ihre Sozialisation eine "besondere"<br />

Beziehung zu Geld erwerben. So ist es Frauen wichtig, daß die Ar<strong>bei</strong>t<br />

Spaß macht, für die sie auch noch Gel d be kommen, während Männer primär<br />

Wert auf den Aspekt des "Geld machens" legen. Frauen fällt es zudem im allgemeinen<br />

schwerer, Geldforderungen zu vertreten, einzuklagen oder über Gel d<br />

zu verhandeln; sie nehmen in Geldfragen eher eine Verzichthaltung ein (vgl.<br />

Königswieser 1987). Einen Kredit aufzunehmen und Schulden zu machen, verlangt<br />

von Frauen somit eine Umorientierung der traditionellen Frauenrolle und<br />

. ei ne neue Einstell ung zu Geld, dies sowohl hinsichtlich der betrieblichen Inve-


- 67 -<br />

stitionen als auch der Einschätzung der eigenen Ar<strong>bei</strong>t. Daß dieser Proezß ein<br />

vielfältiges Konfliktpotential offenlegen kann, verdeutlichen die Erfahrungen<br />

des Projekts "Frauenbetriebe":<br />

"Was sich theoretisch recht einfach als Folge des ökonomischen und<br />

kulturellen Ausschlusses der Frau aus dem Erwerbsleben benennen<br />

läßt, erweist sich in der praktischen Ar<strong>bei</strong>t an den Betriebsideen von<br />

Frauen als Aufeinanderprallen brisanter Widersprüche, für die es keine<br />

Patentlösung gibt. So etwa die Unvereinbarkeit des kulturellen<br />

Frauenbilds mit der Frage "was bringt das ein"? Die "gute" Frau ist<br />

ja gerade eben jene, die sich diese Frage nicht stellt; die ihre Ar<strong>bei</strong>t<br />

nicht nach ökonomischen Prämissen bewertet. Diesen ökonomischen<br />

Prämissen müssen sich selbständige Frauen aber auf Gedeih und Verderb<br />

stellen. Das gebrochene Verhältnis zum Geld-Kriegen und Geld­<br />

Fordern können wir als besondere Schwierigkeit für die Gründung<br />

von Frauenbetrieben ausmachen; wir können aber auch erwarten, daß<br />

Frauen sich den ökonomischen Prämissen nicht fraglos unterordnen"<br />

(H aas 1985, S. 111 f.).<br />

Beim Schritt in die Selbständigkeit ergeben sich für Frauen somit spezifische<br />

Schwierigkeiten und besondere Probleme, die insbesondere daraus resultieren,<br />

daß als Leitbild der "männliche Unternehmer" fungiert und Frauen, daran<br />

gemessen, "Defizite" aufweisen. Sich selbständig zu machen, bedeutet für Frauen<br />

aber auch der Beginn eines neuen, ungewöhnlichen Weges, der in traditionellen<br />

weiblichen Lebensentwürfen nicht vorkommt, auf den sie nicht vorbereitet<br />

werden und für den es bisher kaum Orientierungshilfen gibt. Noch schwieriger<br />

gestaltet sich allerdings der Start in die Selbständigkeit für ausländische<br />

Frauen, die aufgrund von rechtlichen Beschränkungen, Informationsdefiziten<br />

und Problemen, die aus ihrem Status als "Ausländerin" resultieren, auf zusätzliche<br />

Barrieren stoßen. Daß sie zunehmend versuchen, über selbständige Tätigkeit<br />

in Marktnischen - wie am Beispiel der Flickschneiderei dargestellt - eine<br />

Erwerbsperspektive aufzubauen, bleibt in der Diskussion über weibliche Existenzgründungen<br />

hier ausgeblendet (ausführlich hierzu der Beitrag von Morokvasic<br />

in diesem Band).<br />

Im Hinblick darauf, daß angesichts der schlechten Ar<strong>bei</strong>tsmarktsituation<br />

immer mehr Frauen die Selbständigkeit als Möglichkeit zur materiellen Existenzsicherung<br />

betrachten (müssen), sind spezielle Beratungsangebote, Fördermaßnahmen<br />

sowie Bildungs- und Weiterbildungsprogramme erforderlich, die die<br />

besondere Situation deutscher wie ausländischer Frauen berücksichtigen und<br />

Gründungsvorhaben von Frauen unterstützend begleiten. Damit die Armut nicht<br />

noch "weiblicher" wird und damit Frauen auch nicht in die Zumutung der Alternative<br />

"one man away from poverty" gedrängt werden, muß der Schritt in die


- 68 -<br />

Sel bständigkeit auch für Frauen kalkulierbar werden (ausführlich hierzu der<br />

Beitrag von Haas in diesem Band).<br />

ANMERKUNG<br />

I<br />

In die gleiche Richtung verweisen auch die Entwicklungslinien und der Erfahrungsbericht<br />

des schon 1974 gegründeten Frauenoffensive Verlags (vgl .<br />

hierzu BBJ Consult 7/86, S. 5 ff.).<br />

LITERATUR<br />

Assig, D./Gather, C./Hübner, S.: Voraussetz ungen, Sch wierigkeiten und Barrieren<br />

<strong>bei</strong> Existenzgründungen von Frauen. Berlin 1985<br />

Dies.: Bruch mit der traditionellen Frauenrolle - Bericht über Existenzgründeri<br />

nnen in Berlin. In: Frauenforschung. Informationsdienst des Forschungsinsti<br />

tuts Frau und Gesellschaft (1986) 3, S. 34-45<br />

Blossfeld, Hans-Peter: Bildungsexpansion und Berufschancen. Empirische Analyse<br />

zur Lage der Berufsanfänger in der Bundesrepublik. Frankfurt/New<br />

York 1985<br />

Cramon-Daibler, B./Heinisch, H./Kavemann, B.: Geld pflastert unseren Weg •••<br />

Drei Jahre Goldrausch-Frauennetzwerk Berlin e.V. In: Beiträge zur feministischen<br />

Theorie und Praxis (1985) 15/16, S. 143-146<br />

Engelen-Kefer, Ursula: Die restriktive Personalpolitik wirkt sich auf die Chancen<br />

aus. Über Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit von Akademikern und die Perspektiven auf<br />

dem Stellenmarkt - vor allem für Frauen. In: Frankfurter Rundschau v.<br />

27 .5.1986, S. 14<br />

Frauenar<strong>bei</strong>tsproj ekte. In: BBJ Consult Info (1986) 7<br />

Gertner, S./Rieken, I.: Sel bsthilfe in der autonomen Frauenbewegung. In: Frauenforschung.<br />

Informationsdienst des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft<br />

(1984) 3, S. 82-90<br />

'<br />

Haas , Lu: Frauenbetriebe zwischen zwei Stühlen. In: Beiträge zur feministischen<br />

Theorie und Praxis (1985) 15/16, S. 111-124<br />

Königswieser, Roswitha: Über die falsche Bescheidenheit von Frauen im Umgang<br />

mit Geld. Thesen zu einem Tabu-Thema. In: Frankfurter Rundschau<br />

v. 9.5.1987<br />

Kreutz, H./Fröhlich, G./Maly, 0.: Alternative Projekte: Alternativen zur Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit?<br />

In: MittAB (1984) 2, S. 267-273<br />

Projekt Frau und Ar<strong>bei</strong>t: Frauen schaffen sich ihre Ar<strong>bei</strong>tsplätze. Dokumentation<br />

der Ar<strong>bei</strong>tstagung. In: BBJ Consult Info (1986) 8<br />

Schiller, Rüdiger: Existenzgründungen. Fördermaßnahmen und Ergebnisse. Beiträge<br />

zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Bd. 140. Köln 1986<br />

Sta tistisches Bundesamt (H rsg.): Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik<br />

Deutschland. Stuttgart/Mainz 1983 und 1986<br />

Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Stand und<br />

Entwicklung der Erwerbstätigkeit (= Fachserie 1; Reihe 4.1 .0. Stuttgart/Mainz<br />

1984<br />

Vonderach, Gerd: Die "neuen Selbständigen". 10 Thesen zur Soziologie eines<br />

unvermuteten Phänomens. In: MittAB (1980) 2, S. 153-169


- 69 -<br />

Wloch, E./Ambos, I. : Erschließung neuer beruflicher Ar<strong>bei</strong>tsfelder und Tätigkeiten<br />

für Frauen - Frauen als Selbständige. In: Frauenforschung. Informationsdienst<br />

des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft (1986) 3, S. 1-33


- 70 -<br />

Christa Nesemann<br />

ZUR STAATLICHEN SUBVENTIONIERUNG VON FRAUENPROJEKTEN:<br />

ENTSTEHUNGSZUSAMMENH}\NGE PREK}\RER ARBEITSPL}\TZE<br />

1. "Neue Selbständige" .im Bereich der sozialen Versorgung<br />

Mit dem Begriff der "Neuen Selbständigen" werden in der Regel nur solche<br />

Projekte und Betriebe erfaß t, deren vorrangiges Ziel die Schaffung neuer Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

und damit die eigenständige Existenzsicherung ist. Diese Initiativen<br />

sind in den letzten Jahren vor allem in den Bereichen Handwerk und Gewerbe,<br />

Handel und Transport und in dem Sektor der neuen Dienstleistungen entstanden.<br />

Der weitaus größte Teil der Frauenprojekte und Frauenselbsthilfeinitiativen ist<br />

hingegen dem Gebiet der gesundheitlichen und psycho-sozialen Versorgung zuzuordnen<br />

und übernimmt damit eher sozialstaatliche Funktionen. Dadurch bieten<br />

diese Proj ekte keine Perspektive der eigenständigen Existenzsicherung, sondern<br />

sind stattdessen auf eine dauerhafte staatliche Förderung angewiesen. In Ber­<br />

!in existiert seit 1983 ein Förderprogramm, das unter dem Titel "Förderung von<br />

Sel bsthilfegruppen" bundesweit als "Berliner Modell" bekannt wurde.<br />

In dem folgenden Beitrag soll anhand der Darstellung dieses Modells auf<br />

die Probleme der staatlichen Förderung von Proj ekten, insbesondere im Hinblick<br />

auf die Finanzierung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen hingewiesen werden.<br />

Zunächst gilt es jedoch, den besonderen Charakter der sogenannten "sozialen"<br />

Frauenprojekte und -initiativen deutlich zu machen.<br />

2. Welche Ar<strong>bei</strong>t wird in den Frauenprojekten geleistet?<br />

Allen Projekten gemeinsam ist ihr frauenspezifischer Ansatz, der sich aus der<br />

faktischen gesellschaftlichen Diskriminierung der Frau herleitet. Die Frauenprojekte<br />

greifen gesellschaftliche Mißstände auf und bieten gleichzeitig praktische<br />

Hilfsmöglichkeiten und Beratungsangebote. Sie sind "sozial innovativ", indem sie<br />

sowohl auf Defizite der sozialstaatlichen Versorgung reagieren, als auch an<br />

Problembereichen ansetzen, die gesellschaftlich noch überhaupt nicht als solche<br />

erkannt sind.


- 71 -<br />

Ein Beispiel hierfür sind die Frauenhäuser, durch deren Ar<strong>bei</strong>t es erst in<br />

den letzten Jahren allmählich gelungen ist, das Thema der Gewalt in der Ehe<br />

öffentlich zu diskutieren. Ein anderes Beispiel ist die Berliner Gruppe "Wildwasser",<br />

die das Problem des sex uellen Mißbrauchs von Mädchen aufgegriffen<br />

und in die öffentliche Diskussion eingebracht hat. Andere Frauenprojekte existieren<br />

in den Bereichen der gesundheitlichen Vor- und Nachsorge, in der psycho-sozialen<br />

Versorgung, in der Betreuung von ausländischen Mädchen und<br />

Frauen, in der Beratung von Frauen in der Lebensmitte oder im Alter und in<br />

der Auseinandersetzung mit der Prostitution. Daneben gibt es zahlreiche Medien-,<br />

Kultur-, Bildungs- und politische Initiativen von Frauen für Frauen.<br />

Insgesamt haben sich Frauenproj ekte also immer dort gegründet, wo die<br />

besondere Lebenssituation der Frau konkrete Hilfen und weitreichende Veränderungen<br />

notwendig werden ließen.<br />

3. Motivation und Ausbildung der Mitar<strong>bei</strong>terinnen in Frauenprojekten<br />

Der Entstehungszusammenhang von Frauenproj ekten ist ein wichtiger Aspekt<br />

für die Diskussion um die Bezahlung der in diesen Proj ekten geleisteten Ar<strong>bei</strong>t.<br />

Da die Gründungsmotive der Frauenprojekte aus einem besonderen frauenpolitisehen<br />

Engagement resultierten, war die Frage nach der Finanzierung dieser<br />

Ar<strong>bei</strong>t und damit nach der Absicherung der Mitar<strong>bei</strong>terinnen zunächst auch<br />

nachrangig.<br />

Dies hat sich jedoch in den letzten Jahren erheblich verändert. So fordern<br />

z. B. die im Berliner "Ar<strong>bei</strong>tskreis Staatsknete" zusammengeschlossenen Projekte<br />

seit 1981 die Anerkennung und Finanzierung der in den Projekten vorhandenen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplätze. Dieser Forderung liegt die Erfahrung zugrunde, daß die jahrelange<br />

Projektar<strong>bei</strong>t nicht mehr unbezahlt und neben<strong>bei</strong> geleistet werden kann.<br />

Zudem haben sich die Frauen in den Projekten neue Ar<strong>bei</strong>ts- und Berufsfelder<br />

geschaffen und damit besondere Qualifikationen erworben, die sie weder über<br />

den traditionellen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt noch über das traditionelle Bildungssystem in<br />

dieser Weise hätten erlernen können.<br />

Es muß allerdings auch gesehen werden, daß die zunehmende Verschärfung<br />

auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt, die Frauen immer mehr ausgrenzt, besonders hochqualifizierte<br />

Frauen motiviert, in einem Frauenprojekt mitzuar<strong>bei</strong>ten. Mittlerweile<br />

gibt es in vielen Projekten einen ausgesprochenen "Akademikerinnen-Überhang".


- 72 -<br />

Bei einer im Jahre 1985 vom "Frauenplenum" des AK Staatsknete durchgeführten<br />

Fragebo genaktion zur Qualifikationsstruktur in den Projekten wurde dies<br />

eindeutig bestätigt. Von den 11 befragten Projekten bezeichnete sich nur eines<br />

als reines "Laienprojekt". In den restlichen 10 Projekten wiesen die Qualifikationen<br />

der Mitar<strong>bei</strong>terinnen die ganze Palette hochqualifizierter Berufe aus.<br />

Ein besonderes Ubergewicht bildeten hier wiederum die Geistes- und Sozialwissenschaftierinnen<br />

sowie die Sozialpädagoginnen. (Die Anzahl verteilt sich wie<br />

folgt: Erzieherinnen (5), Dipl.-Soziologinnen (4), Dipl.-Pädagoginnen (2), Sozialar<strong>bei</strong>terinnen<br />

(4), Dipl.-Psychologinnen (12), Arztinnen (4), Sozial-Pädagoginnen<br />

(7). Mit jeweils einer Nennung folgten: Lehrerin, Kommunikationswissenschaftlerin,<br />

Bürokauffrau, Stadtplanerin, Dipl.-Politologin, Pharmatechnische Assistentin<br />

und Dipl.-Biologin.)<br />

4. Projektspezifische Weiterqualifikation und Entwicklung neuer Berufsfelder<br />

Die formalen Berufsabschlüsse und Qualifikationen bilden jedoch in den meisten<br />

Projekten nicht die Voraussetzung für eine Mitar<strong>bei</strong>t. (Abgesehen von einigen<br />

Projekten, deren Leistungen über das Bundessozialhilfegesetz oder über die<br />

Krankenkassen abgerechnet werden, z.B. Therapieprojekte.) Vielmehr werden<br />

von allen Mitar<strong>bei</strong>terinnen ein frauenpolitisches Engagement und der Einsatz<br />

für eine emanzipatorische frauenspezifische Ar<strong>bei</strong>t erwartet. Da diese Motivation<br />

mit einem hohen Qualifikationsniveau in den Proj ekten einhergeht, ergeben<br />

sich aus dieser Konstellation die vielfältigsten Weiterbildungs- und Aneignungsmöglichkeiten.<br />

So finden Frauen über die Projekte auch einen Zugang zum Erlernen<br />

von sowohl fachspezifischen als auch projektspezifischen Kenntnissen. In<br />

allen Proj ekten gibt es neben der "eigentlichen" Ar<strong>bei</strong>t (z.B. Beratung) immer<br />

auch folgende Bereiche: Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t, Geschäftsführung, Haushaltsplanung<br />

und Buchhaltung, Korrespondenz, Kooperation mit anderen Proj ekten und<br />

öffentlichen Einrichtungen, Forschung und Dokumentation, Konzeptualisierung<br />

und Koordination der Projektar<strong>bei</strong>t, aber auch Renovierung und Putzar<strong>bei</strong>ten.<br />

Da in allen diesen Projekten nach dem Konsensprinzip und ohne formale Hierarchie<br />

gear<strong>bei</strong>tet wird, sind die Mitar<strong>bei</strong>terinnen oft Managerin, Beraterin und<br />

Putzfrau in einer Person.<br />

Die Projekte bieten somit neben ihrer jeweiligen konkreten inhaltlichen<br />

Ar<strong>bei</strong>t ein breites Spektrum auch zukünftiger Bildungs- und Weiterbildungsan-


- 73 -<br />

gebote. Vor diesem Hintergrund können die Projekte nicht länger als einfache<br />

"Laienhelfergruppen" bezeichnet werden, vielmehr entwickelt sich in ihnen eine<br />

neue Quali tät professioneller Ar<strong>bei</strong>t. Der Stellenwert dieser unterschiedlichen<br />

Bewertung vo n Ar<strong>bei</strong>t und Qualifikation in den Proj ekten wird im follgenden<br />

an hand der Darstellung des "Berliner Modells" verdeutlicht.<br />

5. Das Berliner Modell zur Förderung von Selbsthilfegruppen<br />

Entstehung des Programms<br />

Noch bevor dieses Programm 1983 durch den CDU-Sozialsenator eingerichtet<br />

wurde, hatten sich seit 1980 ein Teil der Berliner Frauenprojekte mit den Alternativprojekten<br />

im "Ar<strong>bei</strong>tskreis zur Förderung autonomer Frauenprojekte,<br />

Alternativprojekte und Bürgerinitiativen e.V." (AK Staatsknete) zusammengesc<br />

hlossen. Der Konsens des Zusammenschlusses bestand in der gemeinsamen<br />

Forderung nach finanzieller Absicherung und Anerkennung der in den Projekten<br />

vorhandenen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen. Bereits 1982 konnte der AK Staats knete einen<br />

Sammelantrag von über 140 \rojekten der Frauen- und Alternativbewegung vorlegen.<br />

Die finanziellen Forderungen beliefen sich auf 52 Mill. DM, die in einem<br />

So nderfonds dem AK zur Selbstvergabe überstellt werden sollten.<br />

Die Frauenprojekte hatten sich zu diesem Zweck in allen Gremien des<br />

Ar<strong>bei</strong>tskreises ihren paritätischen Anteil gesichert, und das Frauenplenum wurde<br />

zu einem autonomen Entscheidungsorgan innerhalb dieser Organisation. Daneben<br />

wurde ein eigenständiger Beirat, bestehend aus 7 Frauenprojekten, eingerichtet,<br />

der für die Vergabe der Gelder für Frauenprojekte vorgesehen war.<br />

Die Forderung nach Selbstvergabe der Gelder wurde jedoch von staatlicher<br />

Seite abgelehnt. Schließlich blieben von den einst vom Sozialsenator angekü<br />

ndigten 38 Mill. für Projekte nur noch 7,5 Mill. übrig. Gleichzeitig änderte<br />

si ch auch der Titel des Programms; sollten ursprünglich tatsächlich Frauen- und<br />

Alternativprojekte gefördert werden, so hieß es nun wesentlich moderater<br />

"Förderung von Sel bsthilfegruppen". Da der Titel <strong>bei</strong>m Senator für Gesundheit<br />

und Soziales eingerichtet wurde, fielen bereits im Vorfeld all jene Projekte<br />

heraus, die nicht in dieses Ressort paßten: Bildungs-, Kultur-, Umweltprojekte<br />

sowie politische Initiativen und Bürgerinitiativen.


- 74 -<br />

"Hilfe zur Selbsthilfe" als entscheidendes Kriterium der Vergabe<br />

Eine weitere projektinterne Ausdifferenzierung ergibt sich aus den senatseigenen<br />

Förderkriterien. Danach sollen nur diejenigen Aktivitäten innerhalb eines<br />

Projekts gefördert werden, die der "reinen" Selbsthilfe entsprechen. Nach diesem<br />

Selbsthilfeverständnis sollen sich von einem Problem betroffene Menschen<br />

zusammensetzen und sich gegenseitig selber helfen. Alle darüber hinausgehenden<br />

Ar<strong>bei</strong>ten wie z.B. Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t, Beratung oder Dokumentation werden<br />

nicht finanziert, also alle Tätigkeiten, die ein gewisses Maß an "Professionalität"<br />

erfordern. Dagegen soll "Laienhilfe" mit unbezahltem Engagement geleistet<br />

werden, wo<strong>bei</strong> die Aktivierung ehrenamtlicher Ar<strong>bei</strong>t ein ausdrückliches<br />

Ziel dieses Programms ist.<br />

Die Mittelvergabe<br />

Innerhalb des zuständigen Ressorts ist eine eigenständige Verwaltungsgruppe<br />

mit der Abwicklung des Antragsverfahrens betraut. Die Anträge müssen schriftlich<br />

eingereicht werden; danach werden Gespräche mit den Gruppen geführt<br />

und Stellungnahmen anderer öffentlicher Dienststellen eingeholt. Mit einer Förderempfehlung<br />

der Verwaltung geht der Antrag dann zur Abstimmung in den<br />

"Selbsthilfe<strong>bei</strong>rat", der sich aus sieben Personen des öffentlichen Lebens zusammensetzt<br />

(darunter eine Frau!). Der Beirat tagt einmal im Monat und muß<br />

da nn bis zu 20 Anträge beraten. Nach dem Votum des Beirats dauert es noch<br />

einmal vier bis sechs Wochen, bis die Proj ekte einen schriftlichen Bewilligungsbescheid<br />

erhalten. Die endgültige Auszahlung der Gelder kann noch einmal so<br />

lange dauern.<br />

Insgesamt ist das Antragsverfahren also recht zeitaufwendig und bürokratisch.<br />

Hinzu kommt, daß die Förderung erst ab Datum der jeweiligen Beiratssitzung<br />

erfolgt. Kommt ein Projektantrag aufgrund des langwierigen Vorlaufs z.B.<br />

erst im September in den Beirat, so erfolgen die Zahlungen nicht rückwirkend,<br />

sondern lediglich für die letzten Monate des laufenden Jahres.<br />

Die Finanzierungsart<br />

Die gesamte Selbsthilfeförderung versteht sich als "Anschubfinanzierung" mit<br />

einer Laufzeit von höchstens drei Jahren pro Projekt. Laut eigenem Verständnis<br />

des Senats soll damit den Gruppen eine Initialzündung und Starterleichterung<br />

ermöglicht werden; danach sollen sie sich finanziell selber tragen. Hierzu<br />

wird den Projekten eine jährliche Eigenbeteiligung für Bewirtschaftungskosten


- 75 -<br />

auferlegt, mit dem Ziel, eine sukzessive Entwöhnung von der staatlichen Förderung<br />

einzuleiten.<br />

Die Förderung beruht auf der sogenannten "Fehlbedarfsfinanzierung", d.h.,<br />

es werden nur die Kosten zur Durchführung der jeweiligen Selbsthilfemaßnahmen<br />

übernommen und das Projekt darf hierfür keinerlei sonstige Einnahmen<br />

erzielen. Dies führt in den meisten Fällen zu völlig abstrusen Konstruktionen<br />

innerhalb der Proj ekte, so daß z.B. in einer Ladenwohnung mit drei Zimmern, in<br />

der auch ein Beratungs- und Informationsangebot gestellt wird, nur ein Zimmer<br />

finanziert wird, in dem die "reine" Sel bsthilfe stattfindet.<br />

Im Rahmen der Anschubfinanzierung findet die Mittelbewilligung jeweils<br />

jährlich erneut statt, da für die Projekte keine Rechtsansprüche auf eine Anschl<br />

uß- oder Weiterförderung existieren.<br />

PersonaJmittel aus dem Selbsthilfeprogramm<br />

Zunächst war es ausdrückliches Ziel des Programms, nur Sachmittel zu finanzi<br />

eren, denn die Ar<strong>bei</strong>t sollte schließlich weiterhin unbezahlt geleistet werden.<br />

Dem haben die im AK Staats knete zusammengeschlossenen Projekte ihre hartnäckigen<br />

Personalmittelforderungen entgegengesetzt. Der Senat kam diesen<br />

Forderungen schließlich insoweit nach, als er die Anleitung zur Selbsthilfe mit<br />

einer sogenannten "Kostenpauschale" entschädigt. Die Pauschale beträgt zur<br />

Zeit 3040,- DM Ar<strong>bei</strong>tgeberbrutto, d.h. inklusive aller Abgaben.<br />

Mit der Pauschale, so der Senat, sei dem Verlangen der Projekte nach<br />

Einheitslohn entsprochen worden. Tatsächlich haben die Proj ekte ihre Personalkosten<br />

aber immer nach den Qualifikationen ihrer Mitar<strong>bei</strong>ter/innen entsprechend<br />

BAT beantragt, so daß das Verhältnis von beantragten Personalmitteln<br />

zu den bewilligten diesen Bedarf drastisch dokumentieren.<br />

Im Jahr 1983 beliefen sich die Personalforderungen der Proj ekte auf 18,7<br />

Mill. DM, bewilligt wurden hingegen nur 1,6 Mill. DM. Aus dieser Gesamtsumme<br />

lassen sich für 1983 ca . 50 finanzierte Stellen errechnen, 1984 kamen 10 weitere<br />

hinzu, und 1984 waren es insgesamt ca. 80 Ar<strong>bei</strong>tsplätze. Für den Berliner<br />

Sozialsena tor stellt die Anzahl der aus seinem Programm finanzierten Stellen<br />

jedoch lediglich einen Nebeneffekt dar. Diese Grundhai tung findet da nn auch<br />

ihren Niederschlag in der Finanzierung und den damit gesetzten Bedi ngungen<br />

für die Ar<strong>bei</strong>tsvertragsgestaltung der Proj ektmitar<strong>bei</strong>ter/innen.<br />

Grundsätzlich werden Personal mittel nur als Kostenpauschale gewährt, in<br />

der Regel werden diese sogar noch halbiert, so daß den Proj ekten je nach Grö-


- 76 -<br />

ße der Gruppe und Umfang der Ar<strong>bei</strong>t nur eine halbe bis eine ganze Pauschale<br />

bewilligt wird. Bei einer halben Kostenpauschale aus dem Jahr 1983 hieß das<br />

ein monatliches Ar<strong>bei</strong>tgeberbrutto von 1490,- DM, von dem nach Abzug aller<br />

Abgaben ein Nettogehalt von ca. 980,- DM übrigblieb. Hier<strong>bei</strong> handelt es sich<br />

tatsächlich um einen Einheitslohn, denn nicht berücksichtigt sind: Alter, Kinder<br />

zahl und Familienstand, Ausbildung und Berufserfahrung sowie Urlaubsgeld<br />

und Weihnachtsgeld bzw. 13. Monatsgehalt. Durch das Fehlen eines Rechtsanspruchs<br />

auf Förderung werden die Projekte als Anstellungsträger gezwungen,<br />

stets nur befristete Ar<strong>bei</strong>tsverträge abzuschließen.<br />

Des weiteren werden die Projekte verpflichtet, keine Dequalifizierung<br />

nach unten zu betreiben, d.h. die Mitar<strong>bei</strong>terinnen müssen eine Mindestqualifikation<br />

entsprechend BA T V nachweisen. Da in den Proj ekten jedoch in den meisten<br />

Fällen weitaus höhere Qualifikationen vorhanden sind, wird die Kostenpauschale<br />

in der Argumentation des Senats als "Zuschuß" umdefiniert und die höheren<br />

Personalkosten den Projekten selbst aufgelastet. Daß diese Kosten von<br />

keinem der Projekte aufgebracht werden kann, liegt auf der Hand.<br />

Gerade der Überhang der hochqualifizierten Mitar<strong>bei</strong>terinnen hat den Senat<br />

veranlaßt, in zynischer Weise einigen Projekten einen bloßen "Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungscharakter<br />

für ar<strong>bei</strong>tslose Akademikerinnen" zu unterstellen, ohne auf<br />

di e jeweiligen Inhalte des Projekts einzugehen. Gleichwohl sollen die Projekte<br />

ein neues Verständnis von Ar<strong>bei</strong>t praktizieren, das nicht auf Erwerbstätigkeit<br />

verkürzt ist. Darin liegt schließlich die Crux der gesamten Auseinandersetzung<br />

zwischen den Frauen- und Alternativprojekten und dem CDU-Senat: der Forderung<br />

nach Schaffung und Bezahlung von sinnvollen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen steht das<br />

konservati ve Ansinnen der Aktivierung unbezahlter, sogenannter "ehrenamtlich<br />

er" Ar<strong>bei</strong>t unerbittlich gegenüber.<br />

Zum aktuellen Stand der Selbsth.ilfeförderung<br />

Nach Ablauf der 3-Jahres-Frist (1986) wurden für die Weiterförderung einiger<br />

Projekte weitere 2,5 Mill. DM bereitgestellt. Für die Frauenproj ekte bedeutete<br />

die Übernahme in die sogenannte "Weiterförderung" eine weitere Verschlechterung<br />

ihrer ohnehin schon miserablen finanziellen Situation. So wurden von den<br />

2,5 Mill. ganze 400.000,- DM für 9 Frauenproj ekte ausgegeben und damit statt<br />

bisher 11 nur noch 5 1/2 Stellen bewilligt. Mit dieser Förderung sind die Frauenprojekte<br />

tatsächlich in ihrer Existenz bedroht. Auch für das Jahr 1987 konnte<br />

keine Verbesserung für die Projekte erreicht werden; gleichzeitig wird zum


- 77 -<br />

Ende des Jahres die Förderung ganz auslaufen. Wie es dann weitergeht, weiß<br />

bis jetzt noch niemand zu sagen.<br />

Hier zeigt sich, daß die Konzeption der Selbsthilfeförderung als "Anschubfinanzierung"<br />

völlig daneben greift. Gerade die Frauenprojekte haben vielmehr<br />

jahrelange unbezahlte Vorleistungen erbracht. Die Ar<strong>bei</strong>t der Proj ekte ist auf<br />

Kontinuität hin ausgerichtet. Der Senat erwartet diese Kontinuität und hat sie<br />

zum ausdrücklichen Kriterium der Förderung gemacht. Andererseits läuft die<br />

Vergabepraxis, die sich jährlich wiederholende Antragstell ung sowie die damit<br />

verbundene Unsicherheit für die Projektmitar<strong>bei</strong>terinnen, der erwarteten Kontinuität<br />

und Verbindlichkeit zuwider. Langfristiges Planen ist für die Mitar<strong>bei</strong>teri<br />

nnen auf dieser Grundlage unmöglich.<br />

Darüber hinaus wird durch die Begrenzung der Anlauffinanzierung der<br />

generelle Dienstleistungscharakter im Gesundheits- und Sozialbereich geleugnet.<br />

Da in diesen Bereichen keine Gewinne zu erwirtschaften sind, werden sich<br />

auch die Projekte ebensowenig wie die traditionellen Organisationen selber tragen<br />

können.<br />

Während in anderen Bundesländern und Städten die Frauenproj ekte auch<br />

<strong>bei</strong> Vorhandensein eines "Staatsknetetopfes" die Möglichkeit haben, in den festen<br />

Haushalt zu gelangen, ist dies in Berlin derzeit ganz ausgeschlossen. Mit<br />

der Reduktion der Förderkriterien auf die Hilfe zur Selbsthilfe sind die Frauenproj<br />

ekte nunmehr als ehrenamtliche Selbsthilfegruppen stigmatisiert, denen gerade<br />

dadurch die Aufnahme in den regulären Haushalt verweigert wird. Sie<br />

.<br />

müssen sich mit der "Selbsthilfeförderung Stufe II" abfinden, die wiederum Ende<br />

1987 ausläuft. Ob nach der "Anschub-" und "Stufenförderung" noch eine neue<br />

"Qualität" der Sel bsthilfe konstruiert wird, bleibt abzuwarten.<br />

Eine Anerkennung haben die Frauenproj ekte allerdings in den letzten Jahren<br />

schon erfahren; beansprucht werden sie nämlich nicht nur von einigen weni<br />

gen "Insiderinnen", sondern von Frauen aller Alters- und Sozialschichten.<br />

Damit sind die Frauenprojekte ein sichtbarer Ausdruck einer gewachsenen Bedü<br />

rfnisstruktur und eines Bewußtseinsprozesses der Frauen in dieser Gesellsc<br />

haft.


- 78 -<br />

6. Resümee: Zur Kritik des Selbsthilfebegriffs<br />

Aus dem Vorangegangenen läßt sich festhalten, daß die aus dem Selbsthilfeprogramm<br />

finanzierten Ar<strong>bei</strong>tsplätze allen Merkmalen der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse<br />

entsprechen. Die Ar<strong>bei</strong>tsverträge sind grundsätzlich befristet,<br />

die Nettoverdienste liegen in der Regel noch unter 1000,- DM und entsprechen<br />

keiner tarifgerechten Eingruppierung. Ebenso sind die Sozialversicherungs<strong>bei</strong>träge<br />

auf der untersten Ebene angesiedelt.<br />

HiilZU kommt, daß diese Stellen ausdrücklich für die Mobilisierung ehrenam<br />

tlicher, also unbezahlter Ar<strong>bei</strong>t eingerichtet wurden. Genau darin liegt jedoch<br />

die Brisanz der Selbsthilfeförderung insgesamt. Mit dem Appell des CDU­<br />

Senats, die Ar<strong>bei</strong>t nicht mehr nur auf Erwerbstätigkeit zu verkürzen, soll den<br />

Frauen eine Beschäftigungsperspektive eröffnet werden, deren Anerkennung<br />

sich nicht in Lohn oder Gehalt, sondern in guten Worten ausdrückt. Mit der<br />

ideologischen Aufwertung der unbezahlten Ar<strong>bei</strong>t soll somit dem Problem der<br />

wachsenden Frauenerwerbslosigkeit begegnet werden. In diesem ideologischen<br />

Kontext wird die konservative Variante der angeblich neuen Sozialpolitik deutlich:<br />

Aktivierung der Eigenar<strong>bei</strong>t heißt "selber machen", "selbst bestimmen" und<br />

damit schließlich soziale Risiken auch selber verantworten.<br />

In diesem Zusammenhang sind auch die erneut propagierten Anreize zur<br />

Existenzgründung zu sehen, d.h. es geht um, eine weitere Rücknahme des Staates<br />

in allen Fragen der Existenzsicherheit und der sozialen Versorgung. Wer<br />

da nn noch ar<strong>bei</strong>tslos ist, macht sich entweder selbständig oder sucht sich eine<br />

sinnvolle Betätigung als "Ehrenamt". Staatliche Beschäftigungs- und Sozialpolitik<br />

wird so ersetzt durch Eigeninitiative, Risikobereitschaft und Hilfe zur<br />

Selbsthilfe.<br />

In der momentanen Euphorie über den Existenzgründungsboom gerade <strong>bei</strong><br />

den Frauen darf daher nicht übersehen werden, daß in der Perspektive einer zukü<br />

nftigen "Sel bermacher-Gesellschaft" die weitere Ausgrenzung besonders benachteiligter<br />

Bevölkerungsgruppen zwangsläufig mitangelegt ist.


- 79 -<br />

Lu Haas<br />

FRAUENBETRIEBE - EIN WEG IN UNGESCHüTZTE ARBEITSVERHf\L TNISSE<br />

1. Daten zum Trend in die Selbständigkeit<br />

80 .000 bis 100.000 Gewerbeanmeldungen von Frauen werden in der Bundesrepubl<br />

ik zur Zeit jährlich registriert; der GründungsbooiTI der letzten Jahre geht zu<br />

einem wesentlichen Teil auf das Konto der Frauen: Stellen sie insgesamt ein<br />

gutes Viertel aller Selbständigen, so sind sie <strong>bei</strong> den Neuanmeldungen bereits<br />

mit einem Drittel vertreten. 1984 gab es noch mehr weibliche mithelfende Familienangehörige<br />

(754.000) als Selbständige (564.000). Es kann davon ausgegangen<br />

werden, daß sich dieses Verhältnis langfristig zugunsten der selbständigen<br />

Frauen verändert. Die Gründe für den Trend zur Sel bständigkeit dürften in erster<br />

Linie <strong>bei</strong> dem quantitativ wie qualitativ unzureichenden Ar<strong>bei</strong>tsplatzangebot<br />

für Frauen zu suchen sein.<br />

Bei den Gewerbeneuanmeldungen findet sich ein großes Spektrum an Formen<br />

und Inhalten sel bständiger Ar<strong>bei</strong>t: Das reicht von den Ein-Frau-Schreibbüro-Heimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

über Bereiche traditioneller weiblicher Selbständigkeit -<br />

wie z.B. Friseurinnen, Krankengymnastinnen, Hebammen - zu den neuartigen<br />

Beschäftigungsinitiativen erwerbsloser Frauen und schließlich den Projekten,<br />

deren frauenpolitische Zielsetzung die Selbständigkeit zwingend mit sich bringt,<br />

wie Frauenbuchläden, -Verlage, -Cafes. Selbständige Frauen finden sich konzentriert<br />

im Dienstleistungsbereich und hier wiederum vor allem in der Kategorie<br />

der Ein-Personen- und Kleinbetriebe.<br />

Die Aussichten für die Neugründungen sind mit dem Gründungsboom eher<br />

schlechter geworden. Die Anteile von Betriebsschließungen und Gewerbeanmeldu<br />

ngen in den ersten vier Jahren bewegen sich in dem Spektrum von 30-50%.<br />

Durch Beratung und Bildungsmaßnahmen kann die Gefahr des Scheiterns auf<br />

14% gesenkt werden. Kommen zur Beratung günstige Kredite (ERP und Eigenkapitalhilfe)<br />

und berufliche Fachkenntnisse hinzu, wird die angestrebte Existenzsicherung<br />

fast immer erreicht (nur noch 2% müssen innerhalb von 4 Jahren<br />

aufgeben).


- 80 -<br />

2. Das Projekt "Frauenbetriebe"<br />

Um die Chancen langzeitar<strong>bei</strong>tsloser Frauen <strong>bei</strong> ihren Betriebsgründungen zu<br />

verbessern, wurde 1984 das Proj ekt Frauenbetriebe gegründet. Wir haben ein<br />

Kursprogramm entwickelt, mit dem Frauen sich aneignen, was sie für die berufliche<br />

Selbständigkeit brauchen: Fachkenntnisse und Informationen, Verhandlungsstrategien,<br />

realisierbare Betriebskonzepte und Handl ungswissen in verschiedenen<br />

Bereichen selbständiger Tätigkeit. Zielgruppe der 1 l/2jährigen<br />

Halbtagsausbildung sind besonders benachteiligte Gruppen unter den erwerbslose<br />

n Frauen: Mütter (2/3 der Teilnehmerinnen), die aus dem Beruf ausgeschieden<br />

si nd, Frauen aus Rationalisierungsbereichen und Akademikerinnen ohne Berufserfahrung.<br />

Im Durchschnitt entscheidet sich etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen<br />

für die Selbständigkeit; die andere Hälfte findet Ar<strong>bei</strong>tsplätze in abhängiger<br />

Beschäftigung.<br />

Da wir mit Anfragen überrollt werden, die Einzelinformationen und Hilfe<br />

<strong>bei</strong> ihren Betriebskonzepten brauchen, haben wir ein Beratungsbüro gegründet.<br />

Für diese Beratungsar<strong>bei</strong>t haben wir ein Konzept erar<strong>bei</strong>tet, das die Grundlage<br />

. einer 6monatigen Weiterbildung f9r Entwicklungsberaterinnen . bildet (EDV-Betriebsplanung<br />

und Spezialwissen).<br />

Aus unserem ersten Kurs ist das Großproj ekt "Markthalle" entstanden, das<br />

mehrere Betriebe unter einem Dach vereinen wird; aus Bundesmitteln werden<br />

die Miete in der Anfangszeit bezuschußt und die Werkstatteinrichtung finanzi<br />

ert. Im Rahmen der Markthalle führen wir auch das Proj ekt "Recycling-Design"<br />

durch, in dem Frauen mit Hilfe von gewerblich-technischen Kursen ihre<br />

Design-Ideen realisieren (Schwerpunkt Schrott und Halogen). Die verschiedenen<br />

Facetten unserer Projektar<strong>bei</strong>t werden mit Hilfe regel mäßiger Begleitforschung<br />

kontrolliert.<br />

In unserer Ar<strong>bei</strong>t werden wir immer wieder mit Widersprüchen konfrontiert:<br />

wir sehen die Probleme, aber auch die qualitativ eigenständigen Konzeptionen,<br />

die Angste und die Fähigkeiten der Betriebsgründerinnen aus nächster<br />

Nähe. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen lassen sich hinsichtlich der Qualifikation<br />

der Gründerinnen und der Qualität der Ar<strong>bei</strong>t eher Diskussionsthesen<br />

als summarische Urteile formulieren. Vorweg jedoch noch eine kleine Bemerkung<br />

zur Seilschaft: mit unserem Projekt Frauenbetriebe gehören wir nicht zu<br />

den 'Neuen Selbständigen'. Mit dem Begriff der Neuen Selbständigen werden<br />

jene Gruppen charakterisiert, die weder dem traditionellen Rekrutierungsfeld


- 81 -<br />

für Betriebsgründungen zuzurechnen sind noch mit ihren Initiativen ideelle oder<br />

politische Zielsetzungen - wie die Alternativbetriebe - verbinden. Es gibt für<br />

uns keinerlei Veranlassung, in eine dieser Schubladen zu springen. Im Gegenteil:<br />

Eine adäquate Förderung von erwerbslosen Frauen können wir nur leisten, wenn<br />

wir die besonderen Probleme und Interessen, die diese Frauen <strong>bei</strong> der Gründung<br />

und Führung eigener Betriebe haben, berücksichtigen. Das gilt auch für die<br />

3. Konzeption von Bildungsprogrammen für Beschäftigungsinitiativen<br />

von Frauen<br />

Wir gehen davon aus, daß Frauen eine gründliche berufliche Qualifikation für<br />

die Selbständigkeit brauchen. Neben dem für Männer wie Frauen gleichermaßen<br />

notwendigen betriebswirtschaftlichen Fachwissen und der Fachpraxis hat es<br />

sich als sinnvoll erwiesen, besondere Kurse durchzuführen, die die Fähigkeiten<br />

und Probleme von Frauen <strong>bei</strong> der Betriebsgründung berücksichtigen.<br />

a) Fähigkeiten:<br />

In den neuen Beschäftigungsinitiativen erwerbsloser Frauen haben viele Gründerinnen<br />

Qualifikationen, die aus dem auf das Erwerbsleben eingegrenzten Qualifikationsbegriff<br />

herausfallen. Die Rede ist von den Kenntnissen, den Fähigkeiten<br />

und Fertigkeiten, die Frauen in der Familienar<strong>bei</strong>t und in einer auf diesen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbereich hinzielenden Sozialisation erwerben: Erfahrungen und Befähigungen<br />

in selbständiger, eigenverantwortlicher Ar<strong>bei</strong>t; die Erstellung kurz- und<br />

la ngfristiger Planungen und Kalkulationen, ar<strong>bei</strong>tsorganisatorische Fähigkeiten;<br />

Preisvergleiche und Preisverhandlungen; kommunikative Kompetenz und Flexibilität.<br />

Diese aus dem Bereich typischer Frauenar<strong>bei</strong>t resultierenden Qualifikationen<br />

können in der beruflichen Selbständigkeit genutzt und ausgebaut werden.<br />

Diese Basis an Qualifikationen, die viele erwerbslose Frauen mitbringen, wird<br />

von den traditionellen Gründungshelfern - Kurzkursen, Verbandsberatungsstellen<br />

und Handbüchern - vollständig ausgeblendet. Statt auf der Basis der vorhandenen<br />

Kenntnisse und Fähigkeiten aufzubauen und Neues zu vermitteln, werden<br />

Frauen häufig als naiv und unfähig angesehen und Vorurteile gegenüber Beschäftigungsinitiativen<br />

aufgebaut:<br />

"Zum Thema der Unternehmereignung hier einmal ein negatives Beispiel.<br />

Ein erfolgreicher Freiberufler kauft seiner im Eheleben aussc<br />

hließlich mit Haushalt beschäftigten und deshalb gelangweilten


- 82 -<br />

Ehefrau eine Boutique. Mit dieser Möglichkeit zur selbständigen unternehmerischen<br />

Tätigkeit will er ihr einen langgehegten Wunsch erfüllen.<br />

Die Ehefrau bringt aber weder die Fähigkeit mit, ein Unternehmen<br />

aus der Gesamtsicht führen zu können, noch hat sie in ihrem<br />

wohlbehüteten Familienleben die notwendige Streßstabilität aufbauen<br />

können. Sie ist bisher nie leitend tätig gewesen, hat deshalb keine<br />

Menschenführungserfahrungen". (R entrop 1982)<br />

Dieses Zitat zeugt von einem Mechanismus , der den Gründerinnen viele<br />

Schwierigkeiten bereitet: Sie werden mit einem Maß band gemessen, das für den<br />

klassischen Gründer gemacht wurde. So wird die für Bankkredite maßgebliche<br />

"Unternehmereignung" an folgenden Kriterien überprüft: Durchsetzungsvermögen<br />

, Branchenkenntnis und kaufmännisches Wissen. Die Maßeinheiten werden<br />

ausschließlich aus der Erwerbsar<strong>bei</strong>t entnommen. Auf diese Weise fallen die in<br />

der Familienar<strong>bei</strong>t erworbenen Fähigkeiten für die Selbständigkeit vollständig<br />

heraus. Daß Frauen nicht zugetraut wird, zielgerichtet und kalkuliert handeln<br />

zu können, führt zu realen ,<br />

Nachteilen: schlechte Lieferantenkonditionen, kurzfristige<br />

Mietverträge, ungünstige Kredite. Sicherlich müssen Frauen, die sich<br />

ohne Branchenkenntnis und kaufmännisches Wissen selbständig machen wollen,<br />

vieles lernen; naiv und ungeeignet für die Selbständigkeit sind sie aber nicht.<br />

Für die berufliche Bildung kommt es darauf an, den Frauen, die sich angesichts<br />

der Massivität von Vorurteilen häufig selbst als naiv einschätzen, zur Entdeckung<br />

und realistischen Einschätzung ihrer Fähigkeiten zu verhelfen und auf<br />

dieser Basis aufzubauen.<br />

b) Hindernisse:<br />

Neben den Vorurteilen gibt es eine Reihe weiterer Hürden auf dem Weg in die<br />

Sel bständigkeit. Als Beispiele daz u stehen die Berichte unserer Teilnehmerinnen.<br />

Ein Fünftel der Frauen in unserem "Qualifikationskurs für die berufliche<br />

Sel bständigkeit" hat bereits einmal 'die schmerzhafte Erfahrung gemacht, mit<br />

großem Engagement und an Selbstausbeutung grenzendem Zeitaufwand in der<br />

Pleite zu landen. Diese Frauen wollen im Projekt Frauenbetriebe lernen, wie<br />

sie es hätten machen müssen.<br />

Elke (ein Kind) und ihre Freunde kaufen einen gebrauchten Laster, holen<br />

sich einen Gewerbeschein für ein Transportunternehmen und bieten in Anzeigen<br />

Ablaugen von alten Möbeln an. Sie leben recht und schlecht davon,<br />

daß sie Möbel zu einem alternativen Ablaugbetrieb bringen und sie dann -<br />

gegen Aufpreis - an die Besitzer zurück liefern. Buchhaltung und Steuererklärungen<br />

halten sie für überflüssig. Nach zwei Jahren präsentiert das Fi-


- 83 -<br />

nanzamt die Rechnung; die Gruppe kann die Steuerschuld nicht bezahlen. Sie<br />

meldet den Betrieb ab und lebt jetzt von Sozialhilfe.<br />

Rosemarie pachtet mit ihrem Freund zusammen ein Stück Land und kauft<br />

sich eine Damtierherde. Ihre Damtierfarm muß sie aber in kürzester Zeit<br />

wieder aufgeben: Ihr Freund erweist sich nicht gerade als begeisterter<br />

Schaffer, und außerdem haben <strong>bei</strong>de nicht die geringste Ahnung von Tierzucht.<br />

Roswitha (vier Kinder) interessiert sich für Kunstgeschichte und Antiquitäte<br />

n. Sie führt ein Antiquitätengeschäft, in dem sie komplementär zu den<br />

beruflichen Erfolgen ihres Gatten Verluste machen muß. Die auf diese Weise<br />

gesparte Einkommenssteuer wird ihr im innerfamilialen Abrechnungsmodus<br />

ni cht als Verdienst zugeschrieben. Nach Jahren, in denen sie - wie sie selbst<br />

sagt - "mit intensivster Ar<strong>bei</strong>t nie einen Pfennig verdient hat", gibt sie das<br />

Geschäft auf und sucht nun nach einer neuen Existenzgrundlage. Eine Trennu<br />

ng steht an, und Roswitha muß noch einmal ganz von vorne anfangen.<br />

- Marianne (zwei Kinder) hat einen Secondhand-Laden für Kindersachen. Sie<br />

will für die Mütter etwas tun, die sich die neuen Kinderkleider nicht leisten<br />

können. Nach einiger Zeit stellt Marianne fest, daß für sie selbst nur Ar<strong>bei</strong>t<br />

da <strong>bei</strong> herausspringt. Sie steigt mit Verl ust aus.<br />

Die vier Beispiele verweisen uns auf besondere Probleme, denen erwerbslose<br />

Frauen <strong>bei</strong> der Gründung und Führung eigener Betriebe begegnen: es fehlen<br />

Branchenkenntnisse und Berufserfahrung (Rosemaries Damtierfarm), es fehlen<br />

betriebswirtschaftliche Kompetenzen, es fehlt Kapital, um unvorhergesehene<br />

Kosten zu decken (Elkes Kollektivbetrieb), und es fehlt - den Müttern - an<br />

Zeit. Zudem haben Frauen häufig soziale, kommunikative und ideelle Ziele für<br />

ihren Betrieb, die die ökonomische Existenzsicherung in Frage stellen (Mariannes<br />

Secondhand-Laden). Gegenüber den Wünschen und Interessen von Familienmitglieder<br />

n stellen Frauen ihre Ansprüche an eine eigenständige berufliche Existenzsicherung<br />

häufig zurück (Roswithas Antiquitätenladen). Wir stellen fest:<br />

Erwerbslosigkeit ist nicht nur der Anlaß dafür, daß Frauen versuchen, sich mit<br />

der beruflichen Selbständigkeit einen eigenen Ar<strong>bei</strong>tsplatz zu schaffen; Erwerbslosigkeit<br />

führt auch zu einer Reihe spezifischer Hindernisse auf diesem<br />

Weg: kein Geld, keine Berufserfahrung, keine Branchenkontakte und ein - aufgrund<br />

der Ansprüche der eigenen Kinder - nicht unbegrenztes Engagement. Diesen<br />

Schwierigkeiten können Frauen nur mit Pfiffigkeit, einem umfangreichen<br />

Repertoire betriebswirtschaftlichen Handwerkszeugs, ausgefeilten Betriebskon-


- 84 -<br />

zepten, auf ihre Person abgestimmten Verhandl ungsstrategien, gegenseitiger<br />

Hilfe und viel Eigenleistung begegnen.<br />

Die Mühe, die es kostet, die Hürden zur Seite zu räumen, verschwindet<br />

hinter dem Bild der strahlenden und erfolgreichen Selbständigen, die uns in der<br />

Zigarettenreklame, der Bankenwerbung und den Frauenzeitschriften entgegentritt.<br />

Diese Werbung ist eine problematische Begleiterscheinung des Gründungsbo<br />

oms: Es wird die Illusion geweckt, daß nichts einfacher sei, als sich selbständig<br />

zu machen. Manchmal gibt es da<strong>bei</strong> ein paar dürftige Tips - unerwähnt<br />

bleiben aber die Pleiten, die Probleme, die Anstrengungen. Für viele Frauen,<br />

di e Kontakt mit uns aufnehmen, ist es schwer verständlich, daß eine gründl iche<br />

Betriebsplanung einen Zeitraum von 3 bis 6 Monaten in Anspruch nimmt. Angeregt<br />

durch die glanzvollen Beispiele aus den Illustrierten, gehen sie stattdessen<br />

da von aus, im Schnellverfahren einen existenzsichernden Ar<strong>bei</strong>tsplatz realisieren<br />

zu können. Hier ist eine verstärkte Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t notwendig, die auf<br />

die Gefahren unvorbereiteter Betriebsgründungen hinweist: ohne Qualifikation<br />

ist jede und jeder schon <strong>bei</strong> der Gründung mit einem Bein wieder draußen. Das<br />

bedeutet aber auch, ein entsprechendes breitgestreutes Bildungs- und Beratungsangebot<br />

zu schaffen.<br />

Für ein Bildungsprogramm heißt dies: die Frauen nicht in den betriebswirtsc<br />

haftlichen Windkanal zu setzen und alles abzuschleifen, was stört. Frauen<br />

brauchen vielmehr eine auf ihre Fähigkeiten und Interessen einerseits und die<br />

Probleme und Hindernisse andererseits abgestimmte berufliche Qualifikation für<br />

die SeI bständigkei t (Haas/ Krieger 1986).<br />

Während unsere Erfahrungen eine regionale und qualitative Erweiterung<br />

von Bil dungsangeboten für die Gründerinnen nahelegen, läßt sich die Frage der<br />

4, Berufsabschlüsse und Weiterbildungsmöglichkeiten in Beschäftigungsinitiativen<br />

von Frauen<br />

weniger eindeutig beantworten. Leider steckt die Forschung über Beschäftigu<br />

ngsinitiativen noch in den Kinderschuhen. Das gilt insbesondere für die neuen<br />

Gruppen unter den Gründerinnen, die im Zuge der Strukturveränderungen auf<br />

dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und veränderter Ansprüche nach bezahlter und inhaltlich<br />

befriedigender Ar<strong>bei</strong>t den Weg in die Sel bständigkeit versuchen. Während in<br />

den traditionellen Bereichen weiblicher Selbständigkeit überwiegend Frauen mit


- 85 -<br />

entsprechenden Berufsqualifikationen vertreten sind - wie etwa Schneider- und<br />

Friseurmeisterinnen, Ubersetzerinnen und Hebammen -, sind <strong>bei</strong> den neuen Besehäftigungsinitiativen<br />

vermutlich häufig Brüche in der Berufsbiographie und<br />

Ausbildungsdefizite zu finden.<br />

Auf der Basis unserer Projektar<strong>bei</strong>t und einiger qualitativer Vorstudien<br />

können lediglich die ECkpfosten ausgemacht werden, die das Terrain dieser<br />

Fragen abstecken. Diese Eckpfosten sind: a) fehlende Ar<strong>bei</strong>tsmöglichkeiten im<br />

erlernten Beruf, b) ökonomischer Druck auf die Betriebe und c) Aus- und Weiterbildungsinteresse<br />

bestimmter Gruppen von Frauen.<br />

a) Fehlende Ar<strong>bei</strong>tsmöglichkeiten<br />

Viele Frauen machen sich selbständig, weil sie in ihrem Beruf keinen Ar<strong>bei</strong>tsplatz<br />

finden. Das bedeutet, daß sehr häufig auf die ursprünglichen Berufswünsehe<br />

und Ar<strong>bei</strong>tsinteressen verzichtet wird. Die Frauen müssen neue Tätigkeitsfeider<br />

suchen, weil ihr Beruf keine Existenzsicherung gewährt. Zu dieser Gruppe<br />

gehören die Lehrerin, die eine Kneipe aufmacht, die Sozialpädagogin mit<br />

dem Secondhand-Geschäft, die Soziologin mit der Hühnerfarm und die Maschinenbauzeichnerin<br />

mit dem Renovierungskollektiv.<br />

Diese Gruppe verliert nicht nur auf Dauer ihre Berufsqualifikation, es fehlen<br />

auch die Berufsabschlüsse und -erfahrungen für die angestrebte Selbständigkeit.<br />

Das verschlechtert die Aussichten für die Existenzgründungen ganz<br />

er heblich. Problematisch sind die Auswirkungen fehlender Berufsqualifikationen<br />

be sonders im Handwerk, wenn Auswege in handwerksähnlichen Nebenbetrieben<br />

oder Schwarzar<strong>bei</strong>t gesucht werden, z.B. die Gründung von Anderungsschneidereien,<br />

obwohl neue Modelle gemacht und nicht alte ausgebessert werden.<br />

b) Ökonomischer Druck auf die Betriebe<br />

Häufig ist der Konkurrenzdruck für (neugegründete) Betriebe so groß und/oder<br />

der Ertrag so gering, daß kein Spielraum für Lernprozesse bleibt. Angesichts<br />

des ökonomischen Drucks verfestigen sich unter der Hand Ar<strong>bei</strong>tsteilungen, die<br />

den Erwerb von Qualifikationen eingrenzen: wer's kann, darf und muß es machen.<br />

Grundsätzlich gilt: Wenn Frauen für ihren eigenen Betrieb die Berufsqualifikationen<br />

fehlen, müssen sie sie auf eigene Kosten erwerben, d.h. Mehrar<strong>bei</strong>t<br />

(Fehlerquoten, längere Produktionszeiten) und geringere Erträge. Darüber hinaus<br />

haben Selbständige keinen Anspruch auf Bildungsurlaub; wenn sie sich weiterbilden<br />

wollen, müssen sie nicht nur ihre eigenen Weiterbildungskosten, son-


aq<br />

- 86 -<br />

dern auch den Ausfall ihrer Ar<strong>bei</strong>tszeit im Betrieb finanzieren können. Viele<br />

können das nicht. Wir müssen damit rechnen, daß viele Beschäftigungsinitiativen<br />

Berufsqualifikationen nicht aus eigener Kraft vermitteln können. Erste<br />

Ergebnisse einer hessischen Untersuchung über selbstverwaltete Betriebe von<br />

Frauen und Männern verweisen auf sehr geringe Qualifikationschancen. Das<br />

rot-grüne Förderprogramm für selbstverwaltete Betriebe wurde deshalb um di e<br />

Finanzierung von Meisterkursen erweitert.<br />

Bessere Chancen auf berufliche Aus- und Weiterbildung bestehen in den<br />

frauenpolitischen Initiativen. So haben inzwischen einige Frauen aus Frauenbuchläden<br />

di e Buchhändlerinnenprüfung gemacht. Bei den ar<strong>bei</strong>tsplatzschaffenden<br />

Frauenforschungs- und -bildungsproj ekten erwirbt eine Reihe von Frauen<br />

zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die auf ihren Berufsabschluß aufbauen.<br />

c) Aus- und Weiterbildungsinteressen<br />

Als Folge fehlender Ausbildungschancen und monotoner, deq ual ifizierender Täti<br />

gkeiten haben viele Frauen ein starkes Interesse an beruflicher Aus- und Weiterbildung.<br />

Das gil t besonders für die I Wiedereinsteigerinnen' , die nach der<br />

Phase der Kinderversorgung etwas Neues lernen wollen. Für diese Frauen fehlen<br />

Ausbildungs- und Ar<strong>bei</strong>tsmöglichkeiten. Mit der Selbständigkeit werden <strong>bei</strong>de<br />

Interessen verbunden: bezahlte und inhaltlich ausfüllende Ar<strong>bei</strong>t. Für die<br />

Realisierung dieser Interessen gibt es Beispiele:<br />

- In einer englischen Blusenfabrik, die die Ar<strong>bei</strong>terinnen übernommen haben,<br />

wurde die Ar<strong>bei</strong>tsteil ung komplett aufgehoben. In einem rotierenden System<br />

machen alle alles: Nähen, Verkauf, Abrechnung, Einkauf. Auf diese Weise<br />

erweitern alle Frauen ihre vorhandenen Qualifikationen, erwerben jedoch<br />

keine neuen Berufsabschlüsse.<br />

Im Proj ekt Frauenbetriebe verschafft sich eine junge Mutter zur Zeit gerade<br />

auf ungewöhnliche Weise einen Ausbildungsplatz, indem sie sich zusammen<br />

mit einer Blumenbindemeisterin sel bständig macht.<br />

Zusammenfassend stellen wir fest: Mit dem eigenen Betrieb verbinden viele<br />

Frauen ar<strong>bei</strong>tsinhaltliche Interessen. Die in der Sel bständigkeit prinzipiell<br />

enthaltene Möglichkeit vielfältiger und an den eigenen Interessen ausgerichteter<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbereiche stellt sich nicht von all eine ein, sondern muß als ein wichtiges<br />

Moment <strong>bei</strong> der Betriebsplanung berücksichtigt werden. Ein Großteil der


- 87 -<br />

Frauen, die die neuen Beschäftigungsinitiativen ins Leben rufen, wollen und<br />

müssen dazulernen. Heißt das jedoch<br />

5. Frauen verändern, Betriebe nicht?<br />

Damit sind wir <strong>bei</strong> der Gretchenfrage angelangt: Kopieren erwerbslose Frauen,<br />

wenn sie sich selbständig machen, genau jene Unternehmensstrategien, die zur<br />

zunehmenden Erwerbslosigkeit von Frauen führen? Gemeint sind all jene Strategien,<br />

die mit Senkung der Personalkosten die Erträge erhöhen. Wohlgemerkt,<br />

die Einsparung bzw. Reduzierung von Personalkosten gehört zu den betriebswirtschaftlichen<br />

Profitstrategien erster Ordnung. Solche Tips sind z.B.: Einsparung<br />

von Büro- und Lohnnebenkosten durch Heimar<strong>bei</strong>terinnen, die ein eigenes<br />

Gewerbe anmelden sollen (eine neue Form selbständiger Ar<strong>bei</strong>t, die wir mit<br />

dem Projekt Frauenbetriebe nicht fördern); oder der Einsatz von sozialversicherungsfreien<br />

Aushilfskräften.<br />

"Pauschalversteuerung und Sozialversicherungsfreiheit ist für Teilzeitkräfte<br />

geradezu ideal. Teilzeitkräfte bieten ihnen zahlreiche<br />

Vorteile:<br />

- sie ar<strong>bei</strong>ten konzentrierter, weil sie ausgeruht zur Ar<strong>bei</strong>t kommen<br />

und ihre Leistungsfähigkeit während der kurzen Ar<strong>bei</strong>tszeit nicht<br />

wesentlich sinkt;<br />

- Ar<strong>bei</strong>tspausen fallen weg;<br />

- das Angebot ist erheblich größer als an Ganztagskräften;<br />

- Teilzeitkräfte sind einmal wegen des größeren Angebots, zum anderen<br />

wegen der Pauschalversteuerung und Sozialversicherungsfreihei<br />

t erheblich billiger als Ganztagskräfte". (Rentrop 1984, S. 83)<br />

Die Teilnehmerinnen unserer Kurse sind alle erwerbslos. Sie sind die Opfer<br />

genau solcher Strategien und lehnen sie rundweg ab. Die Frauen halten den<br />

Ertrag für ein notwendiges, aber nic,ht ausschließliches Betriebsziel. Sie wollen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplätze schaffen, an denen sie sich auch wohlfühlen können. Das heißt,<br />

auch Ar<strong>bei</strong>tsplätze, die die Monotonie und Weisungsabhängigkeit der meisten<br />

Teilzeitar<strong>bei</strong>ten nicht wiederholen. Sie wollen gleichberechtigt und wenig ar<strong>bei</strong>tsteilig<br />

ar<strong>bei</strong>ten, möglichst viele Ar<strong>bei</strong>tsplätze schaffen (keine will allein<br />

ar<strong>bei</strong>ten) und gleiche Stundenlöhne bezahlen bzw. gleiche Beträge entnehmen.<br />

Daß sie diese Haltung Ertragseinbußen kostet, können sie sich leicht ausrechnen.<br />

Das heißt aber nicht, daß in den Beschäftigungsinitiativen keine ungeschützten<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplätze entstehen. Erwerbslose Frauen überlegen sich aber<br />

gründlich, ob es nicht auch anders geht. So sehen die Betriebsplanungen häufig<br />

nur für die Aufbauphase Aushilfskräfte vor. Oft haben wir auch festgestell t,


- 88 -<br />

daß Frauen mit Aushilfskräften anders umgehen: so z.B. in einem Darmstädter<br />

Cafe, in dem jede der drei Besitzerinnen 1400,- DM im Monat entnimmt - was<br />

ei nem Stundensatz von etwa 8,- DM entspricht - und an ihre Aushilfskräfte<br />

15,- DM pro Stunde bezahlt.<br />

Wir können festhalten: Indem erwerbslose Frauen <strong>bei</strong> der Gründung eigener<br />

Betriebe die Unternehmensstrategien, die zu ihrer eigenen Erwerbslosigkeit<br />

geführt haben, kritisieren und jedenfalls nicht ohne existenzielle Not übernehmen,<br />

verändern sie die Anforderungen an die Ar<strong>bei</strong>t als Selbständi ge. Neben<br />

der Orientierung am Ertrag werden neue Zielbestimmungen für die Betriebe<br />

formuliert.<br />

Außer diesen aus den Ar<strong>bei</strong>tsmarkterfahrungen resultierenden Zielbestirnmungen<br />

gibt es Betriebsziele, die aus dem Ar<strong>bei</strong>tsbereich in der Familie und<br />

einer für diesen Ar<strong>bei</strong>tsbereich qualifizierenden geschlechtsspezifischen Sozialisation<br />

herrühren. Diese Ziele werden auf der Grundlage jener intrinsischen<br />

Fähigkeiten und Interessen formuliert, die die Ar<strong>bei</strong>t mit den Kindern erst ermöglicht:<br />

die Personenbezogenheit, das Einfühl ungsvermögen, die nicht profitorientierte<br />

Ar<strong>bei</strong>t, die sozialen Interessen, die Verantwortung für die Qualität<br />

der eigenen Ar<strong>bei</strong>tsprodukte (z.B. nicht giftig und nicht scharfkantig). Diese<br />

Interessen und Fähigkeiten lassen sich dem betriebswirtschaftlichen Repertoire<br />

ni cht ohne weiteres unterordnen. Bei der Planung ihrer Betriebe überlegen die<br />

Frauen z.B., was im Stadtteil gebraucht wird, wie sie ihre Produkte möglichst<br />

billig machen können, Plätze für Kinder in den Geschäften schaffen, wo die<br />

Zeit für Gespräche hergenommen werden kann, und wie sie umweltfreundlich<br />

produzieren. Solche UberIegungen stehen im klaren Widerspruch zu der Gewinnmaximierung.<br />

Bei der Planung und Realisierung ihrer Beschäftigungsinitiativen<br />

müssen die Frauen für diesen Widerspruch eine Lösung finden, die ihnen einen<br />

ex istenzsichernden Ar<strong>bei</strong>tsplatz verspricht, ohne daß sie auf soziale und kommunikative<br />

Interessen verzichten müssen.<br />

Langfristig gedacht, dürften Betriebe, die soziale und kommunikative Anteile<br />

realisieren, eine ernstzunehmende Konkurrenz gegenüber den verödeten<br />

Stätten stummen Wareneinsammelns sein. Frauen, die sich den Widersprüchen<br />

zwischen sozialen und betriebswirtschaftlichen Zielen stellen, ar<strong>bei</strong>ten damit<br />

auch an einer neuen Qualität betrieblichen HandeIns. Auf diesem Weg führen<br />

di e weiblichen Ar<strong>bei</strong>tserfahrungen in Beruf und Familie zu neuen Uberlegungen<br />

für die Betriebe. Es verändert sich auf diese Weise die Qualität von Ar<strong>bei</strong>t -<br />

di es weniger ein Fazit als eine Hoffnung.


- 89 -<br />

6. Frauenbetriebe - Ein Weg in ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse?<br />

Auf den ersten Blick erübrigt sich das Fragezeichen hinter der Uberschrift: Für<br />

die Gründungs- und Anfangsphase der Beschäftigungsinitiativen langzeiterwerbsloser<br />

Frauen gilt in der Regel die gewerkschaftliche Kritik von der<br />

Selbstausbeutung im eigenen Betrieb. Die Frauen ar<strong>bei</strong>ten länger als in vergleichbaren<br />

abhängigen Tätigkeiten, sie bekommen dafür zudem weniger Geld,<br />

sind fast immer nicht renten- und ar<strong>bei</strong>tslosenversichert, und es fehlen Ausund<br />

Weiterbildungsmöglichkeiten.<br />

Gleichzeitig aber wird mit dieser Ar<strong>bei</strong>t ein Ziel verfolgt, das mit abhängiger<br />

Ar<strong>bei</strong>t nicht erreicht werden kann: Ar<strong>bei</strong>tsplätze zu schaffen, die auf<br />

Dauer die Existenzsicherung leisten und zudem in der Ausgestaltung von den<br />

Frauen bestimmt werden können. Mit anderen Worten, Ar<strong>bei</strong>tsplätze, die nicht<br />

vom Alter, von Fehlentscheidungen, vom Engagement und der Fachkompetenz<br />

einzelner Betriebsbesitzer oder Geschäftsführer abhängig sind. In den Beschäftigungsinitiativen<br />

können die dort Ar<strong>bei</strong>tenden selbst Schritte für die Sicherung<br />

ihrer Ar<strong>bei</strong>tsplätze tun. Damit soll nicht das Hohe Lied auf das freie Untern ehmerinnentum<br />

gesungen werden. Selbständige Frauen sind von der konj unkturel­<br />

Ien Lage, Irrationalitäten und ökonomischen Zwängen des Marktes unmittelbar<br />

abhängig. Im Rahmen dieses wirtschaftlichen Diktats wird die Existenzsicherung<br />

von Selbständigen jedoch weitgehend von der Rationalität der eigenen Handl ungen<br />

bestimmt. Dies und die Möglichkeit der Entscheidung über Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />

und Ar<strong>bei</strong>tsinhalte sollte nicht unterschätzt werden. Das gilt insbesondere<br />

für die Frauen, die nicht die Berufsbiographien haben, für die die Regelungen<br />

geschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse gemacht sind. Für diese Frauen ist es ein Vorteil,<br />

wenn sie selbst entscheiden können, ob sie sich sozialversicherungspflichtige<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplätze einrichten oder nicht. Für Frauen, die 15 Jahre lang ihre<br />

Kinder großgezogen haben, ist es <strong>bei</strong>spielsweise fast immer günstiger, sich privat<br />

zu versichern als in die Rentenversicherung einzuzahlen. Der Begriff ungesc<br />

hützter Ar<strong>bei</strong>tsplätze ist relativ. Er bemißt sich an sogenannten geschützten<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen, nicht aber an den weitergehenden Sicherungsmöglichkeiten<br />

und Entscheidungsspielräumen von Selbständigen. Die Ziele, die Frauen mit<br />

der Selbständigkeit verfolgen, müssen angesichts des miserablen Ar<strong>bei</strong>tsplatzangebots<br />

mit zu wenigen und zudem monotonen, minderbezahlten, weisungsabhängigen<br />

und dequalifizierten Tätigkeiten nicht weiter begründet werden. Mit den<br />

eigenen Betrieben wollen die Frauen sich Ar<strong>bei</strong>tsplätze schaffen, die nicht nur


- 90 -<br />

quantitativ, sondern auch qualitativ eine Alternative zu diesem Ar<strong>bei</strong>tsplatzangebot<br />

sind. Das Fragezeichen hinter der Uberschrift signalisiert also mehr: den<br />

Zweifel nämlich, ob wir es <strong>bei</strong> der Forderung nach geschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen<br />

bewenden lassen sollten. Das hieße nämlich, die Fragen nach den Ar<strong>bei</strong>tsinhalten,<br />

den Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen und der betrieblichen Herrschaft außen<br />

vo r zu lassen.<br />

LITERATUR<br />

Haas, L./Krieger, G.: Dokumentation - Qualifizierungskurs zur beruflichen Selbständigkeit<br />

von Frauen. Frankfurt 1986 (Nachdruck 1987)<br />

Haas, Lu: Gründerinnenjahre. Zur Ausgrenzung von Frauen aus der Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

und ihren Folgen für die Gründung von Frauenbetrieben. In: BBJ-Consu<br />

lt, Info Nr. 8. Berlin 1986<br />

Dies.: Zwischen Größenwahn und Kleinmut. Vortrag auf der Fachkonferenz II -<br />

Frauen machen sich selbständig. Dokumentation: Der Senator für Jugend<br />

und Familie - Die Frauenbeauftragte - Berlin 1987<br />

Ren trop, Norman: Der Erfolgsberater . Bonn 1982<br />

Ders.: Tips zur Unternehmensgründung. Bonn 1984


- 91 -<br />

Mirjana Mor"kvä',ic<br />

AUSL]\NDISCHE FRAUEN: SELBST]\NDIGKEIT -<br />

PRIVILEG ALS UBERLEBENSSTRA TEGIE 1<br />

Selbständige Ausländer stellen weniger als 1 % aller Beschäftigten in der Bundesrepublik<br />

dar: etwas über 100.000 gegenüber drei Millionen deutschen Männern,<br />

ca. 30.000 gegenüber mehr als einer Million deutschen Frauen (Statistisches<br />

Bundesamt 1983). Da so wenig Ausländer selbständig sind (übrigens, viel<br />

weniger als in anderen europäischen Ländern) und angesichts der v • . en Voraussetzungen,<br />

die sie dafür erfüllen müssen, erscheint wirtschaftliche Selbständigkeit<br />

als ein Privileg, das nur wenigen zugänglich ist. Wenn man noch davon<br />

ausgeht, daß ein großer Teil der Ausländerinnen und Ausländer von ungeschützten<br />

Ar<strong>bei</strong>ts- und/oder Aufenthaltsverhältnissen betroffen ist, mag ein Bericht<br />

über Selbständige als ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse unter Ausländerinnen<br />

peripher erscheinen, weil diese winzige Gruppe der "Privilegierten" kaum für<br />

die große Mehrheit repräsentativ sein könnte.<br />

In meinen Ausführungen werde ich zuerst in einem Vergleich zu den deutschen<br />

Frauen, bezogen auf den Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und zur Selbständigkeit,<br />

die ungeschützte Lage der Ausländerinnen insgesamt vorstellen. Danach<br />

werde ich mich gezi elt mit der Problematik selbständiger Ausländerinnen und"<br />

Ausländer (eine "privilegierte Minderheit?") auseinandersetzen, um die Wahl<br />

di eser Gruppe in unserem Kontext zu begründen. Auf der Basis einiger Ergebnisse<br />

unserer Studie über Flickschneidereien 2 in West-Berlin und aus anderen<br />

Ar<strong>bei</strong>ten werden einige Vorschläge gemacht, um zur Zeit existierende und gepl<br />

ante Maßnahmen, Beratungs- und Weiterbildungseinrichtungen für selbständige<br />

Frauen auch für Ausländerinnen zugänglich und attraktiv zu machen.<br />

1. Ausländerinnen und Deutsche: wer darf selbständig werden?<br />

Die ausländischen Frauen haben viel gemeinsam mit den deutschen Frauen,<br />

wenn es um die geschlechtsspezifische Diskriminierung in dieser Gesellschaft<br />

geht. Ich begrüße es, daß sie innerhalb dieser Tagung nicht als eine völlig getrennte<br />

Zielgruppe angesprochen wurden, wie es üblich ist. Trotzdem, es ist


- 92 -<br />

wichtig, die erheblichen Unterschiede nicht aus der Sicht zu verlieren, wenn<br />

man von ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen und vom Zugang zu Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

und Sel bständigkeit spricht: als rechtliche Grundlage ihrer Existenz gilt für die<br />

deutschen Frauen die Verfassung, für die Ausländerinnen das Ausländergesetz,<br />

das die Aufenthaltserlaubnis und Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis regelt. Angesichts dieser<br />

rechtlichen Grundlage kann man die Ausländer und Ausländerinnen in drei<br />

Gruppen teilen:<br />

- diejenigen mit Aufenthalts- und Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis,<br />

- diejenigen, die nur die Aufenthaltserlaubnis besitzen, und<br />

- Ausländer/innen, die sich nur kurzfristig, als "Touristen", in der BRD aufhalte<br />

n oder illegal hier leben und ar<strong>bei</strong>ten.<br />

Es ist klar, daß die dritte Gruppe am wenigsten geschützt und am stärksten<br />

verunsichert ist. Sie hat keinen legalen Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Da der<br />

Aufenthalt in der BR D rechtlich nicht gesichert ist, sind die Zugehörigen dieser<br />

Gruppe als zukünftige Selbständige nur marginal und könnten unberücksichtigt<br />

bleiben. Für unseren Vergleich mit den Deutschen ist aber zu betonen, daß<br />

sich kaum jemand unter ihnen in der Lage dieser Ausländer/innen befindet.<br />

Die zweite Gruppe ist im Grunde genommen auch nicht mit den Deutschen<br />

vergleichbar: zu dieser Gruppe gehören die Ausländer und besonders die Ausländerinnen,<br />

die als Familienangehörige nach Deutschland eingereist sind und<br />

keinen (oder noch keinen) legalen Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt haben. Ihr


- 93 -<br />

Lediglich die erste Kategorie der Ausländer/innen ist in gewissem Maße<br />

mit den Deutschen vergleichbar. Auch hier sind aber wesentliche Unterschiede<br />

zu betonen:<br />

- Auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt haben die Deutschen Priorität und einige Ausländer<br />

Vorrang vor anderen.<br />

- Nicht alle Erwerbstätigkeiten sind Ausländern zugänglich. Die selbständige<br />

Erwerbstätigkeit ist im Grunde genommen nur den Ausländern mit der Aufenthaltsberechtigung<br />

gestattet. Nur in seltenen Fällen werden "Ausnahmebewi<br />

lligungen" auch erteilt, wenn diese Voraussetzung nicht besteht.<br />

- Im Falle der Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit, d.h. wenn die materielle Existenz nicht mehr<br />

gesichert ist, gerät selbst der Aufenthalt der Ausländer in Gefahr. Gewiß,<br />

ni cht alle von der Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit betroffenen Ausländer werden ausgewiesen,<br />

aber durch die Tatsache, daß diese Möglichkeit besteht, fühlen sich alle<br />

bedroht und verunsichert.<br />

Die selbständige Erwerbstätigkeit kommt ohnehin nur für einen Teil dieser<br />

dri,tten Gruppe in Frage: für die Frauen, denen rechtlich eine selbständige Tätigkeit<br />

zugänglich ist. Zur Zeit ist diese Quelle potentieller selbständiger ausländischer<br />

Frauen noch ziemlich klein, aber sie wird in der Zukunft immer größer<br />

werden: mehr und mehr Ausländer erfüllen die rechtlichen Voraussetzungen,<br />

für sich selbst Jobs zu schaffen.<br />

2. Selbständige Ausländerinnen: eine "privilegierte Minderheitl'?<br />

Wir haben bereits festgestellt, daß es sich um eine Minderheit handelt, die<br />

auch verhältnismäßig "privilegiert" ist. Warum aber von einer privilegierten<br />

Minderheit sprechen, wenn schon andere ausländische Frauen unter viel prekäreren<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen leiden oder sogar überhaupt keine Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

ausüben dürfen? Die selbständigen Ausländer stellen gewiß eine Minderheit dar,<br />

aber diese Minderheit ist im Wachsen begriffen. In anderen Ländern wie den<br />

US A und Frankreich ist festgestellt worden, daß die Einwanderer nach einer<br />

gewissen Zeit zur Selbständigkeit tendieren (Light 1972, Waldinger 1986, Simon<br />

1985, Schorr 1985). In der BRD hat dieser Trend bis jetzt wenig Aufmerksamkeit<br />

gewonnen, und dies hat wahrscheinlich damit zu tun, daß hier dieser Trend<br />

viel schwächer ausgeprägt ist angesichts der rechtlichen Barrieren zur Selbständigkeit,<br />

die für die Ausländer in der BRD viel größer sind als in Frankreich


- 94 -<br />

oder in den USA. Neuere Berichte und Forschungen machen deutlich, daß die<br />

Ausländer nicht nur als abhängige Ar<strong>bei</strong>tnehmer, sondern auch als Selbständige<br />

tätig sind und damit als Ar<strong>bei</strong>tgeber auftreten (Bericht zur Ausländerbeschäftigu<br />

ng 1986, Sen 1986, Blaschke/Ersötz 1986, Autorengemeinschaft 1983). Die<br />

amtlichen Daten dafür fehlen noch, und es ist zu bedauern, daß auch die neueste<br />

Repräsentativuntersuchung von 1985 (1986) wie die früheren (1981 und<br />

1973) kaum Daten über sel bständige Ausländer bietet. Selbständigkeit ist nur<br />

als "Zukunftsplan" erwähnt, wo<strong>bei</strong> etwa 8% Ausländer (5% unter Frauen) planen,<br />

sich selbständig niederzulassen.<br />

Trotz einer Verbesserung der rechtlichen Situation der Ausländer seit<br />

1980 (nur noch ein Viertel von ihnen besitzt eine befristete Aufenthaltserlaubnis),<br />

verfügt nur ein kleiner Anteil der Ausländer über eine Aufenthaltsberechtigung.<br />

Nach den Angaben der Repräsentativuntersuchung von 1985 ist der Anteil<br />

der Ausländer, die eine Aufenthaltsberechtigung haben, seit 1980 zehnfach<br />

gestiegen (von 2,3% auf 23,3%). Nach Angaben des Bundesministeriums für Ar<strong>bei</strong>t<br />

von 1985 besaßen nur 10,9% der Ausländer eine Aufenthaltsberechtigung<br />

und ca. 40% eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Ob aber 10% oder knapp<br />

ein Viertel, diese Zahlen sind niedrig angesichts der Tatsache, daß viel mehr<br />

Ausländer die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung<br />

erfüllen. Vermutlich haben Ausländer oft keine genaue Kenntnis ihrer rechtlichen<br />

Situation und nehmen ihre Rechte nicht in Anspruch.<br />

Da sich die Anzahl der Ausländer, die eine Aufenthaltsberechtigung besitzen,<br />

ebenso wie die Anzahl derer, die in der Lage sind, sie zu erlangen, erheblich<br />

erhöht hat, ist zu erwarten, daß in Zukunft mehr Ausländer ihre Chance<br />

als Sel bständige nutzen werden. Hinzu kommt auch die Tatsache, daß mehr und<br />

mehr Ausländer dazu tendieren, sich in der Bundesrepublik niederzulassen. Aufgrund<br />

ihrer rechtlich besser abgesicherten Situation sind sie eher bereit, das<br />

Risiko, das mit einer selbständigen Tätigkeit verbunden ist, in Kauf zu nehmen.<br />

Der Anwerbestop der westlichen Aufnahmeländer 1974 hat die Niederlassung<br />

der Ausländer in diesen Ländern verstärkt: die ehemals nur auf Zeit angeworbenen<br />

Ar<strong>bei</strong>ter bleiben. Für einige bedeutet es gleichzeitig eine Stabilisierung<br />

ihres Aufenthaltes, eine rechtliche Sicherung. Viele aber sind von der<br />

Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit betroffen oder bedroht, als Folge der wirtschaftlichen Krise<br />

und der industriellen .Restrukturierung. Hinzu kamen, auch mit der Absicht zu<br />

bleiben, weitere Gruppen der ausländischen Bevölkerung: Familienangehörige,


- 95 -<br />

Flüchtlinge, Asylsuchende und illegale Einwanderer, die keinen oder nur begrenzten<br />

Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt haben.<br />

Diese verunsicherten Gruppen stellen ein großes ungeschütztes A : <strong>bei</strong>tskräftepotential<br />

dar. Sel bständigkeit ist für einige Ausländer die einzige Chance<br />

zum sozialen Aufstieg und Ausweg aus unbefriedigenden Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnissen.<br />

Für andere wiederum ist die Sel bständigkeit die einzige Alternative zur<br />

Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit, d.h. die einzige Möglichkeit zum Verbleib am Ar<strong>bei</strong>tsmarkt,<br />

vielfach die Voraussetzung für einen weiteren Aufenthalt in der BRD. Bezogen<br />

auf die Möglichkeiten derjenigen, die keinen Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt haben,<br />

erscheint tatsächlich die Selbständigkeit als ein Privileg. In Wirklichkeit ist es<br />

für die Mehrheit, besonders für die Frauen, nur eine Uberlebensstrategie.<br />

Die Gruppen ohne Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis bilden zudem ein leicht verfügbares<br />

Ar<strong>bei</strong>tskräftepotential für diese neuen Betriebe und das wichtigste Element<br />

der sog. ethnischen Ressourcen. Empirische Befunde aus den USA (Light 1974,<br />

1985 , 1986, Waldinger 1986) belegen, daß Mitglieder ethnischer Minderheiten,<br />

di e gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt sind,<br />

um so eher zu Betriebsgründungen neigen, wenn sie Zugang zu ethnischen Ressourcen<br />

haben. Anders gewendet, Mitglieder ethnischer Minderheiten mit begrenztem<br />

Zugang zum formalen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt (z.B. wegen Sprachproblemen oder<br />

fehlenden formalen Qualifikationen), insbesondere zu den ihren Fähigkeiten<br />

entsprechenden Ar<strong>bei</strong>tsplätzen, werden sich wahrscheinlich für die Selbständigkeit<br />

entscheiden, vorausgesetzt, sie haben durch informel le Netzwerke Zugriff<br />

auf billige verwandtschaftliche oder landsmannschaftliche Ar<strong>bei</strong>tskräfte und<br />

Zugang zu anderen für ihre Gruppe spezifischen Ressourcen (Solidarität, besondere<br />

Kenntnisse usw.).<br />

3. Selbständige .in Flickschneidere.ien<br />

Flickschneiderei ist ein handwerksähnlicher Bereich, der, wie das noch existierende<br />

Bekleidungsgewerbe in einigen Großstädten anderer Länder eine von<br />

wenigen Zugangsmöglichkeiten zur Selbständigkeit der Ausländer darstellt. Bislang<br />

haben die mehr sichtbaren Bereiche wie Gaststätten und Lebensmittelgeschäft<br />

die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Forscher gewonnen. Im<br />

deutschen Kontext der sehr begrenzten Zugangsmöglichkeiten zu ökonomischer<br />

Selbständigkeit für Ausländer stellt die Flickschneiderei einen interessanten


-<br />

- 96 -<br />

Fall dar: dank einem außerordentlich günstigen Zusammenhang von Bedingungen<br />

ist dieser Bereich zu einem Absorptionsfeld für die von der Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit im<br />

Bekleidungsgewerbe betroffenen Ausländer geworden. Zum einen wurde durch<br />

die Restrukturierung und Schließung der Betriebe in Bekleidungsindustrie und<br />

-handwerk ein großes qualifiziertes Ar<strong>bei</strong>tskräftepotential "freigesetzt". Im<br />

Gegensatz zu Industrie und Handwerk, wo wegen der desolaten Wirtschaftslage<br />

der Berliner Bekleidungsindustrie oder aufgrund der formalen Hürden im Handwerk<br />

eine Niederlassung als Selbständige kaum in Frage kam, bot der handwerksähnliche<br />

Bereich mit seinen geringeren Barrieren einen relativ leichten<br />

Zugang zur Selbständigkeit. Die Meisterprüfung ist nicht erforderlich, und<br />

schon die nur unbefristete Aufenthaltserlaubnis gnügt, um eine "Ausnahmebewilligung"<br />

zur Eröffnung einer Flickschneiderei zu bekommen. Einrichtung und<br />

Eröffnung eines solchen Betriebes erfordern nur mäßigen Kapitalbedarf: die<br />

Gewerberäume stehen zu noch relativ günstigen Preisen zur Verfügung, und die<br />

Ausstattung wi rd meist von den ehemaligen Inhabern übernommen. Zu diesen<br />

leichten Zugangsmöglchkeiten kommt auch eine sehr günstige Nachfrage; die<br />

neuen Selbständigen kamen im richtigen Moment. Sie konnten über eigene Qualifikationen<br />

verfügen, aber auch auf die ihrer Familienangehörigen, nämlich<br />

Frauen, und ihrer Landsleute zur ückgreifen.<br />

In vielen Städten der BRD ist die Flickschneiderei deswegen zu einer ökonomischen<br />

Nische für die Ausländer geworden. In Berlin ist die Zahl der Flickschneidereien<br />

von 12 (1966) auf 492 (1985) gestiegen; 60% der Inhaber sind<br />

Ausländer. Sie ist damit einer der wenigen Bereiche, in denen Ausländer gegenüber<br />

Deutschen deutlich überwiegen. Wir konnten in Berlin einen sehr großen<br />

Anteil an Frauen nachweisen: unter deutschen Inhabern 82% und unter ausländischen<br />

36,7%. Dieser Anteil entspricht etwa dem der Ausländerinnen unter den<br />

abhängig beschäftigten Ausländern und weist darauf hin, daß di e Selbständigkeit<br />

unter bestimmten Bedingungen den ausländischen Frauen wie den Männern<br />

zugänglich ist. Da die Mehrzahl der Frauen im Gegensatz zu den Männern nicht<br />

über einen Berufsausbildungsabschluß verfügt und eher häuslich oder betrieblich<br />

angelernt ist, wie unsere Fel dforschung nachweist, ist dieser Anteil der ausländischen<br />

Frauen unter Flickschneidern bemerkenswert. Die Jugoslawinnen kamen<br />

meistens nach Deutschland als Ar<strong>bei</strong>terinnen. Sie wurden für verschiedene Industrien,<br />

darunter auch die Bekleidungsindustrie, angeworben. Die Türkinnen, die<br />

wi r als Inhaberinnen interviewt haben, kamen meistens als Familienangehörige.<br />

Während unter den Jugoslawinnen einige qualifizierte Schneiderinnen seit Jah-


- 97 -<br />

ren ihre Anderungsschneidereien eröffnet hatten, haben andere erst als ungelernte<br />

und angelernte Ar<strong>bei</strong>terinnen im Bekleidungsgewerbe gear<strong>bei</strong>tet (manche<br />

auch erst in anderen Industrien). In den Betrieben, die sie leiten, ar<strong>bei</strong>ten diese<br />

Frauen meistens allein. Im Gegensatz zu Männern, die über registrierte Angestellte<br />

oder mithelfende Familienangehörige verfügen (heute weniger als früher),<br />

haben die Frauen keine festangestellten Mitar<strong>bei</strong>ter, berichten aber über<br />

gelegentliche Aushilfe durch weibliche Verwandte oder Bekannte.<br />

Als Grund für die Selbständigkeit in den Anderungsschneidereien erwähnt<br />

die Mehrzahl der Frauen die Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes. Bei zwei<br />

Frauen dient das Unternehmen vorrangig materiellen Interessen ihres Ehemannes:<br />

in einem Fall hat er selbst keine Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis, im anderen soll über die<br />

Flickschneiderei das Startkapital für seinen geplanten Baubetrieb angesammelt<br />

werden; in diesem Falle ist der Mann als Inhaber registriert, die Frau hat nur<br />

eine befristete Aufenthalts- und Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis und ist nicht als "Mitar<strong>bei</strong>terin"<br />

gemeldet, obwohl sie die einzige ist, die die Ar<strong>bei</strong>t leistet. Daß die Frauen<br />

als unsichtbare Ar<strong>bei</strong>tskräfte dem "gemeinsamen" Zweck di enen, häufig, weil<br />

sie keine Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis besitzen, haben wir auch in anderen Fällen beobachtet<br />

(Morokvasic 1987).<br />

4. Diskussion und Vorschläge<br />

Ob die ausländischen Frauen auch als unabhängige Selbständige ar<strong>bei</strong>ten können<br />

und nicht überwiegend als mithelfende Familienangehörige, hängt auch davon<br />

ab, ob die verschiedenen Maßnahmen sie und ihre Besonderheiten unter der<br />

Zielgruppe "Frauen" oder Zielgruppe "Ausländer" nicht verschwinden lassen.<br />

Ihre Probleme sind nur unzureichend selbst durch Maßnahmen zu lösen, die<br />

Frauen als Zielgruppe haben. Es muß wahrgenommen werden, daß sie auch gegen<br />

andere Hindernisse stoßen, die mit ihrem Ausländerstatus zu tun haben, die<br />

aber nicht unüberwindbar sind. Bislang haben existierende Beratungsstellen und<br />

Weiterbildungseinrichtungen kaum Erfahrung mit den ausl ändischen Frauen gesammelt.<br />

Das ist nicht überraschend: erstens, bislang waren Selbständige auch<br />

unter deutschen Frauen auf einen engeren Kreis begrenzt, zweitens erfüllen,<br />

wi e wir bereits gesehen haben, relativ wenige Ausländerinnen die rechtlichen<br />

Voraussetzungen für eine selbständige Erwerbstätigkeit, und dadurch kommen<br />

sie nicht di rekt als Ansprechpartnerinnen in Frage.


- 98 -<br />

Wenn man von Forderungen, bezogen auf Selbständigkeit der Ausländerinlen<br />

spricht, muß man zwischen zwei Zielgruppen als potentielle Ansprechpart-<br />

1erinnen unters heiden und die Forderungen entsprechend gliedern:<br />

Die erste und die größte Zielgruppe stellen die Ausländerinnen dar, die noch<br />

keine Aufenthaltsberechtigung besitzen. Um di e Ausländerinnen aus dieser<br />

Gruppe mehr einzubeziehen, wäre es sinnvoll, eine Aufklärungsar<strong>bei</strong>t zu mach<br />

en, um interessierte Frauen, die noch keine Aufenthaltsberechtigung besitzen,<br />

aber die Voraussetzungen da für erfüllen, zu beraten. Diese Aufklärungsar<strong>bei</strong>t<br />

würde die Beratungsstellen nicht belasten, denn es geht um kurze<br />

und einfache Auskünfte. Da in einigen Bereichen SeI bständigkeit auch<br />

ohne Aufenthaltsberechtigung gestattet ist, würde der Kreis der interessierten<br />

Ausländerinnen noch erweitert, wenn ihnen diese Auskunft zugänglich<br />

wäre. Auch die ausländischen Frauen, die noch keine Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis haben,<br />

aber für die die Wartezeit abgelaufen ist, könnten daran interessiert sein,<br />

sich selbständig zu machen; viele von ihnen ar<strong>bei</strong>ten zur Zeit aber schwarz.<br />

Die zweite Zielgruppe der Ausländerinnen, die eine Aufenthaltsberechtigung<br />

haben, sind öfter mit ähnlichen Problemen wie die deutschen Frauen konfrontiert,<br />

aber nicht nur damit. Ihnen fehlt oft die Auskunft über existierende<br />

Möglichkeiten (die sowieso gering sind). Aber auch, wenn sie diese Auskunft<br />

haben, mag es sein, daß sie sie nicht in Anspruch nehmen, weil sie denken,<br />

"es wäre nicht für sie". Wegen ihrer sozio-kulturell-politischen Herkunft sind<br />

sie weniger darauf vorbereitet, Selbsthilfeinitiativen zu starten oder sich<br />

beraten bzw. betreuen zu lassen. Da sie nicht aus einem "welfare state"<br />

kom men, erwarten sie auch nicht, daß sie möglicherweise irgendwie unterst<br />

ützt werden könnten. Es mag auch sein, daß sie fürchten, auf eine in der<br />

Öffentlichkeit sehr verbreitete Vorstellung über di e Ausländerinnen zu stoßen:<br />

ungebildet, fast Analphabetinnen, nicht erwerbstätig, noch fremd und<br />

unerfahren in der modernen industriellen Gesellschaft, stumme isolierte Opfer<br />

ihrer Traditionen usw. Diese Vorstellung entspricht nicht der Realität:<br />

mehr als die Hälfte der Ausländerinnen ist erwerbstätig und hat schon mehrjährige<br />

Erfahrungen in der industriellen Welt; viele sind als Ar<strong>bei</strong>terinnen<br />

nach Deutschland gekommen. Um di e existierenden und in Zukunft geplanten<br />

Proj ekte und Einrichtungen auch den Ausländerinnen zugänglich zu machen,<br />

wäre ein wichtiger Schritt, sie besser kennenzulernen und dadurch sich von<br />

den falschen Vorstellungen zu befreien. Beratungs- und Weiterbildungsangebote<br />

sind dann für die ausländischen Frauen besonders hilfreich, wenn sie


- 99 -<br />

von den vorhandenen Qualifikationen oder Fähigkeiten ausgehen, die <strong>bei</strong> der<br />

Gründung eines Betriebes wichtig sein können, auch wenn sie nicht immer<br />

formal nachweisbar sind. Die Frauen, die wir als Sel bständige kennen, haben<br />

ihre Betriebe all eine, ohne irgendeine Hilfe gegründet und leiten sie ohne<br />

direkt dafür in Deutschland erworbene Kenntnisse. Das Startkapital haben<br />

sie innerhalb des familiären Netzwerks gesammelt; einige machen ihre eigene<br />

Buchhaltung, einige zahlen jemanden dafür, sowie auch <strong>bei</strong> der Steuerberatung.<br />

Die Erfahrungen, die sel bständige ausländische Frauen in der BR D gemacht<br />

haben, die Besonderheiten und die Probleme, die mit ihrem Status als<br />

Ausländerin scheinbar verbunden sind, könnten für alle Frauen aufschlußreich<br />

sein und könnten zu Veränderungsvorschlägen führen, die für alle Frauen von<br />

Interesse wären.<br />

ANMERKUNGEN<br />

Dieses Papier bezieht sich teil weise auf meine mehrjährige Forschung über<br />

ausländische Frauen in der BR D und Frankreich (Morokvasic 1980 und 1987)<br />

und auf eine gemeinsame Studie, die ich mit Hedwig Rudolph in Berlin<br />

durchgeführt habe. Meine Ar<strong>bei</strong>t in Berlin wurde durch ein Alexander-von­<br />

Humboldt-Stipendium 1984/85 unterstützt. Ich danke der Stiftung und der<br />

Technischen Universität Berlin für die Unterstütz ung sowie der Handwerkskammer<br />

Berlin für die Zugangsmöglichkeit zu den Daten.<br />

2 Die Mehrheit der in der Öffentlichkeit bekannten Anderungsschneidereien<br />

sind in Wirklichkeit Flickschneidereien. Genehmigungen zu ihrer Eröffnung<br />

si nd an wenige Voraussetzungen gebunden. Die von der Handwerkskammer<br />

zugelassenen Leistungen sind enger definiert als <strong>bei</strong> Anderungsschneidereien.<br />

LITERATUR<br />

Beauftragte der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Ar<strong>bei</strong>tnehmer<br />

und ihrer Familienangehörigen: Bericht zur Ausländerbeschäftigung.<br />

In: Mitteilungen, September 1986<br />

Blaschke, J./Ersöz, A.: The Turkish Economy in West Berlin. In: International<br />

Small Business Journal. Spring 1986<br />

Bundesminister für Ar<strong>bei</strong>t und Sozialordnung: Situation der ausländischen Ar<strong>bei</strong>tnehmer<br />

und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Repräsentativuntersuchung '85. Forschungsbericht 133<br />

Sen, Faruk: Was leisten Ausländer für die deutsche Wirtschaft? In: Das Parlament<br />

36 (1986) 3


- 100 -<br />

Light, H. Ivan: Immigrant entrepreneurs in America: Koreans in Los Angeles.<br />

In: Glazer, N. (ed.): Glamor at the Gates. San Francisco 1985<br />

ders.: Ethnic Entreprise in America. Berkeley, Los Angeles, London 1972<br />

ders.: Ethnicity and Business Entreprise. In: Stolarik, M./Murray, F. (eds.):<br />

Making it in America. London and Toronto 1986<br />

Morokvasic, Mirjana: Yugoslav Women in France, FR Germany and Sweden.<br />

Study report, mimeo, CNRS-FNSP. Paris 1980<br />

di es.: Emigration und Danach: Jugoslawische Frauen in Westeuropa. Frankfurt/Main<br />

1987<br />

Morokvasic, M./Phizacklea, A./Rudolph, H.: Small Firms and Minority Groups:<br />

Contradictory Trends in the French, German and British Clothing Industries.<br />

In: International Sociology 1 (1986) 4<br />

Simon, Gi/des: L'espace des travailleurs tunisiens en France. Doctoral thesis,<br />

Ed. G. Simon. Poitiers 1979<br />

Sta tistisches Bundesamt: Struktur daten über Ausländer in der Bundesrepublik<br />

Deutschland. Ausgabe 1983<br />

Wal dinger , Roger: The Occupational and Economic Integration of the new Immigrants.<br />

In: Law and Contemporary Problems 45 (1983) 2<br />

Wal dinger, Roger: Through the E ye of a Needle. Immigrants and Entreprise in<br />

New York's Garment Trade. New York 1986


- 101 -<br />

III.<br />

TELE-HEIMARBEIT<br />

Zur Einführung:<br />

Hedwig Rudolph<br />

HEIM - HEIMLICH - UNHEIMLICH: TELE-HEIMARBEIT<br />

1. Modernisierungstendenzen im Spiegel von Ar<strong>bei</strong>tsmarkttheorie und<br />

-statistik<br />

Als vor etwa einem Jahrzehnt in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion<br />

die Vorstellung eines einheitlichen Ar<strong>bei</strong>tsmarktes zu den Akten gelegt<br />

und die Tatsache gespaltener Ar<strong>bei</strong>tsmärkte zur Kenntnis genommen wurde,<br />

bedeutete dies keinen praktischen Fortschritt für die Frauen als hauptsächliche<br />

"Opfer" dieses Phänomens. Die veränderte theoretische Perspektive verdeutlichte,<br />

daß die besondere Krisenbetroffenheit von Frauen in den Selektionskrite·<br />

rien der Betriebe begründet sind, die im Kontext ihrer Rationalisierungsstrategien<br />

Entscheidungen über Einstell ungen und Entlassungen zunehmend an hand<br />

askriptiver Merkmale trafen wie z.B. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter<br />

(Sengenberger 1978). Immerhin war damit einer Argumentation der Boden<br />

entzogen, die den Frauen selbst und ihren angeblich bornierten Ausbildungsund<br />

Beschäftigungswünschen die Schuld an ihren ungünstigen Erwerbsar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />

anlastete.


- 102 -<br />

Seit Beginn der 80er Jahre weisen dagegen die Statistiken unübersehbar<br />

aus, daß Frauen am Ar<strong>bei</strong>tsmarkt Boden gewinnen. Der größte Teil des Beschäftigungszuwachses<br />

im Jahrzehnt 1975-1985 ging zu ihren Gunsten (Krebsbach-Gnath<br />

1983). Freilich erweist sich spätestens auf den zweiten Blick, daß<br />

auch hier Quantität nicht umstandslos in Qualität umschlägt: <strong>bei</strong> einem großen<br />

Teil der neu geschaffenen Erwerbsmöglichkeiten für Frauen handelt es sich<br />

nicht um unbefristete Vollzeitstellen; vielmehr nimmt der Anteil der Ar<strong>bei</strong>tsangebote<br />

zu, <strong>bei</strong> denen bezüg lich eines oder gar mehrerer Merkmale Abstriche<br />

von den Vorteilen und dem Schutz sog. Normalar<strong>bei</strong>tsplätze hinzunehmen sind.<br />

Die Herausbildung grauer bis grau-schwarzer Ar<strong>bei</strong>tsmärkte ist bezüglich ihres<br />

Umfanges und Wachstumstempos schwer zu überblicken, geschweige denn zu<br />

kontrollieren. Das gilt vorzugsweise auch für die Beschäftigungsform, die im<br />

Zentrum dieser Ausführungen und der nachfolgenden vier Beiträge steht: die<br />

Tele-Heimar<strong>bei</strong>t.<br />

2. Tele-Heimar<strong>bei</strong>t: alte Logik in neuem Gewand<br />

Die Unschärfen beginnen bereits <strong>bei</strong> der begrifflichen Abgrenzung: unter diesem<br />

Etikett wird die gesamte Bandbreite von Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen, von der Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

am heimischen Computer, der mit Standleitung an einen Betrieb<br />

angeschlossen ist, bis hin zur häuslichen <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tung z.B. auf Disketten<br />

zusammengefaßt. Insofern ist der anstehende Ausbau eines integrierten schmalbandigen<br />

Digitalen Netzes (IS DN) durch die Bundespost - vorgesehen bis 1988 -<br />

nur begrenzt relevant für die Frage nach Entwicklungstendenzen. Das wesentliche<br />

Merkmal, nämlich die örtliche Trennung individueller Ar<strong>bei</strong>tsplätze vom<br />

Betrieb, kann auf unterschiedlichen technischen Niveaus realisiert werden. Die<br />

Ausbreitung dieser Ar<strong>bei</strong>tsform, so auch die in der Literatur mehrfach formulierte<br />

These, bricht sich nicht primär an technischen Engpässen, sondern am<br />

einzelbetrieblichen Kalkül, welche Wettbewerbsvorteile als Nachfrager nach<br />

Ar<strong>bei</strong>tskräften und/oder als Anbieter von Gütern bzw. Dienstleistungen durch<br />

eine Auslagerung realisierbar sind.<br />

Spä testens an dieser Stelle scheint auf, daß nicht nur der Name, sondern<br />

auch die Logik dieser Ar<strong>bei</strong>tsform der traditionellen Heimar<strong>bei</strong>t entlehnt sind,<br />

sozusagen die Modernisierung einer alten Problemlösung. Erinnern wir uns: Als<br />

mit dem Vordringen der "neuen" Industrien Elektrotechnik und Chemie im letz-


- 103 -<br />

ten Drittel des 19. Jahrhunderts die deutsche Bekleidungsindustrie <strong>bei</strong> den Löhnen<br />

nicht mehr mithalten konnte, wenn sie nicht riskieren wollte, auf den<br />

wi chtigen und expandierenden Exportmärkten preismäßig außer Konkurrenz zu<br />

li egen, engagierte sie verstärkt Ar<strong>bei</strong>tskräfte kostengünstig in Heimar<strong>bei</strong>t<br />

(Krengel 1978). Sie konnte <strong>bei</strong> der Anwerbung auf die wachsende Zahl von<br />

Frauen zurückgreifen, die ihren Männern, Ar<strong>bei</strong>tern in der Metall- und Elektroin<br />

dustrie, vom Land gefolgt waren. Insbesondere in Berlin fanden diese Frauen,<br />

sobald Kinder zu versorgen waren, keine Beschäftigungsmöglichkeit außer als<br />

Heimar<strong>bei</strong>terinnen; ihr "Zuverdienst" war aber zur Sicherung des Familienunterhalts<br />

unabdingbar. Ihre Alternativlosigkeit machte die Heimar<strong>bei</strong>terinnen nahezu<br />

schutzlos gegenüber Ausbeutung, so daß sel bst durch (seltene) Streiks erfochtene<br />

Absicherungen hinterher von den Fabrikanten wieder aufgehoben werden<br />

konnten (Beier 1983). Die die Produktion organisierenden Zwischenmeister -<br />

eine weitere Abfederung der Konfektionäre gegen Marktrisiken - hatten die<br />

Ar<strong>bei</strong>tsvorgänge so parzelliert, daß auch und gerade fachlich nicht geschulte<br />

Frauen eingesetzt werden konnten. Der Rückgriff auf ein ausbeutbares, weil<br />

weder rechtlich noch tarifvertraglich angemessen geschütztes Ar<strong>bei</strong>tskräftepotential<br />

sicherte über Jahrzehnte das Überleben des deutschen Bekleidungsgewerbes<br />

trotz verschärfter internationaler Konkurrenz.<br />

3. Tele-Heimar<strong>bei</strong>t auf dem Vormarsch?<br />

Beinhaltete die traditionelle Heimar<strong>bei</strong>t als Strategie ein Ausweichen vor technischen<br />

und ar<strong>bei</strong>tsorganisatorischen Veränderungen, solange bi llige und willige<br />

Frauenar<strong>bei</strong>t verfügbar war, so nutzt Tele-Heimar<strong>bei</strong>t zwar neue Technik und<br />

Ar<strong>bei</strong>tsorganisationen, aber die Tradition der Ausbeutung ungeschützter Arbe<br />

itskräfte bleibt erhalten - auch hier überwiegend (noch) Frauen.<br />

Die wichtigsten bekannten Einsatzfelder von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t sind in der<br />

BR 0 bislang:<br />

- <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tung, z.B. in der Druckindustrie (meist Frauen),<br />

- Programmierung (überwiegend Männer),<br />

- Übersetzungen (Frauen und Männer),<br />

- Außendienst im Vertrieb (Männer).<br />

Die Argumente für den Ausbau dieser modernen Ar<strong>bei</strong>tsform klingen hehr.<br />

Sie reichen von der Berücksichtigung einiger in ihrer Mobilität eingeschränkter


- 104 -<br />

Ar<strong>bei</strong>tskräftegruppen - insbesondere Familienfrauen, Behinderte und Strafgefangene<br />

- über ressourcenschonende Beschäftigungsexpansion (Reduzi erung von<br />

Kosten und Zeit für Berufsverkehr) bis hin zur Förderung strukturschwacher<br />

Regionen. Zu vermuten steht jedoch, daß ein in der Sozialgeschichte durchgängi<br />

g belegter Gemeinplatz auch hier zutrifft, daß nämlich die Interessen der<br />

Ar<strong>bei</strong>tspla tzanbieter keineswegs deckungsgleich sind mit jenen der Ar<strong>bei</strong>tskraftanbieter<br />

(Hausen 1978). Die Kompromißlinie, die bezüglich der Rahmenbedingungen<br />

von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t realisiert wird, ist Ausdruck der relativen<br />

Machtpositionen. Wie die Praxis ausschaut, und welche Aushandlungsprozesse<br />

dem zugrunde liegen, darüber gibt es in der BRD bislang erst relativ dünne und<br />

unsystematisch gewonnene Befunde.<br />

Noch im Jah re 1982 erstatteten sowohl eine Untersuchung de Bundesministeriums<br />

für Forschung und Technologie (BMFT) als auch die Enquete-Kommission<br />

"Neue Informations- und Kommunikationstechniken" des Deutschen Bundestages<br />

Fehlmeldung in Sachen Tele-Heimar<strong>bei</strong>t. Selbst 1985 wurde die Zahl ent':'<br />

sprechender Ar<strong>bei</strong>tsplätze auf nicht mehr als 200 geschätzt. Aber allein für<br />

Tele-Programmierung wurden im gleichen Jahr bereits 172 Ar<strong>bei</strong>tskräfte ermittelt,<br />

die für 17 Unternehmen (hauptsächlich kleine und mittl ere Softwarehäuser)<br />

beschäftigt waren. Ca. 40 Prozent dieser Plätze waren in Nachbarschaftsbüros<br />

und speziell für Behinderte eingerichtet (Kappus 1986). Die Schätzungen über<br />

den tatsächlichen Bestand allein in dieser Branche liegen <strong>bei</strong> 500 bis 1.000.<br />

Wesentlich für die spärliche empirische Kenntnis von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t sind<br />

das häufig vertraglich vereinbarte Informationsverbot gegenüber Dritten, aber<br />

auch die große Bandbreite möglicher Rechtsformen. In anderen europäischen<br />

Ländern und in Japan ist der Ausbau von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t ebenfalls noch im<br />

Anfangsstadium. Die britische F. International Ltd. ist mit etwa 600 Beschäftigten<br />

die weltweit größte Firma, die Software in Heimar<strong>bei</strong>t entwickelt. Die<br />

weitgehende dezentralisierte Organisation wird als positives Modell angesehen.<br />

Für England insgesamt belegt jedoch eine Studie im Auftrag der nationalen<br />

Gleichstell ungsstelle (EOC) über ausgelagerte Ar<strong>bei</strong>tsplät,ze von weiblichem<br />

Computerfach- und Bedienungspersonal hohe Kosten- und Produktivitätsvorteile<br />

für die Betriebe, denen auf seiten der Frauen nur materielle und soziale Nachteile<br />

gegenüberstanden, insbesondere die Kinderbetreuung - das ausschlaggebende<br />

Motiv für die Wahl dieser Ar<strong>bei</strong>tsform - erwies sich als weitaus problema<br />

tischer denn erwartet (Morgan 1985).


- 105 -<br />

Die umfänglichsten Erfahrungen liegen erwartungsgemäß aus den USA vor.<br />

Während die Volkszählungsdaten von 1980 dort etwa 180.000 Heimar<strong>bei</strong>ter auswi<br />

esen, wurde Ende 1984 die Zahl der elektronischen Fernar<strong>bei</strong>ter auf 7 Mio.<br />

geschätzt; etwa 500 Firmen sollen "Tele-commuting"-Ar<strong>bei</strong>tsplätze eingerichtet<br />

haben. Prognosen rechnen damit, daß dies bis 1990 für 20 Prozent der<br />

Erwerbstätigen die Ar<strong>bei</strong>tsrealität sein wird und bis zur Jahrhundertwende gar<br />

für 40 Prozent (Beck 1985 ).<br />

4. Facetten der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />

Deutsche und ausländische Erfahrungen stimmen darin überein, daß das Qualifikationsniveau<br />

ein wichtiges Differenzierungskriterium <strong>bei</strong> Tele-Heimar<strong>bei</strong>t ist,<br />

wo<strong>bei</strong> die Chancen zur befriedigenden Gestaltung der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen regel<br />

mäßig mit der Qualifikation steigen (vgl. Goldmann/Richter, Schuster und<br />

Diseher in diesem Band). Nicht umstandslos können Heimar<strong>bei</strong>tskräfte allerdings<br />

damit rechnen, daß ihre Fähigkeiten finanziell angemessen honoriert werden.<br />

Häufig genug nutzen Betriebe ihre Vorqualifikationen, etwa die Kenntnis betriebsspezifischer<br />

Ar<strong>bei</strong>tsabläufe zum Nulltarif. Die Praxis, eher standardisierte<br />

Teilaufgaben auszulagern - auch <strong>bei</strong> anspruchsvollen Ar<strong>bei</strong>ten -, wirkt sich<br />

zudem tendenziell dequalifizierend für die Tele-Heimar<strong>bei</strong>tskräfte aus.<br />

Als kritischer Faktor für die Verteilung der Vor- und Nachteile erweist<br />

sich der rechtliche Status der Tele-Heimar<strong>bei</strong>ter/innen. Von den in den USA<br />

hauptsächlich realisierten Alternativen - Werkvertrag oder selbständiges Unternehmen<br />

- ist letztere hinsichtlich der Verdienstmöglichkeiten die weitaus attraktivere,<br />

die erstgenannte aber die mit Abstand häufigere; die Auf teilung ist<br />

in Großbritannien vergleichbar. Im baden-württembergischen Modellversuch mit<br />

dezentralen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen hatten zwar alle beteiligten Frauen den Status von<br />

abhängig Erwerbstätigen (Außenar<strong>bei</strong>tnehmerinnen), aber als Normallösungen<br />

überwiegen in der Bundesrepublik Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse auf der Basis des Heimar<strong>bei</strong>tsgesetzes<br />

oder die freiwillig-unfreiwillige Existenz als Selbständige bzw.<br />

freie Mitar<strong>bei</strong>terin (Dobberthien 1988; vgl. Klug in diesem Band). Nur auf den<br />

ersten Blick spiegelt dieser Befund irrationale Entscheidungsmuster <strong>bei</strong>, den<br />

Frauen. Tatsächlich ist es der gleiche Grund, der ihnen Heimar<strong>bei</strong>t nahelegt,<br />

der sie auch von einer Karriere als Unternehmerin abhält: die Zuständigkeit für<br />

Haushalt und Kinder. Das Ubergewicht dieser ungünstigen Vertragsformen ver-


- 106 -<br />

dankt sich zudem nicht nur den Strategien der Betriebsleitung, sondern kann<br />

auch den Interessen der meist männlichen betrieblichen Kernbelegschaft an der<br />

Sicherung ihrer Privilegien geschuldet sein (vgl. Goldmann/Richter in diesem<br />

Ban d).<br />

Die vertragliche Festlegung der Ar<strong>bei</strong>tszeit ist - das weisen alle Länderberichte<br />

aus - der diffuseste Punkt, und zwar sowohl bezüglich des Umfangs als<br />

auch der Verortung im Tages- oder Nachtablauf. Abgesehen von den "wirklichen"<br />

Unternehmer/innen, die meist auch mit mehreren Kunden Geschäftsbeziehungen<br />

haben, optieren die Tele-Heimar<strong>bei</strong>terinnen überwiegend für Teilzeitar<strong>bei</strong>t.<br />

In der Praxis können sie sich jedoch selten auf feste Ar<strong>bei</strong>tszeiten und<br />

ein kalkulierbares Ar<strong>bei</strong>tsvolumen einrichten, sondern müssen sich, den Schwankungen<br />

der betrieblichen Nachfrage entsprechend, verfügbar halten. Ein Anspruch<br />

auf einen Mindestumfang von Aufträgen ist nie vereinbart, so daß das<br />

Auslastungsrisiko völlig von den Betrieben abgewälzt ist. Die Priorität für<br />

Familienaufgaben, die meist zu dieser Ar<strong>bei</strong>tsform motivierte, erweist sich unter<br />

diesen Bedingungen als schwerlich durchhaltbar •<br />

Das betriebliche Interesse an einer perfekten und zügigen Auftragsabwicklung<br />

ist trotz Auslagerung geWährleistet. Ganz davon abgesehen, daß Terminüberschreitungen<br />

oder kurzfristige Ablehnung von Ar<strong>bei</strong>ten die Weiterbeschäftigung<br />

gefährden, sind Kontrollen teilweise in die technische Ausstattung eingebaut<br />

(Morgan 1985). Wesentlicher aber ist, daß di e Frauen selbst die Leistungsstandards<br />

internalisiert haben: wegen fehlender Rückkoppelung über ihre<br />

realisierte Leistung forcieren sie ihre Produktivität überdurchschnittlich stark<br />

(Wawrzinek/Fröschle 1985, S. 42).<br />

Die teclmische Ausstattung der Tele-Heimar<strong>bei</strong>tsplätze ist für Gestalrungsmöglichkeiten<br />

der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen durch die Frauen selbst wichtig,<br />

aber die Vermutung, es sei der "technische Fortschritt", der die Verbreitung<br />

dieser Ar<strong>bei</strong>tsform beschleunige oder gar erzwinge, ist nicht haltbar: selbst in<br />

den USA waren drei von vier Tele-Heimar<strong>bei</strong>tsplätzen noch Mitte der 80er Jahre<br />

mit durchaus konventioneller Technik ausgestattet (Christensen 1986). Die<br />

Lokalisierung des Ar<strong>bei</strong>tsplatzes zeigt eine große Variationsbreite, wo<strong>bei</strong> die<br />

Beschränkung auf eine Nische in der Küche ebenso selten ist wie ein eigenes<br />

Ar<strong>bei</strong>tszimmer. Zu diesem Punkt sind allerdings grundlegende Unterschiede zwischen<br />

weiblichen und männlichen Tele-Heimar<strong>bei</strong>tern feststellbar, die - <strong>bei</strong><br />

gleichem Qualifikationsniveau - eindeutig langfristigere, professionelle Orien-


- 107 -<br />

tierungen der Männer erkennen lasse (vgl. Goldmann/Richter und Discher in<br />

diesem Band).<br />

Die finanziellen Risiken einer guten technischen Ausstattung, die die<br />

Frauen oft scheuen, ließen sich auch begrenzen, wenn Tele-Heimar<strong>bei</strong>t anders<br />

als in Privatwohnungen organisiert wäre. Alternative Formen, etwa in Satellitenbüros,<br />

die jeweils einem Betrieb zuar<strong>bei</strong>ten, oder in Nachbarschaftsbüros,<br />

die mehrere Betriebe zu ihren Kunden 'zählen, sind in der BRD bislang erst in<br />

Modell versuchen erprobt.<br />

Alle Länderberichte stimmen darin überein, daß Frauen in Tele-Heimar<strong>bei</strong>t<br />

überwiegend sog. "Zweitverdienerinnen" sind. Trotz Familie und den dadurch im<br />

wesentlichen ihnen zugeschriebenen Aufgaben wollen oder müssen sie erwerbstätig<br />

sein. Die Einschränkung ihrer zeitlichen Verfügbarkeit und örtlichen Mobilität<br />

bezahlen sie mit Abstrichen am Einkommen. Untersuchungen in Großbritannien<br />

und den USA belegen, daß die Stundenlöhne von Tele-Heimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

weit unter denen vergleichbarer betrieblicher Beschäftigten liegen (Morgan<br />

1985; Christensen 1986). Bahl-Benker (1985, S. 87) vermutet, daß Männer <strong>bei</strong><br />

elektronischer Heimar<strong>bei</strong>t "zumindest hinsichtlich der Ar<strong>bei</strong>tsqualität und Entlohnung<br />

bessere Bedingungen" aushandeln können als Frauen. In ländlichen Regionen<br />

nutzen Betriebe <strong>bei</strong> der Vereinbarung der finanziellen Bedingungen die<br />

Alternativlosigkeit der Frauen aus, denen oft ohnehin Informationen über das<br />

relevante Lohnniveau fehlen. Teilweise nehmen die Frauen die Einkommensdiskriminierung<br />

aber auch hin, weil die männerorientierte Norm der lebenslangen<br />

Vollzeiterwerbsar<strong>bei</strong>t - gegenüber der sie "defizitär" erscheinen - sich auch in<br />

ihren Köpfen eingenistet hat (vgl. Goldmann/Richter in diesem Band).<br />

Die Erwartung, Tele-Heimar<strong>bei</strong>t lasse sich einfach und reibungslos mit<br />

Kinderbetreuung verknüpfen, ist für fast alle Frauen das wesentliche Motiv für<br />

die Wahl dieser Ar<strong>bei</strong>tsform. Auch Männer entwickeln Präferenzen für einen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplatz zuhause nicht immer freiwillig, sondern oft unter dem Druck der<br />

Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit. Für sie ist dann aber der Schritt zum Sei bstverständnis als<br />

Unternehmer offenbar einfacher (vgl. Goldmann/Richter in diesem Band). Die<br />

Realität setzt der Einlösung des Wunsches der Frauen nach optimaler Kinderversorgung<br />

meist harsche Grenzen: Im Zweifelsfall sind die zeitlichen Forderungen<br />

der Erwerbsar<strong>bei</strong>t sanktionsmächtiger. Da die berufliche Ar<strong>bei</strong>t nicht<br />

parallel zur Beschäftigung mit den Kindern zu leisten ist, werden die Ar<strong>bei</strong>tstage<br />

extrem lang - ähnlich wie <strong>bei</strong> "normal" lohnar<strong>bei</strong>tenden Familienfrauen.


- 108 -<br />

Allerdings erweist sich - entgegen der ursprünglichen Planung - Tele­<br />

Heimar<strong>bei</strong>t nicht nur als Ubergangslösung. In den USA, wo schon längere Erfahrungen<br />

vorliegen, hat inzwischen nur eine von vier tele-heimar<strong>bei</strong>tenden Frauen<br />

Kinder im betreuungspflichtigen Vorschulalter; jede zweite hat überhaupt keine<br />

Kinder mehr zu versorgen. Offenbar ist ein Wechsel zurück in ein betriebliches<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis schwierig (Christensen 1986, S. 5).<br />

Auch Vermutungen, dank Tele-Heimar<strong>bei</strong>t lasse sich die familiäre AufgabenteHung<br />

zugunsten der Frauen aufbrechen, erweisen sich als unrealistisch.<br />

Ein wichtiges Moment für eine stärkere Beteiligung des männlichen Partners an<br />

der Hausar<strong>bei</strong>t scheint die finanzielle Notwendigkeit für die Berufstätigkeit der<br />

Frau zu sein (Wawrzinek/Fröschle 1985, S. 51). In den USA bezog sich die Veränderung<br />

im Verhalten der Männer <strong>bei</strong> Tele-Heimar<strong>bei</strong>t ihrer Ehefrauen hauptsächlich<br />

auf eine verstärkte Beschäftigung mit den Kindern; ähnlich wie im<br />

Durchschnitt der amerikanischen Bevölkerung hilft nur etwa jeder zweite Mann<br />

<strong>bei</strong> der Hausar<strong>bei</strong>t.<br />

Ungeachtet der skizzierten, überwiegend belastenden Facetten der Tele­<br />

Heimar<strong>bei</strong>t, fällt die Bilanz der Frauen im Hinblick auf Ar<strong>bei</strong>tszufriedenheit<br />

überraschend positiv aus. Dies gilt nicht nur für die (relativ kleine) Gruppe<br />

derer, die diese Ar<strong>bei</strong>tsform bewußt wählten, um aufwendige Verkehrszeiten<br />

einzusparen, sondern wird auch von denjenigen bestätigt, die ansonsten nicht<br />

erwerbstätig sein könten. Nach dem Motto, daß di ese bezahlte Ar<strong>bei</strong>t immer<br />

noch besser sei als gar keine, arrangieren sich die Frauen auch mit der sozialen<br />

Isolation und den unkalkulierbaren Zeitanforderungen, zumal sie auf Dauer<br />

ni cht in Unzufriedenheit mit der eigenen Situation leben können.<br />

5. Strategien gegen eine Privatisierung des Politischen<br />

Welche Empfehl ungen für politische Schritte wären dieser Konstellation angemessen,<br />

in der die Interessen der Betriebe an einer Entlastung von der Bürde<br />

traditioneller Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnisse keineswegs deckungsgleich sind mit den<br />

Bedürfnissen einer wachsenden Zahl von FamiIienfrauen nach wohnungsbezogener<br />

Erwerbsar<strong>bei</strong>t? Offensichtlich wäre ein Verbot von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t keine<br />

angemessene Lösung. Was not tut, ist demgegenüber ein Bündel von Regelungen<br />

und Maßnahmen, insbesondere bezogen auf den rechtlichen Status von Tele­<br />

Heimar<strong>bei</strong>tern (vgI . Klug in diesem Band). Zusätzlich wäre die Bereitstellung


- 109 -<br />

von Marktinformationen und guten, preiswerten Kinderbetreuungseinrichtungen<br />

zu fordern, um der Schutzlosigkeit dieser Beschäftigtengruppen abzuhelfen.<br />

Am Beispiel der Tele-Heimar<strong>bei</strong>t scheint auf, daß die Einführung neuer<br />

Technologien mehr Veränderungen mit sich bringt als der Austausch von Maschinerie<br />

und - in diesem Fall speziell - die Verlagerung des Ar<strong>bei</strong>tsplatzes. Vielmehr<br />

werden - teils bereits im Vorfeld, teils begleitend - viele Dimensionen der<br />

Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensbedingungen berührt. Entsprechend griffe der Anspruch<br />

nach sozialer Gestaltung zu kurz, würde er sich allein auf die Technik beschränken.<br />

Die Rückverlagerung der Erwerbsar<strong>bei</strong>t in di e Privatwohnung<br />

schafft keineswegs die Integration von Ar<strong>bei</strong>t und Leben, bedeutet keine Renaissance<br />

der "Produktion des ganzen Hauses". Die insbesondere die Frauen<br />

beschränkende und belastende Trennung in Männerwelt/Frauenwelt ist nicht<br />

durch vordergründige Annäherung an eine (scheinbare) historische Idylle zu<br />

überbrücken. Erforderlich ist eine Neuverteilung von Haushalts- und Familienar<strong>bei</strong>t.<br />

Erst wenn die Verbindung von Familienaufgaben mit Erwerbsar<strong>bei</strong>t kein<br />

Frauenproblem mehr ist, bestehen Chancen zur Ablösung geschlechtsspezifischer<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmarktspaltungen. Unter diesen Voraussetzungen wird aber Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

überhaupt anders strukturiert sein - auch für Männer.<br />

Unter derzeitigen Bedingungen dagegen wird erkennbar, wie schwierig im<br />

Prozeß der "Modernisierung" des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes - noch dazu unter dem Vorzeichen<br />

der Wir tschaftskrise - Solidarität zu wecken ist: zwischen Stammbelegschaft<br />

und Tele-Heimar<strong>bei</strong>ter/innen, aber auch innerhalb di eser Gruppe zwischen<br />

mehr und weniger Qualifizierten, zwischen Frauen und Männern.<br />

LITERATUR<br />

Bah l-Benker, Angelika: Chips - Wegbereiter einer neuen Armut! In: Vorgänge<br />

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- 110 -<br />

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- 111 -<br />

Monika Goldmann/Gudrun Richter<br />

TELEHEIMARBEIT ALS 'NEUE SELBST}\NDIGKEIT' ODER<br />

'VEREINBARKEITSMODELL'<br />

- Zur Auslagerung von Fach- und Gebrauchsübersetzungen -<br />

Die Untersuchung der Auslagerung einfach qualifizierter Tätigkeiten hat gezeigt,<br />

daß hier ein neuer Bereich ungeschützter Frauenbeschäftigung im Entstehen<br />

ist. Teleheimar<strong>bei</strong>t bietet den betreffenden Frauen - je individuell - di e<br />

meist einzige Möglichkeit zur Lösung des Problems der Vereinbarkeit von Berufs-<br />

und Familienar<strong>bei</strong>t. Dafür sind sie bereit, den Preis mangelnder sozialund<br />

ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher Absicherung und eine schlecht kalkulierbare Auftragsund<br />

Einkommenslage zu akzeptieren. 1<br />

Folgt man den Hypothesen von Zukunftsforschern, so ist Teleheimar<strong>bei</strong>t in<br />

einfach qualifizierten Ar<strong>bei</strong>tsbereichen allerdings ein zeitlich befristetes Problem,<br />

da es sich um standardisierbare Teiltätigkeiten handelt, die mit einer<br />

weiteren Entwicklung der IuK-Technologien ohnehin in Zukunft wegfallen (vgl.<br />

Goldmann/Richter 19&6). Untersuchungen zu Teleheimar<strong>bei</strong>t sollten sich deshalb<br />

dem wahrscheinlicheren Fall, nämlich der Auslagerung qualifizierter Tätigkeiten,<br />

zuwenden und fragen, ob sich hier nicht tatsächlich positive Perspektiven<br />

für Ar<strong>bei</strong>t'nehmer und Ar<strong>bei</strong>tnehmerinnen eröffnen. In qualifizierten Ar<strong>bei</strong>tsbereichen<br />

- so die Vermutung - ließen sich durch eine Ar<strong>bei</strong>t in der Privatwohnung<br />

Berufsar<strong>bei</strong>t und persönliche Interessen in optimaler Weise miteinander<br />

verbinden. Die anerkanntermaßen hohen Qualifikationen gäben den Betreffenden<br />

genügend Handlungsmacht auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt, um ihre Vorstellungen von<br />

Ar<strong>bei</strong>t und Leben <strong>bei</strong> ihren Ar<strong>bei</strong>ts- bzw. Auftraggebern durchzusetzen und ein<br />

gutes Einkommen zu erzielen. Gerade auch qualifizierte Frauen hätten <strong>bei</strong> dieser<br />

anspruchsvollen computergestützten Heimar<strong>bei</strong>t ideale<br />

einen attraktiven Beruf mit Familienaufgaben zu vereinbaren.<br />

Bedingungen, um<br />

Wir stellen diesen hoffnungsvollen Perspektiven die Realität der heute<br />

praktizierten Auslagerung von qualifizierter Ar<strong>bei</strong>t am Beispiel der computerunterstützten<br />

Heimar<strong>bei</strong>t von Ubersetzern/innen gegenüber. 2 Fach- und Gebrauchsübersetzung<br />

für international tätige Konzerne, Behörden und Organisationen<br />

ist ein Ar<strong>bei</strong>tsfeld, das Männern und Frauen offensteht. Deshalb lassen<br />

sich hier sowohl hinsichtlich der von Betrieben praktizierten Auslagerungsstra-


- 112 -<br />

tegien als auch im Hinblick auf die Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebenssituation der zu Hause<br />

tätigen Ubersetzer und Ubersetzerinnen besonders deutlich geschlechtsspezifische<br />

Unterschiede herausar<strong>bei</strong>ten.<br />

Das immer enger werdende Geflecht internationaler Beziehungen auf den<br />

Gebieten von Politik, Wirtschaft, Tourismus, Kultur etc. hat den Bedarf an Gebrauchsübersetzungen<br />

im letzten Jahrzehnt erheblich ansteigen lassen. Das<br />

Spektrum des Ubersetzungsbedarfs streut breit von Rechts-, Finanz- und HandeIsdokumenten<br />

über Forschungsberichte bis hin zu technischen Handbüchern,<br />

Produktions- und Gebrauchsanweisungen etc. Die Anforderungen an derartige<br />

Ubersetzungen betonen weniger Geschliffenheit und Eleganz des sprachlichen<br />

Ausdrucks, sondern sie legen primär Wert auf eine exakte und in sich konsistente<br />

Verwendung von Terminologie, um einen möglichst hohen Gebrauchswert<br />

von Informationen für den Benutzer zu garantieren.<br />

Die Vervielfachung des Ubersetzungsvolumens zusammen mit der Anforderung<br />

konsistenter Terminologie sind die Hauptgründe dafür, daß intensiv an<br />

Verfahren zur computergestützten Ubersetzung gear<strong>bei</strong>tet wird. Weitgehend<br />

genutzt werden heute insbesondere von Großbetrieben bereits die Möglichkeiten<br />

der elektronischen <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tung, was eine erhebliche Beschleunigung<br />

des gesamten Ar<strong>bei</strong>tsprozesses <strong>bei</strong>m Ubersetzen bedeutet. Zum einen reduziert<br />

sich der Zeitaufwand der Ubersetzer/innen für die häufig mehrfachen Uberar<strong>bei</strong>tungsschritte,<br />

die sie nun am Bildschirm vornehmen können; zum anderen<br />

ermöglicht die <strong>Text</strong>erfassung mit Gestaltungsvorgabe auf Diskette durch die<br />

Ubersetzer/innen eine sofortige Korrektur des Ar<strong>bei</strong>tsergebnisses am Bildschirm<br />

durch die Auftragsabteilung, wodurch betriebliche Zweiterfassung und Korrektur<br />

entfallen und die übersetzten <strong>Text</strong>e direkt als Druckvorlagen verwendbar<br />

sind. Daneben werden Terminologie- und Faktendatenbanken aufgebaut und verschiedene<br />

Verfahren zur computergestützten Sprachenübersetzung eingesetzt.<br />

Ubersetzungscomputer, die eine überwiegend maschinelle Ubersetzung ermöglichen,<br />

befinden sich jedoch noch weitgehend in der Entwicklungsphase.<br />

Die Computerunterstützung der Ubersetzungsar<strong>bei</strong>t in den Betrieben erhöht<br />

einerseits die Ubersetzungsleistung erheblich, erfordert aber andererseits<br />

hohe Investitionen in die Anlagen. Dies wirft unter betriebswirtschaftlichem<br />

Kal kül die Frage nach deren Auslastung auf. Ubersetzungsar<strong>bei</strong>ten fallen nicht<br />

mehr gleichmäßig, sondern eher diskontinuierlich an, was Uberlegungen zur Vergabe<br />

dieser Ar<strong>bei</strong>ten an Kräfte außerhalb des Betriebes nahelegt.


- 113 -<br />

1. Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebenssituation der zuhause tätigen Ubersetzer/innen<br />

Ubereinstimmend lassen sich <strong>bei</strong> den von uns einbezogenen Betrieben mehrere,<br />

parallele Strategien feststellen, die in zwei Fällen zu einer Halbierung der betrieblichen<br />

Ubersetzungsar<strong>bei</strong>tspläne und in einem Fall zu einem vollständigen<br />

Abbau der Ubersetzungsabteilung - ausgenommen der Chefübersetzerin - führten:<br />

Zum einen werden sogenannte Uberkapazitäten an freiberufliche Mitar<strong>bei</strong>ter<br />

linnen oder Ubersetzungsbüros vergeben. Daneben findet ein schleichender<br />

Personalabbau statt, indem keine Neueinstell ungen bzw. Besetzungen frei werdender<br />

Stellen vorgenommen werden. Von solchen personalpolitischen Entscheidungen<br />

sind zunächst vor allem Mütter betroffen, die weder im Betrieb einen<br />

Teilzeitar<strong>bei</strong>tsplatz erhalten noch nach einer "Kinderpause" wieder in den Betrieb<br />

zurückkehren können. Darüber hinaus wird von seiten der Betriebe ein<br />

starker Druck auf die festangestellten Ubersetzer/innen ausgeübt, sich selbständig<br />

zu machen. Da den externen Ubersetzer/innen keine Auslastung ihrer Kapazitäten<br />

garantiert wird, müssen sie sich durch Akquisitionstätigkeit <strong>bei</strong> anderen<br />

Betrieben absichern. Dadurch entsteht eine Sogwirkung, die auch andere Betriebe<br />

zur Auslagerung von Aufträgen nach außen motiviert und zu einer Verkleinerung<br />

von deren Ubersetzungsabteilung führt. Bei der Vergabe von Aufträgen<br />

nach außen habel! sich in Abhängigkeit vom Geschlecht und der privaten<br />

Situation der Auftragnehmer/innen sehr unterschiedliche Praktiken herausgebildet:<br />

(a ) Ein kleiner Teil der Ubersetzungsar<strong>bei</strong>ten wird an ehemalige Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />

der Ubersetzungsabteilung vergeben, die nach der Geburt ihres ersten<br />

oder zweiten Kindes ihre Berufstätigkeit im Betrieb aufgegeben haben. Da in<br />

den Betrieben keine Möglichkeit zu einer Halbtagsbeschäftigung angeboten<br />

wi rd, nehmen Ubersetzerinnen mit Kindern gern solche Aufträge an, da sie so<br />

den Kontakt zu ihrem Beruf halten können. Die Vergabe von Ar<strong>bei</strong>ten an sogenannte<br />

"Hausfrauenübersetzerinnen" war in vielen Betrieben schon immer üblich,<br />

änderte sich jedoch insofern, als mittlerweile nur noch Aufträge an Frauen<br />

vergeben werden, die mit einer <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tungsanlage ausgestattet sind<br />

und damit Manuskripte auf Diskette vorlegen können, die nach einer Korrektur<br />

am Bildschirmterminal im Betrieb direkt zur Druckerei gehen können.<br />

Frauen, für die das Ubersetzen zu Hause also eine Vereinbarkeitsmöglichkeit<br />

von Berufs- und Familienar<strong>bei</strong>t darstellt, müssen Abstriche an ihren arbe<br />

itsinhaltlichen Ansprüchen hinnehmen. Sie ar<strong>bei</strong>ten meist nur für einen Auf-


- 114- -<br />

traggeber und erhalten in der Regel die weniger attraktiven, zum Teil auch<br />

ar<strong>bei</strong>tsintensiveren Aufträge. Ihre eingeschränkte zeitliche Verfügbarkeit und<br />

ihre einfache technische Ausstattung beeinträchtigen ihre Konkurrenzfähigkeit<br />

im Vergleich mit den vielen sich etablierenden Ubersetzungsbüros. Teure Anlagen<br />

mit hoher Speicherkapazität, die ihnen eine eigene Terminologiesicherung<br />

erlauben würden, schaffen sich die "Hausfrauenübersetzerinnen" nicht an, da<br />

sie sich <strong>bei</strong> einer durchschnittlichen täglichen Ar<strong>bei</strong>tszeit von vier bis sechs<br />

Stunden nicht amortisieren würden.<br />

Für die Betriebe bilden diese Hausfrauenübersetzerinnen, die meistens ein<br />

abgeschlossenes Hochschulstudium vorweisen können und hochqualifiziert sind,<br />

di e unterste Stufe in der Hierarchie der von ihnen mit Aufträgen bedachten<br />

Ubersetzer linnen. Vielfach bieten sie ihnen außer Ubersetzungsar<strong>bei</strong>ten auch<br />

einfache <strong>Text</strong>erfassungsar<strong>bei</strong>ten von Fremdsprachentexten an, was die Frauen<br />

mangels Ubersetzungsaufträgen häufig annehmen. Die Möglichkeit einer Rückkehr<br />

in den Betrieb nach der Familienpause ist angesichts des Trends zur Auslagerung<br />

von Ubersetzungstätigkeiten für alle Frauen nicht wahrscheinlich.<br />

Berufliche Perspektiven können sie nur entwickeln, wenn sie sich mit teuren<br />

Anlagen ausstatten und gezielte Zusatzqualifikationen erwerben.<br />

(b) Der weitaus größere Teil der Ubersetzungsaufträge wird an ehemalige<br />

betriebliche Mitar<strong>bei</strong>ter!innen vergeben, die von seiten der Betriebe in die<br />

Sel bständigkeit gedrängt wurden. Der Zwang zur Sel bständigkeit betrifft im<br />

Ubersetzungsberuf Frauen und Männer gleichermaßen. Auffällig ist allerdings,<br />

daß sich die Darstellungen, die männliche Ubersetzer von ihrem Wechsel in die<br />

Sel bständigkeit geben, als glatte Erfolgsbilanzen lesen, während Frauen diesen<br />

Weg als sehr viel dornenreicher schildern und ihre Situation als Freiberufliche<br />

auch nach längerer außerbetrieblicher Tätigkeit als weniger konsolidiert und<br />

durchaus prekär einschätzen.<br />

Mehrere Männer erhielten <strong>bei</strong> ihrem Ausscheiden aus dem Betrieb einen<br />

Werkvertrag mit einer Auftragsgarantie, die ihnen einen regelmäßigen Ar<strong>bei</strong>tsumsatz<br />

sicherte. Frauen bekamen meist nur eine mündliche Zusicherung, daß sie<br />

auch als Selbständige weiter mit Aufträgen versorgt würden.<br />

Alle Ubersetzer/innen, die sich selbständig machten, waren gezwungen,<br />

hohe Investitionen für ihre Geräteausstattung zu tätigen (zwischen 4-0.000 und<br />

150.000 DM), da diese - im Gegensatz zur Praxis der Druckindustrie - in keinem<br />

Fall vom Auftragsbetrieb gestellt wurde. Die PCs, die zum Teil hohe Speicherkapazitäten<br />

haben, mußten mit dem betrieblichen Computersystem kompati-


- 115 -<br />

bel sein und wurden in mehreren Fällen auch <strong>bei</strong> den Auftraggebern (sofern es<br />

sich um Computerhersteller handelte) gekauft. Frauen, die gezwungen waren,<br />

sich selbständig zu machen, waren <strong>bei</strong>m Kauf ihrer gerätetechnischen Ausstattung<br />

meist sehr viel zurückhaltender als Männer, da sie vor hohen Schulden<br />

zurückschreckten und zunächst einmal ihre Auftragslage stabilisieren wo llten.<br />

Alle befragten Männer beurteilen ihren Schritt in die Sel bständigkeit als<br />

gel ungene Weiterentwicklung ihrer Karriere, die auch aufgrund ihrer Berufsbiographie<br />

als folgerichtig erschien. Auch wenn sie gezwungen waren, sich selbständig<br />

zu machen, geben sie als Begründung für ihre Motive überwiegend ihren<br />

Wunsch nach mehr Flexibilität, die Aussicht nach einem höheren Einkommen<br />

und nach einem selbstorganisierten, selbstgestalteten Leben an . Sie vermitteln<br />

schon durch die Größe und Ausstattung ihrer Ar<strong>bei</strong>tszimmer den Eindruck gut<br />

situierter professioneller Sel bständig.keit. Die Frauen betrachten ihre freiberufliche<br />

Tätigkeit dagegen häufig eher als Übergangslösung oder als Notlösung und<br />

kö nnen sich nur schwer entschließen, <strong>bei</strong> der Investition wie auch <strong>bei</strong> der Betriebsführung<br />

betriebswirtschaftliche Kriterien anzulegen und sich als "neue"<br />

Sel bständige zu begreifen.<br />

Bei der Investitionszurückhaltung der Frauen im Gegensatz zur Risikofr<br />

eude der Männer spielt ein weiterer Faktor eine Rolle. Männer freunden sich<br />

mit einer hochtechnisierten Ausstattung sehr schnell an, da di e Terminologiespeicher<br />

ihnen die Begriffssuche erleichtern und sie damit eine schnelle Übersetzungsleistung<br />

erreichen können. Ein Übersetzungsprodukt, das dann nur einen<br />

spezialisierten beschränkten Wortschatz in einer anderen Sprache enthält,<br />

bringt damit einen relativ guten Ertrag. Weibliche Übersetzer tun sich mit den<br />

Einschränkungen, die eine Standardisierung in bezug auf di e Sprache bringt,<br />

häufig äußerst schwer. Ihr Sprachbezug, ihr personenbezogenes Übersetzen und<br />

ihr Bedürfnis, mit einem vielfältig eingesetzten Wortschatz einen anspruchsvollen<br />

<strong>Text</strong> zu produzieren, zielt auf eine Übersetzungsqualität, die auf dem<br />

Markt immer weniger gefordert wird. Bewußt oder häufiger eher unbewußt nehmen<br />

Frauen Einkommenseinbußen in Kauf, indem sie di e Sprachqualität vor di e<br />

Schnelligkei t setzen.<br />

(c) Im Prozeß der Auslagerung findet anscheinend ein Prozeß der Urnbewertung<br />

der benötigten Qualifikation statt. Übersetzen galt bisher als fremdsprachliche<br />

Kompetenz, di e in Ausbildung/Studi um erworben wi rd und zur praktischen<br />

Anwendung im Betrieb einer Zusatzqualifikation im jeweiligen Fachgebi<br />

et bedarf. Bei der Vergabe von Aufträgen nach außen scheint jedoch zuneh-


- 116 -<br />

me nd weniger die Sprachkompetenz als vielmehr die technische Kompetenz eine<br />

Rol le zu spielen.<br />

Die Vergabe von Aufträgen erfolgt heute sehr häufig an "Quereinsteiger",<br />

meist Männer mit Informatik- oder Technikstudi um, die ihre Übersetzungsfähigkeiten<br />

<strong>bei</strong> längeren Auslandsaufenthalten erworben haben. Die technischen<br />

Fachabteilungen, die einen gewissen Einfluß auf die Auftragsvergabe haben,<br />

sehen in technisch-fachlich ausgebildeten Übersetzern adäquate Gesprächspartner,<br />

die wissen, worum es in technischen <strong>Text</strong>en geht und denen spezielle Informationen<br />

und Detailkenntnisse einfach und schnell zu vermitteln sind. Einer<br />

sprachlich ausgebildeten Übersetzer/in muß - ob sie im Betrieb beschäftigt oder<br />

freiberuflich tätig ist - von der Fachabteilung der technische Hintergrund und<br />

Inhalt eines zu übersetzenden <strong>Text</strong>es vermittelt werden, soll sie eine fachlich<br />

richtige Übersetzung liefern. Das Hineindenken in technische Zusammenhänge,<br />

eine möglichst präzise Erfassung des Gegenstandes und dessen sprachliche Formulierung<br />

sind ihr kreativer Anteil an der Ar<strong>bei</strong>t. Im Zuge der Umbewertung<br />

ni mmt der Wert der sprachlichen Leistung ab, und der Wert der technischen<br />

Leistung steigt an.<br />

Unsere Interviews haben uns den Eindruck vermittelt, daß diese Umbewertung<br />

von Übersetzungsleistungen zu einer geschlechtsspezifischen Trennungslinie<br />

wird, die Frauen eher die niedrig bewerteten Aufgaben zuweist, während<br />

Männer eher die höher bewerteten Aufgaben erhalten. Die Definitionsmacht<br />

liegt in diesem Fal l eindeutig <strong>bei</strong> den männlichen Kollegen in den Fachabteilungen.<br />

2. Fazit<br />

Die Substitution betrieblicher Ar<strong>bei</strong>tsplätze durch Teleheimar<strong>bei</strong>tsplätze erfolgt<br />

im Zusammenhang mit technischen und organisatorischen Umstrukturierungsprozessen,<br />

wo<strong>bei</strong> Konkurrenz- und Rentabilitätsdenken eine Hauptrolle spielen. Die<br />

technische Dimension allein ist da<strong>bei</strong> keineswegs das entscheidende Kriterium<br />

für Betriebe, Ar<strong>bei</strong>tstätigkeiten in die Privatwohnungen auszulagern. Bei allen<br />

von uns untersuchten empirisch vorfindbaren Formen von Teleheimar<strong>bei</strong>t waren<br />

vielmehr zwei zentrale Aspekte für die Auslagerung entscheidend: erstens ein<br />

hoher Flexibilisierungsbedarf der Betriebe durch wechselndes Auftragsvolumen<br />

und extrem verkürzte Lieferzeiten sowie zweitens die Möglichkeit, sich Ko-


- 117 -<br />

sten- und Flexibilitätsvorteile über den Einsatz von Subunternehmen bzw.<br />

"selbständigen" Teleheimar<strong>bei</strong>ter/innen zu sichern. Besonders brisant ist da<strong>bei</strong><br />

die Art und Weise, wie Betriebe die Tatsache geschlechtsspezifischer Ar<strong>bei</strong>tsteilung<br />

und di e Bedingungen des weiblichen Lebenszusammenhangs nutzen.<br />

Es zeigt sich, daß sich hinter dem Begriff "Teleheimar<strong>bei</strong>t" ganz unterschiedliche<br />

Ar<strong>bei</strong>ts- und Vertragsbedingungen verbergen. Deren Gestaltung ist<br />

insbesondere davon abhängig, ob die volle tägliche Ar<strong>bei</strong>tszeit für Berufsar<strong>bei</strong>t<br />

zur Verfügung steht oder ob Zeiten für Kinderbetreuung und Familienaufgaben<br />

einzukalkulieren sind. Ein existenzsicherndes Einkommen ist mit Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />

nu r mit einer Vollzeitberufstätigkeit, die häufig eine lJ.O-Stunden-Woche weit<br />

überschreitet, zu erzielen. Damit entfällt ihre Funktion als Vereinbarkeitsmodell<br />

für Mütter; sie wird als "Hauptberuf" deshalb auch nur von Männern oder<br />

von alleinstehenden Frauen bzw. von Frauen mit erwachsenen Kindern ausgeübt.<br />

Will ein Betrieb Männern die Ar<strong>bei</strong>t zuhause schmackhaft machen, um z.B.<br />

eine Abteilung zu verkleinern, kann er nicht mit dem Vereinbarkeitswunsch als<br />

Motiv rechnen. Also wird er hier ganz andere vertragliche Beziehungen herstellen<br />

müssen und eine gewisse Auftragsgarantie geben. Deshalb ist es nicht<br />

überraschend, daß Teleheimar<strong>bei</strong>t von Männern von Anfang an sowohl von seiten<br />

der Betriebe als auch von seiten der betroffenen Männer als Betriebsneugründung<br />

angesehen wird. Auch wenn sie eine sehr enge Bindung an den Betrieb<br />

haben, eine kompatible Geräteausstattung besitzen und intensive Ar<strong>bei</strong>tskontakte<br />

mit betrieblichen Mitar<strong>bei</strong>ter/innen pflegen, betrachten sich di ese<br />

Männer immer als Selbständige, niemals als Teleheimar<strong>bei</strong>ter. Dies zeigt sich<br />

auch darin, daß "Mann" selten lange alleine bleibt, da neben dem automatischen<br />

Anrufbeantworter auch die Sekretärin zum professionellen Ambiente gehört,<br />

was als unabdingbar für das Bestehen am Markt angesehen wird.<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t als Modell von Selbständigkeit ist in vielen Fällen nicht<br />

mit einem Qualifikationsverlust verbunden. Die freiberuflich Ar<strong>bei</strong>tenden können<br />

eine gewisse Vereinseitigung ihres Tätigkeitsspektrums nicht ausschließen,<br />

jedoch erfordert die Führung ihres Kleinunternehmens gleichzeitig auch zusätzliche<br />

Fähigkeiten wie Akquisition, Kontakt zu mehreren Auftraggebern etc. Die<br />

Vereinseitigung bedeutet eher eine Spezialisierung in Richtung auf Expertenturn,<br />

weniger in Richtung auf Vereinseitigung auf einfach qualifizierte und<br />

monotone Tätigkeiten.


- 118 -<br />

Frauen, die sich unter dem Druck von Betrieben zur Selbständigkeit entsc<br />

hließen, müssen vielfach trotz faktischer Voll zeit tätigkeit eine Verschlechterung<br />

ihrer Situation in Kauf nehmen. Ebenso wie sich Frauen in Betrieben Karrierehindernissen<br />

gegenübersehen, haben sie als Freiberufliche mit den Konkurrenzvorteilen<br />

männlicher Kollegen zu kämpfen. Insbesondere im technischen<br />

Bereich besitzen sie ein wesentlich geringer ausgebautes Netzwerk von Kontakte<br />

n und Auftraggebern und haben damit erheblich schlechtere Akquisitionsbedingungen<br />

als ihre männlichen Kollegen. Es gibt eine Tendenz, daß Frauen die<br />

Aufträge erhalten, die für Männer nicht lukrativ sind, oder daß sie als Unterauftragnehmerinnen<br />

von männlichen Ubersetzern fungieren mit einer deutlich<br />

ni edrigeren Bezahl ung.<br />

Uberwiegend jedoch wird Teleheimar<strong>bei</strong>t heute Frauen als Vereinbarkeitsmodell<br />

angeboten und von ihnen auch trotz aller Nachteile als akzeptable Ubergangslösung<br />

angesehen. In diesem Fall müssen die Frauen fast immer - unabhängig<br />

von ihrer Qualifikation - Abstriche an ihren ar<strong>bei</strong>tsinhaltlichen Ansprüchen<br />

hinnehmen. Dies äußert sich unter anderem darin, daß sie - verglichen mit betrieblicher<br />

Ar<strong>bei</strong>t - nur ein sehr eingeschränktes Aufgabenspektrum haben und<br />

daß mit einer starken Spezialisierung häufig enorme Anforderungen an Konzentration<br />

und Ar<strong>bei</strong>tsgeschwindigkeit gestellt werden. Ihre Ar<strong>bei</strong>t zu Hause ist<br />

darüber hinaus mit einem deutlichen Verlust an beruflich-betrieblicher Kommunikation<br />

verbunden.<br />

Die Betriebe sichern sich die Kooperation "ihrer" Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

durch geschickte Personalrekrutierung und durch die Bereitschaft, die Familienaufgaben<br />

der Frauen als Tatsache zu akzeptieren. Da dies für Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

nicht vorgesehen ist, halten die Betriebe es für selbstverständlich,<br />

daß die Frauen bereit sind, ohne Ar<strong>bei</strong>tsvertrag zu ar<strong>bei</strong>ten und<br />

Qualifikationseinbußen hinzunehmen. Zwar stellt die Leistungsentlohnung ein<br />

hartes Kontrollinstrument dar, wird jedoch als solches von informel len Bezügen<br />

überdeckt. Auch ohne daß die Auftraggeber auf Sanktionen zurückgreifen müssen,<br />

bieten die Frauen ein Höchstmaß an Sorgfalt und Ar<strong>bei</strong>tsdisziplin sowie die<br />

Bereitschaft, sich auf Betriebsbelange - insbesondere auf wechselnde Auftragslagen<br />

- einzustellen.<br />

Die Autonomie, die die Frauen durch die Ausübung von Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />

gewinnen, beschränkt sich auf das ständige Abwägen beruflicher und privater<br />

Anforderungen und auf die Entscheidung, welche Zeit im Tagesablauf für private<br />

und berufliche Aufgaben genutzt wird.


- 119 -<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t als Vereinbarkeitsmodell stellt einen Bereich ungeschützter<br />

Beschäftigung dar, <strong>bei</strong> dem eine Berufsausbildung, Ar<strong>bei</strong>tserfahrungen und die<br />

Bereitschaft zur Weiterbildung vorausgesetzt werden. Im Gegensatz zu anderen<br />

ungeschützten Beschäftigungsbereichen, wo in erster Linie Vorqualifikationen,<br />

die aus der weiblichen Sozialisation resultieren, von Bedeutung sind, nutzen<br />

Ar<strong>bei</strong>tgeber <strong>bei</strong> Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen formale Qualifikationen, die im Ausbildungs-<br />

und Beschäftigungssystem erworben sind, ohne diese besonders gratifizi<br />

eren zu müssen. Jedoch garantiert den Frauen weder ihre qualifizierte Berufsausbildung<br />

noch ihre durchgängige Erwerbstätigkeit - wenn auch in Form<br />

vo n Teleheimar<strong>bei</strong>t - einen Wiedereinstieg ins offizielle Beschäftigungssystem.<br />

Sie bleiben entgegen dem Ubergangscharakter, den sie ihrer Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />

zuschreiben, langfristig auf den Bereich der sog. sekundären Ar<strong>bei</strong>tsmärkte<br />

verwiesen.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des Projekts "Teleheimar<strong>bei</strong>t in 'typischen'<br />

Frauenar<strong>bei</strong>tsbereichen; Studie über Voraussetzungen, betriebliche<br />

Strategien und soziale Folgen der Auslagerung von informationstechnisch<br />

gestützten Büro- und Verwaltungsar<strong>bei</strong>tsplätzen, Gestaltungsmöglichkeiten<br />

und -erfordernissen" im Auftrag der Parlamentarischen Staatssekretärin für<br />

die Gleichstellung von Mann und Frau <strong>bei</strong>m Ministerpräsidenten des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf.<br />

2 Die empirische Basis der Darstellung bilden Betriebsfallstudien in Ubersetzungsabteilungen<br />

von drei Großunternehmen sowie Intensivinterviews mit 16<br />

zu Hause tätigen Ubersetzer/innen. Neben Fach- und Gebrauchsübersetzungen<br />

wurde im Rahmen des Projekts auch die Auslagerung hochqualifizierter<br />

Softwareerstellung untersucht, wo<strong>bei</strong> ähnliche geschlechtsspezifische Auswirkungen<br />

feststell bar sind. Eine ausführliche Darstellung findet sich im<br />

Projektabschlußbericht, der im Sommer 1987 erscheint.<br />

LITERATUR<br />

Goldmann, M./Richter, G.: Teleheimar<strong>bei</strong>t von Frauen. In: Frauenforschung,<br />

Informationsdienst des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft, Ij. (1986) 1<br />

+ 2


- 120 -<br />

Irene Schuster<br />

TELEHEIMARBEIT - NEUE PERSPEKTIVEN FUR DIE ARBEIT<br />

IN FAMILIE UND BERUF?<br />

Neue Technologien machen es zunehmend möglich, die Erwerbsar<strong>bei</strong>t auch in<br />

einem größeren Ausmaß in den privaten Wohnbereich zu verlagern. Die Folgen<br />

di eser Entwicklung wurden bislang vor allem für die berufliche Ar<strong>bei</strong>t und deren<br />

Träger/innen untersucht (vgl. Goldmann/Richter in diesem Band). Wie jedoch<br />

findet Familienleben unter erschwerten Erwerbsar<strong>bei</strong>tsbedingungen statt?<br />

Welche Folgen hat die Verlagerung beruflicher Ar<strong>bei</strong>t an den Ort der Hausar<strong>bei</strong>t<br />

vor allem für die zeitliche Strukturịerung des Alltags, für Ausmaß und<br />

Qualität der Hausar<strong>bei</strong>t, für Erziehungsideale und Erziehungsweisen sowie für<br />

die Beziehungsstrukturen innerhalb einer Familie? Welche Folgen hat sie aber<br />

auch für die teleheimar<strong>bei</strong>tende Person selbst, die versuchen muß, verschiedene<br />

Ar<strong>bei</strong>tslogiken in eine Balance zu bringen? (Diese Fragen sind Teil eines Forsc<br />

hungsproj ektes des Sonderforschungsbereiches 101 der Universität München,<br />

in dessen Rahmen eine Fallstudie über Teleheimar<strong>bei</strong>t entstand. In dieser Studie<br />

wurden insgesamt 15 Personen untersucht, davon 13 weibliche und 2 männliche.<br />

Die Teleheimar<strong>bei</strong>ter/innen wurden in mehrstUndigen Interviews sehr ausführlich<br />

nach ihren Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensbedingungen befragt.)<br />

Uns geht es da<strong>bei</strong> nicht nur um die Voraussetzungen, Bedingungen und<br />

Folgen von Teleheimar<strong>bei</strong>t auf einer strukturellen Ebene, sondern auch um das<br />

Verständnis der subjektiven Bedeutung von Teleheimar<strong>bei</strong>t für die Betroffenen<br />

seI bst. Im folgenden werde ich aus den Untersuchungsergebnissen zwei Punkte<br />

herausgreifen und näher ausführen, nämlich<br />

- Rahmenbedingungen und<br />

- Folgen für die Familienar<strong>bei</strong>t, insbesondere Kinderbetreuung.<br />

1. Teieheimar<strong>bei</strong>t und ihre Rahmenbedingungen. Die Notwendigkeit einer<br />

differenzierten Betrachtung<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t ist nicht per se vor- oder nachteilig für die Lebensumstände der<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>ter linnen und deren Familien; sie kann vielmehr eine sehr unter-


- 121 -<br />

schiedliche Bedeutung erlangen, je nachdem, welche Ressourcen in welchem<br />

Umfang mobilisiert werden können. Unsere Ressourcenthese besagt, daß je nach<br />

Art und Umfang der Ressourcen, die einem Haushalt zur Verfügung stehen bzw.<br />

verfügbar gemacht werden können, die Gestaltungsräume von Familien und die<br />

Ar<strong>bei</strong>t in und für Familien gesellschaftlichen Zwängen unterliegen oder aber<br />

sich ein Stück weit von diesen lösen können. Da<strong>bei</strong> verstehen wir unter "Resso<br />

urce" ein flexibles Potential an Personen, an Zeit, Geld, Raum und Zugang<br />

bzw. Verfügbarkeit über räumliche und soziale Infrastruktur, über Wissen, körperliche,<br />

geistige und seelische Gesundheit (Pieper 1983, S. 296).<br />

Unser Forschungsinteresse erkundet, wie die Familien der Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen einsetzen. Wir erhoffen<br />

uns so Aufschlüsse über Bewältigungsstrategien und Belastbarkeit familialer<br />

Ar<strong>bei</strong>t in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen, hier die Verlagerung<br />

bisher außerhäuslicher Erwerbsar<strong>bei</strong>t in den privaten Wohnbereich. Unsere<br />

Untersuchung macht deutlich, daß nicht alle Ressourcen gleichermaßen für die<br />

Lebensumstände dieser Familien bestimmend sind: vielmehr nimmt die Verfügung<br />

über bestimmte Ressourcen eine zentrale Bedeutung ein, weil di ese wiederum<br />

erst den Zugang zu anderen eröffnen.<br />

"Wissen" in ar<strong>bei</strong>tsmarktmäßig verwertbarer Form als beruflich nutzbare<br />

Qualifikation erweist sich als eine solchermaßen grundlegende Ressource. Sie<br />

entscheidet über Zugang und Ausmaß von finanziellem Entgelt, Räumlichkeiten,<br />

Möglichkeiten der Kinderbetreuung und über die Rekrutierung zusätzlicher<br />

Ar<strong>bei</strong>tskräfte. Darum soll im folgenden an diesem Beispiel dargestellt werden,<br />

wie sich Unterschiede des beruflichen Qualifikationsniveaus in den Ar<strong>bei</strong>ts- und<br />

Lebensverhältnissen niederschlagen, wie verschieden die Möglichkeiten von<br />

Frauen werden, sich und der Familie Freiräume zu verschaffen.<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t <strong>bei</strong> <strong>Text</strong>- und Datenerfassungstätigkeiten<br />

In unserer Fallstudie werden 7 Frauen untersucht, die in ihrer Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />

ausschließlich in <strong>Text</strong>- oder Datenerfassung ar<strong>bei</strong>ten. Da<strong>bei</strong> werden abgeschlossene<br />

<strong>Text</strong>e (zumeist deutsche, . mitunter aber auch fremdsprachige <strong>Text</strong>e sowie<br />

Lexika) abgeschrieben, gespeichert und dem betrieblichen Weiterverar<strong>bei</strong>tungsprozeß<br />

überstellt. Diese Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen haben zum großen Teil eine betriebliche<br />

Ausbildung als Büroschreibkräfte, aber auch in kaufmännischen Berufsbereichen.


- 122 -<br />

Daneben kommt <strong>bei</strong> Teleheimar<strong>bei</strong>t, so unsere Fallstudie, noch ein wichtiger<br />

Punkt hinzu, der die berufliche Stellung dieser Frauen weiter verschlechtert:<br />

Die befragten <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>terinnen in Teleheimar<strong>bei</strong>t haben durchgängig<br />

den Status formal Sel bständiger, obgleich die Abhängigkeit von einem einzigen<br />

Unternehmen umfassend ist. Den Betrieben bringt diese formale Selbständigkeit<br />

eine ganze Reihe von Vorteilen (vgl. Beitrag von Goldmann und Richter in diesem<br />

Band).<br />

Die Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen mit <strong>Text</strong>erfassungstätigkeiten sind sehr restriktiven<br />

zeitlichen Vorgaben ausgesetzt. Die Aufträge kommen meist sehr kurzfristig,<br />

der zukünftige Ar<strong>bei</strong>tsumfang ist nicht vorhersehbar. Die Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

müssen jederzeit in der Lage sein, zeitlich flexibel auf die betrieblichen<br />

Vorgaben zu reagieren. Abend-, Nacht- sowie Wochenendar<strong>bei</strong>t sind deshalb <strong>bei</strong><br />

diesen Frauen eher die Regel als die Ausnahme.<br />

Die Wohnverhältnisse dieser Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen wirken beengend. Die<br />

Wohnungen sind nicht so geräumig, daß sie sich ein Ar<strong>bei</strong>tszimmer einrichten<br />

können. Der <strong>Text</strong>automat steht deshalb in der Küche, im Schlafzimmer oder im<br />

Wohnzimmer. Damit sind Störungen <strong>bei</strong>m Schreiben vorprogrammiert, weil diese<br />

räumliche Enge auch die Aktivitäten der übrigen Familienmitglieder beeinträchtigt.<br />

Darüber hinaus sind diese Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen durch die Verlagerung der<br />

Erwerbsar<strong>bei</strong>t in die eigene Wohnung noch umfassender als Hausfrauen zeitlich<br />

und örtlich auf den häuslichen Bereich festgelegt: müssen sie doch über die<br />

Ar<strong>bei</strong>t in der Familie hinaus auch ihre Schreibar<strong>bei</strong>ten in den privaten Räumen<br />

leisten. Diese isolierte Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebenssituation belastet die von uns untersuchten<br />

Frauen sehr. Sie vermissen nicht nur Kontakte und Gespräche mit Kollegen,<br />

sondern fühlen sich auch in ihren nichtberuflichen Außen beziehungen<br />

eingeengt.<br />

Neben diesen vielfältigen beruflichen Nachteilen haben die Teleheimar­<br />

:leitsverhältnisse auch Auswirkungen auf die zeitliche Strukturierung des Alltags.<br />

Jede freie Minute wird von diesen Frauen genutzt, um allen Aufgabenbe­<br />

-eichen und Ansprüchen gerecht zu werden. Sie erbringen immens hohe Organi­<br />

;ationsleistungen <strong>bei</strong> der Bewältigung von Beruf und Familie.<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t verlangt diesen relativ niedrig qualifizierten Frauen mit<br />

rexterfassungstätigkeiten hohe Kosten ab:<br />

Sie bekommen für gleiche Leistungen weniger Entgelt und müssen sich als<br />

(j uristisch) Sel bständige individuell um ihre soziale Absicherung kümmern.


- 123 -<br />

- Sie sind von den betrieblichen Kommunikationsstrukturen ausgeschlossen;<br />

Aufstieg, und sei er noch so begrenzt, ist undenkbar.<br />

- Sie sind der eigenständigen Verfügung über ihre Zeit beraubt, indem es ihnen<br />

unmöglich ist zu planen. Der Zugriff auf ihre Ar<strong>bei</strong>tsleistung besteht<br />

"rund um die Uhr". Da<strong>bei</strong> ar<strong>bei</strong>ten sie noch nicht einmal in einem wirklichen<br />

"Ar<strong>bei</strong>t-auf-Abruf"-Verhältnis.<br />

- Sie verringern zwar die ökonomische Abhängigkeit von ihrem Ehemann, bleiben<br />

letztendlich trotzdem auf dessen Gehalt angewiesen, weil sie in der<br />

Regel nicht so viel und so regelmäßig verdienen, um notfalls sich und die<br />

Kinder eigenständig versorgen zu können.<br />

- Sie sind in der Regel alleine für Hausar<strong>bei</strong>t und Kinder zuständig, denn "sie<br />

si nd ja den ganzen Tag zu Hause". Eine gleiche Verteilung häuslicher Ar<strong>bei</strong>tslasten<br />

mit dem Partner oder auch nur eine Annäherung daran ist für<br />

heimar<strong>bei</strong>tende Frauen kaum möglich und meist gar nicht gewollt. Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />

wird oft gerade deshalb angenommen, um die Ar<strong>bei</strong>t in der Familie in<br />

vollem Umfang weiterzuführen, und trotzdem "neben<strong>bei</strong>" noch einer Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

nachgehen zu können. Damit wird aber die traditionelle geschlechtsspezifische<br />

Ar<strong>bei</strong>tsteilung nicht angetastet und im Vergleich zu Frauen mit<br />

außerhäuslicher Erwerbsar<strong>bei</strong>t noch verfestigt.<br />

- Letztendlich bleibt diesen Frauen noch weniger Zeit zur persönlichen Verfügung<br />

als anderen "Doppelbelasteten". Eigene Interessen werden weitgehend<br />

hintangestellt. Sie sind nur noch "für andere" da. Falls es doch gelingt, in<br />

Ausnahmefällen eigenen Interessen nachzugehen, ist regelmäßig der Preis<br />

der persönlichen Uberforderung und Uberanstrengung zu zahlen.<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t in hochqualifizierten Tätigkeitsbereichen<br />

Ein anderes Bild von Teleheimar<strong>bei</strong>t bieten die Ar<strong>bei</strong>tsplätze von Frauen, die<br />

eine höhere berufliche Qualifikation vorweisen können. Das sind vor allem Programmiererinnen,<br />

Übersetzerinnen, aber auch Frauen mit spezialisierten Buchhaltungstätigkeiten.<br />

Sie stehen zwar in demselben Zwiespalt wie weniger qualifizierte<br />

Frauen, ihre Berufstätigkeit mit der Kinderbetreuung und dem Haushalt<br />

vereinbaren zu müssen; auch hochqualifizierte Frauen ar<strong>bei</strong>ten in erster Linie<br />

deshalb zu Hause, weil sie betreuungsbedürftige Kinder haben. Dennoch haben<br />

sie weit mehr Möglichkeiten, Teleheimar<strong>bei</strong>t positiv zu wenden.


J<br />

- 124 -<br />

In unserer Fallstudie zeigt sich, daß die hochqualifizierten Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

- wenn auch in begrenztem Maße - Einfluß auf ihre Ar<strong>bei</strong>t nehmen<br />

können:<br />

Sie bestimmen den Ar<strong>bei</strong>tsumfang und -inhalt mit, d.h. sie können es sich<br />

leisten, Aufträge abzulehnen.<br />

Sie haben meist mehrere Auftraggeber und verringern so ihre finanzielle<br />

Abhängigkeit von den einzelnen Unternehmen.<br />

Sie haben Einfluß auf ihre Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen, d.h. sie können wählen zwischen<br />

einem betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplatz und einem Heimar<strong>bei</strong>tsplatz bzw.<br />

einer Kombination aus <strong>bei</strong>dem.<br />

- Sie können die Bear<strong>bei</strong>tungsdauer von Aufträgen und somit die zeitlichen<br />

Vorgaben mitbestimmen.<br />

Des weiteren sind hochqualifizierte Frauen so gut bezahlt, daß sie sich<br />

privat eine gute und umfassende Absicherung finanziell leisten können. Gegebenenfalls<br />

können sie sich selbst und ihren Kindern den Lebensunterhalt sichern.<br />

Zumeist haben jedoch auch diese Frauen Ehemänner, die ebenfalls gut verdienen.<br />

Diese finanziellen Verhältnisse ermöglichen es ihnen, zum einen Hausar<strong>bei</strong>t<br />

und Kinderbetreuung teilweise gegen Bezahlung an andere abzugeben, zum anderen<br />

sich einen Ar<strong>bei</strong>tsraum einzurichten, der ungestörtes und konzentriertes<br />

Ar<strong>bei</strong>ten zuläßt.<br />

Das Problem der Isolation trifft natürlich auch hochqualifizierte Frauen,<br />

nur haben sie die Mittel und Möglichkeiten, besser damit umzugehen. Der mögliche<br />

Rückgriff auf einen betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplatz und <strong>bei</strong>spielsweise eine<br />

er höhte Mobilität durch ein eigenes Auto eröffnen in schwierigen Situationen<br />

Auswege. Die Ar<strong>bei</strong>tssituation hochqualifizierter Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen unterscheidet<br />

sich kaum von der anderer weiblicher "Freiberufler" wie etwa Architekten/innen<br />

und Rechtsanwälten/innen (vgl. Schuster 1986, S. 9).<br />

Diese Gegenüberstellung von Tel eheimar<strong>bei</strong>terinnen mit verschiedenen beruflichen<br />

Qualifikationen soll deutlich machen, daß Teleheimar<strong>bei</strong>t sehr untersc<br />

hiedliche Chancen der Ausgestaltung und Vereinbarung von beruflicher und<br />

familialer Ar<strong>bei</strong>t <strong>bei</strong>nhaltet. Das Ausmaß vorhandener Ressourcen korrespondi<br />

ert mit Entlastungsmöglichkeiten, die den Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen zur Verfügu<br />

ng stehen. Sie bestimmen somit die Lebensumstände der Teleheimar<strong>bei</strong>tsfamilien<br />

entscheidend mit.<br />

Der jetzige Stand unserer Fallstudie vermittelt den Eindruck, daß sich der<br />

Zugang zu den Ressourcen oder die Nichtverfügung über sie jeweils kumuliert.


- 125 -<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen, die eine gute Ausbildung und eine höhere berufliche<br />

Position erreichen, verfügen über mehr finanzielle Mittel, haben meist mehr<br />

Platz in ihren privaten Wohnungen zur Verfügung, können sich eine gute soziale<br />

Absicherung leisten und können (und wollen) für die Kinderbetreuung noch<br />

an dere Personen und Institutionen in Anspruch nehmen. Für Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

mit einer niedrigeren beruflichen Qualifikation gilt das Umgekehrte.<br />

Ein weiterer Punkt kommt hinzu: hochqualifizierte Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

haben weit mehr als niedriger qualifizierte den Erhalt ihrer beruflichen Qualifi<br />

kation im Blickfeld. Der Grund für die Aufgabe betrieblicher Berufsar<strong>bei</strong>t ist<br />

zwar auch <strong>bei</strong> diesen Frauen der Wunsch, mehr Zeit für die Kinder zu haben;<br />

ein wichtiges Motiv für di e Aufnahme einer Teleheimar<strong>bei</strong>t ist aber, die berufliche<br />

Qualifikation zu erhalten. Damit wird versucht, Unterbrechungen der Berufsverläufe<br />

zu vermeiden und die eigene Berufsbiographie kontinuierlich zu<br />

gestalten. Bei Hochqualifizierten sind di e Chancen gut, daß diese Strategie gelingt.<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen in <strong>Text</strong>erfassungstätigkeiten dagegen müssen, so<br />

die Ergebnisse unserer Fallstudie, im Vergleich zu ihrer vorherigen betrieblichen<br />

Tätigkeit einen Verl ust ihrer beruflichen Qualifikation hinnehmen. Ihre<br />

Chancen, in den ehemaligen Berufen wieder einen betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplatz zu<br />

finden, sind eher gering einzuschätzen, selbst im Falle einer kontinuierlichen<br />

Berufsbiographie mit Hilfe der Teleheimar<strong>bei</strong>t - zumindest, wenn man dieser<br />

Einschätzung die derzeitig schlechte Ar<strong>bei</strong>tsmarktlage zugrunde legt.<br />

Die gering qual ifizierten Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen nehmen eine Dequalifizierung<br />

bewußt in Kauf, sie legen ihren persönlichen Schwerpunkt auf die Familie.<br />

Sie nehmen gerade deswegen eine Teleheimar<strong>bei</strong>t an, weil sie ihren Haushalt<br />

und ihre Kinder seI bst in einer bestimmten Form versorgen wollen. Die möglichen<br />

Alternativen für diese Frauen, berufliche und familiale Ar<strong>bei</strong>t in einer<br />

gewünschten Weise zu vereinbaren, sind so beschränkt, daß sich Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />

oft als rettender Anker darstellt.<br />

2. Teleheimar<strong>bei</strong>t und ihre Folgen für die Ar<strong>bei</strong>t in der Familie.<br />

Das Beispiel der Kinderbetreuung<br />

Als zweiter Aspekt soll auf die Folgen von Teleheimar<strong>bei</strong>t für die Ar<strong>bei</strong>t in<br />

der Familie eingegangen werden. Da<strong>bei</strong> wird exemplarisch am Ausmaß und der<br />

Qualität der Kinderbetreuung gezeigt, wie sehr die Erwartungen an Teleheim-


- 126 -<br />

ar<strong>bei</strong>t einerseits sowie deren reale Gestalt andererseits auseinanderfallen können.<br />

Teleheimar<strong>bei</strong>t, so unsere Fallstudie, ist eine Ar<strong>bei</strong>tsform, die <strong>bei</strong>spielhaft<br />

die Probleme der Frauenar<strong>bei</strong>t verdeutlicht: denn weibliche Berufsar<strong>bei</strong>t findet<br />

immer vor dem Hintergrund familialer Ar<strong>bei</strong>t statt - sei sie aktuell abgefordert<br />

oder nur gedanklich vorweggenommen. Teleheimar<strong>bei</strong>t ist da<strong>bei</strong> ein Versuch, die<br />

Ar<strong>bei</strong>t in der Familie, insbesondere die Kinderbetreuung und die Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

in einer erträglichen Weise zu vereinbaren durch die Zusammenlegung <strong>bei</strong>der<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbereiche an denselben Ort. Die Frage, die uns interessiert, ist: Kann die<br />

familiale Ar<strong>bei</strong>t wirklich in der erwünschten Form und Qualität erbracht werden,<br />

oder wird sie im Gegenteil nicht sogar zunehmend nach den beruflichen<br />

Kriterien der Teleheimar<strong>bei</strong>t abgewickelt?<br />

Die von uns untersuchten Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen haben den Anspruch, ihre<br />

Kinder selbst dauernd und regelmäßig zu betreuen. Dies ist der ausschlaggebende<br />

Grund für die Annahme einer Teleheimar<strong>bei</strong>t. Es lassen sich jedoch Unterschiede<br />

zwischen den Hochqualifizierten und den niedriger Qualifizierten feststellen:<br />

die höher Qualifizierten orientieren sich in ihren Kinderbetreuungsmodel<br />

len eher an Lösungen, wie sie auch von Frauen in betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen<br />

gewählt werden. Sie wollen einen bestimmten Zeitabschnitt ihres<br />

Tages ausschließlich für die berufliche Ar<strong>bei</strong>t reservieren, um sie in nötiger<br />

Ruhe und Konzentration erledigen zu können, d.h., sie versuchen eher, eine<br />

Trennung zwischen Berufsar<strong>bei</strong>t und der Ar<strong>bei</strong>t in der Familie aufrecht zu erhalten.<br />

Anders <strong>bei</strong> den niedriger qualifizierten Frauen in der <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tung:<br />

Diese Frauen wollen mittags zu Hause sein, wenn ihre Kinder von der Schule<br />

kommen, si wollen deren Hausaufgaben und Spiele begleiten, sie wollen im<br />

Krankheitsfall selbst <strong>bei</strong> ihren Kindern bleiben können. Diese Frauen möchten<br />

immer für ihre Kinder "ansprechbar" und für sie "da" sein. Die Ar<strong>bei</strong>t am <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tungsgerät<br />

soll nach ihren Vorstellungen "neben<strong>bei</strong>" gemacht werden<br />

können, sie sollte in den Zeiten erledigt werden können, die nicht mit Ar<strong>bei</strong>t<br />

für die Familie ausgefüllt sind. Diese Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen erwarten, daß di e<br />

Leerzeiten der Hausar<strong>bei</strong>t und Kinderbetreuung ausreichen, um die berufliche<br />

Ar<strong>bei</strong>t am Computer zu erledigen. Diese Frauen stellen sich vor, daß für die<br />

Bear<strong>bei</strong>tung dieser unterschiedlichen Aufgaben ein Nebeneinander und Hintereinander<br />

die optimale Lösung wäre; gleichzeitig hoffen sie, so der Einsamkeit<br />

und Langeweile der Hausar<strong>bei</strong>t zu entgehen.<br />

Diese Erwartungen werden, zumindest in unserer Fallstudie, nicht erfüllt:


- 127 -<br />

der zeitliche Umfang der Teleheimar<strong>bei</strong>t kann nicht von den Frauen selbst bestimmt<br />

werden, sondern wird meist von den jeweiligen Auftragsunternehmen<br />

di ktiert. Damit dreht sich aber das ursprünglich gewünschte Verhältnis zwischen<br />

Berufsar<strong>bei</strong>t und familialer Ar<strong>bei</strong>t um: nicht der Umfang der Berufsar<strong>bei</strong>t<br />

orientiert sich an den Erfordernissen der familialen Ar<strong>bei</strong>t, sondern die Ar<strong>bei</strong>t<br />

in der Familie hat sich den Anforderungen der Berufsar<strong>bei</strong>t unterzuordnen.<br />

Die Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen unserer Fallstudie richten letztendlich Ausmaß<br />

und Qualität der Ar<strong>bei</strong>t in der Familie nach den Vorgaben der beruflichen Ar<strong>bei</strong>t<br />

aus. Für die Kinderbetreuung heißt das: die von den Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />

erhoffte ständige Fürsorge für die Kinder kann von ihnen nur bedingt realisiert<br />

werden. Sie sind zwar "rund um die Uhr" physisch anwesend, jedoch keineswegs<br />

al lzeit ansprechbar. Damit sind sie für ihre Kinder zwar körperlich da, sichtbar,<br />

ihr Denken und Fühlen wird aber erheblich und über weite Strecken des<br />

Tages vom Computer absorbiert. Die Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen können ihren Kindern<br />

nur noch eingeschränkt Aufmerksamkeit zukommen lassen, oftmals beschränkt<br />

sich die Kinderbetreuung auf eine oberflächliche "Kontrolle". Ein hohes<br />

Maß an Sel bstkontrolle ist nötig, weil Teleheimar<strong>bei</strong>t den Preis hoher Nervosität<br />

und Uberbeanspruchung fordert. Mit Teleheimar<strong>bei</strong>t wird der familialen<br />

Ar<strong>bei</strong>t die Zeit- und Kostenökonomie der beruflichen Ar<strong>bei</strong>t "übergestülpt".<br />

Dieses Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit setzt die Frauen<br />

selbst unter erhöhten Streß. Sie wollen trotz der geschilderten Schwierigkeiten<br />

an<br />

<strong>bei</strong>den Ar<strong>bei</strong>tsbereichen teilhaben. Der ständige Wechsel bzw. die gleichzeiti<br />

ge Bear<strong>bei</strong>tung von familialen und beruflichen Aufgaben verlangen den Teleheimar<strong>bei</strong>ter<br />

innen erhebliche Organisationsleistungen ab. Die Hoffnung dieser<br />

Frauen, mehr Freiräume in ihrer Verbindung von Ar<strong>bei</strong>t und Leben zu erhalten,<br />

erfüllt sich meist nicht. Dise Ar<strong>bei</strong>tssituation als Teleheimar<strong>bei</strong>terin birgt die<br />

Gefahr, zum Nachteil der Frauen auszuschlagen, die nach einer individuellen<br />

Lösung des gesellschaftlichen Problems der Vereinbarung von Beruf und Familie<br />

suchen (müssen).<br />

LITERATUR<br />

Pieper, Barbara: Subjektorientierung als Forschungsverfahren - vorgestellt am<br />

Beispiel häuslicher Ar<strong>bei</strong>t. In: Bolte, K.M./Treutner, E. (Hg.): Subjektorientierte<br />

Ar<strong>bei</strong>ts- und Berufssoziologie. Frankfurt/ New York 1983


- 128 -<br />

Schuster, Irene: Erster Erfahrungsbericht über Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen. In: Informationen<br />

für die Frau (1986) 6


- 129 -<br />

Inga Discher<br />

TRAUTES HEIM - GLUCK ALLEIN?<br />

Uber den vielfältigen Nutzen der Ansiedelung weiblicher Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

im Wohnbereich und seine kleinen Schattenseiten<br />

Die erste deutsche Studie über Auswahl, Eignung und Auswirkung von informationstechnisch<br />

gestützten Heimar<strong>bei</strong>tsplätzen - kurz Telear<strong>bei</strong>t genannt - faßte<br />

1982 die möglichen Schattenseiten in der Überschneidung der Wohnnutzung als<br />

ni cht empirisch überprüfte Vermutung zusammen:<br />

"Besondere Probleme können sich hinsichtlich des Flächenbedarfs,<br />

der Beleuchtung und des Raumklimas ergeben. Telear<strong>bei</strong>tsplätze werden<br />

definitionsgemäß in der privaten Wohnung der Erwerbstätigen<br />

in stalliert, die nicht für Ar<strong>bei</strong>ts-, sondern für Wohnzwecke konzipi<br />

ert und gebaut werden. Sofern im konkreten Fall kein zusätzlicher<br />

Raum zur Verfügung steht, wird die Einrichtung eines Telear<strong>bei</strong>tsplatzes<br />

zur Nutzungskonkurrenz im vielfach schon knappen Wohnraum<br />

führen." (Ballerstedt u.a. 1982, S. 276)<br />

Diese prognostischen Einschätzungen gehen von den angenommenen Verhaltensweisen<br />

der "Neutren" der Erwerbstätigkeiten aus. Tatsächlich jedoch<br />

zeigen Frauen und Männer höchst unterschiedliche Einstellungen, Bewertungskriterien<br />

und Problemlösungsstrategien. Gemäß ihrer geschlechtsspezifischen<br />

Rol lenzuweisung müssen die Frauen Vereinbarkeitsmodel le entwickeln, die Ar<strong>bei</strong>tsplatz<br />

im Haus, Reproduktionsfläche für den Mann und Familienaufgaben<br />

gewährleisten. In der Hierarchie von emotionaler Zuwendung bis zu effektiver<br />

Ausgestaltung und Sicherung des häuslichen Ar<strong>bei</strong>tsplatzes sind Frauen personengebunden<br />

orientiert. Das männliche "Ernährermodell" läßt die Männer andere<br />

Prioritäten setzen, der Zwang zur lebenslangen Erwerbsar<strong>bei</strong>t verlangt nach<br />

rationellen effektiven Standortbedingungen <strong>bei</strong> der Einrichtung eines häuslichen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplatzes.<br />

Historisch betrachtet, sind die bis zur industriellen Revolution im Hausverband<br />

zusammengeschlossenen Lebens- und Ar<strong>bei</strong>tsgemeinschaften mehrerer<br />

Generationen nicht zu vergleichen mit den Verlagerungstendenzen <strong>bei</strong> Telear<strong>bei</strong>t<br />

in den privaten Raum.


- 130 -<br />

1. Die "normale" Diskriminierung der Frau im Wohnbereich<br />

Die Kleinwohnung wurde der Ar<strong>bei</strong>tsplatz der Frau, dort verrichtet sie unbezahlte<br />

Haus- und Familienar<strong>bei</strong>t. Als weibliche Lieferantin eines zusätzlichen<br />

Familieneinkommens, als "Mitverdienerin", verbessert sich ihr Status nicht umstandslos:<br />

Unbezahlte Hausfrau - schlecht entlohnte Berufsfrau. Innerhalb ihres<br />

Ar<strong>bei</strong>tspla tzes Wohnung ergeben sich weitere Interessenüberschneidungen.<br />

Wohnraum ist nach der funktionellen Anordnung der Räume in Tag- und Nachtbereiche,<br />

in Repräsentationsräume und Ar<strong>bei</strong>tsstätte an den Erholungsinteressen<br />

der Männer orientiert. Die flächenmäßige Verteilung der Einzelräume, die<br />

ba uliche Trennung der Küche vom Eßplatz, dem Wohn- und dem Kinderzimmer,<br />

unterstützen die geschlechtsspezifische Ar<strong>bei</strong>tsteil ung im Haushalt, führen zur<br />

Isolation und Mehrbelastung der Frauen (Warhaftig 1979). Innerhalb der Wohnfl<br />

äche ist ein eigener Reproduktionsraum für Frauen nicht vorgesehen. Hat sie<br />

überhaupt Anspruch auf Reproduktionszeit? Familienbedürfnisse bestimmen quasi<br />

unbegrenzt den Einsatz weiblicher Ar<strong>bei</strong>tskraft, somit auch innerhäuslich<br />

fl exibler Ar<strong>bei</strong>tseinsatz auf Abruf. Der Wegzeitenaufwand innerhalb der Wohnung<br />

ist aufgrund der üblichen Raumanordnung enorm: Von der meist nach Norden<br />

ausgerichteten, zellenartigen Küche gibt es keine Direktverbindung zum<br />

Kinderzimmer und damit zu den Betreuungsaufgaben. Die Küche ist eng; sie ist<br />

auf eine Person zugeschnitten (Terlinden 1980). Der Hauptort weiblicher, auch<br />

räumlich unsichtbar gemachter Hausar<strong>bei</strong>t.<br />

Räumliche und soziale Isolation kennzeichnen nicht nur den Wohnbereich<br />

von Frauen, sie schreiben sich in der Funktionsteilung der Städte, des Landes,<br />

in der Aufteilung in Gewerbegebiete, Geschäfts- und Ar<strong>bei</strong>tsgebiete und Wohngebiete<br />

fort. Die geringe Mobilität von Frauen, gemessen am Wegzeitenaufwand<br />

(fußläufiges Frauenverhalten contra Aktivität der männlich erbrachten Autokilometer<br />

), die verkehrsbedingte "Nutzungsbenachteiligung", verweisen die Frauen<br />

an<br />

nahegelegene Einrichtungen und schnell erreichbare Ar<strong>bei</strong>tsplätze, um Familienbedürfnisse<br />

und Erwerbsar<strong>bei</strong>t zu vereinbaren. Hinzu kommen die Mängel<br />

der Infrastruktur für Frauen: starre Öffnungszeiten für Kinderbetreuungseinrichtungen,<br />

keine Erholungsangebote im Wohnumfeld, keine öffentlichen Treffpunkte.


- 131 -<br />

2. Die doppelt unsichtbare Ar<strong>bei</strong>t<br />

Nach dieser Skizze über die Diskriminierung der Frauen im Wohnbereich unter<br />

"durchschnittlichen" Verhältnissen nun ein empirischer Blick auf die Bewältigu<br />

ngsstrategien der zuhause telear<strong>bei</strong>tenden Frauen und Männer. Welche Nutzungsüberschneidungen<br />

auftreten, mit welchen Mitteln und zu wessen Lasten<br />

si e gelöst werden, welche veränderte Raumnutzung sich ergibt, wird im folgenden<br />

aufgezeigt. Basis der empirischen Auswertungen sind Intensivintervi ews mit<br />

je zehn Frauen und Männern unterschiedlicher Qualifikationen: von der einfachen<br />

Datenerfassung über Ubersetzungsar<strong>bei</strong>ten bis zu Programmier- und Systemanalysetätigkeiten<br />

(Discher/Klug 1986).<br />

Bei der Wahl des Ar<strong>bei</strong>tsortes mußten sich die Frauen an mehreren Bedingungen<br />

orientieren: es gilt, Familieninteressen - also ständige Erreichbarkeit<br />

und Ansprechbarkeit - mit der Ar<strong>bei</strong>t am Computer zu kombinieren. Die dazu<br />

erforderlichen Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen - relative Ungestörtheit, Ruhe, Konzentrationsmöglichkeiten<br />

für länger andauernde Ar<strong>bei</strong>tszeiten - ähnlich den Anforderungen<br />

an betriebliche Ar<strong>bei</strong>tsplätze - stehen im Gegensatz zu den Ansprüchen<br />

nach emotionaler Zuwendung seitens der Familienmitglieder. Ausschlaggebend<br />

für die Frauen <strong>bei</strong> der Auswahl ihres Gerätestandortes ist die Erreichbarkeit<br />

ih rer Person. Entsprechend steht der Computer überwiegend im Wohnzimmer,<br />

im Flur oder in der Küche. Verfügen die Frauen ausnahmsweise über ein eigenes<br />

Ar<strong>bei</strong>tszimmer, so liegt der Ar<strong>bei</strong>tsort meist abseits vom zentralen Wohnbereich.<br />

Die räumliche Abtrennung von Familienar<strong>bei</strong>t und Erwerbsar<strong>bei</strong>t erschwert<br />

die Vereinbarung. Der häufig erzwungene Komprorniß geht dahin, Familienaufgaben<br />

mit Priorität zu versehen, die Erwerbsar<strong>bei</strong>t dagegen auf Randzeiten<br />

(Abend-, Nacht- und Wochenen?zeiten) zu verlegen. Da das Ar<strong>bei</strong>tszimmer<br />

- soweit es existiert - immer auch eine Zweit- oder Drittfunktion etwa als<br />

Bügel- und Nähraum oder als Gästeschlafzimmer hat, wird die Geräteausstattung<br />

kaschiert: Asthetische Vorstellungen über die Ausgestaltung des Wohnbereichs<br />

vertragen sich nicht mit der Atmosphäre des "Technik-Designs". Die Gerä<br />

te werden "angeglichen", <strong>bei</strong>spielsweise zugedeckt, unkenntlich gemacht, auf<br />

Rollen gesetzt und mit dem Tisch in den Wandschrank gefahren. Vermutlich<br />

entspricht dies nicht nur einem ästhetischen Bedürfnis: So unsichtbar wie in<br />

dafür abgetrennten Räumen und Zeiten Hausar<strong>bei</strong>t verschwindet, so wird die<br />

häuslich geleistete Erwerbsar<strong>bei</strong>t verdeckt.


- 132 -<br />

Ein weiterer Grund für die "Verschleierung" ist die Abschirmung gegen die<br />

stän dige Erinnerung an Ar<strong>bei</strong>t. Im Gegensatz zu betrieblicher Ar<strong>bei</strong>t mit festgesetzten<br />

Ar<strong>bei</strong>tszeiten und Ortswechsel ist die Telear<strong>bei</strong>t zuhause prinzipiell<br />

ständig anstehende Ar<strong>bei</strong>t - abgesehen von Auftragsflauten.<br />

Entgegen der von betrieblicher Seite hervorgehobenen Kombinierbarkeit<br />

von Erwerbsar<strong>bei</strong>t und Familienar<strong>bei</strong>t im Haus erweist sich die Praxis eher als<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverdichtung, und zwar nicht nur wegen der akkordähnlich ausgestalteten<br />

Bezahlung, sondern auch aufgrund der multifunktionellen Aufgabengebiete im<br />

raschen Wechsel. Als gesonderte Wegstrecke fällt nun an, was früher auf dem<br />

Weg zu und von der Ar<strong>bei</strong>t einzukaufen und zu erledigen war. Kinder zum Kindergarten<br />

bringen oder Besorgungen machen, sind jezt zusätzliche Zeitfaktoren.<br />

Auch im Wohnbereich lassen sich Ar<strong>bei</strong>tsabläufe wie Kochen, Hausaufgaben<br />

be treuen, Kinder beaufsichtigen, Waschen etc. kaum kombinieren, sondern sind<br />

nur durch Verlagerung und Unterbrechung der. Erwerbstätigkeit zu organisieren.<br />

Die Primärorientierung der Telear<strong>bei</strong>terinnen an den Familienbedürfnissen<br />

korrespondiert mit der Erwartungshaltung der Familienmitglieder. Sie alle finden<br />

die Erwerbstätigkeit ihrer Mütter und Ehefrauen im Haus angenehm. Die<br />

Kinder nutzen die Anwesenheit der Mutter zur verstärkten Kommunikation. Die<br />

oft mühsam eingeführ ten häuslichen Aufgabenübertragungen, selbständige Ar<strong>bei</strong>tsabwicklungen<br />

lösen sich mit der ständigen Anwesenheit der Mutter mehr<br />

od er weniger schnell auf. Auch die Ehemänner gehen, wenn ihre Frauen zuhause<br />

ar<strong>bei</strong>ten, zu einer noch bescheideneren Beteiligung an Haushaltsaufgaben<br />

über. Im Ergebnis werden Geschlechtsstereotype eher verstärkt, di e geschlechtshierarchische<br />

Ar<strong>bei</strong>tsteil ung verfestigt.<br />

Bei der genaueren Überprüfung der Ar<strong>bei</strong>tsplätze werden ergonomische<br />

Mängel deutlich. Die Ausgestaltung wird unter einem kurzfristigen Kalkül entschieden.<br />

Die für Bildschirmar<strong>bei</strong>tsplätze ausgegebenen Richtlinien der Verwaltungsgenossenschaften<br />

bezüglich Stellflächen, Tischhöhe, Bestuhlung und Blendfreiheit<br />

sind selten be kannt; die darin angegebenen Mindestflächen für Bildschirmar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

werden immer unterschritten. Die Büromöbel, die eher an<br />

Sperrmüll erinnern, sind immer auf engstem Raum, unter ungünstigen Lichtverhältnissen<br />

angeordnet. Teile der Ausstattung (Stühle, Ablagefläche) werden<br />

auch an derweitig verwendet oder abgebaut, um Lauffläche herzustellen. Das<br />

heißt konkret, der Ar<strong>bei</strong>tsplatz ist nicht immer nutzbar, muß stets neu wiederhergerichtet<br />

werden.


- 133 -<br />

Sind die Computer nicht von einem Auftraggeber gestellt, sondern Eigenanschaffungen,<br />

stehen der Preis, die kurzfristige Finanzierbarkeit, im Vordergrund.<br />

Moderne Geräte, die relativ schnell mit gutem Bild und umfangreichem<br />

Programm bestmögliche Ar<strong>bei</strong>tsergebnisse erzielen, sind teuer. Die von den<br />

Frauen eingesetzten Geräte unterer bis mittlerer Preisklasse ohne größere<br />

Anbaumöglichkeiten benötigen auch von der Gerätetechnik her mehr Zeit, d.h.<br />

mehr Ar<strong>bei</strong>t für weniger Geld. Diese Planung ohne zukünftige Expansionsmöglichkeiten<br />

ist schon in der Geräteausstattung verankert. Demgegenüber setzt<br />

der Erhalt der Qualifikation Vertrautheit mit der Bedienung der neuesten Gerätetechnik<br />

und Kenntnisse der Aussteuerung entwickelter Funktionen am Gerät<br />

vo raus. Der zu erwartende negative Kreislauf - geringes Einkommen, lange<br />

Abschreibezeiten der Geräteausstattung, steigende Standards der Auftraggeber<br />

bezüglich der Qualität der Ar<strong>bei</strong>tsergebnisse, die wiederum neue Geräteausstattung<br />

erfordern, Verschuldung bzw. geringes Einkommen - macht eher Ar<strong>bei</strong>tsverdichtung<br />

<strong>bei</strong> gleicher Entlohnung als Erhalt oder Erhöhung der Qualifikation<br />

wahrscheinlich. Während es sich <strong>bei</strong> den ausgelagerten Ar<strong>bei</strong>tsaufgaben<br />

in aller Regel um Teiltätigkeiten handelt, die allerdings von relativ einfachem<br />

bis zu hohem Qualifikationsniveau reichen, verbleiben die anspruchsvolleren,<br />

umfassenderen Tätigkeiten, die auch die kollegiale Zusammenar<strong>bei</strong>t erfordern,<br />

im Betrieb. Reduzierte Teiltätigkeiten, etwa von <strong>Text</strong>erfasserinnen, zeichnen<br />

si ch durch Monotonie, Hetze und Streß aus , Belastungen, di e keine Entsprech<br />

ung in der EntlOhnung finden. Demgegenüber sind Berufsausbildung, Berufserfahrung<br />

und genaue Kenntnis der betrieblichen Abläufe Voraussetzungen <strong>bei</strong><br />

der Einstellung der Betriebe, sind Momente ihrer Rekrutierungsstrategie. Sie<br />

sind Teil der Ar<strong>bei</strong>tsgestaltung zuhause und setzen im Ar<strong>bei</strong>tsergebnis genau an<br />

der betrieblichen Produktionsverar<strong>bei</strong>tung an. Diese Kenntnisse sind nicht theoretisch<br />

zu vermitteln, weshalb sich diese Qualifikationen mit der Dauer der<br />

vom Betriebsgeschehen isoliert ar<strong>bei</strong>tenden Telear<strong>bei</strong>terinnen vernutzen. Handelt<br />

es sich <strong>bei</strong> diesem Qualifikationsverl ust um eine notwendige Folge der<br />

Erwerbsar<strong>bei</strong>t im Haus oder nur um eine frauenspezifische Orientierungslosigkeit<br />

ihrer Berufsbiographien oder um das Problem des "weißen Flecks" in der<br />

Infrastruktur und der Interessenvertretung?<br />

Wenden wir uns zur Überprüfung dieser Frage den männlichen Koll egen<br />

zu. In den gleichen Berufsfel dern (<strong>Text</strong>erfassung, Übersetzung, Programmierung)<br />

nu tzen sie privaten Wohnraum deutlich anders aus. Bei annähernd gleichen<br />

Wohnungsgrößen und gleicher Raumaufteilung ist ihnen die Reservierung eines


- 134 -<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplatzes kein Problem. Nach den Kriterien der Ungestörtheit, der besten<br />

Lichtverhältnisse, der größten räumlichen Entfernung des Ar<strong>bei</strong>tsplatzes von<br />

den Störungen der Familienmitglieder wählen sie Flächen aus, die ihren früheren<br />

betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen entsprechen. Die Ubertragung der betrieblichen<br />

Organisation nach Hause bedeutet z.B., daß das Familientelefon okkupiert<br />

wird. Die Ar<strong>bei</strong>tsplätze an den Fensterseiten der Wohnzimmer, Schlafräume<br />

bzw. im eigenen Ar<strong>bei</strong>tszimmer (ohne zusätzliche Funktionen) sind bestens ausgestattet<br />

und entsprechen den Vorschriften des Ar<strong>bei</strong>tsschutzes wie auch den<br />

ergonomischen Normen. Die Büromöbelausstattung entspricht den betrieblichen<br />

Standards, die Geräteausstattung trägt dem Gesichtspunkt der technischen Ausbaufähigkeit<br />

Rechnung. Die Geräte-Asthetik ist an den Einrichtungsstil so angeglichen,<br />

wie dies Fernsehanlagen und Hi-Fi-Türme durch Wert-Besetzung<br />

sc hon bislang demonstriert haben - Männerwerte! Männliche Telear<strong>bei</strong>ter sehen<br />

ihre Tätigkeit als eine berufliche Perspektive, die ihnen flexible Ar<strong>bei</strong>tszeiten<br />

"eröffnet, hierarchische betriebliche Zwänge abbaut, insgesamt größere Unabhängigkeit<br />

ermöglicht.<br />

Im Vordergrund stehen <strong>bei</strong> ihnen mithin nicht die Kombinierbarkeit von<br />

Familienbetreuungsaufgaben und häuslicher Erwerbstätigkeit, sondern das<br />

Eigeninteresse an selbständiger Ar<strong>bei</strong>tsorganisation. Der<br />

"männliche" Tele­<br />

Heimar<strong>bei</strong>tsplatz hat Wert, denn er erzeugt Familieneinkommen; er ist wichtig<br />

und demonstriert das in der unverhohlenen Zur-Schau-Stellung der Gerätetechni<br />

k. Die von den Männern festgesetzten Ar<strong>bei</strong>tszeiten werden von allen Familienmitgliedern<br />

respektiert; besonders laute Ar<strong>bei</strong>ten werden auf die Pausenzeiten<br />

der Männer gelegt.<br />

Nicht biologische Grundkonstanten, sondern die Widersprüchlichkeit <strong>bei</strong><br />

der Vereinbarung von Familien- und Erwerbstätigkeiten ist " mithin der Stein,<br />

über den frau <strong>bei</strong> Tele-Heimar<strong>bei</strong>t stolpert. Die Uberlappung der gegensätzlichen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsaufgaben lassen auch in der Planung und Organisation kaum Zielgerichtetheit<br />

zu.<br />

Alles unter einem Dach - alles bestens? Produktions- und Reproduktionsar<br />

<strong>bei</strong>t im Wohnbereich bedeuten für die dort ar<strong>bei</strong>tenden Frauen und Männer<br />

höc hst Unterschiedliches. Gemeinsam ist ihnen, daß diese Form der Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

Wohnfläche entzieht, zusätzliches Konfliktpotential schafft, Familienbedürfnisse<br />

beschneidet und reglementiert. Zu fordern ist und bleibt die Öffnung<br />

des privaten Bereichs der Wohnung nach außen, nicht die Reduzierung der Teil-<br />

"habe an der Öffentlichkeit durch innerhäusliche, ungeschützte Erwerbsar<strong>bei</strong>t,


- 135 -<br />

die zudem Möglichkeiten des sozialen und politischen Lernens verengt, eine<br />

menschliche Qualifikation.<br />

LITERATUR<br />

BaI Ierstedt, E./Dipper, M./Krebsbach-Gnath, C.: Studie über Auswahl, Eignung<br />

und Auswirkungen von informationstechnisch ausgestatteten Heimar<strong>bei</strong>tspl<br />

ätzen. Forschungsbericht (DV 82-002) des BatteIle-Instituts. Frankfurt/­<br />

Main 1982<br />

Discher, I./ Klug, G.: Telear<strong>bei</strong>t - Chancen oder Risiken für die Frauenerwerbsar<br />

<strong>bei</strong>t? Untersuchung für die Bevollmächtigte der hessischen Landesregierung<br />

für Frauenangelegenheiten. Ms. Frankfurt 1986<br />

Terlinden, UIIa: Baulich-räumliche HERRschafts-Bedingungen und Veränderungen.<br />

In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis (1980) 4<br />

Warhaftig, Myra: Die Behinderung der Emanzipation der Frau durch die Wohnu<br />

ng. In: Bauwelt (1979) 31/32


- 136 -<br />

Gabriele C. Klug<br />

JURISTISCHE PROBLEME UND GEST AL TUNGSMÖGLICHKEITEN<br />

DER TELEARBEIT<br />

1. Flexibilisierung von Unternehmensorganisation und Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />

"Telear<strong>bei</strong>t" - dieser Begriff kann heute als Schlagwort für die aktuellen Entwickl<br />

ungen stehen, in denen sich der Prozeß ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher Deregulierung<br />

im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Ar<strong>bei</strong>tsorganisation vollzieht.<br />

Wegen dieses qualitativen Aspekts hat die heftig geführte Diskussion um die<br />

"Telear<strong>bei</strong>t" ihre Sprengkraft erhalten, nicht aus ihrer quantitativen Bedeutung.<br />

Die rechtliche Problematik der Telear<strong>bei</strong>t ist nicht von ihrem unternehmensorganisatorischen<br />

Hintergrund zu trennen: Einführung bzw. Ausbau von Telear<strong>bei</strong>t<br />

werden in Umsetzung unternehmerischer Rationalisierungsentscheidungen durchgesetzt:<br />

die Wirtschaft organisiert sich neu, um optimal flexibel auf im Wandel<br />

be findliche Marktverhältnisse und verschärfte Wettbewerbsbedingungen zu reagieren.<br />

Dies führt zu Unternehmens(-eigner-)entscheidungen, die ar<strong>bei</strong>tsrechtlich<br />

e Konsequenzen haben: was auf der betriebswirtschaftlichen Seite "Flexibilisi<br />

erung von Unternehmensorganisation" heißt, bedeutet in der ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen<br />

Konsequenz: Unternehmensteilung und Betriebsaufspaltung, Betriebsstillegung<br />

und Kündigung - oder "flexiblere Beschäftigungsformen". Betriebliche Realität,<br />

die Gestalt des "Sozialorts Betrieb" ändert sich, die Interessen der Beschäftigten<br />

sind betroffen - Mitbestimmungsrecht und kollektive Regelungen sollten<br />

gr eifen.<br />

Wie lückenhaft die ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Schutzregel ungen sind, zeigt sich<br />

<strong>bei</strong>spielhaft im Zusammenhang mit der Einführung neuer Technologie in den<br />

Betrieben: Erbittert müssen Gewerkschaften und Betriebsräte feststellen, daß<br />

die tradierten Instrumente des kollektiven Ar<strong>bei</strong>tsrechts versagen. Der Grund:<br />

ni cht die Entscheidungen über die Organisation der Ar<strong>bei</strong>t sind nach dem Betriebsverfassungsgesetz<br />

mitbestimmungspflichtig, sondern nur bestimmte Teilas<br />

pekte auf der Ebene der Auswirkungen solcher Entscheidungen.<br />

Auch die durch Teilung von Unternehmen bzw. Betrieben geschaffenen<br />

dezentralen Vertretungsstrukturen, die einheitlichen Unternehmerentscheidun-


- 137 -<br />

gen zersplitterte Belegschaftsvertretungen entgegensetzen, können mit den althergebrachten<br />

Mitteln des kollektiven Ar<strong>bei</strong>tsrechtes nur unzulänglich aufgefangen<br />

werden.<br />

Vor allem aber bestehen ka um Ansatzmöglichkeiten, einer Umverteilung<br />

von betrieblicher Ar<strong>bei</strong>t in außerbetriebliche Ar<strong>bei</strong>t effiziente Gegenmacht<br />

entgegenzusetzen: Die rechtliche Kontrolle ist auf den tatsächlichen Wegfall<br />

des betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplatzes beschränkt, ob später ein gleicher außerbetrieblicher<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplatz eingerichtet wir d, ist kaum nachprüfbar. Kollektive<br />

Handlungsmöglichkeiten nach dem Betriebsverfassungsgesetz bestehen nur dort,<br />

wo die Interessen eines wesentlichen Teils der Beschäftigten betroffen würden.<br />

So können sich unternehmer ische Auslagerungsentscheidungen weitgehend ungehi<br />

ndert vollziehen.<br />

Dies alles führt aber zu einer Anderung der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen. Das kollektive<br />

Ar<strong>bei</strong>tsrecht setzt di e Existenz funktionsfähiger, im Zweifel kampfkräftiger<br />

betrieblicher Belegschaften voraus. Es ist in der Zeit betrieblicher Zentralisation<br />

gewachsen und hat demgemäße Aktionsformen entwickelt. Das Individualar<strong>bei</strong>tsrecht<br />

geht ebenfalls von einem Ideal aus: sein Regelungsgegenstand<br />

ist das betriebliche Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnis, d.h., die möglichst lebenslange,<br />

möglichst ununterbrochene, möglichst vollzeitige weisungsgebundene betriebliche<br />

Ar<strong>bei</strong>t. Je näher diesem Ideal, desto geschützter und sozial abgefederter<br />

ist die Stellung im Konfliktfall - Schutzrechte als Aquivalent für fremdnü<br />

tzige Ar<strong>bei</strong>t und Unterwerfung unter die Weisungsbefugnis eines anderen.<br />

Die Kehrseite dieses Ideals des betrieblichen Stammar<strong>bei</strong>tnehmers ist, daß<br />

an dere Beschäftigtengruppen bewußt aus dem Geltungsbereich ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher<br />

Schutz normen ausgeschlossen bleiben: der klassische Fall sind die Heimar<strong>bei</strong>ter/innen.<br />

Allerdings wurde für diesen Beschäftigtenstatus bereits früh eine<br />

besondere rechtliche Schutzregelung gefunden, da ihre ungezügelte Ausbeutung<br />

zu staatlich nicht hinnehmbarer Gefährdun g der Reproduktion der ar<strong>bei</strong>tenden<br />

.<br />

Bevölkerung führte. Bis zum heutigen Tag ist das Ar<strong>bei</strong>tsrecht jedoch Ar<strong>bei</strong>tnehmerschutzrecht<br />

mit dem betrieblichen Normalar<strong>bei</strong>tnehmer als Orientierungspunkt<br />

geblieben, die anderen sind die "atypischen" Beschäftigungsverhältnisse,<br />

derer in erster Linie die Rechtsprechung Herr werden mußte. Sie hat<br />

si ch auf diese Aufgabe flexibel mit der Einführung des Begriffs der "ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen<br />

Person" eingestellt. Deren Standarddefinition lautet: Ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche<br />

Personen sind "Dienstleis.tende, die mangels persönlicher Abhängig-


- 138 -<br />

keit keine Ar<strong>bei</strong>tnehmer, aber wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit keine<br />

Unternehmer sind ••. " (Schaub, § 9 I 1; vgl. im einzelnen unter 2.).<br />

Unter dem allenthalben zitierten Schlagwort der "Flexibilisierng der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen"<br />

vollzieht sich heute immer stärker die Abkehr vom Idealtypus<br />

des betrieblichen Normalar<strong>bei</strong>tnehmers zu weniger in das betriebliche Kollektiv<br />

integrierten Ar<strong>bei</strong>tsformen. Diese Entwicklung betrifft heute nicht mehr nur<br />

das klassische Flexibilisierungspotential weiblicher Beschäftigter, auch wenn<br />

sie als "Zuverdienerinnen" immer noch am stärksten betroffen sind (hängt doch<br />

vom Verweis auf diesen Status die Akzeptanz solcher Beschäftigungsformen wie<br />

der durch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz legalisierten "kapazitätsorientierten<br />

variablen Ar<strong>bei</strong>tszeit - Kapovaz" und ähnlicher ungeschützter<br />

Beschäftigungsformen ab). Rechtswissenschaft und Gewerkschaften schenken<br />

dem Problem, ' wie einstens der Heimar<strong>bei</strong>t, jedoch nun mehr Aufmerksamkeit,<br />

weil die Bedrohung der gewachsenen betrieblichen Strukturen und der versc<br />

härfte Konkurrenzdruck auf die betrieblichen Beschäftigten zur Reaktion<br />

zwingen.<br />

Vom Ideal der betrieblichen Stammbelegschaft abweichende Beschäftigu<br />

ngsformen, "flexiblere" Beschäftigungsformen sind zumeist auch billigere Beschäftigungsformen.<br />

Dies folgt zum einen aus einem unmittelbaren Lohndrücker-Effekt<br />

("Schmutz konkurrenz"), zum anderen mittel bar aus der Nichtanwendbarkeit<br />

der "teuren" Gesetze über Kündigungsschutz und (betriebliche)<br />

Mitbestimmung, zum Teil Sozialversicherung. Zum dritten sind die "Nichtar<strong>bei</strong>tnehmer"<br />

im Regelfall auch nicht in die Tarifverträge einbezogen, so daß auch<br />

tarifliche Schutzregel ungen keine Anwendung finden - selbst wenn diese Personen<br />

gewerkschaftlich organisiert wären. Diese Beispiele sol len zunächst abstrakt<br />

deutlich machen, weshalb der gesetzlichen Ausgestaltung des Ar<strong>bei</strong>tsrechts<br />

als vom rechtlichen Status als Ar<strong>bei</strong>tnehmer/in abhängigem Schutzrecht<br />

eine solche Bedeutung und der Flexibilisierung der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen mit ihren<br />

Umgehungstendenzen eine solch brisante Wirkung zukommt. Auflösung der<br />

gewachsenen kollektiven Strukturen durch Individualisierung der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />

- diese Tendenz in der aktuellen Flexibilisierungsdebatte könnte die<br />

Beschäftigten wieder auf die rechtliche Ausgangssituation des 19. Jahrhunderts<br />

mit seinem Verweis auf die individuelle Vertragsgestaltungsmacht zurückwerfen.


- 139 -<br />

Und mehr als das: die Entwicklung eines "Networker-Unternehmertums" hat<br />

die Umgehung ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher Schutz vorschriften zur Folge, eine Entwicklung,<br />

die allenthalben voranschreitet (vgl . etwa Handelsblatt v. 6./7.12.1986).<br />

2. Statusspezifische Schutzdefizite<br />

"Telear<strong>bei</strong>t" ist kein Begriff, der einen bestimmten Rechtsstatus voraussetzt.<br />

Entsprechend kommt die ganze Palette vertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten<br />

für die Erbringung von Ar<strong>bei</strong>tsleistungen am Bildschirmgerät außerhalb der betrieblichen<br />

Zentrale in Frage.<br />

Vorfindbare Vertragsverhältnisse sind da<strong>bei</strong> vor allem von dem Vorurteil<br />

geprägt, daß Ar<strong>bei</strong>t zuhause identisch sein müsse mit Heimar<strong>bei</strong>t. Dem ist nicht<br />

so.<br />

Für die in Telear<strong>bei</strong>t zu erbringende Ar<strong>bei</strong>tsleistung kommen vielmehr der<br />

Rechtsstatus<br />

o als "fre!e/r Unternehmer/in - Sel bständige/r"<br />

o als "freie/r Mitar<strong>bei</strong>ter/in" im ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen Status<br />

o als nach dem Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz beschäftigte Person<br />

o als Außenar<strong>bei</strong>tnehmer/in in Betracht.<br />

Der relativ sicherste Status ist der letztgenannte: Als Außenar<strong>bei</strong>tnehmerlin<br />

wird tätig, wer in der Regel aus betrieblichen und persönlichen Gründen<br />

in eigener Wohnung oder eigener Werkstatt tätig wird, aber persönlich und<br />

sachlich der Aufsicht des Ar<strong>bei</strong>tgebers unterliegt. Auch Personen, denen aus<br />

räumlichen Gründen ein Ar<strong>bei</strong>tsplatz im Betrieb nicht zur Verfügung gestellt<br />

wird oder die mit Einwilligung des Ar<strong>bei</strong>tgebers zuhause ar<strong>bei</strong>ten, werden als<br />

Außenar<strong>bei</strong>tnehmer/in tätig. Sie sina rechtlich völlig mit den betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tskräften<br />

gleichgestellt. Konsequenz: Tarifverträge (<strong>bei</strong> Tarifbindung), Betriebsvereinbarungen,<br />

Kündigungsschutzgesetz, Mutterschutzgesetz, sozialrechtliche<br />

Vorschriften gelten in vollem Umfang (vgl. Schaub, § 10 I 4). Zu beachten<br />

ist jedoch, daß das Sozialversicherungsrecht für Teilzeitbeschäftigte nur eingeschränkt<br />

gil t: Keine Krankenversicherungspflicht <strong>bei</strong> Beschäftigung unter 15<br />

Stunden, keine Ar<strong>bei</strong>tslosen- und Rentenversicherungspflicht <strong>bei</strong> Beschäftigung<br />

unter 19 Stunden. Was an Defiziten bleibt, liegt vor allem im außer rechtlichen:<br />

betrieblichen Qualifikations- und Aufstiegsmöglichkeiten, soziale Kontakte, die<br />

gl eichberechtigte Einbeziehung in gemeinsame betriebliche Aktivitäten fehlen


- 140 -<br />

im Regelfall. Dies wirkt sich praktisch auch hinderlich auf Gleichstellungsmaßnahmen<br />

für Frauen aus. Als konkrete Gegenmaßnahmen bieten sich an: gezielte<br />

Anbindung der Außenar<strong>bei</strong>tnehmer/innen an betriebliche Aktivitäten, besonders<br />

intensive Betreuung durch die Beschäftigtenvertretung - etwa durch Abschluß<br />

vo n Betriebsvereinbarungen, die den Belangen dieser Beschäftigten besondere<br />

Rechnung tragen. Angesichts sich wandelnder betrieblicher Realitäten erscheint<br />

es besonders notwendig, die Anbindung an betriebliche Fortbildungsmaßnahmen<br />

zu erreichen. Regelungsinstrumente können vor allem Betriebsvereinbarungen,<br />

aber auch Tarifverträge (und Firmentarifverträge) sein.<br />

Viele in Telear<strong>bei</strong>t beschäftigte Frauen sind mit Bürotätigkeiten zuhause<br />

beschäftigt. Wenn <strong>bei</strong> ihnen die für die Annahme eines Außenar<strong>bei</strong>tnehmerinnenstatus<br />

notwendigen Kriterien nicht vorliegen (fehlende Eingliederung in den<br />

Betriebsablauf), so dürfte es sich in der Regel um Büroheimar<strong>bei</strong>ten handeln,<br />

auf die die Vorschriften des Heimar<strong>bei</strong>tsgesetzes Anwendung finden. Statusbedi<br />

ngtes Hauptdefizit: Keine Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes, Kündigu<br />

ngen sind ohne soziale Rechtfertigung jederzeit unter Einhaltung der Fristen<br />

möglich. Auch <strong>bei</strong>m Verkauf von Betrieben bzw. Betriebsteilen gehen nach der<br />

Rechtsprechung die Heimar<strong>bei</strong>tsverhältnisse nicht auf den Erwerber über (BAG<br />

AP 23 zu § 613a 13GB). Die Rechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz werden<br />

nur auf solche Beschäftigte nach dem Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz angewandt, die überwiegend<br />

für diesen Betrieb tätig sind, d.h., nur sie können <strong>bei</strong>m Abschluß von<br />

Betriebsvereinbarungen berücksichtigt werden. Als nach dem Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz<br />

Beschäftigte gelten auch Personen, die im Bereich der Büroheimar<strong>bei</strong>t ein<br />

Gewerbe angemeldet haben, aber nur, wenn sie für bestimmte Auftraggeber<br />

tätig werden. Ihre Ar<strong>bei</strong>ts- und Entgeltbedingungen sind in der "Bekanntmachung<br />

einer Gleichstellung betreffend Adressenschreiben, Schreibar<strong>bei</strong>ten u.ä.<br />

Ar<strong>bei</strong>ten" und den hierzu ergangenen Entgeltvorschriften geregelt. Personen,<br />

die nach dem Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz geschützt sind, unterliegen auch der Sozial versi<br />

cherungspflicht, wie aus § 12 des Teils IV des Sozialgesetzbuches folgt. Für<br />

di e Überwachung der Lage der in Heimar<strong>bei</strong>t beschäftigten Personen ist zusätzlich<br />

eine staatliche Stelle zuständig: <strong>bei</strong> den Gewerbeaufsichtsämtern sind<br />

staatliche Entgeltprüfer beschäftigt, die die Anwendung der Rechtsvorschriften<br />

überwachen - auch dann, wenn der Betriebsrat nichts tut/nichts tun darf. Faktische<br />

Defizite liegen hier wie <strong>bei</strong> den übrigen außerhalb der Betriebe beschäftigten<br />

Personen in der fehlenden Integration in den Betrieb, Gegenmaßnahmen


- 141 -<br />

sind wie <strong>bei</strong> Außenar<strong>bei</strong>tnehmer/inne/n möglich - mit der Maßgabe, daß zur<br />

Uberwindung der eingeschränkten betriebsverfassungsrechtlichen Handlungsmögli<br />

chkeiten tarifvertragliches Handeln noch stärker gefragt wäre.<br />

Von ihrer rechtlichen Lage her fast ungeschützt werden als "freie Mitar<strong>bei</strong>ter/innen"<br />

beschäftigte Personen tätig. Bei ihnen kommt es darauf an, ob sie<br />

aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit und sozialen Schutzbedürftigkeit<br />

de n Status als ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen genießen. Wirtschaftliche Abhängi<br />

gkeit wird dann angenommen, wenn die Ar<strong>bei</strong>ts- oder Werksleistung für Rechnung<br />

von anderen erfolgt, die dafür das Unternehmerrisiko tragen und die<br />

Dienstnehmer von den Dienstgebern nach Vergütungshöhe, Art und Dauer der<br />

Tätigkeit abhängig sind. Soziale Schutzbedürftigkeit ist dann gegeben, wenn<br />

das Maß der Abhängigkeit nach der Verkehrsanschauung einen solchen Grad<br />

er reicht, wie er im allgemeinen nur in einem Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis vorkommt und<br />

die geleisteten Dienste ihrer soziologischen Typik nach denen eines Ar<strong>bei</strong>tnehmers<br />

vergleichbar sind (so Schaub, § 9 I 1). Auf ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen<br />

ist Ar<strong>bei</strong>tsrecht grundSätzlich nicht anwendbar, es sei denn, der Zweckgehalt<br />

der einzelnen Schutzvorschriften rechtfertigte dies angesichts der sozialen<br />

Schutzbedürftigkeit. Für nicht gerechtfertigt halten die Rechtsprechung und<br />

di e herrschende Lehre eine analoge Anwendung ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher Schutzbesti<br />

mmungen hinsichtlich der Rechte <strong>bei</strong> Betriebsü],ergang, hinsichtlich des Kündi<br />

gungsschutzgesetzes sowie des Mutterschutzgesetzes "im allgemeinen" (vgJ .<br />

<strong>bei</strong> Schaub, §§ 9 II 1, 2; 167 Ir 4; 118 I 4). Freie Mitar<strong>bei</strong>ter/ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliehe<br />

Personen gehören auch nicht zu dem von §§ 5, 6 Betriebsverfassungsgesetz<br />

genannten vom Betriebsrat zu vertretenden Personenkreis. Auch das Sozi<br />

alversicherungsrecht ist auf ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen nicht anwendbar.<br />

Konsequenz: dieser bereits rechtlich kaum geschützte Status wird durch die<br />

außerhalb des betrieblichen Kollektivs erbrachte Ar<strong>bei</strong>tsleistung noch versc<br />

härft. Als Instrumente für eine Gegenstrategie zur Vereinheitlichung von<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen und Schutz kommen für diese Personengruppe praktisch<br />

ausschließlich die gewerkschaftliche Vertretung und Tarifabschlüsse in Betracht:<br />

die Reform des Tarifvertragsgesetzes vor mehr als einer Dekade mit<br />

der Einführung des § 12 a zielte genau hierauf. Trotzdem: Tarifabschlüsse für<br />

fr eie Mitar<strong>bei</strong>ter blieben vereinzelte Ausnahmen im Bereich der Medien. Natürlich<br />

können - theoretisch - auch einzel vertragliche Besserstellungen ausgehandelt<br />

werden.


- 142 -<br />

Keine Anwendung finden Ar<strong>bei</strong>ts- und Sozialrecht <strong>bei</strong> den "freien Unternehmern";<br />

für sie gilt nur Zivilvertragsrecht.<br />

3. Perspektiven<br />

Wegen der Gefährdungen für den ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Schutz durch Telear<strong>bei</strong>t<br />

wurde schon früh die Forderung nach dem Verbot von Telear<strong>bei</strong>t, später nach<br />

ihrer spezialgesetzlichen Regelung laut. In die Diskussion wurden auch konkrete<br />

Gesetzesvorschläge eingebracht. Keine dieser Initiativen hat sich jedoch<br />

durchsetzen können. Die Diskussion hat historische Parallelen, die auch die<br />

Grenzen dieser rechtspolitischen Ansätze zeigen und auf die hier vorab kurz<br />

eingegangen werden soll.<br />

Der Vergleich mit der Entwicklung des Heimar<strong>bei</strong>tsrechts liegt nahe: Der<br />

ungezügelten Ausbeutung der Heimar<strong>bei</strong>ter/innen setzten verschiedene Kräfte,<br />

von Gewerkschaften bis hin zu konservativen Fabrikherrn, die Forderung nach<br />

dem Verbot der Heimar<strong>bei</strong>t entgegen - eine spontane Reaktion derjenigen, die<br />

aus unterschiedlichen Motiven die Etablierung des kollektiven, "zentralisierten"<br />

betrieblichen Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnisses fördern und schützen wollten.<br />

Praktisch ließ sich ein Verbot der Heimar<strong>bei</strong>t aber nicht durchsetzen - ihre historisch<br />

gewachsenen Strukturen, die Nachfrage und ihre Verankerung im Wirtschaftssystem<br />

waren zu stark. Allerdings führten die Bemühungen zu einem<br />

Verbot der Heimar<strong>bei</strong>t für bestimmte Beschäftigtengruppen (z.B. Schwangere)<br />

und in bestimmten Sektoren, die als besonders ungeeignet galten - nicht etwa,<br />

weil die Gefährdung der in Heimar<strong>bei</strong>t beschäftigten Personen so stark gewesen<br />

wäre; auslösende Momente lagen vielmehr in gesundheitspolitischen Erwägu<br />

ngen zum Schutz der Verbraucher vor Seuchen und in bevölkerungspolitischen<br />

Zielen. Um das Hausar<strong>bei</strong>tsgesetz von 1911 als erste gesetzliche Schutzregelung<br />

für die Heimar<strong>bei</strong>t durchsetzen zu können, bedurfte es jedoch weiterer Verschärfung<br />

der Konkurrenz zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Ar<strong>bei</strong>tskräften.<br />

Dies führte zu einer gesetzlichen Konstruktion, die schließlich<br />

vom Vorrang tariflicher - theoretisch also gemeinsamer - Regelungen für die<br />

betrieblich und außerbetrieblich Beschäftigten ausgeht (vgl. zur Geschichte der<br />

Heimar<strong>bei</strong>t im einzelnen: Gaebel 1913, S. 92 ff.; Schwiedland 1899, S. 33 ff.<br />

und 135 ff.; Maus/Schmidt 1976, Einleitung Rn. 4 ff.). Angesichts der relativ


- 143 -<br />

stabilen Beschäftigungsverhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg hat bisher jedoch<br />

nie ein so starker Druck bestanden, durch das konkurrenzregelnde Instrument<br />

des Tarifvertrags eine Angleichung der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen der in Heimar<strong>bei</strong>t<br />

beschäftigten Personen zu erzwingen. Ein aufgeschlossener Gesetzgeber<br />

kam Anfang der 70er Jahre dem Bedürfnis nach Einbeziehung der Heimar<strong>bei</strong>ter/innen<br />

in Betriebsverfassungs- und Tarifvertragsgesetz und nach der Einbeziehung<br />

kaufmännischer Tätigkeiten (jedenfalls prinzipiell) nach. Die Frage<br />

nach tariflichen Handl ungsmöglichkeiten stellt sich verschärft erst unter den<br />

Bedingungen der zunehmenden Individualisierung bzw. Flexibilisierung der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />

in immer mehr Tätigkeitsbereichen <strong>bei</strong> gleichzeitiger Deregulierung:<br />

erst jetzt nämlich betrifft sie auch die Kerngruppen der Gewerkschaften.<br />

In der gegenwärtigen Diskussion um die Telear<strong>bei</strong>t erscheint es angesichts<br />

dieser historischen Entwicklung und angesichts der aktuellen Tendenzen<br />

zur Auflösung des Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnisses für immer mehr Beschäftigtengr<br />

uppen wenig sinnvoll, die Forderung nach einer spezialgesetzlichen Regelung<br />

der Telear<strong>bei</strong>t zu erheben, i.S. ' der Regelung einer weiteren Sondergruppe. Das<br />

Grundproblem aller, die von solchen Regel ungen abweichende Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />

haben, bleibt: für die Anwendung des Ar<strong>bei</strong>tsrechts kommt es weiter auf<br />

die Zugehörigkeit zu einem besti mmten rechtlichen Status an. Damit werden<br />

Umgehungsstrategien vereinfacht, die an den Besonderheiten des jeweiligen<br />

Rechtsverhältnisses anknüpfen, anstatt die immer deutlicher in Erscheinung<br />

tretenden Gemeinsamkeiten abhängiger fremdnütziger Ar<strong>bei</strong>t in den Mittelpunkt<br />

der Strategie zu stellen.<br />

In die gleiche Richtung weist die Entwicklung der Rechtsfigur der ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen<br />

Person. Die mit der Novellierung des Tarifvertragsgesetzes<br />

1974 eingeführte Vorschrift des § 12a TVG ermöglicht die Einbeziehung gewisser<br />

freier Mitar<strong>bei</strong>ter/inne/ n als ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen in die Regelungskompetenz<br />

der Gewerkschaften und damit vereinheitlichende tarifvertragliche<br />

Regel ungen auch für ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen.<br />

Noch ein weiteres Argument spricht für die tarifvertragliche Erfassung<br />

der deregulierten und abweichenden Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen: Der Tarifvertrag ist<br />

ein flexibleres und damit sozialen und technischen Entwicklungen rascher zugängliches<br />

Instrument als das Gesetz. Und: Tarifverträge sind ein zu erkämpfendes<br />

gewerkschaftliches Instrument, das eine gewerkschaftliche Diskussion


- 144 -<br />

und Willensbildung voraussetzt, eine Handlungschance für Gewerkschaften,<br />

statt Forderung an den Gesetzgeber. Im Bereich der Telear<strong>bei</strong>t hieße das, tarifvertragliche<br />

Schaffung einheitlicher Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen für diejenigen, die<br />

in den Betrieben oder außerhalb an informations- und kommunikationstechnisch<br />

gestützten Ar<strong>bei</strong>tsplätzen tätig sind und grundsätzlich die Einbeziehung von<br />

Heimar<strong>bei</strong>ter/inne/n und anderen "atypisch" Beschäftigten in die Tarifverträge.<br />

Allerdings gelten Tarifverträge nur zwischen den · jeweils tarif gebundenen<br />

Verbandsmitgliedern, sie können also zur regional und branchenmäßig untersc<br />

hiedlichen Ausgestaltung gleicher Tätigkeiten führen. Der Verweis auf tarifvertragliche<br />

Regelungsmöglichkeiten könnte daher die ungeschützte Ar<strong>bei</strong>t auf<br />

Beschäftigte außerhalb der Gewerkschaften und auf Ar<strong>bei</strong>tgeber außer halb der<br />

Ar<strong>bei</strong>tgeberverbände verlagern. Dies sind allerdings keine unl ösbaren Probleme.<br />

Darüber hinaus zeigt sich aber immer deutlicher, daß die Doktrin vom betrieblichen<br />

Normalar<strong>bei</strong>tnehmer als Schutzsubjekt des Ar<strong>bei</strong>tsrechts nicht mehr<br />

fo rtzuführen ist. Die Entscheidungen des Bundesar<strong>bei</strong>tsgerichts zur Abgrenzung<br />

des Ar<strong>bei</strong>tnehmers vom Status der freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen sind Legion, die<br />

jur istische Debatte um die ar<strong>bei</strong>tsrechtliche Einordnung von Franchise-, Hande<br />

lsvertreter-, Subunternehmer verträgen nimmt zu. Alle diese Diskussionen laufen<br />

darauf hinaus, die Rechtsfigur der ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen Person fortzuentwi<br />

ckeln, um wenigstens krasseste Unbilligkeiten in der Ungleichbehandlung <strong>bei</strong><br />

gl eichwertiger Ar<strong>bei</strong>t abzubauen. Die Gestaltungsfreiheit (des wirtschaftlich<br />

stärkeren Vertragspartners) wird bereits heute durch die Rechtsprechung eingesc<br />

hränkt. Sie verweist auf den Vorrang des Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisses, wenn die Beschäftigung<br />

in der typischen Abhängigkeit erfolgt (vgl . z.B. LAG Düsseldorf<br />

EzA Nr. 18 zu § 61 1 BGB "Ar<strong>bei</strong>tnehmerbegriff"; BAG AP Nr. 12, 42, 26 zu §<br />

61 1 BGB "Abhängigkeit").<br />

Anknüpfungspunkt für die Schutznormen des Ar<strong>bei</strong>tsrechts muß di e sozioökonomische<br />

Lage werden. Allein eine solche Betrachtungsweise vermag den<br />

real existierenden vielfältigen und geänderten, sich ständig entwickelnden "flexi<br />

bilisierten" Strukturen der Ar<strong>bei</strong>tsorganisation und ihrer Wir kung auf die Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />

gerecht zu werden.<br />

Die Diskussion um di e "Tel ear<strong>bei</strong>t" zeigt, daß gerade erwerbstätige Frauen<br />

eine besondere Rolle einnehmen; sie hatten noch nie gleichberechtigt teil an<br />

der geschützten Ar<strong>bei</strong>t. Ihre Bedeutung für vorausschauende, konkurrenzregulierende<br />

Gewerkschaftspolitik steigt, denn heute können es sich Frauen nicht


- 145 -<br />

mehr leisten, sich auf die "Versorgungsinstitution Ehe" zurückzuziehen, die gibt<br />

es nämlich inzwischen auch rechtlich nicht mehr.<br />

LITERATUR<br />

Gaebel, Käthe: Die Heimar<strong>bei</strong>t, das jüngste Problem des Ar<strong>bei</strong>terschutzes. Jena<br />

1913<br />

Die moderne Informationstechnik ermöglicht dezentrale Ar<strong>bei</strong>tsformen. Handelsblatt<br />

v. 6./7.12.1986<br />

Maus, W./Schmidt, K.: Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz. 3. Aufl. München 1976<br />

Schaub, Günther: Handbuch des Ar<strong>bei</strong>tsrechts. 5. Aufl. München 1983<br />

Schwiedland, Eugen: Ziele und Wege einer Heimar<strong>bei</strong>tsgesetzgebung. Wien 1899


- 147 -<br />

IV. TRADITIONELLE FRAUENBERUFE<br />

Zur Oberleitung:<br />

Urs ula Rabe-Kleberg<br />

Traditionelle Frauenberufe - traditionell unsicher<br />

Zunächst mag es überraschen, daß in der Reihe der Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, die als<br />

unsicher und sogar als ungeschützt gelten, auch die traditionellen Frauenberufe<br />

auftauchen - zudem noch mit der negativen Kennzeichnung, daß diese den<br />

Frauen, die sie erlernen und ausüben, schon immer keine adäquate berufliche<br />

und existentielle Sicherheit haben bieten können. Neu ist diese Kritik an den<br />

Bedingungen von Frauenberufen in sozialen, erziehenden und pflegenden Berufen<br />

nicht, nur war sie rund ein Jahrzehnt lang verstummt. An ihre Stelle war<br />

di e Hoffnung getreten, mit der Expansion des Wohlfahrtsstaates würde der<br />

quantitative Ausbau des Berufsfeldes in Angriff genommen, weiterhin werde<br />

mit der Hierarchisierung der Ausbildung und der Professionalisierung des Berufs<br />

verständnisses eine qualitative Verbesserung der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen verbu<br />

nden sein und nicht zuletzt mit dem Anwachsen der Zahl männlicher Berufsträger<br />

müsse dann die gesellschaftliche Wertschätzung des Spektrums traditionel<br />

ler Frauenberufe anwachsen.<br />

Heute befinden wir uns am Ende dieser Phase, und wir müssen uns fragen,<br />

ob die Hoffnungen getragen haben, d.h., ob einerseits die Einpassung der tradi-


- 148 -<br />

tionellen Frauenberufe in die Normalität von Erwerbsar<strong>bei</strong>t gelungen ist, und<br />

ob andererseits die Ausdifferenzierung von Wissen, Kompetenz und beruflichem<br />

Handeln nach dem professionellen Modell vorwärtsgetrieben werden konnte. Von<br />

diesen <strong>bei</strong>den Entwickl ungen wäre unter anderem auch eine zunehmende Absicherung<br />

der Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse in Frauenberufen zu erwarten gewesen, eine<br />

Sicherheit , die sich nicht nur auf adäquate Bezahlung und stetige Vertragsverhältnisse<br />

bezieht, sondern auch die Schwelle erhöht gegenüber von außen defini<br />

erten, willkürlichen und wechselnden Anforderungen an die Qualifikationen,<br />

das Handlungsfel d und seine Bedingungen.<br />

In den drei folgenden Beiträgen dieses Abschnittes setzen sich die Autorinnen<br />

mit diesen Fragestellungen in jeweils unterschiedlicher Weise auseinander.<br />

Helga Krüger fragt da<strong>bei</strong> vor allem nach der Funktion des Staates als Ausbilder<br />

und Ar<strong>bei</strong>tgeber von Frauen in traditionellen Frauenberufen. Es muß ja<br />

davon ausgegangen werden, daß Frauen in mehrfacher Hinsicht von der Definitionsmacht<br />

des Staates gegenüber ihrer Ar<strong>bei</strong>t - sei sie privat oder als Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />

erbracht - abhängig sind. Chrlsta Wulfers zeigt mit ihrem Bericht<br />

über die Ar<strong>bei</strong>t der Hauspflegerin, daß am Ende der Expansion des Wohlfahrtsstaates<br />

ein neuer Beruf für Frauen entstehen kann, in dem alle Probleme des<br />

Verhältnisses von bezahlter und unbezahlter Ar<strong>bei</strong>t reproduziert werden und '<br />

mit dem der Unterstellung besonderer weiblicher Fähigkeiten, die keiner beruflichen<br />

Qualifikation bedürfen, weitere Nahrung gegeben wird. In <strong>bei</strong>den Aufsätzen<br />

wird davon ausgegangen, daß die besondere Ar<strong>bei</strong>tsmarktsituation von<br />

Frauen diese dazu nötigt, auch unter miesen Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen den Anforderungen<br />

gerecht zu werden, die soziale und pflegende, erziehende und betreuende<br />

Tätigkeiten verlangen. Dies gilt in besonderer Weise für ausländische Frauen,<br />

Emigrantinnen, die nicht nur aufgrund ihres Geschlechtes, sondern zudem<br />

auch aufgrund ihrer Herkunft EinscHränkungen hinnehmen müssen. Zugleich aber<br />

gelten sie im Vergleich mit einheimischen Frauen als die "weiblicheren", also<br />

als solche, die ein wie immer definiertes weibliches Ar<strong>bei</strong>tsvermögen besonders<br />

umstandslos produzieren können - und deshalb auch dafür besonders<br />

schlecht oder gar nicht bezahlt werden können.<br />

Oie drei Beiträge weisen darauf hin, daß durch die aktuelle Entwicklung<br />

die Phase der 70er und 80er Jahre, in der sich auch für Frauen im Bereich sozialer<br />

Dienstleistungen große Chancen in Ausbildung und Beruf boten, leider als<br />

eine historische Ausnahme zu betrachten sein wird. Diese Erkenntnis nötigt uns<br />

zu fragen, welche strukturellen Momente es sind, die Frauenberufe zu unsiche-


- 149 -<br />

ren machen. Im folgenden will ich auf ein Grundproblem von Frauenar<strong>bei</strong>t eingehen,<br />

das sich auf die Verhältnisse in den Frauenberufen auswirkt und in den<br />

verschiedenen Erscheinungsformen auftritt.<br />

Während die Ungeschütztheit weiblicher Erwerbsverhältnisse entweder aus<br />

konjunkturzyklischen oder krisenhaften Veränderungen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt,<br />

deren Opfer zuerst Frauen sind, oder aus der privaten, phasenweise wiederkehrenden<br />

Uberbelastung von Frauen verstanden wird, soll hier ein zusätzliches<br />

Moment zur Erklärung struktureller Unsicherheit der Erwerbstätigkeit von<br />

Frauen vorgestellt werden. Dieses wird in der Besonderheit des Verhältnisses<br />

vo n Ar<strong>bei</strong>tsanforderungen und Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen zu suchen sein. Dies Besondere<br />

kann gut an traditionellen Frauenberufen im Bereich sozialer, erziehender<br />

und pflegender Ar<strong>bei</strong>t ausgemacht werden, gilt aber in ähnlicher Form auch für<br />

Berufe im Verkauf, Büro und Bankgeschäft, soweit sie von Frauen ausgeübt<br />

werden. Der zentrale Begriff, mit dem dieses Verhältnis von Anforderungen an<br />

di e Ar<strong>bei</strong>t und den Bedingungen ? unter denen sie zu erbringen sind, verstanden<br />

wi rd, ist derjenige, der Eignung. Da<strong>bei</strong> geht es nicht, wie z.B. <strong>bei</strong> einer Eignungsprüfung,<br />

um die Erfassung der beruflichen Qualifikation einer einzelnen<br />

Person für eine fest umrissene Tätigkeit, sondern um die gesellschaftliche Unterstellung,<br />

daß ein ganzes Spektrum von Tätigkeiten für das eine Geschlecht,<br />

das weibliche, geeignet sei , oder anders herum, daß (nur) Frauen für bestimmte<br />

Tä tigkeiten geeignet seien. Eine solche allgemeine Aussage und ' geziel te Zuschreibung<br />

von Eigenschaften an das Geschlecht, hier für bestimmte in der<br />

Gesellschaft anfallende Ar<strong>bei</strong>ten geeignet zu sein, geht erst einmal nicht über<br />

die soziologische Erkenntnis hinaus, daß Ar<strong>bei</strong>t in allen Gesellschaften nach<br />

Kriterien wie Klasse, Rasse, Alter und Geschlecht verteilt werde. Es muß aber<br />

gleichzeitig deutlich gemacht werden, wieso diese besondere Eignung von Frauen<br />

für bestimmte Berufe, nicht auch zu einer besonderen Wertschätzung dieser<br />

Berufe und der sie ausübenden Frauen führt. Frauenberufe finden sich in bezug<br />

auf das gesellschaftliche Prestige und die materielle Entlohnung nämlich eher<br />

am<br />

unteren Ende der Skala. Zu erklären ist also, warum sich die positive Bestimmung<br />

der "Eignung" in ihren Folgen für diejenigen, die angeblich so geeignet<br />

sind, negativ auswirkt.<br />

Eine erste Erklärung wäre, daß die Begrifflichkeit zynisch, entweder zur<br />

Ver deckung von Machtausübung oder projektiv zur Vermeidung von Interessenkomplikationen<br />

benutzt wird. Solche Verwendung des Begriffs in bezug auf den<br />

Einsatz weiblicher Ar<strong>bei</strong>tskraft ist aus der Geschichte und bis in die jüngste


- 150 -<br />

Zeit bekannt. Bereits 1874 wehrt sich Hedwig Dohm gegen Argumente, daß sich<br />

Frauen - wenn überhaupt - nur für bestimmte Erwerbsar<strong>bei</strong>ten eigneten:<br />

"Ich hoffe,· beweisen zu können, daß zwei Grundprinzipien <strong>bei</strong> der<br />

Ar<strong>bei</strong>tsteilung zwischen Mann und Frau klar und scharf hervortreten.<br />

Die geistige Ar<strong>bei</strong>t und die einträgliche Ar<strong>bei</strong>t für die Männer, die<br />

mechanische und di e schlecht bezahlte Ar<strong>bei</strong>t für die Frauen; ich<br />

glaube, beweisen zu können, daß der maßgebende Gesichtspunkt für<br />

die Theilung der Ar<strong>bei</strong>t nicht das Recht der Frau, sondern der Vortheil<br />

der Mäner ist, und daß der Kampf gegen die Berufsar<strong>bei</strong>t der<br />

Frau erst beginnt, wo ihr Tagelohn aufhört, nach Groschen zu zählen<br />

( .•.) geringgeschätzte und halbbezahlte Ar<strong>bei</strong>t ist Sclaverei in milderer<br />

Form, und das ist die allgemeine Lage der Frauen auf all , den<br />

Gebieten, die wir freie Ar<strong>bei</strong>t nennen" (zit.nach Brinker-Gabler<br />

1979, 124, 131)<br />

Weiter führt sie auf, daß <strong>bei</strong> groben, anstrengenden Ar<strong>bei</strong>ten nie gegen<br />

die Erwerbsar<strong>bei</strong>t der Frauen wegen deren zarten Konstitution, wegen Ungeschicklichkeit<br />

oder Unschicklichkeit gesprochen werde. Vielmehr gehe es einzig<br />

und allein darum, Konkurrenz mit den Männern um die attraktiven Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

zu verhindern. Daß das Eignungsargument insbesondere dazu dient, Ar<strong>bei</strong>tsplätze,<br />

die den Frauen von den Männern "übrig gelassen" werden', diesen wiederum<br />

schmackhaft zu machen und damit die nachgeordnete Ar<strong>bei</strong>tsmarktpositi<br />

on von Frauen ideologisch zu legitimieren, wird besonders dort deutlich, wo<br />

sich bestimmte Ar<strong>bei</strong>tsplätze, z.B. in der Industrie, von früheren Männer- zu<br />

aktuellen Frauenar<strong>bei</strong>tsplätzen entwickelt haben. Auch in diesen Fällen ist das<br />

Eignungsargument in der Regel nachgeschoben worden.<br />

Sind wir nun mißtrauisch geworden gegenüber den verborgenen Diskriminierungsmöglichkeiten,<br />

die mit der Zuschreibung von "Eignung" verknüpft sind,<br />

so irritiert, daß historisch das Eignungsargument auch von Frauen verwendet<br />

wurde. Die bürgerliche Frauenbewegung hat dies propagiert, um eine Schutzzone<br />

auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt frei von Männerkonkurrenz zu installieren, in der sich<br />

die heute als "traditionell" bezeichneten sozialen, pflegenden und erziehenden<br />

Frauenberufe entwickeln konnten. Mit dem Einsatz des Begriffs "Eignung" wird<br />

also sowohl die vertikale Segmentatlon der Berufe und Berufspositionen legitimiert<br />

- mit dem Ergebnis der Zuordnung von Frauen auf unteren Positionen<br />

ohne Aufstiegsmöglichkeit und in schlecht bezahlten und vertraglich unsicheren<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen - wie auch die horizontale Aufteilung von Berufen vergl<br />

eichbarer Qualifikation auf Männer und Frauen.<br />

Konnten wir den Einsatz des Eignungsbegriffs als Legitimation für die<br />

vertikale und hierarchische Zuordnung von Männern und Frauen im Berufssystem<br />

als eindeutig interessengeleitetes Vorurteil verwerfen, so wird es <strong>bei</strong> der


- 151 -<br />

Vorstellung von der besonderen Eignung, die Frauen für "typisch weibliche"<br />

Berufe mitbringen und von den besonderen Fähigkeiten, die sie realisieren,<br />

schwierig, diese als rein ideologische zurückzuweisen. Diese Schwierigkeiten<br />

gründen sich zum einen auf real vorzufindenden unterschiedlichen Kompetenzmodellen<br />

und Handlungspräferenzen <strong>bei</strong> Männern und Frauen, Produkte der historischen<br />

Entwicklung des Geschlechterverhältnisses und der überlieferten<br />

Ar<strong>bei</strong>tsteilung zwischen Männern und Frauen. Die Tradition der Zuordnung reproduktiver<br />

Tätigkeiten auf die Frauen hat die Ausprägung eines Ar<strong>bei</strong>tsvermögens<br />

begünstigt, das den Einsatz der ganzen Person, mit Körper, Geist und<br />

Gefühl verlangt. Selbst wenn die Entstehungsbedingungen für dieses spezifische<br />

Ar<strong>bei</strong>tsvermögen heute weniger in dem Wesen oder gar der "Natur" der Frauen<br />

gesucht werden als vielmehr in seiner konkreten Entwicklung in der weiblichen<br />

Sozialisation nachgezeichnet wird, so ist mit dieser Einsicht doch nicht verhindert,<br />

daß erstens aUen Frauen als Geschlechtswesen unterschiedslos die Produ<br />

ktion und Potenz eines solchen besonderen Ar<strong>bei</strong>tsvermögens unterstellt wird<br />

und daß zweitens ihnen abverlangt wird, dieses Ar<strong>bei</strong>tsvermögen so zuzurichten,<br />

und damit zu instrumentalisieren, daß es auch unter den Bedingungen<br />

von Erwerbsar<strong>bei</strong>t effektiv werden kann.<br />

So wird z.B. in allen Berufen mit Kundenkontakt, unabhängig vom Sortiment<br />

der zu verkaufenden Waren oder Dienstleistungen, auf die Freundlichkeit<br />

bis hin zum Sexappeal der Frauen gesetzt. Handlungsmuster des Zuhörens und<br />

Beratens, aber auch des Umsorgens und Versorgens sind allgemein menschliche<br />

und in ihrer Ausprägung durch die weibliche Sozialisation bestimmt. Je individuell<br />

wurden sie als Teil der persönlichen Kompetenz hauptsächlich außerhalb<br />

der Prozesse beruflicher Qualifikation erworben, müssen nun aber ?u Ar<strong>bei</strong>tstugenden<br />

so umgeformt werden, daß sie sich letztlich umsatzsteigernd auswirken.<br />

In den sozialen und pflegenden Berufen ist das Verhältnis zwischen persönlichen<br />

Fähigkeiten und eindeutig zu definierenden sachlich-fachlichen Anteilen<br />

besonders spannungsvoll. Die oberflächliche Ahnlichkeit der beruflichen Tätigkeiten<br />

von Erzieherinnen und Sozialar<strong>bei</strong>terinnen, von Krankenschwestern oder<br />

Hauswirtschafterinnen mit den privat erbrachten Reproduktionsar<strong>bei</strong>ten von<br />

I .<br />

Frauen als Mütter und Hausfrauen hat zu dem "notorischen Mißverständnis geführt,<br />

für diese Tätigkeiten reiche eine gel ungene weibliche Sozialisation als<br />

berufliche Qualifikation. Da<strong>bei</strong> wird nicht beachtet, welche Veränderungen sich<br />

<strong>bei</strong> der teils schmerzlichen Umformung eines weiblichen Verhaltensrepertoires<br />

ergeben, das unter und für private Verhältnisse erworben wurde, wenn dieses in


- 152 -<br />

beruflicher Form zu präsentieren ist. Das Verhältnis zu den Menschen, mit denen<br />

Frauen beruflich in Kontakt kommen, ist durch Ungleichheit und Abhängigkeit<br />

geprägt und grundsätzlich nicht - wie im privaten Bereich - rrsiber.<br />

Krankenschwestern z.B. haben nicht mit Krankheit als schicksalhaftem singulärem<br />

Erlebnis <strong>bei</strong> einer nahest ehen den Person zu tun, sondern sind auf Dauer<br />

mit dem Leiden wechselnder Patienten konfrontiert.<br />

Diese Hinweise sollen dazu dienen, die Annahme zu erschüttern, die wesentlichen<br />

und hinreichenden Voraussetzungen für die Erledigung "hausar<strong>bei</strong>tsnaher",<br />

"typisch-weiblicher" Ar<strong>bei</strong>ten lägen in den persönlichen Fähigkeiten,<br />

gebündelt im Begriff des "weiblichen Ar<strong>bei</strong>tsvermögens". Ausbildung und Umformung<br />

dieses Fähigkeitsspektrums gehören zu dem beruflichen Selbstverständnis<br />

und zu den konkreten Anforderungen des Ar<strong>bei</strong>tsplatzes. Diese können nicht<br />

unhinterfragt vorausgesetzt und eingesetzt werden, ohne gleichzeitig als teilberufliche<br />

Qualifikation zu gelten und als "nicht meßbar" abgetan zu werden.<br />

Erst die Verleugnung dieses Zusammenhangs hat es ermöglicht, weibliche Ar<strong>bei</strong>t<br />

als "unbezahlbar" darzustellen.<br />

Die Geschichte der sozialen und pflegenden Berufe ist durchzogen von<br />

zwei Argumentations- und Konfliktlinien, die sich mehrfach kreuzen:<br />

- Erstens wird gefragt, ob für diese Tätigkeiten überhaupt " eine Ausbildung<br />

notwendig ist, ob diese - falls sie stattfindet - mit einem formalen Zertifikat<br />

abgeschlossen werden solle und auf welcher Ebene der sozialen Hierarchie<br />

und welchem Niveau wissenschaftlicher Erkenntnis Ausbildung und Beruf<br />

angesiedelt sein sollen.<br />

- Zweitens wird "Beruf" im Bereich der sozialen Ar<strong>bei</strong>t lange Zeit idealistisch<br />

als qualifizierte, gesellschaftlich notwendig, aber nicht gegen Geld erbrachter<br />

Dienst verstanden und Fragen per existentiellen Sicherung der sozialen<br />

Ar<strong>bei</strong>t erbringenden Frauen verschämt zurückgestellt.<br />

Diese <strong>bei</strong>den Linien weisen auf Schwachstellen der Beruflichkeit und der<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse hin. Bis heute finden wir in Frauenberufen einen relativ<br />

hohen Anteil nicht spezifisch oder auch gar nicht beruflich qualifizierter Frauen<br />

unter den Erwerbstätigen, und andererseits beruflich oder durch Lebenserfahrung<br />

qualifizierte Frauen, die gleiche oder vergleichbare Aufgaben unbezahlt<br />

ausüben. Es wird deutlich, daß sich die Reichweit'e der Begriffe wie Ausbilqung<br />

und Qualifikation, Beruf und Erwerb in Frauenberufen von denen anderer<br />

Berufe unterscheiden und daß sich dies für den Charakter der Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

negativ auswirkt.


- 153 -<br />

Die Ausprägung des weiblichen Ar<strong>bei</strong>tsvermögens und seine unter den Bedi<br />

ngungen von Erwerbsar<strong>bei</strong>t geforderte Ausprägung hat aber auch noch Einfluß<br />

auf weitere Strukturmomente traditioneller Frauenberufe, insbesondere auf die<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen. Die spezifischen Qualitäten des weiblichen Ar<strong>bei</strong>tsvermögens<br />

werden nämlich in doppelter Weise g'ebraucht - ja ausgebeutet: einerseits,<br />

wie wir gesehen haben, zur Erledigung der Ar<strong>bei</strong>t selbst, andererseits zur Erledigung<br />

der Ar<strong>bei</strong>t unter den spezifischen Bedingungen. Es fällt nämlich auf,<br />

daß ganzheitliches, Körper, Geist und Gefühl gleichzeitig und zusammen aktivierendes<br />

Handeln vor allem dort verlangt wird, wo die Bedingungen dafür besonders<br />

ungünstig sind. So sehen sich Frauen in den sozialen Berufen zum Beispiel<br />

in ein starres System verregelter Handlungsvorschriften und bürokratischer<br />

Kontrollen eingebunden, das die angestrebte Einheit von Denken, Fühlen<br />

und Tun eher behindert "als befördert. Gerade weH mit dem Einsatz des weiblichen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsvermögens quasi naturhaft gerechnet werden kann, muß scheinbar<br />

nicht auf förderliche Handlungsbedingungen geachtet werden!<br />

Die scheinbare Nähe der weiblichen beruflichen Ar<strong>bei</strong>tsgegenstände,<br />

-typen und -formen sowie der Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse zur privaten Reprodu<br />

ktionsar<strong>bei</strong>t, zu Hausar<strong>bei</strong>t, sowie die dafür benötigten Qualifikationen lassen<br />

(teils auch für die Frauen selbst) Frauenberufsar<strong>bei</strong>t als unvollständig, nicht<br />

gegen Privatheit abgrenzbar und mit ihr austauschbar erscheinen. Dies gilt<br />

auch für den gesellschaftlichen Status der Ar<strong>bei</strong>ten. Gerade soziale und pflegende,<br />

aber auch eine Reihe von Dienstleistungsberufen stehen unter dem<br />

Druck, ihre Ar<strong>bei</strong>tsplätze gegen die Ausweitung der Hausar<strong>bei</strong>t durch Reprivatisierung,<br />

gegen die Ausweitung des traditionellen Engagements von Laien in<br />

ihren Amtern und gegenüber Selbsthilfegruppen zu sichern bzw. neu zu definieren,<br />

die verberuflichte Helferar<strong>bei</strong>t aus den überkommenen Institutionen und<br />

gesicherten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen lösen wollen.<br />

Gerade die "Lebendigkeit" der Ar<strong>bei</strong>tsgegenstände, Kommunikation wie<br />

Körperpflege als Ar<strong>bei</strong>tsprozeß und die enge der Handlungsspielräume in den<br />

Frauenberufen bestimmen den Charakter der Ar<strong>bei</strong>t. Der besondere Charakter<br />

dieser Ar<strong>bei</strong>ten und der Fähigkeiten, die dafür gebraucht werden, ist aber<br />

ni cht irgendwelchen Traditionselementen geschuldet, was der Begriff "traditionelle<br />

Frauenberufe" unter Umständen nahelegt, sondern hat seine doppelte<br />

Funktion für die Garantierung weiblicher Leistungen auf einem äußerst geringen<br />

professionellen Niveau und unter für die Frauen extrem unsicheren Verhältnissen.


- 154 -<br />

Helga Krüger<br />

DER STAAT ALS ARBEITGEBER. LABILISIERUNG UND<br />

STABILISIERUNG IN PERSONENBEZOGENEN SOZIALEN<br />

DIENSTLEISTUNGEN<br />

1. Ausgangssituation<br />

Die aktuelle Krise des Sozialstaates führt Ar<strong>bei</strong>tskräften in personenbezogenen<br />

sozialen Diensten wieder einmal bedrohlich vor Augen, was ihnen mit Blick auf<br />

die zyklischen Ar<strong>bei</strong>tsmarktkonjunkturen ihrer Tätigkeiten schon bewußt war:<br />

berufsförmig organisierte Ar<strong>bei</strong>t wie z.B. Krankenpflege, Kindererziehung, die<br />

Schule unterstützende Hortar<strong>bei</strong>t, Ar<strong>bei</strong>t mit Jugendlichen, Drogenabhängigen<br />

und psychisch Kranken wird jeweils in der Krise an die Familie delegiert, was<br />

dann als "Dienstleistungsexternalisierung" (Berger/Offe 1980) etikettiert wird.<br />

In Phasen des Aufschwungs als staatlich organisierte oder finanzierte Dienstleistungen<br />

für die Familie ausgebaut, boten diese Ar<strong>bei</strong>tssegmente auch Frauen<br />

durchaus qualifizierte und einflußreiche Berufspositionen. Dennoch haben gerade<br />

diese Segmente berufsförmiger Ar<strong>bei</strong>t nicht so viel Stabilität erlangt, daß<br />

sie Frauen auch in Krisenzeiten existentiell sichern konnten. In Phasen des<br />

Überschusses an Ar<strong>bei</strong>tskräften und der Einschränkung öffentlicher Gelder für<br />

soziale Fragen werden diese Tätigkeiten wieder in die Familie zurückverIagert,<br />

wo die Frauen dann ganz gebraucht werden. Ein Großteil der beruflich Qualifizierten<br />

wird ar<strong>bei</strong>tslos. Viele von ihnen organisieren stadtteil bezogene Initiativen,<br />

um Frauen aus der Isolation und Abgeschnittenheit von gesellschaftlicher<br />

Ar<strong>bei</strong>t herauszuführen. Andere planen und realisieren Projekte zur Re-Qualifizierung<br />

von Frauen. Qualifizierte, aber erwerbslose Frauen machen mit ihrer<br />

unbezahlten oder billig erbrachten Dienstleistung in Sel bsthilfegruppen den qualifizierten<br />

Frauen mit Ar<strong>bei</strong>tsplatz in den sozialen Diensten Konkurrenz.<br />

Zeichnet man die Entwicklung der Berufe nicht nur quantitativ, sondern<br />

qualitativ nach, so zeigen sich deutliche Verschiebungen im Anforderungsprofil<br />

in eben solcher konj unkturellen Abhängigkeit: wie am Beruf der Kinderpflegerin<br />

(Müller 1956) oder der Erzieherin (v. Derschau 1972, Rabe-Kleberg 1981, Ostner<br />

1984) nachzuzeichnen, steigen mit dem Ausbau berufsförmig organisierter<br />

sozialer Dienstleistungen auch das Qualifikationsniveau und die Ansprüche der


- 155 -<br />

einstellenden Institutionen. In Phasen der Krise dagegen werden die gleichen<br />

Qualifikationen aber wieder als Jede-Frau-Fähigkeiten diskriminiert und deklassiert.<br />

Die wechsel volle Geschichte der einzelnen Berufsfelder in den sozialen<br />

Diensten wird oftmals als reine Frauenproblematik gesehen, ohne die strukturellen<br />

Momente für die Labilisierung zu sehen. Eine solche Betrachtung ist<br />

ebenso schief wie die aktuelle Diskussion um di e Grundsicherung, <strong>bei</strong> der die<br />

Geschlechtsspezifik der Ar<strong>bei</strong>tsteilung ebenso außer acht gelassen wird wie die<br />

Frage nach der Qualifikation für die reproduktiven Ar<strong>bei</strong>ten, die nach diesem<br />

Konzept außer halb der Berufsform als Laienar<strong>bei</strong>t erbracht werden sollen. Qualifikations-<br />

und Handlungsträger sind ebensowenig geschlechtsneutral wie die<br />

Adressaten in den sich mehrenden Appellen zur Selbsthilfe in der Sozialpolitik.<br />

Ich möchte im folgenden der Frage nach den strukturellen Hintergründen nachgehen,<br />

die dazu führen, daß gerade in qualifizierten Frauenberufen des sozialen<br />

Dienstleistungsbereichs die aktuellen Programme greifen, daß di ese wie Verschiebebahnhöfe<br />

wirken und Frauen auf Abstellgleise bzw. Nebengleise drängen,<br />

in denen ihre Qualifikationen - unbezahlt - voll zum Tragen kommen, und über<br />

die sie dann tatsächlich gezwungen werden, den Anschluß an bezahlte Ar<strong>bei</strong>t<br />

über Selbstinitiativen aufzubauen. Dazu greife ich zunächst auf berufssoziologische<br />

Kategorien zur Einordnung beruflicher Ar<strong>bei</strong>t zurück und wende mich<br />

dann dem Besonderen dieser Berufsfelder , konkretisiert am Beispiel der Erzieher/innen,<br />

zu.<br />

2. Der Beruf der Erzieher/innen - keine sichere Position zwischen<br />

"Ar<strong>bei</strong>t" und "Profession"<br />

Heinz Hartmanns schon etwas älterer Versuch, die Abgrenzungen von Ar<strong>bei</strong>t,<br />

Beruf und Profession berufssoziologisch zu konkretisieren, versteht sich als<br />

"Anleitung für die Beobachtung und Beurteilung eines gegebenen Tätigkeitsfeldes"<br />

(Hartmann 1968, 204). Ich ziehe ihn deshalb heran, weil er im Gegensatz<br />

zu anderen berufssoziologischen Ansätzen versucht, die gleitenden Linien zwischen<br />

Ar<strong>bei</strong>t, Beruf und Profession als realitätsadäquates und gesellschaftlichen<br />

Wandel einbeziehendes Paradigma herauszuar<strong>bei</strong>ten. Er charakterisiert<br />

diese drei Fel der gesellschaftlicher Tätigkeit über die Dimension "Wissen" und<br />

"soziale Orientierung". Während er der Ar<strong>bei</strong>t ein punktuell-einfaches, alltägli-


- 156 -<br />

ches Erfahrungswissen zuweist, dem Beruf eine Systematisierung des Wissens<br />

durch die Kombination einzelner Wissensstoffe und der Profession schließlich<br />

die Annäherung des Wissens an systematische Forschungszusammenhänge, beschreibt<br />

er die Differenzen zwischen Ar<strong>bei</strong>t, Beruf und Profession auf der Dimension<br />

der sozialen Orientierung wie folgt: Auf der Ebene der einfachen Ar<strong>bei</strong>tsverrichtungen<br />

herrscht ein relativ eingeschränktes Sozialbewußtsein vor;<br />

im System beruflicher Ar<strong>bei</strong>t hingegen geraten größere Sozialräume ins Blickfeld,<br />

d.h. die Berufsrolleninhaber orientieren sich in ihren beruflichen Handlungsvollzügen<br />

weniger an individueller Bedürfnisbefriedigung als an ihrer Rolle<br />

in größeren Wirtschaftszusammenhängen (Branche, Wirtschaftszweig, Volkswirtschaft);<br />

die "Professionals" schließlich richten sich in der Organisierung und<br />

Erledigung ihrer Aufgaben verstärkt nach gesellschaftlichen Bedürfnisseo, verlassen<br />

die Ebene der Individualisierungen, folgen gesamtgesellschaftlichen<br />

Orientierungen und schließen sich zu Interessengemeinschaften zusammen (Standesorganisationen).<br />

Dies - nach Hartmann - als grobe Unterscheidung, die nicht<br />

darüber hinwegtäuschen soll, daß im Rahmen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse<br />

sowohl Verberuflichung als auch Entberuflichung bestimmter Tätigkeitsfelder<br />

stattfinden, sowohl Professionalisierung als auch De-Professionalisierung<br />

mit entsprechenden Verschiebungen durch Wissensanforderungen und<br />

soziale Orientierung z.B. durch Technisierung der Ar<strong>bei</strong>tsorganisationen.<br />

Das heutige Berufsfeld der Erzieherinnen ließe sich nach diesen Kategorien<br />

relativ einfach einordnen: Es liegt auf der Dimension des Wissens oberhalb<br />

der einfachen Ar<strong>bei</strong>t - Erfahrungswissen reicht nicht aus -, gehört aber nicht<br />

zur Profession, z.B. der Psychologie. Oder doch? V.a. die Diskussion um di e<br />

Vorschulerziehung und der Ausbau des Wissens über frühkindliche Förderung<br />

haben zu einer deutlichen Ausrichtung des Berufsbildes der Erzieherinnen an<br />

Forschungserkenntnissen geführt. Vom ' Stand des Wissens her scheint die Antwort<br />

klar: die Merkmale einer Profession liegen vor. Aber gesellschaftlich ist<br />

sie nicht oder anders entschieden: die Ar<strong>bei</strong>t wird überwiegend von Erzieherinnen<br />

mit einer vierjährigen Fachschulausbildung für Sozialpädagogik und einem<br />

entsprechenden Zertifikat erledigt. Sie ist als Beruf auf mittlerer Qualifikationsstufe<br />

organisiert.<br />

Schauen wir noch einmal fragend zurück auf die Grenzziehung zwischen<br />

Ar<strong>bei</strong>t und Beruf. Auch hier wird es schwierig. Erfahrungswissen scheint nicht<br />

Zu genügen - und doch werden Kinder, die keinen Kindergartenplatz erhalten,<br />

von der Mutter zuhause erzogen, allerdings auch hier überwiegend unter Anlei-


- 157 -<br />

tung von Fachzeitschriften und Fernsehsendungen, die ein erhebliches Wissen in<br />

die Familie transportiert haben. Und wo ordnen wir Tagesmütter ein, wo die<br />

Gem eindeschwester mit ihrer Jugendgruppe?<br />

Betrachten wir die Dimension der sozialen Orientierung, so werden die<br />

Unterscheidungen noch fragwürdiger: Schon die Ar<strong>bei</strong>t in der Famiie ist weniger<br />

an individuellen Bedürfnissen als an den vermuteten Bedürfnissen der Kinder<br />

und deren gesel lschaftlicher Zukunft ausgerichtet. Die Orientierungen im<br />

Kindergarten ordnen sich deutlich gesamtgesellschaftlichen Normen zu, sind als<br />

Erziehungsaufgaben gesamtgesellschaftlichen Mustern verpflichtet. Sie di enen<br />

de n nach Hartmann nur den Professionen zugeschriebenen Orientierungen an<br />

Anpassung, gesamtgesellschaftlicher Ziel verwirklichung, Integration und Bewahrung<br />

kultureller Muster. Mit anderen Worten: Die sorgfältigen Unterscheidungen<br />

von Hartmann, die er mit dem Ziel verbunden hat, zu "einer Differenzierung<br />

unserer Urteilsfähigkeit gegenüber wichtigen Eigenschaften gegebener Tätigkeitsfelder"<br />

(S. 207) <strong>bei</strong>zutragen, helfen im Bereich sozialer Dienste nicht weiter.<br />

Woran liegt das? Sicherlich zunächst daran, daß dieses Schema sich an den<br />

Entwicklungen des männlichen Berufssystems orientiert, an Berufen in Wirtschaft<br />

und Handel , Professionen in Wissenschaft und Management, in der Jurisprudenz<br />

und Medizin. Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die erheblich zur<br />

Segmentierung von Berufsfeldgrenzen und Zuweisung von Ar<strong>bei</strong>tskräfte-Nachfragern<br />

nach Qualifikation und Allokation auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt <strong>bei</strong>tragen,<br />

werden in dem Schema nicht beachtet. Die Rechnung ist aber ohne den "Wirt",<br />

die einstellenden Instanzen, gemacht, die auch im männlichen Berufssystem mitgestalten,<br />

welches Qualifikationsniveau für welches Geld eingekauft wird und<br />

die versuchen, durch innerbetriebliche Ar<strong>bei</strong>tsteil ung komplexe Ar<strong>bei</strong>tsvollzüge<br />

in Teilar<strong>bei</strong>ten zu zerlegen, die von ungelernten, d.h. billigen Ar<strong>bei</strong>tskräften<br />

erledigt werden können (Bravermann 1977).<br />

Diese Prinzipien greifen auch in der Organisation sozialer Dienste, stoßen<br />

hier aber bald an ihre unteren Grenzen. Ein Ausdruck dieser Tendenz ist die<br />

Aufspaltung der Betreuungsleistungen für Kinder nach Alter oder zu behandelnden<br />

Symptomen und der Versuch, die dann jeweils anfallenden Ar<strong>bei</strong>tsvollzüge<br />

auf unterschiedliche Qualifikationsniveaus zu verteilen. Bei der Abspaltung<br />

zwischen Pflege und pädagogischer Betreuung, <strong>bei</strong> der Gründung von Sondereinrichtungen<br />

für Problemkinder oder Behinderte und von Vorschulgruppen im Kindergarten,<br />

vor allem aber <strong>bei</strong> der hierarchischen Ar<strong>bei</strong>tsteilung zwischen Gruppenleiterin<br />

und Zweitkraft wird der Personenbezug der erzieherischen Dienst-


- 158 -<br />

leistung sichtbar und stößt an gesellschaftlich anerkannte, geradezu "natürliche"<br />

Grenzen für die noch mögliche Teilung der Ar<strong>bei</strong>t.<br />

Das Besondere an personengebundenen sozialen Diensten liegt aber in diesen<br />

Rationalisierungsgrenzen: Sind Ar<strong>bei</strong>tsvollzüge nicht weiter teilbar und die<br />

Kassen zu, so bedeutet Rationalisierung der vollständige Wegfall der Dienstleistung<br />

insgesamt, ohne daß befürchtet werden müßte, daß diese Einbuße nicht<br />

privat "irgendwie" ersetzt würde (Ostner 1986). Und dies wiederum ist möglich,<br />

weil es ein weiteres Besonderes in den sozialen Diensten gibt, das leicht übersehen<br />

wird: die Tatsache nämlich, daß der Ar<strong>bei</strong>tgeber, sei er in staatlicher,<br />

sei er in privater Trägerschaft, zugleich gestalterische Macht in der Definition<br />

sozialer Orientierungen hat, als politischer und kultureller "Opinionleader" nor:<br />

mativ und faktisch daran mitwirkt, welche Ar<strong>bei</strong>t als sozial notwendig gilt und<br />

zugleich über Zahl und Qualität der Ar<strong>bei</strong>tsplätze bestimmt sowie über Ausbildung<br />

und Qualifikation derjenigen, die sich um Ar<strong>bei</strong>tsplätze in den sozialen<br />

Diensten bemühen (Rabe-Kleberg 1987). Während es im Unterschied hierzu dem<br />

Kampf zwischen Ar<strong>bei</strong>tnehmern und Staat zu verdanken ist, daß im dualen Berufsbildungssystem<br />

Qualifikationen vermittelt werden, die den Ar<strong>bei</strong>tnehmer vor<br />

der unmittelbaren Einbindung in Ar<strong>bei</strong>tgeberinteressen schützen, ist dieses<br />

Prinzip für die sozialen Dienste weder erkämpft noch durchgesetzt worden.<br />

Ausbildung und Beschäftigung liegen seit ihrer Entstehung in der Hand der gleichen<br />

staatlichen und privaten Träger und sind damit wechselnden Einflüssen<br />

und kurzfristigen Interessen vor allem staatlicher Administration ausgesetzt. So<br />

läßt der Staat als Ar<strong>bei</strong>tgeber soziale Dienstleistungen wegfallen, wenn<br />

- der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit ins Wanken gerät oder<br />

umdefiniert wird;<br />

- die Erledigung der Ar<strong>bei</strong>tsaufgabe privat organisierbar ist, oder wenn<br />

- Personengruppen zur Verfügung stehen, die die Aufgabe auch privat übernehmen.<br />

Hier nun kommt "die Frau" und das, was um sie herum an Aufgabenzuweisungen<br />

und Zuschreibungen aufgebaut ist, ins Spiel. Die Strukturanalyse<br />

überlagert sich mit der Frauenfrage, ist nicht unabhängig von der Frauenbewegung<br />

und heutigen Emanzipationsbemühungen von Frauen zu denken, fängt diese<br />

ein. Die Ambivalenzen der Frauen gegenüber diesen Strukturbedingungen erleichtern<br />

es, Strukturentwicklungen hinter der Frauenfrage zu verstecken. Die<br />

"unheilige Allianz" von Strukturentwicklungen im staatlichen Interesse und<br />

Frauensel bstdefinition im Kampf mit gesellschaftlich-staatlichen Verwertungsin-


- 159 -<br />

teressen wollen wir ein Stück weiter verfolgen, um die Amalgamierung so weit<br />

wie möglich aufzulösen, unsere eigenen weiblichen Anteile an der Verschiebepraxis<br />

zu begreifen, zugleich aber die staatlich-strukturelle Seite aus unseren<br />

Handlungsentwürfen nicht auszuklammern.<br />

3. StruktureHe Labilisierungen als Ergebnis gesellschaftlicher<br />

Zuschreibungen und Machtpositionen<br />

3.1 Zuständi.gkejtszuschreibungen an das weibliche Geschlecht:<br />

Ein gesellschaftlicher Konsens ohne die Frauen?<br />

Im Rahmen der Professionalisierungsdebatte der 70er Jahre wurde von seiten<br />

vieler Universitäts kollegen und der wenigen Kolleginnen auch beklagt, daß di e<br />

personenbezogenen sozialen Dienstleistungen jenseits der Bürokratie zu den<br />

Frauenberufen zählen (Pfaffenberger 1967). Eines der Ziele der Standesorganisationen<br />

bestand darin, diese Uberlagerung der Berufsrolle mit der Geschlechtszugehörigkeit<br />

der Berufspositionsinhaber über Professionalisierungs-Bemühungen<br />

aufzulösen, durch öffentliche Diskussionen über die Anbindung von Erziehung<br />

an<br />

Forschungsentwicklungen dem Ver.dacht entgegenzutreten, es handele sich<br />

hier um dem einen Geschlecht angeborene Fähigkeiten, durch Formalisierung<br />

der Zugänge und letztlich auch durch die Umdefinition der Kindergärtnerin in<br />

"den Erzieher", Ausbildung und Berufspraxis auch für männliche Bewerber "attraktiver"<br />

zu machen. Grundannahme war, daß der Makel der Zweitrangigkeit<br />

allein daraus resultiere, daß das Berufsfeld als Frauenberuf gelte. Uber die<br />

weit verbreitete Vorschuldiskussion und das Interesse von Wirtschaft und staatlicher<br />

Führung an der Ausschöpfung der Begabungsreserven auch unterer sozialer<br />

Schichten durch frühzeitige Förderung in Kindergärten, ist dieser Schritt -<br />

zeitgebunden - gel ungen, um wiederum - zeitgebunden - in den aktuellen Appel<br />

len an Selbsthilfe, Selbstorganisation und "Entbürokratisierung" der Erziehung<br />

außer Kraft gesetzt zu werden. Diese Appelle nun setzen wieder auf die<br />

Frauen und auf deren "natürliche" Zuständigkeit für dieses Aufgabenfeld in der<br />

privaten Familie. Hat die Professionalisierungs-Debatte den falschen Weg eingeschlagen?<br />

In der Tat ist die Verknüpfung der Erziehungsaufgabe mit der Frauenrolle<br />

nicht allein durch die Standardisierung der Zugangsvoraussetzungen und tarifrechtlichen<br />

Absicherung der zu zahlenden Löhne auf der Basis existenzsichern-


- 160 -<br />

der Tarifpolitik außer Kraft zu setzen, da diese auf einem zentralen Grundmuster<br />

in der gesellschaftlichen Ar<strong>bei</strong>tsteilung zwischen den Geschlechtern basiert.<br />

Dieses ist engstens mit der patriarchalischen und zugleich kapitalistischen<br />

Organisation gesellschaftlicher Ar<strong>bei</strong>t in unserer Gesellschaft verbunden:<br />

So hängt die Entstehung und Ausweitung personenbezogener sozialer Dienstleistungen<br />

engstens mit den geschichtlich wirksamen Machtverhältnissen im vergangenen<br />

Jahrhundert zusammen. Wesentliche Voraussetz ung sind neben der<br />

strukturellen gesellschaftlichen Entwicklung v.a. die ideologischen Begleitumstände:<br />

die in den damals neu entstehenden Erziehungswissenschaften, der Soziologie,<br />

aber auch von Kirche und Staat gemeinsam begründete wesensmäßige<br />

Zuordnung der Frau zu produktionssichernden reproduktiven Aufgaben. Die Polarisierung<br />

der Geschlechter verknüpft die Kinder- und Familienversorgung mit<br />

dem "Wesen" der Frau", die Berufsar<strong>bei</strong>t außerhalb des Hauses mit dem "Wesen"<br />

des Mannes. Die Geschlechterbeziehung zwischen Mann und Frau wurde als<br />

komplementäre Verbindung zweier wesensmäßiger Polaritäten verstanden mit<br />

quasi natürlichem Uber- und Unterordnungsverhältnis (Hausen 1978).<br />

Die Professionalisierungsbemühungen ebenso wie die Hartmannsehen Unterscheidungen<br />

von Ar<strong>bei</strong>t, Beruf und Profession anhand sozialer Orientierungen ,<br />

I . -(fl<br />

scheitern an dem Tatbestand, daß di ese an unserem Berufsfeld nicht partikulae<br />

Orientierungen der Berufstätigen sind, sondern gesellschaftliche ZUschreibungen,<br />

für Frauen verbunden mit materiellen Abhängigkeiten, für Staat und Wirtschaftsorganisation<br />

mit materiellen Vorteilen. Sämtliche Berufsfelder, die nicht<br />

als unternehmerische Dienstleistungen organisiert sind, sondern als staatliche<br />

oder kirchliche Dienstleistungen "am Nächsten", bleiben in einem Flair, das seine<br />

inhaltliche Begründung aus den den Frauen wesensmäßig zugeschriebenen<br />

Eigenschaften der Emotionalität, Einfühlsamkeit, Opferbereitschaft, Zuwendung<br />

er hält. Was aber jeder Frau als Wesenskonstante <strong>bei</strong>gemessen wird, ist nicht<br />

vom Bildungsstand abhängig, sondern an jedem Ort des Einsatzes und auf jeder<br />

Stufe der Vorqualifikation <strong>bei</strong> Frauen vorhanden, so die sehr viel grundlegendere<br />

Botschaft, an der Versuche der Qualifikationsfestschreibung immer wieder<br />

scheitern. Werden diese Fähigkeiten zum "eigentlichen" Beitrag der Frauen in<br />

der gesellschaftlichen Organisation des Lebens hochstilisiert, so bleiben sie an<br />

jedem Ort und unentgeltlich leistbar. Die anzustrebende Lösung ist denn auch<br />

nicht im Kampf um Auf- oder Abwertung dieser Fähigkeiten zu sehen, sondern<br />

in der Einsicht, daß die soziale Ar<strong>bei</strong>t ebenso wie die Familienar<strong>bei</strong>t eine Ar<strong>bei</strong>t<br />

für <strong>bei</strong>de Geschlechter ist. Vorstellungen vom Wesen der Frau sind in der


J<br />

- 161 -<br />

Zuschreibung sozialer Aufgaben an sie und nur an sie geronnen. Aber diese<br />

Aufgaben sind nicht nur weibliche Felder, sondern Felder gesellschaftlicher<br />

Verantwortung und Aufgaben. Die Frauenbewegung fängt und bindet sich selbst,<br />

wenn sie ihre Kritik an der Berufsar<strong>bei</strong>t als Kritik am "Wesen des Mannes"<br />

orientiert, nicht an der gesellschaftlich-strukturellen Organisation der Ar<strong>bei</strong>t.<br />

Daß es sich hier allerdings nicht nur um immaterielle Uberzeugungsar<strong>bei</strong>t<br />

handelt, zeigt ein Blick auf staatliche Machtinstrumente. Als zentral scheinen<br />

mir zum einen das zwar heiß umkämpfte, aber nie aufgegebene "Subsidiaritäts­<br />

Prinzip" zum einen und die Kompetenzbündelung der Berufsausbildung in staatlicher<br />

Hand zum anderen.<br />

3.2 Das Subsidiaritäts-Prinzip - ein Instrument zur ständigen Labilisierung<br />

für personenbezogene soziale Dienstleistungen<br />

Sowohl Kirchen als auch Staat gehen davon aus, daß ihr sozialer Handlungsbedarf<br />

erst dann einsetzt, wenn die Familie die ihr zugeschriebenen Aufgaben<br />

nicht befriedigend lösen kann. Dieses Prinzip, als Subsidiaritäts-Prinzip die<br />

Nachrangigkeiten des Staates zu den privaten Trägern und zur Familie regelnd,<br />

legt für die im Rahmen der Reproduktionsaufgaben entstandenen verschiedenen<br />

Einsatzorte eine spezifische Hierarchisierung fest: staatliche monetäre und<br />

praktische Subventionen greifen erst dann, wenn die Belastbarkeitsgrenze der<br />

Familie oder die Bereitschaft freier Träger, diese zu entlasten, ausgeschöpft<br />

si nd. Der aktuellen Krise des Sozialstaates mit der in ihr intendierten Rückverlagerung<br />

bereits etablierter öffentlicher Dienstleistungen in die Privatheit der<br />

Familie stehen familiale Veränderungen entgegen, abzulesen an den hohen<br />

Scheidungsraten. Diese erscheinen aber ebenso beeinflußbar wie die Berufsfelder<br />

personenbezogener sozialer Dienstleistungen selber, werden die Belastbarkeitsgrenzen<br />

der Familien doch an der Bereitschaft der Frauen festgemacht,<br />

für diese Aufgaben selbst einzustehen und "einsichtig" die Berufsar<strong>bei</strong>t zu unterbrechen.<br />

Als Barriere erscheint die zunehmende berufliche Orientierung der<br />

Frauen, da diese den Konkurrenzdruck auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt erhöhen, Berufsfrauen<br />

sich gleichzeitig familiären Aufgaben entziehen und durch den Druck<br />

auf ihre Partner bezüglich gleichberechtigter Zuständigkeit für familiale Aufgaben<br />

das Familienleben zu gefährden scheinen. Gestützt -auf das Subsidiaritäts-Prinzip<br />

mit der Primärzuständigkeit der Familie und hier der Frauen wird<br />

die Erledigung der reproduktiven Aufgaben immer wieder zur Frauenfrage gemacht:<br />

Erneut liegt der Schwarze Peter <strong>bei</strong> den Frauen, diesmal als materieller


- 162 -<br />

und moralischer Druck. Erst wenn die Frauen versagen, kommt Hilfe! Es liegt<br />

also ein Makel auf der die sozialen Dienstleistungen annehmenden Frau, nämlich<br />

der, ihren Pflichten nicht nachgekommen zu sein. Staatliche und andere<br />

öffentliche soziale Dienstleistungen sind aber nicht Hilfe <strong>bei</strong> Versagen, sondern<br />

eine Form der Wahrnehmung gesellschaftlich notwendiger Ar<strong>bei</strong>t.<br />

Hier nun liegt ein Argumentationsmuster vor, für das Frauen besonders<br />

empfänglich sind: Hilfeleistungen sollten nicht alle staatlich organisiert sein,<br />

sie sollten den personalen Kontext nicht außer acht lassen, auf wechselseitiger<br />

Beziehung basieren und keine Warenform haben. Und dennoch verbergen diese<br />

Definitionen die dahinter liegenden gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse. Die<br />

verstärkte Bereitschaft, in Selbstorganisation zu übernehmen, was in der "Krise<br />

staatlich nicht mehr finanziert werden kann oder auch nicht erbracht werden<br />

sollte, setzt ein Gleichgewicht in der Finanzierung und im Zuständigkeitsverständnis<br />

von Männern und Frauen, Staat, Kirche und Familie für private<br />

und außer häusliche Ar<strong>bei</strong>ten voraus, von der wir weit entfernt sind. Gesamtgesellschaftliche<br />

Analysen und kritische Betrachtungen der neuaufgelegten Subsidiarität<br />

im Rahmen der Grundsicherungsdebatte sollten deshalb diesen Gesichtspunkt<br />

prinzipiell nicht außer acht lassen, wenn wir nicht stillschweigend<br />

die Nachrangigkeit weiblicher Ar<strong>bei</strong>t, die Unterordnung der Frau unter den"r f<br />

Mann und die Dequalifizierung reproduktiver Ar<strong>bei</strong>ten im gesellschaftlichen<br />

Lebenszusammenhang unterstützen wollen.<br />

3.3 Ausbildung/Qualifikation/Wissen: eine Sicherung der Ar<strong>bei</strong>tskraftanbieter<br />

in der Hand der Ar<strong>bei</strong>tskraftverwerter?<br />

Die Verteilungen der Positionen im Berufssystem geschehen primär über die<br />

formalen Abschlüsse, über das Berufsbildungssystem, das seine Absolventen mit<br />

Zertifikaten auf den Ar<strong>bei</strong>tsmarkt entläßt. Die Formalisierung des Wissens über<br />

anerkannte Ausbildungsgänge, nicht das <strong>bei</strong>m Einzelnen vorhandene Wissen an<br />

sich, ist ein entscheidender Schritt für den Erhalt von Marktpositionen - und<br />

ein gewisser Schutz gegen untertarifliche Einstellung und Bezahlung. Was ein<br />

Beruf ist, ist auch eine Machtfrage, wie sich am gestuften Berufsbildungssystem<br />

als gesellschaftlichem Kompromiß zwischen Standes- und Gewerkschaftsinteressen<br />

einerseits, den ar<strong>bei</strong>tskräfterekrutierenden und einstellenden<br />

Instanzen andererseits ablesen läßt. Für den Einzelnen ist nicht sein Wissen<br />

Macht, sondern sein Zertifikat. Einstellende Instanzen orientieren sich an Zertifikaten,<br />

im öffentlichen Dienst sehr gut abzulesen an den Laufbahnverordnun-


- 163 -<br />

gen. Was ungelernte Ar<strong>bei</strong>t, Beruf oder Profession ist, drückt sich nicht zuletzt<br />

in diesen Zertifikaten aus.<br />

Hier nun kommt negativ zum Tragen, was wir oben schon herausgear<strong>bei</strong>tet<br />

hatten, daß im Unterschied zum dualen Berufsbildungssystem di e Ausbildung für<br />

personenbezogene soziale Dienstleistungen lange Zeit in der Hand derselben<br />

privaten Träger blieb, die auch die einstellenden Instanzen waren und mit der<br />

Verstaatlichung der Ausbildung seI bst die Koinzidenz von Ausbildungsinstanz<br />

und Einstellungsinstanz nicht aufgehoben wurde. Wir haben es in diesem Bereich<br />

mit einem vollzeitschulischen Berufsbildungssystem zu tun, dessen Eingangsvoraussetzungen<br />

seit seiner Entstehung im Fluß geblieben sind, ebenso wie<br />

die Eingangsvoraussetzungen für bestimmte Ar<strong>bei</strong>tsfelder •<br />

Schauen wir auf die Curricula und die inhaltliche Ausrichtung der Ausbildung,<br />

so verdeutlicht sich ein Zweites: die Doppelorientierung der Inhalte zum<br />

einen an allgemeinen Grundfähigkeiten, die man von Frauen in der Gesellschaft<br />

erwartet, und an der beruflichen Qualifizierung zum anderen. V.a. an der Kinderpflegerinnen-Ausbildung<br />

ist diese Doppelstrategie, die erst in den oberen<br />

Stufen des Qualifikationssystems für personenbezogene soziale Dienstleistungen<br />

aufgegeben wird, besonders deutlich abzulesen (Hempe-Wankel 1981). Diese<br />

Doppelorientierung schlägt immer wieder zur Seite der "Hausfrauen- und Mutterrollenperspektive"<br />

aus, wenn der Ar<strong>bei</strong>tsmarkt eng begrenzt wird. Dann ergi<br />

bt sich der Sinn der Ausbildung aus ihrer allgemeinen Grundqualifikation - als<br />

Trost für die Schülerinnen angesichts restriktiver Ar<strong>bei</strong>tsmarktbedingungen,<br />

aber auch als Vorbereitung auf die qualifizierte Ubernahme personenbezogener<br />

sozialer Dienste im familialen Kontext. Die vermittelten Inhalte legitimierten<br />

sich in der Ausbildung also schon darüber, daß das so Erlernte ebensowohl für<br />

den privaten Bereich als auch für die berufliche Ar<strong>bei</strong>t gut zu nutzen sei und<br />

sich im Bild von der traditionellen Frau gut verbinden lasse - als "Können" mit<br />

konjunktur abhängigem Marktwert, das nie umsonst erworbe!} wurde. So ist es in<br />

der Tat auch, wie sich z.B. an der Fähigkeit und Initiative so Ausgebildeter<br />

auf dem informellen Sektor des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes, in Selbsthilfegruppen und<br />

selbstaufgebauten Einsatzfeldern belegen läßt. Sie bereichern die Persönlichkeit,<br />

sichern ihr aber keine vom Mann oder - wie früher - von Ordensverbänden<br />

privaten Trägern unabhängige Existenz.<br />

Aber auch hier sind wir gespalten: So deutet sich z.B. in Mütterzentren<br />

oder nachbarschaftlichen Initiativen die Tendenz an, Frauen in Kurzlehrgängen<br />

so weit zu qualifizieren, daß sie beruflich Ausgebildete in sozialen Diensten


- 164 -<br />

voll ersetzen können. Um es zu unterstreichen: Es geht nicht darum, Frauen,<br />

die nicht über entsprechende Formalqualifikationen verfügen, aus Selbsthilfeinitiativen<br />

auszugrenzen. Wohl aber muß es darum gehen, die erreichten Berufspositionen<br />

zu sichern, d.h. Ausbildungsgänge in Selbstinitiativen weitgehend an<br />

die Formalstruktur anzupassen und hierüber Sicherungen gegenüber erneuten<br />

Auflösungstendenzen qualifizierter Ausbildungswege in der aktuellen Krise aufzubauen.<br />

Aber ist dieses Wissen überhaupt formalisierbar, vom Berufsrolleninhaber<br />

und seiner Person trennbar? Eine vierte strukturelle LabiIlsierungsschneise<br />

tut sich auf.<br />

3.4 Die GanzheitHchkeit der Ar<strong>bei</strong>t, ein Frauenprivileg?<br />

Der inhaltlich problematischste Punkt bezüglich einer VerberuflIchung personenbezogener<br />

sozialer Dienstleistungen liegt sicherlich in ar<strong>bei</strong>tsinhaltIichen<br />

Formalisierungsbarrieren. Die Bindung sozialpädagogischen Wissens an Erfahrungen<br />

ist stets in der Diskussion gegenwärtig geblieben, immer wieder problematisi<br />

ert in der Phase der Professionalisierungsdiskussion der 70er Jahre. Mit einsetzender<br />

gesellschaftlicher Wertschätzung und Bedeutung der Sozialisation von<br />

Kindern neben und außerhalb der Schule hat eine Systematisierung des Wissens<br />

stattgefunden, die über die berufliche Ausbildung weit hinaus bis in die UnIversität<br />

hinein verlängert wurde, abzulesen an der Etablierung der Fachdisziplin<br />

Sozialpädagogik/Sozialar<strong>bei</strong>t. Parallel dazu wuchs in den AusbiIdungsstätten der<br />

Versuch, über WIssenspakete unterschiedlicher Art Handl ungswissen systematisch<br />

zu vermitteln, die Erfahrung abzuwerten, die Persönlichkeit des Erziehers<br />

hinter Fachwissen zu verbergen. Diese Entwicklung ist nicht nur gestoppt, sondern<br />

seit einiger Zeit rückläufig. Die Rückbesinnung auf ganzheitliche Konzepte<br />

von Zusammenleben mit Kindern gerät aber gleich wieder in den Sog der<br />

Laiisierung der sozialpädagogischen Ar<strong>bei</strong>t. Die richtige Kritik an der "Verwissenschaftlichung"<br />

der Erziehung und der Erzieherausbildung verbindet sich so<br />

wIeder mit LabiIlsierungsmomenten.<br />

Doch auch in dieser Kritik werden jene strukturellen Seiten verschleiert<br />

und zugleich etwas Wesentliches angesprochen. In einer Reihe von Untersuchungen<br />

und Aufsätzen ist die notwendige Ganzheitlichkeit personenbezogener<br />

sozialer Dienstleistungen immer wieder unterstrichen und hervorgehoben worden<br />

(z.B. Beck-Gernsheim/Ostner 1978, Krüger/Rabe-Kleberg/v. Derschau 1981,<br />

1983, Ostner 1984). Es zeigt sich in ar<strong>bei</strong>tsinhaltlichen Analysen, daß viele der<br />

durch die weibliche Sozialisation entwickelten Fähigkeiten als "stille" Reserve


- 165 -<br />

oder unbezahlte Ar<strong>bei</strong>t in die Erledigung der Ar<strong>bei</strong>tsaufgaben hineinfließen.<br />

Während Zinnecker (1973) noch Barrieren der Professionalisierung in der "typisch<br />

weiblichen" Zuwendung zu den Kindern, im weiblichen Einfühlungsvermögen<br />

und einer der Professionalisierung entgegenlaufenden Orientierung an der<br />

Person sah - und hiermit im Trend der damaligen Verantwortlichmachung des<br />

weiblichen Geschlechts für nicht durchsetzbare Professionalisierungen lag -,<br />

zeigen genauere Analysen des Ar<strong>bei</strong>tsinhaltes, daß soziale Situationen in der<br />

Tat die ganze Person, Einfühlungsvermögen und die Orientierung am Gegenüber,<br />

nicht am instrumentellen Wissen verlangen, jedoch unabhängig davon, ob<br />

von männlichen oder weiblichen Erziehern, ob zuhause oder im Beruf. Unleugbar<br />

ist aber auch, daß Frauen tatsächlich aufgrund ihrer Sozialisation zu diesen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsleistungen fähiger sind als Männer.<br />

Auch hier müssen wir umdenken: Nicht die Frauen sind Professionalisierungsbarrieren,<br />

sondern das männliche Professionalisierungsmuster ist schief,<br />

unterstützt es doch die Ausklammerung der Erfahrungs- und Gefühlsseite aus<br />

einem ganzheitlichen Sozialisationsprozeß. In der Tat sind <strong>bei</strong> Männer häufig<br />

aufgrund ihrer Sozialisation hier extreme Defizite zu beklagen, die über eine<br />

auf Persönlichkeitsbildung, Fähigkeitsentwicklung und Kompetenz gleichermaßen<br />

bezogene Ausbildung weiterentwickelt werden müßte. Daß Männer hierzu<br />

fähig sind, zeigen die Beispiele der "neuen Väter" und Fähigkeitsentwicklungen<br />

<strong>bei</strong> männlichen "Krankenschwestern", dem männlichen Pflegepersonal (Ostner<br />

/ Krutwa-Schott 1981).<br />

Und dennoch ist dieses der sensibelste und ernstzunehmende Labilisierungsbereich,<br />

der gegen Formalisierungen des Wissens zu sprechen scheint. M.E. jedoch<br />

ist aus diesen ar<strong>bei</strong>tsinhaltlichen Anforderungen heraus v.a. di e bestehende<br />

Ausbildung kritisch zu betrachten: nicht ihre Abschaffung zu betreiben, Sondern<br />

ihre inhaltliche Umgestaltung (Rabe-Kleberg/Krüger/v. Derschau 1986).<br />

Erziehungsprozesse kommen heute ohne wissenschaftliche Kenntnisse nicht aus,<br />

die durchaus gegen den Strom traditioneller Wissensvermittl ung und isolierter<br />

Kindergartenerziehung gerichtet sind. Der Rückverweis dieser Qualifikation an<br />

di e Alltagserfahrung jedoch bedeutet einen historischen Rückschritt, der angesichts<br />

der zunehmenden Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen nicht<br />

angemessen ist.


- 166 -<br />

Ich fasse zusammen:<br />

Nehmen wi r die für die Bestimmung von Tätigkeiten als Beruf entwickelten<br />

Kriterien der Berufs-Soziologie ernst, so ist festzustellen, daß sie von gesellschaftlichen<br />

Machtverhältnissen nicht zu trennen ist. Diese drücken sich aus in:<br />

- der Zuweisung der Aufgaben auf die Geschlechter,<br />

- der primären Zuständigkeit der Familie für die Erledigung sozialer Aufgaben,<br />

der Schaffung eines Sonderausbildungssystems, mit der Doppelorientierung<br />

der Inhalte auf Beruf und Familie,<br />

- der Rückbindung des Wissens und der Qualifikation an di ejenigen Facetten<br />

der Person, die als typisch weiblich gelten.<br />

Durch die Amalgamierung der Rolle der Frau und ihrer "Wesensbestimmung"<br />

mit dieser Art von beruflicher Tätigkeit und der Doppelfunktion des Staates als<br />

Ausbilder und Ar<strong>bei</strong>tgeber hat sich der Ort der Ar<strong>bei</strong>t, das Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis,<br />

ni cht stabilisieren können. Auf der Basis des Subsidiaritäts-Prinzips kann es<br />

wi llkürlich immer wieder in die Familie und in die weibliche Ehe-Abhängigkeit<br />

zurückgeschoben werden.<br />

Unter diesen Bedingungen erscheint der um 1970 relevante Diskurs um die<br />

Professionalisierung und die Ansätze zur Verbesserung der Ausbildungs- und<br />

Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen von Erzieherinnen, den Zugang für Männer zu öffnen und<br />

den Wissenserwerb soweit zu systematisieren, daß di e Geschlechtsspezifik zurücktreten<br />

konnte als historische Ausnahme. Fortgesetzt hat sich diese E;:ntwickl<br />

ung in einer neuen Auffassung der Frau als gleichberechtigter Partnerin<br />

im beruflichen Kontext und in einer Aufwertung reproduktiver Aufgaben als<br />

notwendiger Ergänzung zur familialen Existenz als normatives Konstrukt, nicht<br />

als Realität. Die aktuelle Ar<strong>bei</strong>tsmarktkrise, die wachsenden familialen Belastungen,<br />

die immer wieder erneut diskutierte Einsicht der Personengebundenheit<br />

sozialer Dienstleistungen und die Suche der Frauen nach außerhäuslichen<br />

Tätigkeiten - zumindestens in Nachbarschafts- und Stadtteilinitiativen - zeigen<br />

die strukturellen Schwächen dieser Entwicklung. Die bisher gefundenen Lösungen<br />

sind für das Wirtschaftssystem ebenso wie für den Staat die beste Form<br />

des Umgangs mit der Krise, nicht aber mit den Frauen und nicht mit den sozialen<br />

Problemen! Aber der historische Prozeß hat Spuren im Bewußtsein der<br />

Frauen hinterlassen!


- 167 -<br />

LITERATUR<br />

Beck-Gernsheim, E./Ostner, I.: Frauen verändern - Berufe nicht? In: Soziale<br />

Welt 29/1978, S. 257-287<br />

Berger, J./Offe, C.: Die Entwick1ungsdynamik des Dienstleistungssektors. In:<br />

Leviathan 1/1980, S. 41-75<br />

Braverman, H.: Die Ar<strong>bei</strong>t im modernen Produktionsprozeß. Frankfurt a.M./New<br />

York 1977<br />

Hausen, K.: Die Polarisierung der "Geschlechtscharaktere" - Eine Spiegelung<br />

der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Rosenbaum, H.<br />

Oirsg.): Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur • Frankfurt 1978, S.<br />

161-194<br />

Hartmann, H.: Der Beruf. In: Soziale Welt 19/1968, S. 197-212<br />

Hempel-Wankerl, Ch.: Fächeraufblähung und Desintegration - eine notwendige<br />

Folge der Venyissenschaftlichung? In: Krüger, H./Rabe-Kleberg, U./Derschau,<br />

D.v.'1984, S. 78-85<br />

Krüger, H.: Mädchen in Frauenberufen: Gegen den Prozeß der Bekehrung der<br />

Frauen zu "niederen Diensten". In: Rabe-Kleberg, U./Krüger, H./Derschau,<br />

D.v. 1986, S. 103-1 18<br />

Krüger, H./Rabe-Kleberg, U./Derschau, D.v. (Hrsg.): Qualifikation für Erzieherar<strong>bei</strong>t.<br />

München 1981, 2. Aufl. 1984<br />

Fassenberger, R.: BildungspoIitische Aspekte der sozialpädagogisch-sozialen<br />

Berufsausbildung. In: Politische Psychologie, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1987<br />

Rabe-Kleberg, U./Krüger, H./Derschau, D.v. (Hrsg.): Qualifikationen für Erzieherar<strong>bei</strong>t,<br />

Bd. 2, 1983; Bd. 3, 1986<br />

Rabe-Kleberg, U.: Frauenberufe - Zur Segmentierung der Berufswelt. Bielefeld<br />

1987<br />

Ostner, I.: Welches "Ar<strong>bei</strong>tsvermögen" braucht die Kindergartenar<strong>bei</strong>t? In: Krüger/Rabe-Kleberg/v.<br />

Derschau 1984, S. 296-313<br />

Ostner, I./ Krutwa-Schott, A.: Krankenpflege - ein Frauenberuf? Frankfurt<br />

a.M./New York 1981<br />

Zinnecker, J.: Die Ar<strong>bei</strong>t von Lehrerinnen in der Schule. In: Lüdtke, H. (Hrsg.):<br />

Erzieher ohne Status? Heidelberg 1973


- 168 -<br />

Christa Wulfers<br />

" DAS KANN MAN SICH NICHT BEZAHLEN LASSEN."<br />

DIE HAUSPFLEGERIN: EIN NEUER BERUF, EINE AL TE TRADITION<br />

Vor nahezu 10 Jahren hat der Gesetzgeber durch das Krankenversicherungs­<br />

Kosten-Dämpfungsgesetz die häusliche Krankenpflege in den Leistungskatalog<br />

der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen. Mit dieser Leistung sollte<br />

nicht nur eine kostengünstige Alternative zur Krankenhausbehandl ung geschaffen,<br />

sondern gleichzeitig den Wünschen der Bürger nach einer verbesserten<br />

medizinischen und pflegerischen Versorgung im häuslichen Bereich entsprochen<br />

werden. Seither erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder in ihrer Familie<br />

neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch Krankenpflegepersonen<br />

anstelle einer sonst erforderlichen Krankenhausbehandlung. Dazu eine<br />

Stellungnahme des "Roten Kreuzes" als einem der Wohlfahrtsverbände, di e<br />

häusliche Krankenpflege, auch Hauspflege genannt, anbieten:<br />

"Hauspflege ist die vorübergehende Betreuung von Familien und Einzelpersonen<br />

in ihrer Häuslichkeit durch eine Pflegeperson. Voraussetzung<br />

ist ein durch Krankheit, Behinderung oder andere Gründe verursachter<br />

Notstand, der weder durch Angehörige, Nachbarn noch durch<br />

eine Haushaltshilfe zu beheben ist. Die Haus- und Familienpflege<br />

kann dann in Anspruch genommen werden:<br />

- um einen Krankenhausaufenthalt zu verkürzen oder zu vermeiden<br />

- um die Familie <strong>bei</strong> Abwesenheit der Mutter weiter zu versorgen<br />

- zur Versorgung erkrankter Kinder von berufstätigen alleinerziehenden<br />

Müttern und Vätern<br />

- zur Entlastung <strong>bei</strong> der Pflege Behinderter oder chronisch Kranker<br />

- zur Betreuung von Familien, die in sozialer Notlage sind<br />

- zur Versorgung alter Menschen." (DAK-Magazin 1/87)<br />

Die rechtlichen Bestimmungen über die Gewährung von häuslicher Krankenpflege/Hauspflege<br />

sind in der Reichsversicherungsordnung (R VO) der Krankenkassen<br />

festgelegt. Dort heißt es:<br />

"Versicherte erhalten in ihrem Haushalt oder ihrer Familie neben der<br />

ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch Krankenpflegepersonen<br />

mft einer staatlichen Erlaubnis oder durch andere zur Krankenpflege<br />

geeignete Personen, wenn Krankenhauspflege geboten,<br />

aber nicht ausführbar ist, oder Krankenhauspflege dadurch nicht erforderlich<br />

wird. Die Satzung kann bestimmen, daß häusliche Krankenpflege<br />

auch dann gewährt wird, wenn diese zur Sicherung der ärztlichen<br />

Behandlung erforderlich ist. Häusliche Krankenpflege wird soweit<br />

gewährt, als eine im Haushalt lebende Person den Kranken nicht<br />

pflegen kann." (§ 182 RVO)


- 169 -<br />

Daz u wird in einem Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen<br />

ausgeführt:<br />

"Häusliche Krankenpflege kann nur im Zusammenhang mit ambulanter<br />

ärztlicher Behandlung und nur nach kassen- oder vertragsärztlicher<br />

Verordnung erbracht werden. Sie muß - ebenso wie die begleitende<br />

ärztliche Behandlung - auf Heilung, Besserung, Linderung oder Verhütung<br />

einer Verschlimmerung der Krankheitsbeschwerden gerichtet<br />

sein. Daraus folgt, daß pflegerische Maßnahmen für sich allein nicht<br />

Gegenstand der häuslichen Krankenpflege sein können. Versicherte<br />

erhalten häusliche Krankenpflege, wenn<br />

- Krankenhauspflege geboten, aber nicht durchführbar ist oder<br />

- Krankenhauspflege dadurch nicht erforderlich wird oder<br />

- Krankenhauspflege dadurch abgekürzt werden kann.<br />

Dies entspricht dem Wirtschaftskeitsanspruch des § 182 RVO."<br />

Der Inhalt der Leistung wird folgendermaßen festgelegt: Die häusliche<br />

Krankenpflege teilt sich auf in Behandl ungs- und Grundpflege. Zur Behandlungspflege<br />

gehören ausschließlich medizinische Hilfeleistungen, sie umfassen<br />

insbesondere Injektionen, Verbandwechsel, Katheterisierung, Einläufe, Spülungen,<br />

Einreibungen, Dekubituspflege. Gegenstand der Grundpflege sind vor allem<br />

pflegerische Maßnahmen. Hierzu gehören insbesondere Betten und Lagern, Körperpflege,<br />

Hilfen im hygienischen Bereich, Körpertemperaturmessen, Tag- und<br />

Nachtwachen. Hauswirtschaftliche Ar<strong>bei</strong>ten, die üblicherweise Gegenstand der<br />

Haushaltshilfe sind, zählen grundsätzlich nicht zur häuslichen Krankenpflege<br />

(Rundschreiben der Spitzenverbände). Die Kosten für die häusliche Krankenpflege<br />

übernehmen die Krankenkassen, das Sozialamt - unter bestimmten Voraussetzungen<br />

- oder die Hilfesuchenden sel bst.<br />

Wer leistet nun die häusliche Krankenpflege? Die Zentrale für private<br />

Fürsorge in Bremen hat im Jahre 1977 Pflegekräfte vermittelt, die über 76.000<br />

Pflegestunden geleistet haben. In dem Jahr hatte der Verband einen Stamm von<br />

176 Frauen unter Vertrag, die Berufsausbildungen als Krankenschwester oder<br />

-pflegerin, Schwesternhelferin, Kinderkranken- und Altenpflegerin hatten oder<br />

in örtlichen Kursen zur Hauspflegerin qualifiziert worden waren. Seitdem stiegen<br />

die Zahlen der als Hauspflegerinnen ar<strong>bei</strong>tenden Frauen auch in anderen<br />

Verbänden und anderen Bundesländern. Genaue Zahlen waren aber nicht hezu<br />

er mitteln.<br />

Die Situation von Frauen in solchen Berufen, die erst nach dem Ende der<br />

Expansion des Wohlfahrtsstaates und damit am Ende der Professionalisierung<br />

sozialer und pflegender Tätigkeiten entstanden sind, galt das Interesse eines<br />

Forschungsprojektes (mit Studenten) an der Universität Bremen. Da<strong>bei</strong> ging es<br />

uns vor allem darum herauszufinden, unter welchen Bedingungen und mit wel-


- 170 -<br />

cher Motivation Frauen in solchen neuen Berufen ar<strong>bei</strong>ten, die auf der weiblichen<br />

Bereitschaft und Fähigkeit zu sozialen und pflegenden Tätigkeiten basieren,<br />

gleichzeitig aber die schlechten Ar<strong>bei</strong>tsmarktbedingungen der Frauen dafür<br />

nutzen, diese Leistungen möglichst billig zu erhalten. Wir haben mit Vertretern<br />

der Hauspflege vermittelnden Verbände gesprochen, vor allem aber mit den<br />

Frauen sel bst. Wir wollten herausfinden, warum sie diese Tätigkeiten verrichten,<br />

unter welchen Bedingungen sie ar<strong>bei</strong>ten und mit welchen Motiven sie sich<br />

für diese Ar<strong>bei</strong>t entschieden haben. Im folgenden möchte ich anhand von Auszügen<br />

aus diesen Gesprächen den Beruf der Hauspflegerin darstellen.<br />

1. " da muß man schon ein blßchen Engagement bringen."<br />

Beruflicher Werdegang und Motivation für die Tätigkeit<br />

Eine schon seit zehn Jahren in dem Bereich ar<strong>bei</strong>tende Frau z.B. kam über eine<br />

Freundin zur Hauspflege. Beide gemeinsam absolvierten einen Schwesternhelferinnen-Kursus<br />

in einem der schon angeführten Verbände. Dieser Kursus teilt<br />

sich auf in vier Wochen theoretischer Ausbildung und ein zwei wöchiges Praktikum<br />

in einem Krankenhaus. Danach konnte sie in einem in Bremen ansässigen<br />

Verband sofort tätig werden.<br />

"Ja, anfangs hatte ich eigentlich gar keine Meinung, weil ich überhaupt<br />

mit Krankenpflege nichts zu tun hatte. Ich hatte immer gedacht,<br />

ich werde das wohl auch nie schaffen. Aber man schafft es ja<br />

wirklich."<br />

Eine andere Frau ist examinierte Krankenschwester, war dann auch sechs<br />

Jahre im Krankenhaus tätig, danach hat sie ein halbes Jahr in einer Bücherei<br />

gejobt, dann über zwei Jahre an einer Sonderschule und einem Heim für geistig<br />

behinderte Kinder und Jugendliche gear<strong>bei</strong>tet. Zwischendurch war sie kurz in<br />

einer Arztpraxis tätig, bevor sie sich für den Bereich der Hauspflege entschied.<br />

"Und dann wollte ich eigentlich eine Umschulung machen zu einer<br />

Beschäftigungstherapeutin. Daraus ist aber nichts geworden. Und<br />

dann habe ich einen Lehrgang gemacht zur Haus- und Familienpflegerin,<br />

so eine Art Zusatzausbildung. Und dann habe ich hier <strong>bei</strong>m Verband<br />

das Praktikum gemacht, und das gefiel mir eigentlich ganz gut.<br />

Und seitdem bin ich da<strong>bei</strong>."<br />

Der berufliche Werdegang dieser Krankenschwester ist allerdings nicht<br />

ganz typisch für den Bereich der häuslichen Krankenpflege. Häufig sind es verheiratete<br />

Frauen mit fast erwachsenen Kindern oder auch alleinerziehende<br />

Mütter.


- 171 -<br />

"Also, warum ich das mache: Ich habe drei Kinder, zwei noch schulpflichtige<br />

und eines wird jetzt 18. Und nach meiner Scheidung bot<br />

sich das einfach an, weil das eine sehr gute Teilzeitar<strong>bei</strong>t ist. Ich<br />

sitze nicht zu Hause als Sozialempfängerin und kann mich trotz meiner<br />

Ar<strong>bei</strong>t noch um mein Kind kümmern. Nach meiner Heirat kamen<br />

di e <strong>bei</strong>den Kinder. Und als die groß genug waren, um in den Kinderga<br />

rten zu gehen bzw. sie dann in die Schule gekommen sind, die <strong>bei</strong>den,<br />

da wollte ich nicht mehr zu Hause sitzen, und da bin ich eben<br />

in die Hauspflege wieder reingegangen."<br />

Über die Motivation wird von dieser Mutter angeführt, daß die Ar<strong>bei</strong>t in<br />

der Hauspflege eine sehr gute Teilzeitar<strong>bei</strong>t sei, die sich mit Haushalt und Kinder<br />

versorgung gut vereinbaren lasse, zudem die typische isolierte Lebenssituation<br />

entschärfe:<br />

"Das ist ein Zubrot praktisch. Das ist jetzt, daß ich zu Hause nicht<br />

rumglucke und mir die Decke auf den Kopf fällt und ich nur über<br />

Kinder und Küche reden kann, sondern daß ich auch mit Menschen zu<br />

tun habe."<br />

Es ist zum einen diese typisch weibliche Einbindung in familiäre Verpflichtungen,<br />

die die Frauen zu billigen Ar<strong>bei</strong>tskräften macht. Es ist aber auch<br />

- und das ist hier ausschlaggebend - das Engagement der Frauen, in Not nd<br />

Krankheit zu helfen. Und dies bekommen die Kostenträger umsonst!<br />

"Sicher, ich brauche Gel d zum Leben. Aber wenn ich ar<strong>bei</strong>ten würde,<br />

um ordentlich Geld zu verdienen - da nn würde ich auch etwas anderes<br />

finden. Da muß man schon ein bißchen Engagement bringen."<br />

Ahnlich sieht es eine andere Pflegerin, die seit 10 Jahren im Bereich der<br />

Krankenpflege ar<strong>bei</strong>tet. Bei ihr steht, wie <strong>bei</strong> ihrer Kollegin, die Bezahlung als<br />

Motivation der Ar<strong>bei</strong>t. ebenfalls nicht im Vordergrund, sondern:<br />

"Ja, ich mache es, nur um den Menschen zu helfen. Ich meine, ich<br />

habe es auch bezahlt gekriegt. Aber vor allen Dingen ist es eine Aufgabe.<br />

Wenn man die am Anfang macht, wie soll ich das sagen - befriedigt<br />

einen, man findet das unheimlich toll, daß man jemandem<br />

helfen kann. Ja, das ist unwahrscheinlich, eine unwahrscheinlich tolle<br />

Sache, auch heute noch empfinde ich das genauso, daß man gebraucht<br />

wird. Und das ist ja wichtig."<br />

Eine weitere Kollegin drückt es sogar so aus, daß sie "nie etwas anderes<br />

beruflich machen möchte," da es "einen wirklich zufrieden macht und auch befriedigt,<br />

wenn man weiß: Mensch, heute hast Du wirklich einen Menschen<br />

gl ücklich gemacht."<br />

Sieht es nach den bisher zitierten Außerungen so aus, als handele es sich<br />

nur um eine Tätigkeit, die von Frauen ausgeübt wird, di e anderweitig materiell<br />

abgesichert sind, so täuscht dieser Eindruck. Wir trafen auch Frauen, die versuchen,<br />

mit der geringen Bezahlung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten:<br />

"Ich habe im Durchschnitt mindestens 800,- DM im Monat, und da<br />

kann ich von leben. Hinzu kommt, daß ich nicht so eine hohe Miete


- 172 -<br />

zahlen muß und auch nicht so unheimlich viel Klamotten habe. Das<br />

spielt alles mit. Sonst wäre es nicht möglich. Und daß ich eben alIeine<br />

bin und nur für mich alleine sorgen muß. Mit Kindern ginge das<br />

auch nicht."<br />

Für eine Reihe - vor allem älterer - Hauspflegerinnen ist noch ein anderer<br />

Grund ausschlaggebend für ihre Tätigkeit, die Absicherung im Alter durch eine<br />

Rente. Frauen, die bisher hauptsächlich in Aushilfsjobs tätig waren oder ar<strong>bei</strong>tslos<br />

gewesen sind, leben mit der Perspektive, daß sie später von einer sehr<br />

geringen Rente ihr Leben bestreiten müßten oder eben vom Sozialamt abhängig<br />

wären. Hinzu kommt, daß gerade die Hauspflegerinnen sehr häufig mit alten,<br />

kranken Menschen zu tun haben und das Problem der geringen Rente <strong>bei</strong> diesen<br />

Menschen häufig sehr direkt und unmittelbar erfahren.<br />

2. Ich bin festangestellt mit Steuerkarte und Rentenversicherung,<br />

wie sich das gehört."<br />

Vertragliche Regelung von Ar<strong>bei</strong>tszeit und Entlohnung<br />

Die meisten Einsatzzentralen für die Vermittlung von Hauspflegerinnen sind<br />

Wohlfahrtsinstitutionen, die von ihrer Satzung her keine Uberschüsse erwirtschaften<br />

dürfen. Die Krankenkassen zahlen je Patient 19,50 DM pro Stunde.<br />

Diese Summe wird laut Einsatzzentralen für Verwaltung und Bezahlung der<br />

Hauspflegerinnen voll ausgeschöpft. Die Hauspflegerinnen sind in den meisten<br />

Fällen, bis auf einige Aushilfskräfte, <strong>bei</strong> den verschiedenen Wohlfahrtsverbänden<br />

auf Basis von Stundenverträgen angestellt.<br />

Die Sozialversicherung und der Urlaubsanspruch sind zwar Inhalt des Vertrages:<br />

"Das ist ein richtiger Dienstar<strong>bei</strong>tsvertrag, aber nicht über eine bestimmte<br />

Stundenzahl. Das ist je nachdem, was anliegt. Also ich habe<br />

mindestens immer 3 Stunden. Es können aber auch mal 1+ Stunden, 5<br />

Stunden sein. Ich habe auch schon 7 Stunden gehabt am Tag. Und wir<br />

werden ja nach Stunden bezahlt, sind aber versichert. Sonst hätte<br />

ich das auch nicht gemacht. Das wäre mir sonst zu unsicher."<br />

"Ich habe 21 Tage Urlaub und bekomme auch Weihnachtsgeld, und<br />

auch Fortzahlung im Krankheitsfall und solche Sachen .•• ",<br />

aber über die Anzahl der zu ar<strong>bei</strong>tenden Stunden und das zu verdienende Gel d<br />

herrscht am Anfang eines Monats meist noch Unklarheit.<br />

"Nein, Stundengarantien kann man mir nicht geben. Sie haben in dem<br />

Moment eine Stundengarantie, wenn Sie eine Dauerpflege haben.<br />

Dann wissen Sie ganz genau, diesen Monat ar<strong>bei</strong>te ich dann und<br />

dann. Aber wenn Sie jetzt keine Dauerpflege haben, dann ist das ja


- 173 -<br />

den.<br />

immer verschieden. Und <strong>bei</strong> dem einen kriegen Sie nur zwei Stunden<br />

und <strong>bei</strong> dem anderen müssen Sie vielleicht jetzt eine Kollegin vertrete<br />

n, da sind Sie jetzt nur drei Tage von den ganzen Stunden, die da<br />

gewesen sind. Dann können Sie auch nochmal haben, daß Sie zwischen<br />

den Pflegefällen drei Tage zu Hause sitzen. Von daher, eine<br />

Stundengarantie kann man nicht kriegen."<br />

Die gear<strong>bei</strong>teten Stunden müssen über Stundenzettel nachgewiesen wer-<br />

"Wir haben für jeden Patienten so einen StundenzetteI . Und der Patient<br />

muß dann zum Monatsende oder wenn die Pflege ausläuft, gegenzeichnen.<br />

Entweder der Patient oder der Angehörige oder die<br />

Nachbarin. Ich habe es auch schon mal gehabt <strong>bei</strong> einer blinden Patientin,<br />

die war mit sämtlichen Nachbarn verkracht und keiner war<br />

da, der da unterschreiben konnte. Die kriegten die Rechnung auch<br />

privat, und dann habe ich den gar nicht unterschreiben lassen."<br />

Die Höhe des Stundenlohnes ist von Einsatzzentrale zu Einsatzzentrale<br />

etwas unterschiedlich. Der niedrigste Brutto-Stundenlohn lag <strong>bei</strong> 9,50 DM für<br />

Krankenpflegerinnen, die einen 4wöchigen theoretischen Unterricht und ein<br />

2wöchiges Praktikum im Krankenhaus absolviert haben. Examinierte Krankenschwestern<br />

bekommen einen Brutto-Stundenlohn von 11,50 DM - 11 ,65 DM. Je<br />

nach Steuerklasse und der Höhe des Brutto-Lohnes bleibt dann ein Nettolohn<br />

von ca. 7,-- DM bis höchstens 10,-- DM für Krankenschwestern.<br />

Die meisten Hauspflegerinnen haben pro Tag mehrere Patienten zu pflegen.<br />

Für jeden Patienten sind unterschiedlich viele Stunden von der Krankenkasse<br />

bewilligt worden. Die maximale Höhe der bewilligten Stunden pro Patient/in<br />

liegt <strong>bei</strong> etwa vier Stunden pro Tag. In seltenen Fällen wird eine Ausnahme<br />

von dieser Regelung getroffen, z.B. <strong>bei</strong> sehr schwerwiegenden Krankhei<br />

tsfällen.<br />

"Wenn einer vier Stunden kriegt, der ist wirklich ganz toll bedient •<br />

.. . Dann werden diese vier Stunden aufgeteilt. Da fahre ich ja auch<br />

dreimal hin: morgens, mittags und abends. Also morgens bin ich 1<br />

1/2 Stunden und mittags eine Stunde und abends nochmal 1 1/2 Stunden<br />

da. Ich bin vier Stunden am Tag da."<br />

Problematisch wird es für die Hauspflegerin aber dann, wenn sie 2-3 Patienten<br />

hat, zu denen sie mehrmals am Tag fahren muß. Daraus ergibt sich oft<br />

ein sehr langer Ar<strong>bei</strong>tstag. Häufig muß die Pflegerin den Patienten <strong>bei</strong>m Aufstehen,<br />

Waschen und Anziehen behilflich sein, d.h., daß sie sehr früh aufbrechen<br />

muß, damit sie den Wünschen all der zu betreuenden Patienten auch gerecht<br />

werden kann. Sie hat zwischendurch immer mal einige Zeit frei, die aber<br />

selten als Freizeit empfunden wird. Die tägliche Ar<strong>bei</strong>tszeit ist zwar durch die<br />

von der Krankenkasse bewilligten Stunden festgelegt, durch die ständige Hin­<br />

.und-Her-Fahrerei ergibt sich aber eine wesentlich längere Ar<strong>bei</strong>tszeit, die


- 174 -<br />

nicht bezahlt wird und den effektiven Stundenlohn stark senkt. Solche unbezahlten<br />

Uberstunden können auch dann entstehen, wenn Probleme mit Angehörigen<br />

auftreten, aber auch, um diese einmal zu entlasten. Eine Hauspflegerin<br />

erzählt, daß sie manchmal länger <strong>bei</strong>m Patienten bleibt.<br />

" • •• damit dann die Tochter nachmittags zu ihrem Bekannten fahren<br />

kann, damit die auch mal rauskommt. Das ist sowieso sehr wichtig,<br />

daß die Familienangehörigen mal rauskommen, daß die mal etwas<br />

anderes sehen. Und wenn es nur ist, daß man mal sagt: Na gut, bleibe<br />

ich mal eine Stunde länger oder eine halbe Stunde länger, dann<br />

kannst Du <strong>bei</strong>m Einkaufen auch mal vorm Schaufenster stehen bleiben."<br />

Diese unbezahlten freiwilligen Uberstunden werden allerdings selten als<br />

solche angesehen.<br />

"Da kann ich ja kein Gel d für nehmen, wenn ich irgendjemandem mal<br />

eine Freundlichkeit anbiete. Das kann man sich nicht bezahlen lassen,<br />

das muß nicht sein."<br />

3. "Hauspflege ist tausendprozentig Improvisation - und um den Rest führen<br />

wir Krieg mit den Arzten und Krankenkassen."<br />

Alleinverantwortung und Aufgabenzuweisung von außen<br />

"Wenn wir eine Pflege bekommen, dann bekommen wir den Namen<br />

und die Anschrift von dem Patienten, ungefähr die Krankheit, so was<br />

bekannt ist, und die Zahl der Stunden, die wir da abzuleisten haben.<br />

Dan n sucht man sich den Stadtplan raus, sucht die Straße raus, fährt<br />

los, stellt sich hin und klingelt. Dann muß man schon flexibel sein.<br />

Am Anfang ist mir das nicht leicht gefallen. Habe ich immer gedacht:<br />

Oh Gott, was kommt da auf Dich zu? Mittlerweile finde ich<br />

das interessant, da viele neue Menschen kennenzulernen, die Haushalte.<br />

Ja, und dann muß man eben erfragen, so gut wie möglich, was<br />

liegt an, was ist zu tun? Man muß die Augen offenhalten und sehen,<br />

wa s das Wichtigste ist."<br />

Diese Hauspflegerin beschreibt auf bildhafte Weise, womit sie und die<br />

meisten ihrer Kolleginnen <strong>bei</strong>m Beginn eines Einsatzes konfrontiert werden.<br />

Eine konkrete Aufgabenzuweisung und Ar<strong>bei</strong>tsplatzbeschreibung gibt es nicht,<br />

da jede/r Patient/in individuell betreut und behandelt werden muß. Häufig gehen<br />

die Hauspflegerinnen einen Tag, bevor der Einsatz beginnt, <strong>bei</strong>m Patienten<br />

zuhause vor<strong>bei</strong> und überprüfen vorab, was gemacht werden muß und wie die<br />

Häuslichkeiten eingerichtet sind. Es kann vorkommen, daß noch verschiedene<br />

medizinische Hilfen wie z.B. Krankenbett, Nachtstuhl etc. besorgt werden müssen.


- 175 -<br />

Laut Einsatzzentrale und Krankenkasse dürfen die Hauspflegerinnen keine<br />

größeren Hausar<strong>bei</strong>ten verrichten, da di ese in den Aufgabenbereich der Familienangehörigen<br />

fallen oder eben von Haushaltshilfen oder Nachbarschaftshelferinnen<br />

des zuständigen Dienstleistungszentrums übernommen werden. Dennoch<br />

läßt sich häufig diese Richtlinie, daß Hauspflegerinnen nicht für's Putzen zuständig<br />

sind, nicht einhalten.<br />

"Nein, man kann das nicht so festlegen - ein Problem ist für viele so<br />

Putzen. Wie weit dürfen wir da gehen, was dürfen wir da machen<br />

oder sollen wir da machen. Das kann man auch nicht so festlegen.<br />

Bei dem einen macht man eben mehr, <strong>bei</strong> dem anderen weniger. Das<br />

kommt auf die Situation an. Ich achte hauptsächlich darauf, daß ich<br />

es demjenigen, den ich zu betreuen habe, so gemütlich wie möglich<br />

mache."<br />

Die Problematik der nicht festlegbaren oder auch einhaltbaren Ar<strong>bei</strong>tsaufgaben<br />

hat für die Hauspflegerinnen sehr unterschiedliche Bedeutung. Einerseits<br />

empfinden viele es als positiv, daß sie dadurch relativ selbständig ar<strong>bei</strong>ten können:<br />

"Ich kann ganz frei entscheiden, wie ich mir die Ar<strong>bei</strong>t einteile. Und<br />

auch die Zeit mit den Patienten absprechen, wie es am besten mit<br />

den anderen Pflegen paßt. Und das finde ich eigentlich unheimlich<br />

toll an der Ar<strong>bei</strong>t, weil ich selbständig ar<strong>bei</strong>ten kann. Daß ich mir<br />

die Sachen einteilen kann und auch zu den einzelnen meistens einen<br />

sehr guten Kontakt bekomme. Das ist als Krankenschwester im Krankenhaus<br />

nicht möglich."<br />

Andererseits sehen viele aber auch die große Alleinverantwortung als Problem<br />

und für sie belastend an:<br />

"U nd es ist auch nicht immer leichte Ar<strong>bei</strong>t. Also körperlich nicht<br />

immer leicht, und dann auch so psychisch. Man steht da mit seinen<br />

Problemen allein. Wenn man im Krankenhaus ar<strong>bei</strong>tet, hat man immer<br />

gl eich eine Kollegin da<strong>bei</strong>, mit der man sich irgendwie austauschen<br />

kann. Und dort ist man wirklIch auf sich selbst gestellt. Man muß<br />

alles erstmal selbst verar<strong>bei</strong>ten. Und wenn man mal ein Gespräch<br />

oder so braucht, ist keiner da."<br />

Die physische Anstrengung z.B. <strong>bei</strong>m Umbetten des Patienten, ist sicherlich<br />

nicht das einzige Beispiel für die Belastung der Hauspflegerin. Die damit<br />

zusammenhängende Frage, ob sie dieser Belastung auch standhalten kann, führt<br />

die Pflegerin häufig an körperliche und psychische Grenzen.<br />

"Im Krankenhaus sind es immer 2 Krankenschwestern, die das machen.<br />

Entweder eine Lernschwester oder eine examinierte Schwester.<br />

Und ich bin immer alleine. Ich muß das versuchen, allein zu meistern.<br />

Und ich mache das auch. Man schafft das auch, weil man das auch<br />

will ."<br />

Es gibt für Hauspflegerinnen verschiedene Möglichkeiten, sich in Problemsituationen<br />

mit l\rzten oder der Einsatzzentrale abzusprechen. Es ist zwar ein<br />

ruhigeres Gefühl zu wissen, daß die Möglichkeit der Absprache in der Ar<strong>bei</strong>t


- 176 -<br />

besteht, doch die Erfahrungen der Pflegerinnen zeigen, daß die Arzte sehr unterschiedlich<br />

auf die Hauspflege reagieren.<br />

"Die jungen Arzte vor allen Dingen, die sind da sehr aufgeschlossen.<br />

Da kann man wirklich auch gut mit reden und sich Ratschläge holen.<br />

Aber <strong>bei</strong> den alten, da ist das noch nicht so gut durchgedrungen von<br />

Hauspflege und Hausbesuchen. Das fängt jetzt erst ganz langsam wieder<br />

an, daß die jungen Arzte das tatsächlich wieder machen, die<br />

Hausbesuche."<br />

Wenn die Situation in der Pflege dann wirklich an die Grenzen der Alleinverantwortung<br />

gerät und für die Hauspflegerin nicht mehr tragbar ist, kann sie<br />

die Verantwortung an den Arzt abgeben. Häufig warten die Frauen aber sehr<br />

lange, bevor sie diesen Schritt unternehmen.<br />

4. " ••• da gibt man ein Stück Seele her."<br />

Psychische Belastungen im Beruf der Hauspflegerin<br />

Als ein sehr wichtiges Moment im Beruf der Hauspflegerin ist die psychische<br />

Belastung in der Ar<strong>bei</strong>t und die schwierige Trennung von Ar<strong>bei</strong>t und Freizeit<br />

an zusehen. Keine der interviewten Frauen konnte diese Trennung für sich ganz<br />

klar ziehen. Bei allen Gesprächen nahm das Thema der psychischen Belastung<br />

einen sehr großen Raum ein. Immer wieder wurde von den Hauspflegerinnen die<br />

Verbindung und Verknüpfung zum Privatleben angeführt und dieses auch häufig<br />

als großes Problem erlebt.<br />

"Da konnte ich nicht einfach weggehen und die Tür hinter mir zumachen<br />

und sagen: so, die sind da und ich bin hier. Man grübelt automatisch<br />

darüber, man denkt nach: wie könnte man das vielleicht noch<br />

besser machen, die Gedanken sind immer noch <strong>bei</strong> dieser Patientin.<br />

Auch wenn man zuhause ist oder Wochenenddienst hat oder keinen<br />

Dienst hat, dann denkt man immer: Ich würde ja dann am liebsten<br />

hinfahren und gucken, was sie überhaupt macht."<br />

Ganz besonders schwierig empfinden die Hauspflegerinnen die psychische<br />

Belastung <strong>bei</strong> dem sogenannten "Endpflegen" von Menschen, die aus dem Krankenhaus<br />

nach Hause entlassen werden, um sich dort in gewohnter Atmosphäre<br />

auf das Sterben vorzubereiten.<br />

"Ja, wenn man eine Endpflege hat, das ist eine ganz besondere Situation,<br />

weil man von vornherein weiß: wenn diese Pflegestelle zu<br />

Ende ist, dann ist der Mensch auch nicht mehr da. ••• Und dann muß<br />

man sich ganz neu einstellen auf den Menschen, wie geht der mit<br />

seinem eigenen Schicksal um? Wie gehen die Angehörigen damit um?<br />

Wie gehe ich damit um? Endpflege bedeutet eben auch immer ein<br />

Stück Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Ja, Endpflege, das<br />

ist Individualpflege. Ja, da gibt man ein ganz besonders großes Stück


- 177 -<br />

Seele her. Da muß man sich öffnen, seelisch sich seI ber auch öffnen,<br />

und man muß sich ja dann auch wieder mit Leben und Tod auseinandersetzen,<br />

sich sel ber auch. Daß man dann auch schon so mal zum<br />

Nachdenken kommt und über seinen eigenen Tod auch mal nachdenkt."<br />

Eine andere Pflegerin hat durch die lange individuelle Pflege einer<br />

schwerkranken Patientin eine persönliche Beziehung aufgebaut und empfindet<br />

den Tod dieser Patientin dann als sehr schweren Verlust. Als Verar<strong>bei</strong>tungsmöglichkeiten<br />

zeigen die Pflegerinnen sehr unterschiedliche Ansätze auf. Sehr<br />

stark werden diese Belastungen in die eigene Familie hineingetragen.<br />

"Wenn man jetzt - wie ich das schon gehabt habe - so drei oder vier<br />

Endpflegen hintereinander hat, also das muß dann zuhause meine<br />

eigene Familie auffangen. ( ... ) Man muß wirklich eine intakte Familie<br />

und Partnerschaft haben, sonst wird man verrückt, sonst muß man<br />

sich irgendwie etwas suchen, wo man sich mal auslassen kann."<br />

Insgesamt fühlen sich die meisten Hauspflegerinnen alleingelassen mit diesen<br />

Belastungen in ihrem Beruf.<br />

5. Ausblick<br />

In die Ausbildung der Krankenpfleger/innen ist seit 1986 ein Hauspflegepraktikum<br />

eingebaut worden. Angesichts der Versuche, Kosten für pflegende Dienstleistungen<br />

im Krankenhaus und Altenheim zu reduzieren und statt dessen di e<br />

billigere Hauspflege auszubauen, kann davon ausgegangen werden, daß in Zukunft<br />

immer mehr beruflich entsprechend qualifizierte Kräfte in die Hauspflege<br />

strömen, weil sie in den Institutionen keinen Ar<strong>bei</strong>tsplatz finden. Eine solche<br />

Entwicklung wird auch durch die zunehmende Kritik an den Großinstitutionen<br />

und ihren Leistungen getragen. Zu fordern und einzulösen bleibt, daß die besseren<br />

Leistungen der Frauen in der häslichen Pflege durch angemessene Ar<strong>bei</strong>tsund<br />

Lohnbedingungen abgegolten werden müßten.


- 178 -<br />

Maria-Eleonora Karsten<br />

MIGRANTINNEN. TRADITIONELLE FRAUENARBEIT IN<br />

UNGESCHUTZTEN UND ILLEGALEN VERH}\L TNISSEN<br />

Vorbemerkung<br />

Die Situation von Migrantinnen auf dem bundesrepublikanischen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

kann nicht ohne weiteres mit der ohnehin prekären Erwerbssituation einheimischer<br />

Frauen gleichgesetzt werden. Migrantinnen finden ein besonders für sie<br />

entwickeltes Regel werk der Lebensorganisation vor. Die derzeitige Ausländerund<br />

Asylpolitik sowie das Ausländer- und Asylrecht produzieren die Ausbreitung<br />

unsicherer Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse insbesondere für Migrantinnen. Dieser Prozeß<br />

treibt Frauen an die Grenze der oder in die Illegalität. Migrantinnenar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

in der Grauzone des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes nehmen zu. Die grundlegende<br />

Verunsicherung der Lebensbedingungen im Einwanderungsland wird für<br />

jene ausländischen Frauen, die schon in ihren Bleiberechten eine durchgreifende<br />

Unsicherheit der Lebens- und Zukunftsperspektive erfahren, verschärft. Für<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmigrantinnen, Kontinent-Flüchtlinge, Asylantinnen und Aussiedlerinnen<br />

ist deswegen zu fordern, daß ihre prekären Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse auch als<br />

Resultat von Ausländer- und Asylpolitik erkannt und in ihren bedrohlichen sozialen<br />

Folgen für die Frauen problematisiert werden. Ihre Einbeziehung in di e<br />

sozialen Sicherungs- und Versorgungssysteme sowie die Eröffnung von Berufsausbildungs-,<br />

Bil dungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Migrantinnen müssen<br />

konzeptionell und praktisch so entwickelt werden, daß sie aus dem dilemmatischen<br />

Verhältnis von Ar<strong>bei</strong>tsmarkt-, Ausländer- und Asylpolitik legitime<br />

Auswege zeigen.<br />

Der Formulierung einer solchen Forderung liegt eine Einsicht in die grundsätzlichen<br />

Probleme ausländischer Frauen, Migrantinnen, in ihrem Verhältnis<br />

zum bundesrepublikanischen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und mit den Bedi ngungen des Migrationslebens<br />

zugrunde. Nur einzelne Aspekte dieser Problematik sind empirisch<br />

überprüft, weil Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse von Migrantinnen zum großen Teil dadurch<br />

gekennzeichnet werden können, daß sie nicht nur unsicher, sondern auch unsichtbar<br />

sind oder geheim gehalten werden (müssen). Sie tauchen dadurch weder<br />

in der Öffentlichkeit noch in offiziellen Statistiken und Untersuchungen auf.


- 179 -<br />

1. Ausländische Frauen, Migrantinnen: Zur Klärung des Begriffs<br />

Wenn von "ausländischen Frauen" oder "Migrantinnen" in erziehungswissenschaftlicher<br />

oder soziologischer Literatur die Rede ist, so sind damit vornehmlich<br />

Frauen aus den Hauptanwerbeländern, also die sog. Ar<strong>bei</strong>tsmigrantinnen<br />

gemeint: Italienerinnen, Spanierinnen, Griechinnen, Jugoslawinnen, Frauen aus<br />

der Türkei und Portugal (Repräsentativuntersuchung 1985). Erst die neuere Diskussion<br />

um die Asylproblematik (EKD 1986, Spaich 1982) hat zu einer breiten<br />

Kenntnisnahme der Tatsache geführt, daß Frauen als Aussiedlerinnen, Flüchtlinge<br />

aus Polen, Ungarn oder Rumänien, als Asylbewerberinnen aus afrikanischen<br />

oder asiatischen Staaten in der Bundesrepublik leben und ar<strong>bei</strong>ten.<br />

Durch die vorrangige Betrachtung und wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmigrantinnen zugewendet wird, erscheinen diese anderen Frauen als<br />

nicht zugehörig zur Gruppe der Migrantinnen. Die Frauen werden so nach dem<br />

ihnen zugeschriebenen unterschiedlichen staatsbürgerlichen und politischen Status:<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmigrantin, Flüchtling, Asylbewerberin aufgespalten und die Assoziation<br />

hervorgetrieben, auch ihre Lebens- und Ar<strong>bei</strong>tssituation gestalte sich notwendig<br />

unterschiedlich.<br />

Gegenüber dieser Betrachtungskonvention wird hier davon ausgegangen,<br />

daß es im Hinblick auf ungesicherte und unsichtbare Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse sinnvoll<br />

ist, alle Ausländerinnen als Migrantinnen in die Analyse einzubeziehen und<br />

erst in der Dimension der für sie geltenden aufenthalts- und ar<strong>bei</strong>tsrechtlihen<br />

Regelungsvorgaben sowie in der Dimension politisch-rechtlicher Praxis im sozlaladministrativen<br />

Umgang des Einwanderungslandes mit den jeweiligen Migrantinnengruppen<br />

zu differenzieren.<br />

Die Perspektive richtet sich hier also auf alle Migrantinnen in ungesicherten,<br />

unsichtbaren und ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen. Da<strong>bei</strong> geht es darum,<br />

nachzufragen, aus welchen Gründen erfahrungsgemäß viele Migrantinnen in solchen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen tätig sind. Daß sie in ungeschützten und unsichtbaren<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen tätig . sind, wird vorausgesetzt. Die Nachfrage nach dem<br />

"Warum" ist die Frage nach den Produktionsbedingungen unsicherer Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse,<br />

die insbesondere für Migrantinnen zur Geltung kommen.


- 180 -:<br />

2. Die Produktion von unsicheren Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen für Migrantinnen<br />

Auf der Basis ar<strong>bei</strong>tsmarkt- und berufssoziologischer Analysen zur Erwerbstätigkeit<br />

von Frauen sowie der empirischen Untersuchungen zur Situation von<br />

Migrantinnen kann von folgenden Befunden ausgegangen werden: Migrantinnen<br />

sind auch in regulären, sozial versicherten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen besonderen<br />

branchenspezifischen Ar<strong>bei</strong>tslosigkeitsrisiken ausgesetzt (Friedemann/Pfau<br />

1985). In Abhängigkeit von entsprechenden Konjunkturen sind sie vorrangig<br />

"Freisetzungen" aus regulären Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnissen ausgesetzt. Dies<br />

wird in einer Repräsentativuntersuchung des Bundesministeriums für Ar<strong>bei</strong>t und<br />

Soziales durch den Befund bestärkt, daß als Grund für Nicht-Erwerbstätigkeit<br />

von den befragten ausländischen Frauen am häufig-sten die "vergebliche Suche<br />

nach einer Ar<strong>bei</strong>tsstelle" genannt wird (1986, Tab. 324, S. 525).<br />

Migrantinnen sehen sich aufgrund von Haus- und Familienar<strong>bei</strong>t an der<br />

Aufnahmne regulärer Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse gehindert, obwohl dazu <strong>bei</strong><br />

ihnen ein deutlich artikulierter Wunsch besteht (Repräsentativuntersuchung<br />

1986, S. 525).<br />

Migrantinnen verfügen als nachgereiste Familienangehörige nicht ohne weiteres<br />

über eigene Ar<strong>bei</strong>ts- und Aufenthaltsrechte. Damit erbringen sie die eigenständigen<br />

Vorbedingungen für die Aufnahme eines regulären, gesicherten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisses<br />

nicht (Karsten 1986).<br />

Dagegen liegen keine abgesicherten Befunde darüber vor, in welchem<br />

quantitativen Umfang Migrantinnen unsichtbar ar<strong>bei</strong>ten; unter welchen qualitativen<br />

Bedingungen diese ungesicherte Ar<strong>bei</strong>t sich gestaltet und welche psychischen,<br />

physischen und sozialen Folgen sich für die Frauen im einzelnen daraus<br />

ergeben.<br />

Dies ist für ein Verständnis deshalb negativ, weil insbesondere aus dem<br />

Kontext sozialpädagogischer Ar<strong>bei</strong>t mit ausländischen Frauen Kenntnisse vorliegen,<br />

daß Migrantinnen sogar mehrere unsichere Ar<strong>bei</strong>tsstellen gleichzeitig,<br />

nacheinander oder wiederkehrend einnehmen. Aufgrund dieses allgemeinen Wissens<br />

muß davon ausgegangen werden, daß Unsicherheit und Unsichtbarkeit für<br />

vi ele Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse von Migrantinnen geradezu systematisch produziert<br />

werden. Hier<strong>bei</strong> ist zwischen zwei Bedingungskomplexen zu unterscheiden, erstens<br />

den krisenbedingten Faktoren und zweitens einem ausländerpolitisch-ausländerrechtlichen<br />

Faktorenbündel .


- 181 -<br />

Erstens: Die Krise und Neuformierung des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes führt für alle<br />

weiblichen Ar<strong>bei</strong>tnehmer zu besonderen Zugangs- und Verbleibeschwierigkeiten,<br />

zu einer überproportionalen Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit und zu einem erhöhten Ar<strong>bei</strong>tslosigkeitsrisiko.<br />

Für Migrantinnen wirken sich die Regeln des Ausländervorrangs<br />

verschärfend auf die schon angesprochene Ar<strong>bei</strong>tslosigkeitsentwicklung<br />

aus. Denn aufgrund dieses Ausländervorrangs wird Migrantinnen der Zugang<br />

zum regulären Ar<strong>bei</strong>tsmarkt zusätzlich verwehrt. Bei Interesse an Gelderwerb<br />

stehen somit vorrangig Tätigkeiten im Geringverdienerbereich, in Stunden-<br />

oder Teilzeittätigkeit, in Saisonar<strong>bei</strong>t, ohne Sozialversicherung und Ar<strong>bei</strong>tslosenversicherung<br />

zur "Auswahl".<br />

Die Entwicklung von Frauenar<strong>bei</strong>tsplätzen zur Teilzeit-, flexiblen Stunden-<br />

oder geringentlohnten Ar<strong>bei</strong>t im gewerblichen Sektor, im Dienstleistungssektor<br />

und auch im Bereich der "neuen Selbständigen" trifft <strong>bei</strong> Migrantinnen<br />

damit zusammen, daß sie von ihrer Berufsausbildung oder vorherigen Tätigkeit<br />

her verbreitet zu jenen Ar<strong>bei</strong>tsfeldern passen, die derzeit aus dem Kernar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

ausgegliedert werden. Denn dies sind ja gerade solche, für die im wesentlichen<br />

"Jederfrau-Kompetenzen" und keine beruflichen Spezialqualifikationen<br />

benötigt werden.<br />

Jederfrau-Kompetenzen sind da<strong>bei</strong> vorrangig z.B. im Reinigungsgewerbe,<br />

<strong>bei</strong> Verkaufstätigkeiten sowie in sozialen oder sozial-nahen pflegerischen Berufen<br />

gefragt. Insbesondere das Ausländerinnen - als angeblich besonders traditionelle<br />

Frauen - unterstellte Kompetenzmodell für soziale Berufe speist sich<br />

aus einer Vorstellung, daß es die in diesen Berufen eingelassenen hausar<strong>bei</strong>tsund<br />

familienar<strong>bei</strong>tsnahen Fähigkeiten seien, die von ausländischen Frauen ausgebildet<br />

werden sollten, und zwar in der besonderen Konstellation der "geborenen<br />

Expertin". Elemente dieses Kompetenzmodells sind die Expertisierung der<br />

im biographischen Migrationsprozeß erworbenen weiblichen Erfahrungen, die<br />

Uberhöhung von weiblichen Alltagserfahrungen, z.B. in der türkischen Frauensolidargemeinschaft,<br />

zur spezifischen Qualifikation sowie das authentische Erleben<br />

von Mehrfachdiskriminierungen als Frau und Migrantin und weibliche<br />

Angehörige einer Minorität. Allgemeine weibliche Lebenserfahrung, wie immer<br />

si e hergestellt oder erworben wurde, gilt als uneinholbare Basis und nichtlernbare<br />

Voraussetzung für Migrantinnenar<strong>bei</strong>t in sozialen und pflegerischen Berufen<br />

(Karsten 1986, Hebenstreit 1986).<br />

Unterstellte oder tatsächliche Jederfrau-Kompetenzen und die Erwartung,<br />

daß Migrantinnen geringere Ansprüche an Entlohnung sowie die Bedingungen


- 182 -<br />

der Ar<strong>bei</strong>t stellen, führen dazu, daß unsichere Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse ausländischen<br />

Frauen angedient und von diesen auch angenommen werden. Als weitere<br />

Gründe dafür, daß sich Migrantinnen auf unsichere und unsichtbare Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />

einlassen, können notwendiger "Zuerwerb" zum FamiIieneinkommen,<br />

Zwang zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts <strong>bei</strong> famllialen Schwierigkeiten<br />

oder Trennungen sowie die Ausbreitung von Arm ut insbesondere <strong>bei</strong> Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit<br />

oder Ar<strong>bei</strong>tslosigkeitserwartung anderer Familienangehöriger angenommen<br />

werden (Karsten 1987). Die allgemeine Entwickl ung von Frauenar<strong>bei</strong>ten<br />

erfährt so eine migrantinnenspezifische Zurichtung in die Unsicherheit und<br />

Unsichtbarkeit.<br />

Zweitens: Die Produktion von unsicheren Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen wird für<br />

Migrantinnen durch Bedingungen, die durch Ausländerpolitik im allgemeinen<br />

und Ausländerrecht im besonderen gesetzt werden, verstärkt. Die derzeit gültige<br />

Rechtslage sieht einen Verweisungszusammenhang von Aufenthalts- und Ar<strong>bei</strong>tserlaubnisregel<br />

ungen vor. Nur die Frauen also, die im Verlaufe ihres Migrationsprozesses<br />

als Ar<strong>bei</strong>tsmigrantin oder nachreisende Familienangehörige eigene<br />

Aufenthalts- und Ar<strong>bei</strong>tsrechte erworben haben, haben überhaupt die Möglichkeit,<br />

legale Erwerbsar<strong>bei</strong>t aufzunehmen oder anzustreben. Nur sie stehen<br />

dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und der Ar<strong>bei</strong>tsvermittlung offen und uneingeschränkt zur<br />

Verfügung. Die Frauen, deren Aufenthalt in der Bundesrepublik zwar legitim,<br />

aber nicht durch eigenständige Rechte gesichert ist, sind auf Erwerbsar<strong>bei</strong>t im<br />

ungesicherten Status angewiesen, weil ihnen der Zugang zu Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und<br />

Ar<strong>bei</strong>tsvermittl ung verstellt ist. Zu dieser Gruppe Frauen gehören<br />

nachgereiste Familien-Frauen im auferlegten Wartezeitraum bis zu zwei<br />

oder mehr Jahren,<br />

- Asylbewerberinnen, die derzeit mit zwei Jahren Ar<strong>bei</strong>tsverbot belegt sind<br />

(in der Diskussion ist die Erweiterung dieses Zeitraums auf fünf Jahre),<br />

- Aussiedlerinnen im Asylanerkennungsverfahren und nicht gemeldete sog.<br />

"Ostblockflüchtlinge" oder "Aussiedlerinnen",<br />

- Migranten, Flüchtlinge oder Aussiedler im Status der Duldung; für sie ist die<br />

Erteilung der Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis von administrativer Entscheidungswillkür abhängig,<br />

- eigens für ungesicherte Ar<strong>bei</strong>t "eingeschleusten Frauen" z.B. im Bereich der<br />

Prostitution.<br />

Verordnete Nkhtar<strong>bei</strong>t, Nichttätigkeit, nicht-monetäre SozialhiIfen und<br />

erzwungenes Warten treiben diese Frauen schnell in unsichere Erwerbsar<strong>bei</strong>ts-


- 1&3 -<br />

verhältnisse, die prinzipiell nicht zulässig sind und deswegen angesichts potentieller<br />

Folgewirkungen für den Aufenthalt resp. die Entfernung aus dem Bundesgebiet<br />

durch Abschiebung unsichtbar gehalten und verschwiegen werden<br />

müssen.<br />

Mit den Rechtsregeln korrespondieren politische Meinungen, die in Migrantinnen<br />

eine zusätzliche Belastung des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes sehen. Im Gegensatz<br />

hierzu wird mit Ostflüchtlingen und Aussiedlerinnen tendenziell freundlicher<br />

umgegangen. Für alle anderen Migrantinnen müssen noch restriktivere Regelungen<br />

für ihre Zulassung zum Leben in der Bundesrepublik erwartet werden, je<br />

prekärer sich die Lage auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt gestaltet und sich Arm ut zunehmend<br />

ausweitet.<br />

3. Ungesicherte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse und Illegalität<br />

Nicht jedes unsichere und unsichtbare Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis von Migrantinnen ist<br />

zugleich illegal. Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, daß di e Grenzen zur Illegalität<br />

fließend sind und wesentlich von der Verwaltungsinterpretation der<br />

Rechtsvorgaben abhängen. Diese sind regional- und institutionenspezifisch sehr<br />

unterschiedlich. Im Prinzip steht jede nicht in die Ar<strong>bei</strong>tserlaubnisverordnung<br />

passende Erwerbstätigkeit in Gefahr, als illegal zu gelten. Illegalität aber ist<br />

im Verständnis ungeteilter Rechtsstaatlichkeit ein Verstoß gegen Aufenthaltsbestimmungen.<br />

Dieser kann als Zuwiderhandlung gegen die Belange der Bundesrepublik<br />

(AusiG § 10) gesehen werden und restriktives Handeln der Ausländerbürokratien<br />

herausfordern. Wer also illegal ar<strong>bei</strong>tet, obwohl diese Illegalität<br />

durch die Lebenssituation und die Regelungsvorgaben mit produziert wird, begi<br />

bt sich in die Gefahr, ausgewiesen zu werden.<br />

Zu der Unsicherheit des geldlichen Erwerbs, zu den besonderen Belastungen<br />

durch - weitgehend unkontrollierte - schlechte Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen und zu<br />

der Mehrfachbelastung durch mehrere Ar<strong>bei</strong>tsstellen tritt die Unsicherheit vor<br />

dem Ausländergesetz, solange es sich um Erwerbsar<strong>bei</strong>t im grauen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

auf der ständig gegenwärtigen Grenze zur Illegalität handelt.<br />

Unsicherheit, Unsichtbarkeit und potentielle Illegalität sind als Dimensionen<br />

der Lebens- und Ar<strong>bei</strong>tssituation von Migrantinnen differenzierter zu erforschen.<br />

Sowohl hinsichtlich der Quantität, der Qualität als auch der sozialen<br />

Folgen sind derzeit allenfalls hypothetische Annäherungen möglich. Angesichts


- 184 -<br />

der Lebensbedingungen von Migrantinnen und den in ihnen eingelassenen Produ<br />

ktionsformen ungesicherter, unsichtbarer Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse ist unmittelbar<br />

einsichtig, daß es sich da<strong>bei</strong> ebenso um ein Dunkelfeld der Ar<strong>bei</strong>tsmarkt-<br />

und Berufsforschung handelt wie um ein dunkles Feld im Verhältnis der<br />

Bundesrepublik zu den in ihrem Territorium lebenden Migrantinnen/Einwanderinnen.<br />

LITERATUR<br />

Der Bundesminister für Ar<strong>bei</strong>t und Sozialordnung (Hrsg.): Situation der ausländischen<br />

Ar<strong>bei</strong>tnehmer und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik<br />

Deutschland, Sozialforschung Bd. 133, Forschungsinstitut der Friedrich­<br />

Ebert-Stiftung. Bonn 1986 - zit. als Repräsentativuntersuchung 1986<br />

EKD: Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land, EKD-<strong>Text</strong>e Nr. 16. Hannover<br />

1986 - zit. als EKD 1986<br />

Friedemann, P'/Pfau, B.: Frauenar<strong>bei</strong>t in der Krise - Frauenar<strong>bei</strong>t trotz Krise?<br />

In: Leviathan 13 (1985), 2, S. 155-186<br />

Hebenstreit, Sabine: Frauenräume und weibliche Identität. Berlin 1986<br />

Karsten, Maria-Eleonora: Ausländische Frauen in Frauenberufen oder Frauen­<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplätzen - Sichtweisen, Vorannahmen, Analysen. In: IFG-Frauenforschung<br />

1, 2, 1986, S. 113-134<br />

Karsten, Maria-Eleonora: Die arme - inländische und ausländische - Krisenfamilie<br />

ist die Familie der Sozialar<strong>bei</strong>t. In: Karsten, M.E./Otto, H.U.: Die sozialpädagogische<br />

Ordnung der Familie. Familie, Familienpolitik und Sozialar<br />

<strong>bei</strong>t. Bielefeld 1987<br />

Spaich, Horst (Hrsg.): Asyl <strong>bei</strong> den Deutschen. Reinbek 1982


- 185 -<br />

V. PROSTITUTION<br />

Zur Einführung:<br />

Helga Manthey<br />

BERUHRUNGS}\NGSTE ODER: DER SCHÖNE SCHEIN DER INTIMIT}\T .<br />

Die Prostitution gilt gemeinhin als das "älteste Gewerbe" der Welt. Wie unscharf<br />

sich Alltagssprache hier wieder einmal geriert, macht der Bundesfinanzhof<br />

in einer Begründung deutlich, warum Ausübende dieses Gewerbes als Gewerbetreibende<br />

nicht besteuert werden dürfen, denn "die gewerbsmäßige Unzucht"<br />

- gemeint ist die Prostitution - ist kein Gewerbe, sondern das "Zerrbild<br />

eines Gewerbes". Einkommenssteuer als freiberuflich Tätige dürfen Prostitutierte<br />

auch nicht bezahlen, denn die "gewerbsmäßige Unzucht" - ebenfalls<br />

0-Ton Bundesfinanzhof - "falle aus dem Rahmen dessen, was das Einkommenssteuergesetz<br />

unter selbständiger Berufstätigkeit verstanden wissen wolle."<br />

Die Glücklichen - drängt sich spontan der Gedanke auf. Doch vorschnell<br />

reagiert, denn sel bstverständlich findet sich für diese scheinbar komplizierten<br />

Fälle eine fiskalische Lösung. Da Prostituierte ihre Leistungen zwar privat,<br />

aber aus wirtschaftlichen Gründen erbringen, dürfen nun auch sie Einkommenssteuer<br />

bezahlen (Burgsmüller 1983).<br />

Diese bigotte Wortakrobatik ist nur ein Beispiel aus der Vielzahl von Absurditäten,<br />

die das Feld der Prostitution kennzeichnen. Sie ist Ausdruck eines


- 186 -<br />

strukturellen Problems, das die Prostitution als den prägnantesten Typus eines<br />

ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisses auszeichnet, sie aber gleichzeitig auch von<br />

den anderen Typen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse unterscheidet: Das älteste<br />

Gewerbe der Welt ist nämlich kein Beruf. Die genannte - nun steuerpflichtige -<br />

Prostitutierte dürfen zwar Steuern bezahlen, kann aber keine Berufsaufwendungen<br />

absetzen.<br />

Obwohl Prostitution al le Merkmale der Beruflichkeit des Ar<strong>bei</strong>tens aufweist<br />

1 , gilt sie als sittenwidriges Handeln. Prostituierte haben damit weder<br />

zivil- noch strafrechtliche Möglichkeiten, gegen solche Kunden (F reier) vorzugehen,<br />

die die Bezahlung in Anspruch genommener Leistungen verweigern oder<br />

ihre Vorstellungen als nicht erfüllt ansehen und Nachforderungen stellen. Umgekehrt<br />

können sie selbst aber jederzeit wegen "Erregung öffentlichen Argernisses"<br />

und "grobanstößige(n) und belästigende(n) Handlungen" belangt werden.<br />

1. Illegitimität als Berufsmerkmal<br />

Die Ausübung dieses - sagen wir - illegitimen Berufes (Stallberg o.J., S. 1) ist<br />

mit Diskriminierung, Kriminalisierung und Ausbeutung verbunden (vgl . Dieckhoff/Schwarz/Zimmermann<br />

in diesem Band). Die Schwierigkeiten beruhen nicht<br />

nur darauf, daß der Tätigkeit jeder Rechtsschutz verweigert wird, sie sind<br />

auch darin zu sehen, daß Prostituierte keinerlei Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen<br />

haben. Da sie auch hier als "versicherungstechnische Grenzfälle"<br />

gelten, sind sie zumeist weder kranken- noch rentenversichert.<br />

Die Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen sind weiter geprägt durch ein hohes Maß an staatlicher<br />

Kontrolle und Registrierung, di e in den einzelnen Bundesländern sehr<br />

unterschiedlich gehandhabt werden - ein Faktor, der das gemeinschaftliche<br />

Vorgehen der Prostituierten dagegen erschwert. Den Gesundheitsämtern obliegt<br />

das Recht, die Einhaltung der Routineuntersuchungen auf Geschlechtskrankheiten<br />

zu kontrollieren. Ist diese Untersuchung in Berlin <strong>bei</strong>spielsweise freiwillig,<br />

müssen sich andernorts Prostituierte von der Polizei zwangsvorführen lassen,<br />

wenn sie den Untersuchungen nicht nachkommen. Gab es jüngst in Frankfurt<br />

erhebliche Unruhe, als bekannt wurde, daß die Gesundheitskontrolle dem Ordnungsamt<br />

übertragen werden solle und damit der Ordnungsbehörde ein Zugriff<br />

auf die Daten der <strong>bei</strong>m Gesundheitsamt registrierten Prostituierten möglich


- 187 -<br />

wäre, müssen sich in Stuttgart Prostituierte gleich von der Polizei registrieren<br />

lassen.<br />

Auch das Abdrängen der Prostituierten in Sperrgebiete und - soweit sie<br />

sich nicht daran halten - in die Illegalität - ist in diesem Zusammenhang zu<br />

nennen. Sie werden damit ghettoisiert, einem verschärften Konkurrenzkampf<br />

ausgesetzt und in die Arme von Bordellbesitzern und Zuhältern getrieben.<br />

Das wohl nachhaltigste Belastungsmoment, das mit dieser Berufsausübung<br />

verbunden ist, liegt in den Folgen ihrer Stigmatisierung, welche die besondere<br />

Gewaltförmigkeit dieses Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisses legitimiert und verstärkt. Prostituierte<br />

sind der gesellschaftlichen Verachtung ausgesetzt. Für sie gilt nicht der<br />

mindeste Respekt vor Menschenwürde: Sie können angestarrt, angemacht, erniedrigt<br />

und gedemütigt werden; sie sind ständig der Gefahr lebensbedrohender Aggressionen<br />

ausgesetzt (vgl . "Huren wehren sich gemeinsam" in diesem Band).<br />

Von den psychischen Auswirkungen dieser alltäglichen Erfahrungen ganz zu<br />

schweigen, resultiert daraus auch eine für wohl kaum einen Beruf vergleichbare<br />

Umgehensweise: die Berufsausübung muß geheimgehalten und verleugnet werden.<br />

Prostituierte sind so zu einem Doppelleben gezwungen und ständig von der<br />

Angst vor Entdeckung und ihren Folgen begleitet.<br />

Obwohl Prostituierten außerhalb des Milieus die Beruflichkeit ihrer Ar<strong>bei</strong>t<br />

abgesprochen wird, ist das Milieu durch ökonomische Gesetzmäßigkeiten<br />

bestimmt, die die Marktförmigkeit des Angebots und Professionalisierung verlangen.<br />

Das breite Berufsspektrum reicht u.a. vom Straßen- und Autostrich über<br />

Bars, Salons, Appartements, Sexshops bis zu Peep-Shows und Eros-Center (vgl.<br />

"Huren wehren sich gemeinsam" in diesem Band).<br />

Der Zugang - in deri selteneren Fällen unfreiwillig 2 - erfordert qualifikatorische<br />

Kenntnisse, die je nach Berufsfeld unterschiedlich sind. Die Qualifikation<br />

umfaßt da<strong>bei</strong> keineswegs nur die verschiedenen Interaktionsformen der<br />

sexuellen Dienstleistung, die zum Teil wie <strong>bei</strong> den Sado-Maso-Praktiken hochspezialisierte<br />

Kenntnisse verlangen. Die emotionale und psychische Stabilisierung<br />

der Freier, eine häufig unterschätzte Dimension der beruflichen Anforderungen,<br />

verlangt neben kommunikativen und therapeutischen Kompetenzen vor<br />

allem das Beherrschen schauspielerischer und inszenatorischer Fähigkeiten,<br />

damit den gewünschten Selbstdarstellungsritualen der Freier ein perfekter Rahmen<br />

geboten werden kann. Da die Ar<strong>bei</strong>tsleistung dem Kosten-Nutzen-Kalkül<br />

unterliegt, ist ein wesentlicher Bestandteil der Professionalisierung die Fähigkeit,<br />

Wünsche und Bedürfnisse der Kunden in kürzester Zeit zu erfassen und


- 188 -<br />

mit dem minimalsten eigenen Aufwand adäquat zu erfüllen (Giesen/Schumann<br />

1980, S. 52/53). Der Qualifikationserwerb kann als reine Anlerntätigkeit aber<br />

auch in einer der Lehre vergleichbaren Ausbildungssituation erfolgen (Hydra<br />

Nachtexpress 1985/86; Stallberg o.J., S. 12).<br />

Neben den qualifikatorischen Vorausetzungen spielt für die Wahl des Berufsfeldes<br />

die Affinität zur Art der Prostitution eine Rolle. Die einen bevorzugen<br />

Appartements, weil diese "Privatheit", Komfort, Qualität der Freier und<br />

"ganzheitliche" Betreuung zulassen. Die anderen schätzen den Strich, denn er<br />

garantiert freie Zeiteinteilung, Kommunikation mit Kolleginnen und erlaubt<br />

darüber hinaus Ar<strong>bei</strong>tstechniken, die es nicht erfordern, die Geliebte ,von Kopf<br />

bis Fuß zu spielen (Hydra Nachtexpress 1981).<br />

Zwar ist ein Wechsel zwischen einzelnen Berufssparten ohne größere Zusatzqualifikationen<br />

möglich, jedoch entscheidet di e schulische und außerhalb<br />

der Prostitution erworbene berufliche Ausbildung darüber, ob eher die oberen<br />

oder niederen Ränge der Prostitutionshierarchie zur Wahl offenstehen. Die Untersuchungen<br />

von Giesen/Schumann (1980) und Röhr (1972) zeigen, daß das Ausbildungsniveau<br />

der Frauen über dem Durchscnitt der weiblichen Gesamtbevölkerung<br />

liegt.<br />

Der Status in (jer Prostitutionshierarchie, die Höhe des Einkommens und<br />

der Grad der Abhängigkeit, die von erfolgreichem Unternehmerinnentum bis zur<br />

Versklavung reicht, bestimmen entscheidend über die Qualität von Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />

und -produkt. Die Ausländerinnen rangieren da<strong>bei</strong> "ganz unten" (vgl .<br />

Simon in diesem Band). Auf engstem Raum zusammengepfercht, eingesperrt,<br />

"Eigentum" ihrer Chefs und den Wünschen der Freier auf Gedeih und Verderb<br />

ausgeliefert. Hier noch ein Interesse an der Qualität der Ar<strong>bei</strong>t zu vermuten,<br />

wäre blanker Zynismus. AhnIich scheint die Abfertigung der Freier in etlichen<br />

Bordellen und Sexshops eher dem Prinzip der Akkordar<strong>bei</strong>t mit Stücklohnvergütung<br />

zu entsprechen. Auch hier ist nicht nur eine tendenzielle, sondern eine<br />

totale Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität des Ar<strong>bei</strong>tsproduktes vorprogrammiert<br />

(Aziz 1981). Anders die Situation von Call-Girls, deren privilegierte<br />

Arbeltsbedingungen eine zeitintensive Betreuung der Freier zulassen und die<br />

sich aufgrund ihres hohen Einkommens auf wenige Freier beschränken, auch<br />

zeitweilig aus dem Beruf zurückziehen können. Sie zählen zu der Berufsgruppe,<br />

die es sich - wie noch zu zeigen sein wird - am ehesten leistet, eigene Bedürfnisse<br />

<strong>bei</strong> der Ar<strong>bei</strong>t zu befriedigen (Biermann 1982; Hydra Nachtexpress 1985).


- 189 -<br />

Die beruflichen Bedingungen unterliegen gesellschaftlichen Veränderungseinflüssen.<br />

Der mit der Liberalisierung der Sexualität verbundene Wandel gesellschaftlicher<br />

Sexualnormen, auch die Schaffung neuer Bedürfnisse durch die<br />

Flut pornographischer Angebote auf dem Markt beeinflussen die Qualifikationsanforderungen.<br />

Gängige Sexualformen werden entprofessionalisiert, härtere und<br />

spezialisiertere Praktiken setzen sich durch. Die Nachfrage hält unvermindert<br />

an (Stall berg o.J.; Nehemias 1986; Elisabeth 1986). Berufsgruppen und TätigkeitsfeIder<br />

differenzieren sich aus, wie die in jüngster Vergangenheit entstandenen<br />

Peep-Shows verdeutlichen. Aber auch die Kinder- und J ugendlichenprostitution<br />

sowie - neuerdings - die Nachfrage nach "Exotinnen" weiten sich aus,<br />

Ergebnis des Prostitutionstourismus. Konzentrationsprozesse räumlicher Art,<br />

gefördert durch Sperrbezirksverordnungen und Versuche, private Anbieterinnen<br />

durch Werbungsverbote vom Markt zu vertreiben, verschärfen Abhängigkeit,<br />

Kontrolle und Konkurrenz. Konzentrationsprozesse betrieblicher Art finden ihren<br />

Ausdruck in solch lyrischen Schöpfungen wie "Palais d' Amour" oder situationsadäquater<br />

"Eros-Center" benannt, Großbetriebe, die sich durch extreme<br />

Normierung und Standardisierung der Ar<strong>bei</strong>t auszeichnen und mit der Einschränkung<br />

des individuellen Spielraums auch die Kontrolle perfektionieren. Gravierende<br />

Einbrüche rufen Krankheiten wie AIDS hervor, zumal Infizierung, Registrierung<br />

und Berufsverbote drohen. Einkommensverluste, verursacht durch ausbleibende<br />

Freier, verschärfen erneut die Konkurrenz, und der Berufswechsel<br />

stellt sich mit anderer Dringlichkeit.<br />

Außerhalb des Milieus zählen die hier akkumulierten Berufserfahrungen<br />

und erworbenen Qualifikationen nichts. Sie müssen sogar vertuscht und kaschiert<br />

werden, um Diskriminierungen zu entgehen. Da es sich <strong>bei</strong> der Prostitution<br />

um einen Beruf handelt, der allein schon durch seine Altersbegrenzung und<br />

besonderen Belastungsmomente früher oder später zum Wechsel zwingt, liegt<br />

<strong>bei</strong> einem Verlassen des Milieus in der Verleugnung noch eine zusätzliche Brisanz,<br />

denn sie schlägt sich als Dequalifizierung nieder. Auf die vorhandenen<br />

Qualifikationen kann nicht rekurriert werden, so daß eine Lücke im Lebenslauf<br />

entsteht, die legitimatorisch gefüllt werden muß. Diese Schwierigkeit ist nur<br />

eine von vielen, die den Wechsel <strong>bei</strong> Ausstieg aus dem Milieu belasten (vgl.<br />

Dieckhoff/ Schwarz/ Zimmermann in diesem Band). Die Frauen müssen ein neues<br />

soziales Bezugssystem aufbauen, sind der Diskriminierung durch Amter sowie<br />

der Verfolgung durch Zuhälter ausgesetzt und gezwungen, ihre Berufsvergangenheit<br />

auf dem Hintergrund eines Wertesystems zu verar<strong>bei</strong>ten, das diese stig-


- 190 -<br />

matisiert. Die Probleme, die sie hier zu bewältigen haben, prägen unbewußt<br />

oder bewußt ihre Perspektive bereits während der Berufsausübung und schlagen<br />

sich in kurzfristigem Denken nieder.<br />

Die Merkmale der Illegitimität dieses Berufes verschärfen so nicht nur die<br />

beruflichen Bedingungen innerhalb des Milieus, die Illegitimität ist überhaupt<br />

erst Basis für die Schaffung eines Milieus. Nur durch Ausgrenzung der Prostitution<br />

in dieses Subsystem ist es möglich, den Verkauf von Sexualität zu gewährleisten<br />

und ihn gleichzeitig zu ignorieren. Die Prostitutierten bezahlen dafür<br />

mit einer Abspaltung von Teilen ihrer Lebenserfahrung, mit einem Berufshintergrund,<br />

der sich als berufliche Identität nicht stabilisieren kann und einer inneren<br />

Zerrissenheit durch widersprüchliche Wertesysteme.<br />

2. Provokation als Berufslast<br />

Was bringt die Prostitution in diese Zwitterstellung von Sanktionierung einerseits<br />

und Duldung andererseits? Da die Ungeschütztheit dieses Berufes ursächlich<br />

mit der Verweigerung seiner Anerkennung zusammenhängt, stellt sich die<br />

Frage: was hieße es denn, Prostitution als Beruf zu akzeptieren?<br />

Es hieße anzuerkennen, daß Sex ualität käuflich ist.<br />

Es hieße, Sexualität von der Liebe zu entschleiern.<br />

Es hieße, Sexualität der scheinbaren Exklusivität privater Beziehungen zu entreißen.<br />

Nüchtern betrachtet ist in einer Gesellschaft, in der der Mensch seine<br />

Ar<strong>bei</strong>tskraft als Ware auf den Markt trägt und neben seinem Körper und Verstand<br />

vielfach auch seine Seele verkauft, die Aufregung unverständlich, die<br />

ausgerechnet di e "Verwertung" der Sexualität auslöst. Aber Nüchternheit ist<br />

nicht angebracht, wenn es um di e Intimität der Beziehung zwischen den Geschlechtern,<br />

um die Symbiose von körperlicher und emotionaler Zuwendung, von<br />

Liebe und Sexualität geht. Wir klammern uns beharrlich an die Existenz eines<br />

Raums, jenseits allen ökonomischen Kalküls und bar aller Herrschaftsbeziehungen<br />

zwischen den Geschlechtern und weigern uns, zur Kenntnis zu nehmen, daß<br />

dieser Glaube Ideologie ist, die ihre Wurzeln in einer Gesellschaft hat, die neben<br />

ihrer patriarchalischen Tradition ja erst für die ökonomische Durchdringung<br />

al ler Verhältnisse, selbst der scheinbar privatesten, gesorgt hat. Der neuerdi ngs<br />

in den USA juristisch erlaubte Verkauf der eigenen Gebärfähigkeit ist hierfür


- 191 -<br />

nur ein - zweifellos prägnantes - Beispiel. Die Vermarktung von Sexualität entstammt<br />

der gleichen Gesellschaft wie ein Beziehungs(Ehe)modell, das Sexualität<br />

an die Intimität von Gefühlen bindet.<br />

Solange wir unsere eigene Prägung durch die widersprüchliche Komplementarität<br />

dieses Verhältnisses vor allem an den wunden Punkten ausblenden<br />

können, tangieren uns seine Auswirkungen nicht. Es wäre auch schlicht unbequem,<br />

gegen die Vielzahl von Männern, womöglich di e eigenen, vorzugehen, auf<br />

die die Vermarktung von Sexualität zugeschnitten ist und die, indem sie davon<br />

profitieren, ununterbrochen die Gültigkeit des Beziehungsmodells, <strong>bei</strong> aller<br />

. emotionalen Abhängigkeit von diesem, in Frage stellen. So definieren wir lieber<br />

den Stein des Anstoßes um, grenzen die Prostitutierten aus und sanktionieren<br />

sie noch zusätzlich dafür, daß sie uns durch ihre Ausgrenzung an unsere Verdrängung<br />

erinnern.<br />

Nun wäre dieses Verhalten von seiten der Männer ja noch verständlich,<br />

denn schließlich liegt das Funktionieren dieses widersprüchlichen Konstrukts ja<br />

in ihrem - wenn auch mehr als problematischen - Interesse. Zudem bedroht die<br />

Prostituierte sie durch ihr polygames Verhalten, das gegen das Herrschaftsinteresse<br />

des Mannes über die Sexualität und damit Fortpflanzung und Lust der<br />

Frau verstößt. Sie bedroht sie weiter durch ihre Kenntnis und damit Beherrschung<br />

und Beurteilung männlicher Sexualität und ihre ökonomische Eigenständigkeit,<br />

von der ironischerweise auch noch eine Kaste meist männlicher Zuhälter<br />

parasitär profitiert.<br />

Aber die Frauen, was bringt sie dazu, eine Aufteilung ihres Geschlechts<br />

in gute und schlechte Frauen mitzuvollziehen? Sie scheuen den Schmerz des<br />

Abschieds von einem Beziehungsmodell, an dessen Gültigkeit sie glauben, von<br />

dem sie durchaus auch profitieren und dessen Grundlagen sie - wie die Hausar<strong>bei</strong>tsdiskussion<br />

zeigt - immer wieder durch ihre Ar<strong>bei</strong>t herstellten. Gleichzeitig<br />

fürchten sie das Herausfallen aus gesel lschaftlich legitimierten Mustern, denn<br />

die Prostituierte ist ihnen ja abschreckendes Beispiel dafür, was Frauen <strong>bei</strong><br />

Abweichung passiert. Darüber hinaus bedroht die Prostituierte auch sie durch<br />

ihr polygames Verhalten, denn sie erschüttert ihren Glauben an die Einheit von<br />

Sex ualität und Liebe als weiblicher "Naturnotwendigkeit" und zwingt ihnen<br />

gleichzeitig die Ambivalenz auf, in der Erschütterung auch den Reiz einer von<br />

Liebe entlasteten Sexualität zu empfinden. Sie bedroht sie weiter, weil ihr<br />

Objektcharakter widerspiegelt, daß potentiell alle Frauen Objekte sind und pro-


- 192 -<br />

voziert sie durch ein Lösungsmodell, das der Devise folgt: wenn schon Objekt,<br />

dann so teuer wie möglich.<br />

Prostituierte verkörpern so zwar eine Provokation, können diese aber<br />

selbst kaum produktiv für alternative Lebensansätze nutzen. Die Gewaltförmigkeit<br />

der Verhältnisse sowie die Spaltung und Zerrissenheit, die ihnen ihre widersprüchliche<br />

Situation aufzwingt, bricht ihre Offensivität und läßt sie gesellschaftliche<br />

Normen reproduzieren.<br />

Deutlich wird dies, wenn sie ihre Sehnsüchte von Stütze und Halt durch<br />

einen Mann auf den Zuhälter projizieren und so das parasitäre und vielfach<br />

gewalttätige Verhältnis in ein Liebesverhältnis umdefinieren, von dem sie dann<br />

abhängig sind (Aziz 1981, S. 175 ff.). Auch wenn sie ihre Verachtung Männern<br />

gegenüber ausdrücken, di e sich Sexualität kaufen, übernehmen sie selbst die<br />

gesellschaftliche Diskriminierung ihrer eigenen Tätigkeit. Eklatant schlägt sich<br />

dieses Verhalten aber in einer strikten Trennung von Lust und Ar<strong>bei</strong>t nieder.<br />

Ist das Vortäuschen von Lust Teil der Ar<strong>bei</strong>t, wird das Empfinden von Lust <strong>bei</strong><br />

der Ar<strong>bei</strong>t als "Betriebsunfall", als mangelnde professionelle Beherrschung der<br />

Ar<strong>bei</strong>t interpretiert: "Danach geht's mir schlecht. Tagelang geht's mir schlecht"<br />

(Giesen/Schumann 1980, S. 65). Lust ist mit Liebe verbunden und kann nur <strong>bei</strong><br />

einem geliebten Menschen empfunden werden. Daß viele Freier die reine Verkaufssituation<br />

schwer ertragen und Liebesrituale verlangen, selbst wenn sie<br />

nichts empfindlicher träfe als tatsächliche Liebesgefühle, geben die Frauen als<br />

stark belastenden Teil ihrer Ar<strong>bei</strong>t an. Die Spaltung, die sie hier vollziehen,<br />

verlangt von ihnen, aus dem Ar<strong>bei</strong>tsbereich alle Gefühle herauszuhalten, die<br />

mit dem "privaten" Erleben von Sexualität verbunden sind, während es aber<br />

gleichzeitig die berufliche Qualifikation erhöht, wenn diese perfekt vorgespielt<br />

werden können, eine Leistung, die vorrangig in den höheren Sparten der Prostitution<br />

eingefordert wird.<br />

Da sie die Fesselung von lustvoller Sexualität an Liebe für sich übernehmen,<br />

sind sie gezwungen, sich alle lustvollen Momente ihres Berufes zu versagen.<br />

Nur wenige Prostitutierte gestehen sich zu, daß Prostitution keineswegs<br />

nur Last, sondern auch Lust bedeutet (Hydra Nachtexpress 1985). Hier spiegelt<br />

sich wider, daß Prostituierte zu ihrem Beruf kaum stehen können, aber auch,<br />

daß Frauen sich generell schwertun, ihr Recht auf Lust zu behaupten.<br />

Die Frage der Lust an der Prostitution, die sich im übrigen nur für die<br />

privilegierten Bereiche der Prostitution stellt, trifft auf den Nerv aller versteckten<br />

Lust an dem Thema. Spaß und Lust an der Prostitution, das schockt


- 193 -<br />

und macht Angst. Es fällt leichter, sich mit Prostituierten zu identifizieren,<br />

wenn sie als Opfer gesehen werden können. Aber so viele Schattenseiten dieser<br />

Beruf auch zeigt, er hat eben nicht nur diese. Zu seinen positiven Merkmalen<br />

gehören die relativ freie Zeiteinteilung, die Chance eines guten Verdienstes,<br />

der Spaß am Sex schlechthin, das Testen der eigenen Anziehungskraft, di e<br />

Selbstbestätigung und - die Macht über die Sexualität von Männern (Biermann<br />

1982; Hydra Nachtexpress 1985; Roggenkamp 1986).<br />

3. Berufs"normalität" als Subversion<br />

Was hieße es nun abschließend, für eine Anerkennung von Prostitution als Beruf<br />

zu streiten? Prostitution findet - daran besteht kein Zweifel - in einer beruflichen<br />

Form statt; gerade in der Verweigerung dieser Realität liegt ja die<br />

Voraussetzung für die Diskriminierung von Prostituierten. Helga Bilitewski und<br />

Regine Döl! (in diesem Band) weisen zu Recht darauf hin, daß Prostituierte nur<br />

als Verkörperung ihres Berufes angesprochen und letztlich für die Existenz von<br />

Prostitution verantwortlich gemacht werden. Nicht, daß hier von jeder Verantwortung<br />

für individuelles, auch berufliches Tun freigesprochen werden sollte,<br />

aber diesen Maßstab an alle Berufe angelegt: welche Berufsgruppe könnte denn<br />

hier ihre Hände in Unschuld waschen? In einer durch Herrschaftsformen geprägten<br />

Gesellschaft gehört es auch zu den Strukturmerkmalen von Berufen, an der<br />

Durchsetzung und Legitimierung dieser Formen beteiligt zu sein. Dies schließt<br />

aber doch nicht aus - obwohl und weil eingebunden in diese Funktionsweise -<br />

gleichzeitig für eine Veränderung dieser Formen zu kämpfen.<br />

Prostitution in der Grauzone zu belassen, schafft Prostitution nicht ab, es<br />

verlagert nur die Verantwortlichkeit auf die Prostituierten, die mit einer ganz<br />

spezifischen Art von Ungeschütztheit dafür bezahlen müssen. (Kollektives) Handeln<br />

wird so eher verhindert, denn an der fehlenden beruflichen Anerkennung<br />

der Ar<strong>bei</strong>t bricht sich die Motivation, für eine Veränderung der beruflichen<br />

Bedingungen zu kämpfen, ist keine Basis für eine (berufsständische) Interessenvertretung<br />

vorhanden. Öffentliches Auftreten wird zu einem unwägbaren Risiko<br />

, bedeutet es doch die Aufgabe des Doppellebens und das Aushalten der damit<br />

verbundenen Folgen (zur Geschichte der Organisierung von Prostituierten<br />

vgl. Bilitewski/ Döll in diesem Band).


- 194 -<br />

Prostitution den Grauzonencharakter zu nehmen und so geschützter zu<br />

machen (vgl . die detaillierten Forderungen von "Huren wehren sich gemeinsam"<br />

in diesem Band), erweitert aber nicht nur den Handlungsspielraum von Prostituierten.<br />

Prostitution anzuerkennen, heißt vor allem auch, sich dem eigenen Verdrängungsinteresse<br />

zu stellen. Prostitution ist kein isoliertes Phänomen einer<br />

Gruppe, sondern ein gesamtgesellschaftliches, in dessen vielfältige und nicht<br />

nur sexuelle Formen wir eingebunden sind und die wir hilflos, abgestumpft, billigend<br />

und berechnend in Kauf nehmen, ständig neue Fluchträume schaffend.<br />

Das Sich-Stellen der - auch eigenen - Realität scheint die Voraussetzung<br />

für das Erkennen notwendiger - auch eigener - Veränderung. Vielleicht erhöht<br />

die Akzeptanz des eigenen Verstrickt-Seins die Toleranz für das der anderen<br />

und läßt es überflüssig werden, in der ständigen Verlagerng von Verantwortung<br />

auf andere auch von der eigenen abzulenken. Vielleicht kann nur so die kollektive<br />

Basis geschaffen werden, die eine Gesellschaft entstehen läßt, in der eine<br />

von jeder Zwangsbindung befreite Vereinigung von Lust und Liebe möglich ist,<br />

dann aber - über das Geschlechterverhältnis hinausgedacht - als allgemeine<br />

Lebensqualität.<br />

ANMERKUNGEN<br />

Beck/ Brater (1978) bestimmen Berufe durch folgende Merkmale:<br />

- Strukturmuster gesellschaftlicher Praxis,<br />

- Bauelemente betrieblicher Ar<strong>bei</strong>tsteil ung,<br />

- Angebotsformen am Ar<strong>bei</strong>tsmarkt,<br />

- Orientierungspunkte individuell-biographischer Erziehungs- und Erfahrungsprozesse,<br />

- Formen der Zuteilung und Legitimation sozial ungleicher Chancen.<br />

Bei einem weiteren Merkmal: Beruf als Zielpunkt institutionalisierter Ausbildungsprozesse,<br />

weicht die Prostitution ab. Zwar ist sie Ziel punkt von Ausbil<br />

dungsprozessen, nicht aber von solchen institutioneller Art.<br />

2 Die Aussage bezieht sich nicht auf Ausländerinnen, zur Zeit vor allem aus<br />

asiatischen und afrikanischen Ländern. Hier läßt sich eher eine Zunahme des<br />

Menschenhandels beobachten. Vgl. Tourismus, Prostitution, Entwicklung 1983<br />

und Ohse 1984.<br />

LITERATUR<br />

Aziz, Germaine: Geschlossene Häuser. Lebensgeschichte einer Prostituierten.<br />

Frankfurt 1981


- 195 -<br />

Beck, U./Brater, M.: Zur Kritik der Beruflichkeit des Ar<strong>bei</strong>tens, in: Technologie<br />

und Politik 1978 (0), S. 60.<br />

Biermann, Pieke: "Wir sind Frauen wie andere auch!" Prostituierte und ihre<br />

Kämpfe. Reinbek <strong>bei</strong> Hamburg 1982<br />

Burgsmüller, Claudia: Prostitution und Recht. 3. Teil. In: Hydra Nachtexpress, 4<br />

(1983) Frühjahr<br />

Elisabeth: Wie Tiere. In: EMMA (1986) 9<br />

Giesen, R.-M./Schumann, G.: An der Front des Patriarchats. Bensheim 1980<br />

Hydra Nachtexpress: Strich kontra Appartement, 2 (981) 2<br />

dies.: Prostitution: Lust oder Last, 6 (985) Frühjahr/Sommer<br />

dies.: Sado-Maso, 6 (1985/86) Winter<br />

Nehemias, Anna: Die Freier. In: EMMA (986) 9<br />

Ohse, Ul1a: Forced Prostitution and Traffic in Women in West-Germany. Edinburgh<br />

1984 (Human Rights Group)<br />

Röhr, Dorothea: Prostitution. Eine empirische Untersuchung über abweichendes<br />

Sexualverhalten und soziale Diskriminierung. Frankfurt am Main 1972<br />

Roggenkamp, Viola: Endstation Straße. In: ZEIT magazin (986) 49<br />

Segeth, Uwe-Vol ker: Kinder, die sich verkaufen. Eine Analyse der Prostitution<br />

von weiblichen Minderjährigen. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1980<br />

Stall berg, Friedrich W.: Soziales Umfeld und Persönlichkeit weiblicher Prostituierter.<br />

Zur Analyse einer vernachlässigten Randgruppe. Manuskript 0.0.,<br />

o.J.<br />

Zentrum für Entwicklungsbezogene Bildung (Hrsg.): Tourismus, Prostitution,<br />

Entwicklung. Dokumente. Köln 1983


- 196 -<br />

Erika Dieckhoff<br />

Helga Schwarz<br />

Ursula Zimmermann<br />

DER ZWANG ZUR ABWEICHUNG - PROSTITUTION UND RECHT<br />

Das Leben als Prostituierte birgt Risiken und Problem lagen, die individuell<br />

nicht zu bewältigen sind. Verantwortlich dafür ist nicht die Tätigkeit an sich,<br />

sondern ihre Prägung durch die sich wechselseitig verstärkenden Momente:<br />

Stigmatisierung, Rechtlosigkeit, Kontrolle, Unterdrückung und Ausbeutung.<br />

Wieweit gesetzliche Grundlagen diese Rahmenbedingungen definieren und<br />

so die Ungeschütztheit der Ar<strong>bei</strong>t festschreiben, macht der folgende Überblick<br />

deutlich. Prostitution ist in der BR D - außer für Ausländerinnen - nicht verboten.<br />

Das Strafrecht bietet allerdings Möglichkeiten, Prostitution stellenweise so<br />

zu unterbinden, daß es einem Berufsverbot gleichkommt. Der Gesetzgeber zementiert<br />

aber über die Sittenwidrigkeit des Vertrages zwischen Prostituierter<br />

und Freier nicht nur die moralische Achtung der Prostituierten; er verweigert<br />

ihr gleichzeitig auch das Recht auf Bezahlung und damit Anerkennung ihrer<br />

Ar<strong>bei</strong>t. Sie bleibt so von allen Formen der beruflichen Absicherung ausgeschlossen.<br />

Andererseits nimmt er aber die Tätigkeit als "sittenwidriges Handeln" zur<br />

Kenntnis, verpflichtet die Prostituierte zum Erbringen der vereinbarten und<br />

bezahlten Leistung, legt dafür Orte, sogenannte Sperrbezirke, fest und formuliert<br />

Kontrollaufgaben für staatliche Instanzen wie Gesundheitsbehörde und<br />

Polizei. Wie damit der Ausbeutung und Unterdrückung von Prostituierten Tür<br />

und Tor geöffnet, sie teilweise sogar legalisiert werden, läßt sich am Beispiel<br />

der Hamburger Situation aufzeigen. Prostitution soll - so scheint es - ein ' Risikoberuf<br />

bleiben. Nur so erklärt sich, daß die prekäre Balance von Duldung<br />

einerseits und Abschreckung andererseits erhalten bleibt.


- 197 -<br />

1. "Unsittlichkeit des Vertrages"<br />

Der Prostituierten wird der Rechtsschutz für ihre Dienstleistungen durch §<br />

138 Abs. 1 BGB verwehrt: "Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten<br />

verstößt, ist nichtig." Der Vertrag zwischen Prostituierter und Freier verstößt<br />

nach allgemeiner Rechtsprechung gegen die guten Sitten und ist daher nichtig.<br />

Bei der Definition von "unsittlich" wird auf das Reichsgericht zurückgegriffen,<br />

wonach das Rechtsgeschäft dem "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden"<br />

widersprechen muß.<br />

Prostituierte haben daher nicht die Möglichkeit, mit Hllfe staatlicher Institutionen<br />

die Bezahlung ihrer Dienstleistungen einzufordern. Sie ar<strong>bei</strong>ten deshalb<br />

in der Regel nur gegen Vor kasse. Rückzahlungsansprüche der Freier scheitern<br />

am § 817 BGB. Während ein Freier, der eine Prostituierte um den vereinbarten<br />

Lohn prellt, sich nicht strafbar macht, kann die Prostituierte durchaus<br />

wegen Betruges verurteilt werden, wenn sie ihrerseits die vereinbarte und bezahlte<br />

Leistung verweigert. Die Sittenwidrigkeit besteht nämlich auf ihrer Seite<br />

darin, die Interessen der Allgemeinheit zu verletzen und nicht die des Geschäftspartners.<br />

Es kommt sogar vor, daß die Polizei mit dem Freier zur Prosti<br />

tutierten geht und fragt, ob sie nicht nachbessern wolle. Die Prostituierte<br />

muß, dann z.B. durch den gefüllten Präser, nachweisen, daß dei Freier zum<br />

Samenerguß gekommen ist.<br />

2. Ausschluß aus dem System der Sozialversicherung <strong>bei</strong> gleichzeitiger<br />

Steuerpflicht<br />

Die patriarchalen Gesetzgeber haben, indem sie Prostitution als faktisches Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis<br />

bestreiten, dafür gesorgt, daß Prostituierte aus dem System der<br />

Sozialversicherung ausgeschlossen sind, obwohl sie gleichzeitig als steuerpflichtig<br />

eingestuft werden. Die Besteuerung erfolgt nach § 2 Abs. 2 Nr. 7, 223 EStG<br />

(E inkünfte au; Leistungen). Prostitution ist weder ein Gewerbe, da nach der<br />

Rechtsprechung "gewerbsmäßige Unzucht" das "Zerrbild eines Gewerbes" darstellt,<br />

noch z.B. für Frauen, die in Bordellen ar<strong>bei</strong>ten, ein Dienstverhältnis, da<br />

die angebliche Sittenwidrigkeit ein Dienstverhältnis ausschließt. Während in<br />

anderen Fällen <strong>bei</strong> nichtigen Dienstverhältnissen üblicher weise ein faktisches


- 198 -<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis besteht, das selbstverständlich lohnsteuer- und versicherungspflichtig<br />

ist, lehnt dies die Rechtsprechung im Falle der Prostituierten ab. Die<br />

Begründung beruft sich, wie <strong>bei</strong> der Ablehnung des Dienstverhältnisses, auf die<br />

Sittenwidrigkeit der Beschäftigung, die keine Ansprüche aus einem faktischen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis erlaube. Dieser ar<strong>bei</strong>tsrechtliche Schutz sei - laut Bundesar<strong>bei</strong>tsgericht<br />

- mit dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht<br />

unvereinbar.<br />

3. Legalisierte Ausbeutung<br />

Bei den Bordellbesitzern und Pächtern erweist sich die Rechtsprechung als<br />

großzügiger. An die Stelle von Einnahmen aus strafbarer Kuppelei sind die Einnahmen<br />

aus straffreier Vermietung getreten. Zivilrechtlich sind Bordellverträge<br />

und Mietverträge mit Prostituierten wirksam.<br />

§ 180 Abs. 1 StGB drückt aus, was erlaubt ist: Das Gewähren von Wohnu<br />

ng, Unterkunft (Absteige) oder Aufenthalt (Kontakthöfe) sowie die üblicherweise<br />

damit verbundenen Nebenleistungen. Unter Hinweis auf "Nebenleistungen"<br />

finden übermäßig hohe Mieten und Ausbeutung ihre Rechtfertigung. Die Zimmermiete<br />

im Eros-Center Hamburg z.B. beträgt zur Zeit 140,- DM täglich. Die<br />

Miete wird auch dann fällig, wenn die Prostituierte, sei es aus gesundheitlichen<br />

Gründen, nicht ar<strong>bei</strong>ten kann. Für die Frau entstehen sogenannte "Blockschulden":<br />

Die durchschnittliche Zimmermiete liegt <strong>bei</strong> 110,- DM täglich. Hinzu kommen<br />

20,- DM "Trinkgeld" (Tip) für den Wirtschafter, 30,- DM für Präservtive,<br />

frische Handtücher, Bettwäsche usw. und 10,- DM für Essen. Es summieren sich<br />

so Tagesfixkosten von 170,- DM. Weiterhin besteht in den meisten Bordellen<br />

ein Getränkezwang, wo<strong>bei</strong> die Menge der konsumierten Getränke abhängig ist<br />

von der Höhe der Bezahlung durch den Freier (50,- DM Freierentgelt z.B. erfo<br />

rdern die Abnahme von 2 Getränken a 12,- DM). Diese Getränke müssen, ob<br />

der Freier sie will oder nicht, von der Frau bezahlt werden.


- 199 -<br />

4. Sperrgebiete<br />

Staatliche Kontrolle über Prostituierte wird auch durch die Pollzei ausgeübt,<br />

legitimiert durch § 85a Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Art.<br />

297 "Verbot der Prostitution".<br />

Anstands<br />

"Die Landesregierung kann zum Schutz der Jugend und des öffentlichen<br />

1. Für das ganze Gebiet einer Gemeinde bis zu fünfzigtausend Einwohnern<br />

2. Für Teile des Gebiets einer Gemeinde über zwanzigtausend Einwohner oder<br />

eines gemeindefreien Gebiets<br />

3. Unabhängig von der Zahl der Einwohner für öffentliche Straßen, Wege, Plätze,<br />

Anlagen und für sonstige Orte, die von dort aus eingesehen werden können,<br />

im ganzen Gebiet oder in Teilen des Gebiets einer Gemeinde oder eines<br />

gemeindefreien Gebiets durch Rechtsverordnung<br />

verbieten, der Prostitution nachzugehen."<br />

Sie kann das Verbot nach Satz 1 Nr. 3 auch auf bestimmte Tageszeiten<br />

beschränken.<br />

2) Die Landesregierung kann diese Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf<br />

eine oberste Landesbehörd oder höhere Verwaltungsbehörden übertragen.<br />

3) Wohnungsbeschränkungen auf bestimmte Straßen oder Häuserblocks zum<br />

Zwecke der Ausübung der Prostitution (Kasernierung) sind verboten.<br />

Beispiel Hamburg<br />

In Hamburg gelten die gesamte Innenstadt, die Stadtteile St. Georg (Nähe<br />

Hauptbahnhof) und St. Pauli, <strong>bei</strong>de traditionsreiche Prostitutionsgebiete, mit<br />

wenigen Ausnahmen als Sperrgebiet. Auch im übrigen Hamburg gelingt es, die<br />

Straßenprostitution mithilfe anderer juristischer Grundlagen (Wegerecht,<br />

Sex ualstrafrecht, Lärmbelästigung) bis auf die streng kontrollierte Süderstraße<br />

faktisch zu verhindern. Im Sperrgebiet läßt sich eine teilweise Tolerierung der<br />

Straßenprostitution beobachten, solange andere Interessen, z.B. Sanierungspolitik,<br />

nicht verletzt werden und kein öffentlicher Druck entsteht. Ansonsten muß<br />

die Prostituierte mit Ordnungsstrafen (Bußgeldern) rechnen. Mehrmalige Verstöße<br />

führen dann neben hohen finanziellen Belastungen zur Kriminalisierung der<br />

Frauen. Ihnen bleiben so nur der Ausweg in die Bordelle oder "Mädchenwohnheime"<br />

(Palais d' amour, Eros-Center) und der Rückzug auf illegale Standplätze.<br />

Die Zugriffsmöglichkeiten für Zuhälterorganisationen und Bor deli pächter erweitern<br />

sich damit und die Ausbeutung nimmt zu.<br />

In Hamburg ar<strong>bei</strong>ten ca. 5-6000 Frauen als Prostituierte. Selbst, wenn jede<br />

Frau den niedrigen Schnitt von drei Freiern pro Tag hat, die nur 50,- DM


- 200 -<br />

(einfache Nummer) zahlen, werden schon ohne Getränke 900.000,- DM am Tag<br />

umgesetzt. 18.000 Männer nehmen die Dienstleistungen in Anspruch. An diesem<br />

Zahlen<strong>bei</strong>spiel zeigt sich das Ausmaß der patriarchalen Doppelmoral.<br />

Sperrgebietsverordnungen können auch "solide" Frauen treffen, da das<br />

Herumgehen, Herumstehen und Herumfahren von Frauen allein bereits Verdacht<br />

auslöst. "Der Prostitution im Sinne des § 184-a StGB geht bereits nach, wer<br />

sich innerhalb des Sperrbezirks zum Geschlechtsverkehr gegen Geld anbietet.<br />

Ein solches Anbieten liegt schon <strong>bei</strong>m Herumstehen oder Herumgehen oder Herumfahren<br />

mit einem Auto vor" (Leitsatz der Entscheidung des Oberlandesgerichtes<br />

Hamm vom 11.4.1975).<br />

5. Kontrolle der Frau unter dem Deckmantel des Schutzes<br />

Die polizeiliche Kontrolle der Prostitution beruft sich auf die Existenz eines<br />

kriminellen Umfel des, vorrangig im Waffen- und Drogenhandel vermutet. Der<br />

Zusammenhang zwischen dem ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsplatz aufgrund der "Unsittlichkeit"<br />

des Vertrags und der "Schutzfunktion" durch Zuhälter wird politisch<br />

aber nicht thematisiert.<br />

Die Kontrolle wirkt sich so aus, daß persönliche Daten von Prostituierten<br />

"zu ihrem Schutz" gesammelt werden. Für diese Sammlung von Daten <strong>bei</strong> der<br />

Polizei fehlt die gesetzliche Grundlage. Prostituierte könnten daher auf der<br />

Datenlöschung bestehen und sie durch den Datenschutzbeauftragten kontrollieren<br />

lassen.<br />

Zum kriminellen Umfeld enthält . das Strafgesetzbuch eine Reihe weiterer<br />

Bestimmungen. Verboten sind:<br />

Zuführung zur Prostitution<br />

Ausbeuterische Zuhälterei<br />

Dirigistische Zuhälterei<br />

§ 180 a Abs. 3<br />

§ 181 a Abs. 1 Ziff. 1<br />

§ 181 a Abs. 1 Ziff. 2<br />

Menschenhandel<br />

§ 181<br />

Kupplerische oder fördernde Zuhälterei § 181 a Abs. 2<br />

Obwohl nach der Neufassung des Sexualstrafrechts (1973) der "parasitäre<br />

Charakter" des Zuhälters keine strafrechtlichen Konsequenzen mehr hat, sondern<br />

die persönliche und wirtschaftliche Freiheit der Prostituierten, die die<br />

aktive Zuhälterei zum Ausbeutungsobjekt degradiert, geschützt werden soll,


- 201 -<br />

werden doch quasi alle Beziehungen zwischen Prostituierter und "Beschützer"<br />

als Zuhälterei definiert, was zur Rechtsunsicherheit <strong>bei</strong>trägt. Paradox erweist<br />

sich diese rechtliche Situation, wenn, wie in Baden-Württemberg gehandhabt,<br />

der Zuhälter bzw. Freund für größere "Geschenke" (z.B. Auto, Rolex, Schmuck)<br />

dem Finanzamt eine sogenannte "Schenkungssteuer" entrichten muß, für die er<br />

in den meisten Fällen sicherlich nicht persönlich aufkommt.<br />

Prostituierte sind verpflichtet, sich regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten<br />

untersuchen zu lassen und somit durch die Krankenakte automatisch registriert.<br />

Grundlage dafür ist das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,<br />

GBG vom 23.7.1953. Die einzelnen Bundesländer handhaben dieses Gesetz<br />

unterschiedlich restriktiv. Teilweise müssen sich die Frauen von der Polizei<br />

zur Zwangsuntersuchung vorführen lassen. Auch kommt es vor, daß die Gesundheitsbehörden<br />

Daten unzulässig an die Polizei weiterleiten.<br />

6. Einschränkung der Grundrechte<br />

Eine allgemeine Einschränkung der Grundrechte <strong>bei</strong> Prostituierten zeigt sich<br />

in der Verminderung ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung <strong>bei</strong> Vergewaltigungsprozessen.<br />

Der BGH stellte noch 1973 (BHHMDR 1973 555) fest, daß<br />

"hinsichtlich der Schuld ein sehr erheblicher Unterschied (besteht), ob eine unbescholtene<br />

Frau oder eine Prostituierte, die sich allgemein zu unzüchtigen<br />

Handlungen hinzugeben pflegt, das Opfer eines Sittlichkeitsverbrechens wird".<br />

In besonderem Maße werden auch ausländische Prostituierte aufgrund der<br />

bestehenden Ausländergesetze zum Objekt der Ausbeutung für Zuhälter und<br />

Menschenhändler. Jeder Versuch von Ausländerinnen, sich mit Hilfe staatlicher<br />

Instanzen gegen Gewalt zu wehren, kann ihre Abschiebung zur Folge haben, da<br />

Prostitution als Grund für die sofortige Ausweisung gilt.<br />

7. Verbot der Werbung für Prostitution<br />

Zum Schluß möchten wir noch auf das "Verbot der Werbung für Prostitution" als<br />

weiteren rechtlichen Aspekt hinweisen und erläutern, warum hier eine Verschlechterung<br />

der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen für Prostituierte stattfindet.<br />

.


- 202 -<br />

Laut OWiG § 120, 2 ist die Werbung für Prostitution ordnungswidrig, denn<br />

"ordnungswidrig handelt, wer durch Verbreiten von Schriften, Ton- oder Bildträgern,<br />

Abbildungen oder Darstellungen Gelegenheit anbietet, ankündigt, anpreist<br />

oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt". Auch dieses Verbot legen<br />

die einzelnen Bundesländer unterschiedlich aus. So konnten in Stuttgart Frauen,<br />

die Haus- oder Hotelbesuche machten oder in Apartments ar<strong>bei</strong>teten, solange<br />

ihre Dienstleistungen relativ genau definieren (z.B. s+m, Domina, Sklavin, englisch/<br />

griechisch usw.), bis ein Staatsanwalt daran Anstoß nahm. Dieser untersagte<br />

den Stuttgarter Tageszeitungen, derartige Anzeigen anzunehmen. Den<br />

. Frauen blieb nur noch, mit beschränktem Wortschatz zu werben. Der Staatsanwalt<br />

gab zwar an, mit diesen Maßnahmen Bordelle und Clubs schädigen zu wollen,<br />

traf aber tatsächlich die Frauen, die relativ selbstbestimmt im weniger<br />

kontrollierten Prostitutionsbereich ar<strong>bei</strong>teten. Denn: Ehe ein Freier mehrere<br />

Tel efonate führt, um die genaue Beschreibung der Dienstleistung einzuholen,<br />

geht er lieber gleich in einen stadtbekannten Puff, von dem er das Angebot<br />

kennt.<br />

Festzuhalten bleibt abschließend, daß es nach wie vor die Prostituierte<br />

ist, die die Verantwortung für die Existenz von Prostitution zugeschoben bekommt.<br />

Nur sie wird reglementiert, überwacht und diszipliniert. Zwar finden im<br />

Strafrecht Kontrollversuche ihren Niederschlag, die das Umfeld und die Organisation<br />

von Prostitution betreffen, der Kontrolldruck ist aber meist gering, denn<br />

die "Begleitkriminalität" bedarf der nachweislichen Vergehen, die im allgemeinen<br />

über das ungesetzliche Handeln an Prostituierten hinausreichen (Stallberg<br />

o.J.). Die Freier können sich ungehindert bewegen, sie werden höchstens in<br />

Unruhe versetzt, wenn sie - wie in der Vergangenheit geschehen - in das<br />

Schußfeld radikaler Frauenaktionen geraten und ihre Namen öffentlich plakatiert<br />

wiederfinden.<br />

LITERATUR<br />

Stall berg, Friedrich W. : Prostitution und Staat - Zur Kontrolle "gewerbsmäßiger<br />

Unzucht" in der Bundesrepublik. Manuskript, 0.0., o.J.


- 203 -<br />

Huren wehren sich gemeinsam (HWG)<br />

ARBEITSPLA TZ: PROSTITUTION<br />

Die Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen als Prostituierte hängen sehr stark vom Ar<strong>bei</strong>tsplatz<br />

ab und weisen eine große Bandbreite auf von der Straßenprostitution bis hin<br />

zum Callgirl. Im folgenden werden die häufigsten Formen von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />

skizziert und da<strong>bei</strong> verdeutlicht, wie stark sie sich bezüglich persönlicher Sicherheit,<br />

Eigenständigkeit, aber auch Verdienstmöglichkeiten unterscheiden.<br />

Empirischer Hintergrund dafür wie auch für die Einschätzung der neueren Entwicklung<br />

ist die Situation in Frankfurt.<br />

1. Straßenprostitution<br />

Bei der Straßenprostitution spricht der Kunde die Prostituierte auf der Straße<br />

an.<br />

Preis und Wünsche des Kunden handeln <strong>bei</strong>de an Ort und Stelle aus und<br />

vollziehen die sexuelle Handlung in einer Absteige oder an einem einsamen<br />

Pla tz. Für den Freier ist das eine billige Art der Prostitution, denn angefangen<br />

wird mit 40,- DM. Diese Art der Prostitution üben viele Fixerinnen aus.<br />

Wenn das Angebot an Frauen hoch ist bzw. die ausgewiesenen Toleranzzonen<br />

klein sind, haben Prostituierte oft "ihren" Stammplatz, entweder erkämpft<br />

von den Konkurrentinnen oder gekauft von einem Zuhälter. In Berlin kann solch<br />

ein Standplatz bis zu 12.000,- DM Grundgebühr sowie monatliche Miete um<br />

5.000,- DM kosten.<br />

Bisher war der Straßenstrich eine relativ autonome Form der Prostitution<br />

in Frankfurt, denn solange eine Frau keinen Zuhälter hatte, konnte sie Ar<strong>bei</strong>tszeiten<br />

und -bedingungen weitgehend selbst bestimmen, orientiert an der Nachfrage.<br />

Sie war nicht dazu gezwungen, jeden Freier anzunehmen und bestimmte<br />

die sexuellen Dienstleistungen sowie den Preis dafür selbst, abgesehen von<br />

einem Grundpreis, an den sich alle mehr oder weniger hielten. Auf der anderen<br />

Seite <strong>bei</strong>nhaltet der Straßenstrich ein hohes Gesundheitsrisiko sowie viele Gefahren<br />

für die Gesundheit. Die Prostituierte ist dem Freier ausgeliefert, sobald<br />

sie mit ihm irgendwohin gegangen ist, und es gibt für sie kaum eine Möglich-


- 204- -<br />

kelt, aus einer unmittel baren Gefahrensituation zu entkommen oder Hilfe zu<br />

erhalten. Da sie <strong>bei</strong> jedem Wetter auf der Straße steht, sind natürlich auch<br />

Risiken für die Gesundheit gegeben. Blasenentzündungen, Unterleibskrankheiten<br />

durch Erkältung, Grippe und Infektionskrankheiten sind an der Tagesordnung.<br />

Gefährdung durch Geschlechtskrankheiten oder HIV sind dagegen - außer <strong>bei</strong><br />

Fixerinnen - seltener, denn wer als Straßenprostituierte auf sich hält, ar<strong>bei</strong>tet<br />

nur mit Schutz.<br />

2. Kfz-Prostitution<br />

Die Kfz-Prostitution ist der Straßenprostitution in Bedingungen und Autonomie<br />

ähnlich. Die Prostituierte fährt <strong>bei</strong>m Autostrich nach dem Aushandeln des Preises<br />

Zu einem nahen Parkplatz oder an einen anderen Ort, wo sie die sexuelle<br />

Handlung vollzieht.<br />

Die Prostituierte ist <strong>bei</strong> dieser Form der Prostitution besonders in Gefahr,<br />

weil sie dem Freier in seinem PKW völlig ausgeliefert ist. In Frankfurt<br />

ar<strong>bei</strong>ten unseres Wissens wenig Frauen in dieser Art von Prostitution; wir vermuten<br />

aber, daß die Zahl wegen der kürzlich in Kraft getretenen Sperrgebietsverordnung<br />

vorübergehend zunehmen wird.<br />

Nach unseren Informationen gibt es in Frankfurt so gut wie keine Fernfahrerprostitution;<br />

auch Prostitution im eigenen PKW ist selten. Die Preise für<br />

diese Formen von Prostitution sind ähnlich wie <strong>bei</strong>m Straßenstrich.<br />

3. Lokalprostitution<br />

Lokalprostitution findet in Frankfurt ebenfalls statt; bestes Beispiel ist das<br />

berühmte Caf Express. Die Frauen halten sich in einem Lokal auf, wo sie vom<br />

Freier angesprochen werden und nach dem Aushandeln der Modalitäten mit ihm<br />

in die Absteige gehen, die entweder gleich über dem Lokal liegt oder aber in<br />

der unmittelbaren Nachbarschaft. Das Sicherheitsrisiko ist im Vergleich zur<br />

Straßen- oder Autoprostitution niedriger, da zumindest das Lokalpersonal mit<br />

aufpaßt. Uber die Preise liegen uns keine genauen Informationen vor, wir wissen<br />

aber, daß der Freier in jedem Fall auch die Absteige bezahlt.


- 205 -<br />

4. Salon prostitution<br />

Die sogenannte Salonprostitution (Clubs, Hostessenwohnungen) wird unter anderen<br />

Bedingungen ausgeübt. Die sexuellen Handlungen finden in einer Wohnung<br />

mit gemütlicher oder luxuriöser Atmosphäre statt; die Kundenwerbung läuft<br />

über Anzeigen oder Mundpropaganda; die Kontaktaufnahme erfolgt telefonisch.<br />

In Frankfurt gibt es ca. 250 solcher Salons.<br />

Viele Salons haben sich auf besondere sexuelle Praktiken spezialisiert,<br />

für die die Kunden von vornherein höhere Preise bezahlen. Im Durchschnitt liegen<br />

aber die Anfangspreise für Normalverkehr mit Schutz <strong>bei</strong> 50,- DM.<br />

Die Wohnungen werden oftmals durch sogenannte "Agenturen" angemietet,<br />

di e dann von den darin ar<strong>bei</strong>tenden Frauen Tagesmieten oder aber die Hälfte<br />

aller erzielten Einnahmen verlangen. In selteneren Fällen mietet eine Frau<br />

sei bst eine Wohnung an und ar<strong>bei</strong>tet allein oder mit ein, zwei Kolleginnen zusammen,<br />

die sich die Unkosten teilen. Hostessenwohnungen werden von den Vermietern<br />

immer höher veranschlagt als vergleichbare Wohnungen, die nicht zur<br />

Prostitution genutzt werden; daher entstehen Unkosten bis zu 4.000,- DM im<br />

Monat, manchmal sogar darüber. Anzeigenkosten sowie Telefon und Betriebsgebühren<br />

gehen immer zu Lasten der Frau. Wenn eine Frau nicht allein in einem<br />

Sal on ar<strong>bei</strong>tet, ist das Sicherheitsrisiko verhältnismäßig klein. Je mehr Frauen<br />

zusammen ar<strong>bei</strong>ten, um so kleiner das Risiko, aber auch um so höher die Unkosten<br />

(höhere Miet- und Anzeigenkosten, Telefongebühren etc.).<br />

Auch in der Salonprostitution haben sehr wenige Frauen einen klassischen<br />

Zuhälter. Trotzdem ist diese Form der Prostitution nur dann autonom in Ar<strong>bei</strong>tszeiten<br />

und -bedingungen, wenn eine Frau all eine in einer Wohnung ar<strong>bei</strong>tet.<br />

Bei mehreren Frauen ist die Ar<strong>bei</strong>tszeit durch Absprache oder Vorgabe<br />

geregelt, Ar<strong>bei</strong>tszeiten bis zu 14 Stunden pro Tag sind die Regel, 7 Stunden<br />

gelten als Teilzeit, der wöchentliche Gang zum Arzt für Geschlechtskrankheiten<br />

(GK) ist obligatorisch, und Atteste werden von den Besitzern oder Betreibern<br />

der Clubs verlangt. Durch das Zusammenar<strong>bei</strong>ten mehrerer Frauen verringert<br />

sich auch die Gefahr für die einzelne Frau. Hochgefährlich ist diese Form<br />

der Prostitution aber, wenn eine Frau allein ar<strong>bei</strong>tet, da sie dann der Freierwillkür<br />

völlig ausgeliefert ist.<br />

Das Risiko für die Gesundheit liegt in der Salonprostitution auf anderer<br />

Ebene, da meistens (trotz AIDS) noch immer ohne Schutz · gear<strong>bei</strong>tet werden


- 206 -<br />

muß (Kundenwunsch). Geschlechtskrankheiten wie Tripper sind häufiger anzutreffen<br />

als in der Straßen- oder PKW-Prostitution, und Pilze sind an der Tagesordnung.<br />

Diese Frauen müssen daher häufiger Antibiotika nehmen, was Resistenzen<br />

zur Folge hat. Die Freier übertragen die Krankheiten und sind in den<br />

meisten Fällen auch noch beleidigt, wenn Frauen sie darauf ansprechen, doch<br />

zum Arzt zu gehen und z.B. gegen Pilze etwas zu unternehmen.<br />

5. Prostitution in der Animierbar<br />

In Animierbars ar<strong>bei</strong>ten Prostituierte in der Regel auf der Basis von Trinkprozenten,<br />

d.h. es wird nicht explizit die sexuelle Leistung verkauft, sondern Getränke<br />

mit erheblichem Aufpreis, in denen die sexuelle Bedienung eingeschlossen<br />

ist. Die Frauen haben in Bars ein Pseudo-Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis, Ar<strong>bei</strong>tszeiten<br />

und -bedingungen werden vorgegeben. Meistens ist sogar vorgeschrieben, wie<br />

sich die Frauen zu kleiden haben. Die Ar<strong>bei</strong>tszeit beträgt in der Regel 12-14<br />

Stunden.<br />

Die Trinkprozente belaufen sich entweder auf ein Drittel des mit dem einzel<br />

nen Gast gemachten Umsatzes oder aber auf die Hälfte. Preise für einzelne<br />

sexuel le Handlungen werden nicht mit dem Gast besprochen, vielmehr gibt es<br />

barinterne Vorschriften, wieviel der Gast für ein bestimmtes Getränk "machen<br />

darf" und wieviel Zeit ihm dafür zur Verfügung steht, z.B. für einen Pikkolo<br />

oder sogenannten Cocktail "darf" er die Frau an der Brust anfassen sowie ein<br />

bißchen tätscheln, oberhalb der Kleidung, versteht sich. Nach zehn Minuten ist<br />

ein neuer Pikkolo fällig oder man zieht sich mit einer Flasche Sekt ins Separee<br />

oder in ein Zimmer zurück. Ein Pikkolo oder Cocktail kostet zwischen zwanig<br />

und fünfzig Mark (Anfangspreis).<br />

Die gesundheitlichen Risiken liegen ähnlich wie in der Salonprostitution,<br />

sind aber oft auch ausgedehnt auf Blasen-, Nieren- und Unterleibsleiden, da oft<br />

nur Tangahöschen oder Badeanzüge als Ar<strong>bei</strong>tskleidung zugelassen sind und man<br />

sich trotz relativ hoher Innentemperaturen leicht Erkältungen zuzieht.<br />

Animierbars, sei bst mit Zimmerbetrieb, haben für die Frauen das geringste<br />

Sicherheitsrisiko, weil immer jemand da ist, der auf die Frauen achtet und<br />

auch kontrolliert, wenn eine Frau zu lange mit dem Gast auf dem Zimmer<br />

bleibt. Trotzdem kann es vorkommen, daß eine Frau angegriffen wird.


- 207 -<br />

6. Bordelle<br />

Bordelle sind in Frankfurt offiziell nicht vorhanden, sondern werden "Dirnenwohnheime"<br />

genannt. Das bedeutet, daß jede Frau, die in einem solchen Wohnheim<br />

ar<strong>bei</strong>tet, sich polizeilich dort anzumelden hat, ob das nun ihr ständiges<br />

Domizil ist oder nicht.<br />

Die Frauen in den "Wohnheimen" haben Tagesmieten zu bezahlen, die pro<br />

Zimmer und Tag in Frankfurt 180,- DM und mehr betragen, sieben Tage die<br />

Woche, wohlgemerkt. Diese Tagesmieten werden von den sogenannten Wirtschaftern,<br />

die auch Rausschmeißer- oder Beschützerfunktion haben, für den<br />

oder die Betreiber kassiert. Kann eine Frau drei Tage nicht bezahlen, wird sie<br />

auf die Straße gesetzt und in den meisten Fällen ihr persönlicher Besitz einbehalten.<br />

Ebenso ist in der sogenannten "Kantine" eine Verzehrpflicht obligatorisch,<br />

der sogenannte "Block". Block muß man bezahlen, ob man verzehrt oder<br />

ni cht. Die Preise in den Kantinen sind meist sehr hoch, z.B. kostet ein Becher<br />

Frucht joghurt 5,- DM. Zu diesen Unkosten kommt noch das Trinkgeld für die<br />

Wirtschafter, das ebenfalls obligatorisch ist. Dafür haben aber die Frauen<br />

Alarmknöpfe auf den Zimmern, die <strong>bei</strong> Gefahr oder Meinungsverschiedenheiten<br />

mit den Kunden sofort die Wirtschafter auf den Plan rufen.<br />

Im Gegensatz zur Salon- oder Barprostitution darf der Kunde sich keinerlei<br />

Freiheiten mit der Frau herausnehmen, jede noch so kleine Handlung wird<br />

extra bezahlt, z.B. das Ausziehen des BHs. Es wird ein Grundpreis veranschlagt,<br />

der von allen Frauen zumindest offiziell eingehalten wird; im Auenblick<br />

beträgt er 40,- DM für Normalverkehr mit Schutz. Normalverkehr heißt in<br />

diesem Falle: es zieht sich keiner aus und der Kunde hat 5-10 Minuten Zeit.<br />

Da die täglichen Unkosten der einzelnen Frau bis zu 250,- DM betragen,<br />

sind Ar<strong>bei</strong>tszeiten bis zu 20 Stunden pro Tag keine Seltenheit. Wird eine Frau<br />

krank oder will sie in Urlaub fahren, muß sie trotzdem ihre Tagesmiete bezahlen,<br />

die allerdings nach drei Tagen Abwesenheit verringert wird. Trotzdem kostet<br />

Abwesenheit die Frauen Geld, das sie nach Rückkehr erst erar<strong>bei</strong>ten müssen.<br />

In den Wohnheimen kann eine Frau selbstverständlich auch ohne eigenen<br />

Zuhälter ar<strong>bei</strong>ten, trotzdem dominiert dort der "klassische" Zuhälter.<br />

Der wöchentliche Gang zum Arzt ist obligatorisch, da das Gesundheitsamt<br />

gerade die Bordelle streng überwacht. Da in den Wohnheimen sehr viel mit<br />

Schutz gear<strong>bei</strong>tet wird, ist das eigentlich überflüssig.


- 208 -<br />

7. Callgirls<br />

Eine zunehmende Form der Prostitution in Frankfurt ist das Callgirl-System.<br />

Diese Form der Prostitution ist ziemlich autonom, aber gefährlich. Ein Kunde<br />

ruft in einer sogenannten Agentur an und bestellt sich eine Frau zu einer bestimmten<br />

Adresse oder er geht selbst zu der Agentur, wo er nach Photokatalog<br />

seine "Wunschfrau" aussucht. Die Agentur ruft die Ausgewählte an und sie begibt<br />

sich an die angegebene Adresse.<br />

Bei dieser Form der Prostitution ist die einzelne Frau meist mehr gefordert,<br />

denn in der Regel werden nicht nur sexuelle Dienstleistungen gewünscht,<br />

sondern auch Gespräche. Mit der Agentur werden die Zahlungsmodalitäten ausgehandelt;<br />

derzeit kostet eine Stunde mit einem Callgirl etwa 300,- DM plus<br />

Kosten der Anfahrt. Davon erhält die Frau zwei Drittel oder die Hälfte.<br />

Der Vorteil dieser Art von Prostitution ist, daß eine Frau sie in ihrer Privatwohnung<br />

ausüben kann; sie braucht sich nicht einmal <strong>bei</strong>m Gesundheitsamt<br />

registrieren zu lassen, da selten nachgewiesen werden kann, daß eine Frau<br />

sexuelle Dienstleistungen verkauft. Viele Frauen machen dies nur nebenberuflich,<br />

nehmen ein oder zwei Termine pro Woche an, so daß sie weiter in ihr normales<br />

gesellschaftliches , Umfeld eingebunden bleiben. Callgirls gehen daher<br />

auch nicht regelmäßig zur GK-Untersuchung, um <strong>bei</strong>m Gesundheitsamt nicht<br />

aufz ufall en.<br />

Der Nachteil dieser Art Prostitution ist, daß sie hochgefährlich ist, weil<br />

die Frau nie weiß, ob sie von einer Adresse auch wieder wegkommt. Obwohl<br />

die Agentur Namen und Adresse eines Kunden so genau wie möglich überprüft,<br />

ist das Sicherheitsrisiko enorm. Trotzdem vermuten wir, daß nach Inkrafttreten<br />

der neuen Sperrgebietsverordnung . diese Form der Prostitution zunehmen<br />

wird.<br />

Zusammenfassend kann man sagen, daß Prostitution in der Bundesrepublik<br />

zwar nicht illegal, aber auch in keiner Weise geschützt ist. Selbst das Wort<br />

"Prostitution" ist kein eindeutiger Begriff. Frauen, die in der Prostitution ar<strong>bei</strong>ten,<br />

bewegen sich in einer juristischen Grauzone. Die Ar<strong>bei</strong>t der Prostitutierten<br />

ist zwar einerseits erwünscht aus den verschiedensten Gründen, sie soll<br />

aber im wesentlichen ihre gesellschaftliche Sündenbockfunktion behalten. , Wer<br />

sich sachlich mit dem gesellschaftlichen Phänomen der Prostitution auseinandersetzen<br />

will, kommt leicht in den Verdacht, selbst ein Freier oder "so eine"


- 209 -<br />

zu sein, darum findet sich auch in den Reihen der Politiker kaum einer, der für<br />

den Schutz von Prostituierten eintritt oder es gar wagt, sich für ar<strong>bei</strong>tsrechtliche<br />

Forderungen Prostituierter einzusetzen.<br />

Staatliche Lenkung und Regelung findet nur zum Vorteil der Besitzer von<br />

Etablissements statt, und die gesundheitliche Uberwachung der Frauen wird<br />

dazu benutzt, schwerwiegende Eingriffe in ihre Menschenrechte vorzunehmen.<br />

die Unverletzlichkeit der Wohnung einer Prostituierten ist nicht gewährleistet,<br />

ebensowenig wie ihre sexuelle Sel bstbestimmung oder die Freizügigkeit.<br />

Die eigentlich Betroffenen von Sperrgebietsverordnungen zum "Schutze der<br />

Jugend und des öffentlichen Anstandes", die Frauen nämlich, werden vor Erlaß<br />

einer Sperrgebietsverordnung gar nicht erst gehört, sind aber die Betroffenen<br />

der sogenannten Rechtsfolgen: " Wer der Prostitution nachgeht und da<strong>bei</strong> gegen<br />

diese Verordnung verstößt, handelt ordnungswidrig" (§ 120 Abs. 1 Nr. 1<br />

OWiG). Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu DM l.000,-­<br />

geahndet werden. (Vgl. Information zur Sperrgebietsverordnung für Frankfurt<br />

am Main "Rechtsfolgen" StGB v. 1.8.1986) "Der vorgenannte Höchstbetrag der<br />

Geldbuße kann sich außerdem um den aus der verbotenen Prostitutionsausübung<br />

erzielten Gewinn erhöhen." Da<strong>bei</strong> drängen sich zu diesem Zitat folgende Fragen<br />

auf: Wie wohl verdient eine Frau 1.000,- DM Bußgeld? Oder warum soll sie ihren<br />

"Dirnenlohn" dem Staat noch obendrein als "Bußgeld" in den Rachen werfen?<br />

Im Strafgesetzbuch steht unter § 181a, daß der bestraft wird, der "einen<br />

anderen, der der Prostitution nachgeht, ausbeutet oder seines Vermögensvorteils<br />

wegen einen anderen <strong>bei</strong> der Ausübung der Prostitution überwacht,<br />

Ort, Zeit, Ausmaß oder andere Umstände der Prostitutionsausübung bestimmt<br />

•••" Ist Bußgel d infolge von willkürlich geschaffenen Verordnungen etwas anderes<br />

als Ausbeutung?<br />

Verordnungen und Reglementierungen dienen also bislang nicht zum Schutz<br />

von Prostituierten, sondern unterstreichen ihre allgemeine Ausbeutbarkeit. Daraus<br />

resultiert die erste unserer Forderungen überhaupt: Abschaffung aller<br />

Sperrgebiete!! !


- 210 -<br />

F O R D E R U N G E N<br />

(der Prostituierten vom 1. Deutschen Hurenkongreß in Berlin,<br />

Oktober 1986)<br />

1. Gleichberechtigung für Prostituierte.<br />

2. Anpassung der Moralvorstellungen an die gesellschaftliche Realität, d.h.<br />

Uberprüfung des rechtlichen Begriffs der Sittenwidrigkeit und gewerblichen<br />

"Unzucht" im Zusammenhang mit Prostitution.<br />

3. Aufhebung des Verbots gegen die Werbung für die Prostitution.<br />

Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.<br />

5. Anerkennung der Prostitution als Dienstleistung.<br />

6. Abschaffung der Diskriminierung von Prostituierten <strong>bei</strong> Verfahren wegen<br />

Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung.<br />

7. Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung.<br />

8. Aufhebung jeglicher Registrierung, Reglementierung, Kontrolle und Speicherung<br />

in Dateien der Polizei, des Landes- und Bundeskriminalamtes, der<br />

Gesundheitsbehörden.<br />

9. Wir lehnen es grundsätzlich ab, daß Prostituierte wegen ihrer Tätigkeit<br />

er kennungsdienstlich behandelt werden.<br />

10. Abschaffung der Sperrgebietsverordnung.<br />

11. Sofortige Einstellung aller Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen<br />

verbotener Prostitution und Verstoß gegen di e Sperrgebietsverordnung.<br />

12. Keine Zusammenar<strong>bei</strong>t zwischen Gesundheitsamt und Polizei.<br />

13. Einhaltung der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Person durch die<br />

Polizei.<br />

14. a) Abschaffung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,<br />

weil es nur zu Lasten der Prostituierten praktiziert wird.<br />

b) Schaffung von frei willigen und kostenlosen Untersuchungs-, Beratungsund<br />

Behandl ungsmöglichkeiten.<br />

c) Abschaffung der Pflicht-Bockscheine (Kontroll karten).<br />

15. Aufhebung der Landesverordnungen, in denen keine freie Arztwahl besteht.<br />

16. Aufhebung der Nachweispflicht <strong>bei</strong> Beendigung der Prostitutionstätigkeit.<br />

17. Kostenlose, anonyme und frei willige HTL V-III-Tests auch für Prostituierte.<br />

18. Staatliche Maßnahmen zur Aufklärung über sichere Sexualpraktiken besonders<br />

für Männer.<br />

19. Staatliche Fördermaßnahmen für Frauen, die aussteigen wollen (z.B. Umschulungsfonds).<br />

20 . Keine Diskriminierung von Ex-Prostituierten im Geschäfts-, Berufs- und<br />

Privatleben.<br />

21 . Staatliche Unterstützung von Prostituierten-Sel bsthilfegruppen und finanzi<br />

elle Förderung ohne Auflagen für nationale Treffen.<br />

22 . Steuerfreiheit für Prostituierte, solange ihre Bürgerrechte beschnitten<br />

sind.<br />

4.


- 211 -<br />

Heide Simon<br />

DAS GESCH}\FT MIT DER "EXOTIK,, 1<br />

Prostitution gilt nicht als Beruf. Als Erwerbstätigkeit wird sie nur angesehen,<br />

we nn Steuern gezahlt werden sollen oder Sozialhilfe beansprucht wird. Das hat<br />

zur Folge, daß Prostituierte keine Möglichkeit haben, sich gewerkschaftlich zu<br />

organisieren, auch können sie sich unter diesem "Beruf" weder kranken- noch<br />

sozial versichern lassen. Prostitution ist in Deutschland nicht verboten; sie wird<br />

geduldet. Diese Duldung schafft Unsicherheiten und läßt wenig Motivation aufkommen,<br />

gemeinsam für bessere Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, für mehr Rechte und bessere<br />

Ausstiegschancen zu kämpfen. Die meisten Frauen sind schon froh, daß sie<br />

ni cht unter Verbot gestellt werden: sich gegen Ungerechtigkeit, Mißstände und<br />

Dis kriminierung aufzulehnen, liegt eher jenseits ihrer Perspektive. Das sieht in<br />

ei nigen westlichen Ländern, in denen Prostitution verboten und verfolgt wird,<br />

anders aus. Ich erinnere an die Besetzung einer Kirche durch Prostituierte in<br />

London im November 1982, die Aktivitäten und Proteste der italienischen Prosti<br />

tuierten und den Hungerstreik der Pariser Frauen gegen Diskriminierung und<br />

polizeiliche Verfolgungen.<br />

Aber auch in Berlin und einigen westdeutschen Großstädten gibt es seit<br />

ein paar Jahren Zusammenschlüsse von Prostituierten, die mit Hilfe anderer<br />

Frauen allmählich beginnen, die Gesellschaft, anders als es die Medien gewöhnlich<br />

tun, auf sich aufmerksam zu machen, Forderungen zu stellen und ein eigenes<br />

Selbstverständnis zu entwickeln.<br />

Wenn sich di ese positiven Ansätze, auf die ich am Schluß des Berichts<br />

noch näher eingehen werde, weiter entwickeln und die Beratungsstellen es als<br />

eine ihrer Aufgaben sehen, die Frauen in diesen Bemühungen zu unterstützen,<br />

besteht Aussicht auf Veränderung.<br />

Die ausländischen Prostituierten in Deutschland unterliegen nicht nur<br />

schwerwiegenderen Problemen als ihre deutschen Kolleginnen, sie haben zudem<br />

sehr viel weniger Aussicht auf Verbesserung ihrer Lage: Prostitution ist für<br />

sie verboten. In § 10 Absatz 1 des Ausländergesetzes heißt es: "Ein Ausländer<br />

kann ausgewiesen werden, wenn ••• 8. er bettelt, der Erwerbsunzucht nachgeht<br />

•••<br />

9. er die öffentliche Gesundheit oder Sittlichkeit gefährdet ••• ". Allerdings


- 212 -<br />

wird in Berlin überwiegend der § 11 des Ausländergesetzes mit hinzugezogen,<br />

nach dem die oben aufgeführten Gründe nur dann zu einer Ausweisung führen,<br />

wenn sie besonders schwerwiegend sind. In der Praxis heißt das, eine ausländische<br />

Frau kann dann ausgewiesen werden, wenn zusätzlich zur Prostitution<br />

noch ein anderer Grund, z.B. illegaler Aufenthalt oder der Verstoß gegen eine<br />

Vorschrift des Aufenthaltsrechts, hinzukommt.<br />

Daß Prostitution für sie in der Bundesrepublik einschließlich Berlin verboten<br />

ist, hält Frauen aus Ghana, aus der Dominikanischen Republik, aus Polen,<br />

aus Thailand und anderen Ländern nicht ab, ausschließlich zu diesem Zweck<br />

hierherzukommen. Die Ursachen liegen in der Regel an den äußerst schlechten<br />

wirtschaftlichen Verhältnissen der Herkunftsländer , in denen zum Teil Frauen<br />

so gut wie keine Chancen haben, bezahlte Ar<strong>bei</strong>t zu finden.<br />

Ich beschränke mich in den folgenden Ausführungen auf die thailändischen<br />

2<br />

Frauen. Sie sind die z.Z. größte Gruppe ausländischer Prostituierter in Ber-<br />

!in. Bei anderen ausländischen Frauen sind die Bedingungen vergleichbar.<br />

1. Unterentwicklung und Prostitution<br />

Die thailändische Frau hat traditionel l verantwortlich für die Familie zu sorgen.<br />

Sie war und ist diejenige, die das Feld bestellt, für Nahrung und Kleidung<br />

sorgt und die Großfamilie zusammenzuhalten hat. Durch die Entwicklungsstrategie,<br />

die Thailand seit einem Vierteljahrhundert verfolgt, indem zur Anwerbung<br />

internationalen Kapitals das Land für exportfähige Agrarprodukte ausgebeutet<br />

wird und dem kleinen Bauern für den Eigenbedarf kaum noch etwas übrig<br />

bleibt, ist die Kluft im Einkommen und in den sozialen Möglichkeiten zwischen<br />

Stadt und Land unüberbrückbar groß geworden. Das wiederum schafft die Voraussetzungen<br />

für die Migration besonders der Frauen aus den ländlichen Regionen,<br />

wo<strong>bei</strong> sie jedoch aufgrund der katastrophalen Ar<strong>bei</strong>tsmarktlage keinerlei<br />

Chancen haben, in den Städten Ar<strong>bei</strong>t zu finden. So bleibt ihnen in der Regel<br />

keine andere Wahl, als durch Prostitution für den Unterhalt der Familie zu sorgen.<br />

Sie fliehen also nicht vor ihrer Familie oder dem ländlichen Milieu (80%<br />

al ler Prostituierten kommen aus ländlichen Gegenden), um der herkömmlichen<br />

Unterdrückung der Frauen zu entkommen. Ihnen ist vielmehr daran gelegen, die<br />

familiäre Einheit zu .stützen, deren ländliche Ökonomie unter zunehmendem


- 213 -<br />

Druck steht. Daraus resultiert der enorme Zuwachs an thailändischen Prostituierten<br />

auch in der Bundesrepublik. Der Sextourismus, die zweifelhaften Heiratsvermittl<br />

ungen und die in Aussicht gestellten guten Verdienstmöglichkeiten motivieren,<br />

trotz der äußerst schwierigen Umstände wie Ausnutzung durch Anwerber<br />

, Mittelsmänner und Bar- und Salonbesitzer sowie Krankheiten und Einsamkeit,<br />

den Schritt zu diesem Unternehmen.<br />

Etwa zwei Drittel der Frauen, die nach Berlin kommen, sind in Thailand<br />

schon der Prostitution nachgegangen. In letzter Zeit reisen immer mehr Frauen<br />

ein, die direkt aus den ländlichen Gebieten Nordthailands angeworben und nach<br />

Berlin gebracht worden sind, ohne daß sie Vorerfahrungen im Bereich Prostitution<br />

hatten. Die verlockenden Versprechungen, hier könne man mehrere 100 DM<br />

in einer Nacht verdienen, haben sie zu diesem Schritt bewogen, der sie allerdi<br />

ngs in Thailand bereits mindestens 5000 DM gekostet hat. Die wenigen Frauen,<br />

die völlig ahnungslos nach Berlin kamen, weil man ihnen Ar<strong>bei</strong>t im Restaurant<br />

oder Haushalt zugesagt hatte, konnten oftmals mit unserer Hilfe relativ<br />

rasch nach Thailand zurückkehren.<br />

Das Geschäft wickelt sich in der Regel so ab, daß die Frauen in Thailand<br />

über entsprechende Agenten angeworben werden. Sie bekommen Paß und Flugticket<br />

und zahlen dafür, einschließlich einer Vermittlungsgebühr, 5000 DM. Um<br />

dieses Gel d aufzubringen, müssen sie entweder einen hochverzinslichen Kredit<br />

aufnehmen oder aber ihr kleines Reisfeld oder Haus mit einer ebenso hoch verzinslichen<br />

Hypothek belasten. Oft werden auch Ersparnisse von Familienangehörigen<br />

zusammengetragen, wo<strong>bei</strong> verheimlicht wird, daß der aussichtsvolle Gelder<br />

werb in Deutschland durch Prostitution erreicht werden soll.<br />

Ein anderer Weg, der zunächst für die Frauen der leichtere zu sein<br />

scheint, ist der, daß ihnen das Hin- und Rückflugticket von Berlin aus zugeschickt<br />

wird, sie den Paß direkt am Flughafen in Bangkok ausgehändigt bekommen<br />

(dieser ist nur selten mit ihrem Namen identisch) und dann hier die Summe<br />

von 5000 DM "abar<strong>bei</strong>ten" müssen. Auch hier ist eine Vermittlungsgebühr enthalten.<br />

In Berlin-Schönefeld (DDR) werden die Frauen von Mittelsmännern in Empfang<br />

genommen und, um einer zu befürchtenden Zurückweisung durch die Berliner<br />

Polizei behörden zu entgehen, über den von disen nicht kontrollierbaren<br />

S-Bahnhof Friedrichstraße in entsprechende Etablissements gebracht.


- 214 -<br />

Die Frauen halten sich mit dem Status "Touristinnen" hier auf. Werden<br />

sie jedoch in Salons oder Bars <strong>bei</strong> Razzien der Polizei angetroffen, ist der Tatbestand<br />

der Prostitution klar. Kommt dann dazu, daß die Frauen nicht polizeilich<br />

gemeldet sind oder über die erlaubten 3 Monate des Touristenaufenthalts<br />

hinaus sich hier aufhalten, ist eine Ausweisung bzw. Aufforderung zum sofortigen<br />

Verlassen Berlins unumgänglich.<br />

Bei wiederholtem Antreffen durch die Polizei ist auch Abschiebehaft möglich.<br />

Die unterschiedlichen Verfahrensweisen von Polizeibeamten aus speziellen<br />

Zuständigkeiten (z.B. Kripo, Gewerbeaußendienst) verunsichern die Frauen zusätzlich;<br />

sie leben in ständiger Angst, von der Polizei entdeckt zu werden.<br />

2. Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensbedingungen in Berlin<br />

Thailänderinnen ar<strong>bei</strong>ten ausschließlich in Bars, Salons und sogenannten Apartments.<br />

Die Frauen, die das erste Mal nach Berlin kommen, sind dem Bar- oder<br />

Salonbesitzer , deren Helfer oder Helferinnen ausgeliefert. Ihnen wird in der<br />

Regel nach ihrer Ankunft das Flugticket abgenommen, in Einzelfällen auch der<br />

Reisepaß, mit dem Hinweis, <strong>bei</strong>des sei so lange Eigentum des "Chefs", bis die<br />

vorgestreckte Summe von 5000 DM abgear<strong>bei</strong>tet sei. Regelmäßig steht diesen<br />

Frauen in der Ubergangszeit kein Geld zur Verfügung. Sie leben mit mehreren<br />

Frauen zusammen in von den Salon besitzern angemieteten Wohnungen oder in<br />

den Salons selbst. Sie müssen sich zu vier bis fünf Personen ein Zimmer teilen<br />

mit oftmals nicht mehr als zwei Betten. Die Wohnungen haben Kochmöglichkeiten;<br />

die Lebensmittel werden ihnen gestellt, da Bargeld zunächst nicht zur<br />

Verfügung steht. Das bedeutet auch; daß die Frauen so gut wie nie ihre Unterkünfte<br />

verlassen. Die Unkosten für Unterkunft und Verpflegung werden den<br />

Frauen in Rechnung gestellt und ebenfalls von dem erar<strong>bei</strong>teten Geld abgezogen.<br />

Da die meisten Etablissements, in denen thailändische Frauen ar<strong>bei</strong>ten,<br />

Tag und Nacht geöffnet haben, müssen auch die Frauen stets zur Verfügung<br />

stehen. Sie bekommen äußerst wenig Schlaf; wird er nicht durch Kunden, die<br />

sofort bedient werden wollen, gestört, so ist es die Unruhe, die zwangsläufig<br />

entsteht, wenn mehrere Menschen auf engstem Raum zusammenleben. Viele


- 215 -<br />

Frauen beklagen sich zudem über ungeheizte oder nur dürftig warme Schlafräume.<br />

Die meisten Salons haben Verbindung untereinander, so daß die Frauen<br />

damit rechnen müssen, von einem Salon in den anderen abgegeben zu werden.<br />

Es kann durchaus passieren, daß eine Frau jeden Tag/Abend in einem anderen<br />

Salon ar<strong>bei</strong>ten muß. Sie verliert dadurch den Kontakt zu den anderen thailändischen<br />

Frauen, ist noch mehr der Willkür der verschiedenen Chefs ausgeliefert<br />

und verliert auch die örtliche Orientierung.<br />

Nach längerem Aufenthalt und bezahlten Schulden bemühen sich die Frauen,<br />

dort zu ar<strong>bei</strong>ten, wo sie am meisten verdienen können, ob die Salons edel<br />

sind oder nicht, spielt keine Rolle. In Kreuzberg oder Wedding läuft das Geschäft<br />

aufgrund der vielen Türken wie am Fließband. Generell verdienen die<br />

Frauen in den Billigpuffs 30-60 DM pro Freier und geben im Schnitt die Hälfte<br />

davon an die Puffbesitzer ab. Die Verdienstmöglichkeiten der Frauen verschlechtern<br />

sich allerdings zunehmend, denn trotz rückläufiger Nachfrage reisen<br />

täglich neue Frauen hier an.<br />

Thailändische Frauen, denen man unterstellt, als "Exotinnen" für "liebesdienste"<br />

besonders geeignet zu sein, passen sich vorübergehend dem Anspruch,<br />

den die Kunden daraus erheben, an. Abgesehen davon, daß sie jeden Freier<br />

nehmen müssen, verfügen sie auch nicht über die Möglichkeit, sich verbal oder<br />

körperlich gegen "Sonderwünsche" zu wehren; im Unterschied zu ihren deutschen<br />

Kolleginnen und den Frauen aus anderen europäischen Ländern, die sich<br />

den Kunden gegenüber sehr viel zurückhaltender und berechnender verhalten<br />

und sich "teurer verkaufen", stehen sie für wenig Geld fast uneingeschränkt<br />

zur Verfügung.<br />

Das macht sie sicher auch teilweise zu Konkurrentinnen der deutschen<br />

Frauen. Daher gibt es kaum Salons oder Bars, in denen deutsche Frauen mit<br />

thailändischen Frauen zusammenar<strong>bei</strong>ten, zumal immer mehr Bar- und Salonbesitzer<br />

sich diese "Eigenschaften" zunutze machen und thailändische Frauen den<br />

deutschen Frauen vorziehen. Als "Geldquelle" sind sie unproblematischer als<br />

ihre deutsche Kolleginnen, da sie sich gegen Ausbeutung und Ausnutzung weniger<br />

zur Wehr setzen.<br />

Wie die Frauen selbst ihre Ar<strong>bei</strong>t wahrnehmen, ist schwer einzuschätzen,<br />

denn sie äußern sich dazu nicht. Es kennzeichnet ihr Verhalten, sich klaglos<br />

der Situation anzupassen, sie irgendwie hinzunehmen, wenn sie sich einmal da-


- 216 -<br />

zu entschlossen haben, als Prostituierte zu ar<strong>bei</strong>ten. Anders reagieren nur die<br />

Frauen, die getäuscht und in die Prostitution gezwungen worden sind. Für sie<br />

bricht - und das auch nach außen sichtbar - eine Welt zusammen. Das Verhältnis<br />

zu ihrer Ar<strong>bei</strong>t macht sich - vordergründig gesehen - am Geld fest, das sie<br />

benötigen, um ihre Familie zu ernähren. Thailändische Frauen sind, wenn sie<br />

aus den ländlichen Gebieten Thailands kommen, religiös oft stark gebunden.<br />

Prostitution ist in Thailand verboten und ein Verstoß gegen religiöse Glaubenssätze.<br />

Die Frauen leben demnach ständig unter einem religiösen Zwang, aus<br />

de m sie sich nur befreien können, indem sie, ungeachtet ihrer eigenen Bedürfnisse,<br />

Gutes tun. Die Erfüllung der Pflicht, als Frau für die Familie zu sorgen,<br />

wird somit gleichzeitig zur Sühne für die Ubertretung der religiösen Glaubenssätze.<br />

Neben dem finanziellen Bezug kommt es in vereinzelten Fällen auch vor,<br />

daß eine Frau Bestätigung ihrer äußeren Schönheit durch Kunden erfährt; das<br />

stabilisiert aber kaum ihr Selbstbewußtsein.<br />

Wenn die Frauen auch keinen Einblick in ihr "Innenleben" gewähren,<br />

spricht doch ihr körperlicher Zustand eine deutliche Sprache. Die gesundheitliche<br />

Verfassung der thailändischen Frauen ist oftmals alarmierend. Die klimatische<br />

Umstellung, die beängstigenden und undurchschaubaren Situationen in der<br />

für sie neuen und unbekannten Umgebung und die Unterkunfts verhältnisse sind<br />

Ursachen für psychosomatische Krankheitsbilder. Die Frauen reagieren mit<br />

Schlafstörungen und Kopfschmerzen; sie leiden verstärkt unter Erkältungskrankheiten<br />

oder Magenschmerzen. Sie müssen zwangsläufig Alkohol trinken,<br />

den sie nicht gewohnt sind. Oft haben sie Hautkrankheiten (mehrfach allergischer<br />

Natur), die ihr Wohlbefinden stark beeinträchtigen. Mehr als deutsche<br />

Frauen werden sie mit Geschlechtskrankheiten infiziert, da sie sich aufgrund<br />

von Verständigungsschwierigkeiten und unter dem Druck der Chefs nicht dagegen<br />

wehren können, jeden Kunden nehmen zu müssen, oder nicht durchsetzen<br />

können, nur mit Kondom zu ar<strong>bei</strong>ten.<br />

Der Schutz vor Schwangerschaft ist ein grundsätzliches Problem. Die<br />

Frauen sind in Thailand wenig über Verhütungsmethoden aufgeklärt. Die 3-Monats-Spritze,<br />

die in Deutschland nur unter Vorbehalt abgegeben wird, in einigen<br />

an deren westlichen Ländern sogar verboten ist, wird den thailändischen Frauen<br />

in ihrer Heimat ohne die erforderlichen Informationen über Schutz dauer und die<br />

negativen gesundheitlichen Auswirkungen verabreicht. Viele thailändische Frau-


- 217 -<br />

en leiden hier unter erheblichen Unterleibsbeschwerden und sind nur unzureichend<br />

vor Schwangerschaften geschützt.<br />

3. Perspektiven<br />

Die geschilderten Mißstände, unter denen ausländische Frauen leben, wenn sie<br />

hier der Prostitution nachgehen, verdeutlichen, daß diese Ar<strong>bei</strong>t insbesondere<br />

der thailändischen Frauen keinerlei Chancen hat, eine Erwerbsmöglichkeit in<br />

einem geschützten Rahmen und mit der größtmöglichen Sicherheit für körperliche<br />

und psychische Unversehrtheit zu werden. Trotzdem streben die meisten<br />

der thailändischen Frauen einen längeren Aufenthalt an, um die entstandenen<br />

Schulden decken und auch weiterhin Geld nach Thailand schicken zu können.<br />

Daz u reicht in der Regel der 3monatige Touristenaufenthalt nicht aus. Sie bleiben<br />

ill egal hier, in der Hoffnung, von der Polizei nicht erfaßt zu werden, oder<br />

sie streben die Heirat mit einem deutschen Mann an. Letzteres wird auch als<br />

eine mögliche Zukunftsperspektive gesehen. Eine thailändische Prostituierte hat<br />

in ihrer Heimat keine Chancen, geheiratet zu werden. Mit einer Heirat hier<br />

erhoffen sich viele Frauen ein gesichertes Leben und die Möglichkeit, ihre<br />

Familien in Thailand weiterhin unterstützen zu können. Das ist in den meisten<br />

Fällen unrealistisch. Selbst wenn sie heiraten, sind die Ehemänner selten bereit,<br />

eine Familie in Thailand mitzuernähren und erlauben ihren Frauen auch<br />

nicht mehr, der Prostitution nachzugehen.<br />

Von einem besseren, angenehmeren Leben träumen Menschen, die in ihrer<br />

Tätigkeit unterdrückt und ausgebeutet werden. Bei den meisten Prostituierten<br />

kommt noch das Bewußtsein hinzu, einer von der Gesellschaft verachteten Erwerbstätigkeit,<br />

der sogenannten "gewerblichen Unzucht", nachzugehen. Für die<br />

Frauen ist es sehr schwer, entweder die Prostitution für sich zu bejahen bzw.<br />

sie als eine von vielen Möglichkeiten zur Unterhaltssicherung anzusehen oder<br />

aber den Ausstieg zu finden.<br />

So komme ich zum Schluß noch einmal auf die Initiativen von und mit Prosti<br />

tuierten zurück, in denen ich die einzige Möglichkeit sehe, eine Verbesserung<br />

für die Frauen in Gang zu bringen. Bei den ausländischen Frauen kann<br />

dies nur bedeuten, ihnen die Zeit ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik zu<br />

erleichtern. Wir versuchen dies in unserer Beratungsstelle, indem wir ihnen


- 218 -<br />

Raum schaffen, sich untereinander in einer angstfreien und geschützten Umgebung<br />

zu treffen, selbst offen sind für ihre Probleme und versuchen, ihnen zu<br />

helfen. Da<strong>bei</strong> ist wichtig für sie zu wissen, daß wir weder mit der Polizei noch<br />

mit der Ausländerbehörde zusammenar<strong>bei</strong>ten. Das gilt genauso für alle anderen<br />

Besucherinnen und Besucher unserer Beratungsstelle, insbesondere für alle Prosti<br />

tuierten.<br />

Neben unseren Pflichtaufgaben, die Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen,<br />

indem wir sehr viel Öffentlichkeits- und Aufklärungsar<strong>bei</strong>t machen, sehen wir<br />

es als eine unserer wichtigsten Aufgaben an, mit den Prostituierten, mit<br />

HYDRA (Treffpunkt und Beratung für Prostituierte) und den Initiativen in<br />

Westdeutschland, gemeinsam Grundsatzprobleme wie Diskriminierung, unzureichende<br />

soziale Voraussetzungen und Perspektiven, ungerechtfertigte Kontrollen<br />

und daraus nachfolgende Maßnahmen auch grundsätzlich anzugehen. Dazu bedarf<br />

es politischen und sozialen Engagements, das dringend <strong>bei</strong> den Prostituierten,<br />

den Sozialar<strong>bei</strong>tern in den Beratungsstellen und anderen Frauen gemeinsam<br />

entwickelt werden muß.<br />

ANMERKUNGEN<br />

Dieser Beitrag stützt sich auf Erfahrungen, die in 15jähriger Ar<strong>bei</strong>t als Sozialar<strong>bei</strong>terin<br />

in der Beratungsstelle Berlin-Charlottenburg gewonnen wurden.<br />

Die Beratungsstelle bietet allen Prostituierten Untersuchungen und Behandlung<br />

von sexuell übertragbaren Krankheiten sowie Gespräche und Hilfen<br />

an. Wir Mitar<strong>bei</strong>terinnen haben in einem längeren Prozeß von Kontrolle und<br />

Zwangsmaßnahmen gegen Prostituierte Abstand nehmen können; dadurch entwickelte<br />

sich ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis und entstanden enge<br />

Kontakte, <strong>bei</strong>des Voraussetzungen, um über die Frauen situationsgerecht zu<br />

berichten. Da wir selbst auch Zugang zu den Salons haben, können wir uns<br />

vor Ort informieren und den Frauen direkt anbieten, uns aufzusuchen.<br />

2 Die meisten thailändischen Frauen, die in Berlin der Prostitution nachgehen,<br />

kommen in die Charlottenburger Beratungsstelle. Durch die Mitar<strong>bei</strong>t<br />

eines Dolmetschers gelingt es uns zumindest ansatzweise, ihre Probleme<br />

nachzuvollziehen und ihnen zu helfen.


- 219 -<br />

Erika Dieckhoff<br />

Helga Schwarz<br />

Ursula Zim mermann<br />

AUSSTEIGEN AUS DER PROSTITUTION<br />

Das 4. Hamburger Frauenhaus hat sich zum Schwerpunkt gesetzt, Frauen zu<br />

unterstützen, die aus der Prostitution aussteigen wollen. In diesem Beitrag soll<br />

es aber nicht darum gehen, welche Unterstützungsleistungen das Frauenhaus<br />

erbringen kann, sondern der Schwerpunkt liegt darauf, die Probleme der Frauen<br />

zu skizzieren.<br />

Die Gründe, warum Frauen aus der Prostitution aussteigen wollen, sind<br />

verschieden. Manche entscheiden sich dazu, weil sie vom Zuhälter wegkommen<br />

wollen oder der Partner es möchte; andere, weil sie den Ekel nicht mehr ertragen<br />

oder Angst haben, ihre Identität zu verlieren, wenn sie in der Prostitution<br />

bleiben.<br />

Die Frauen, die das Hamburger Frauenhaus aufsuchen, verlassen das Milieu,<br />

weil sie nach langjähriger Prostitutionserfahrung (zwischen 10 und 30 Jahren)<br />

für sich keine Perspektive mehr sehen, ihnen der Schuldenberg, die sogenannten<br />

Blockschulden, über den Kopf wächst oder -<br />

HIV-positiv sind.<br />

bisher vereinzelt - sie<br />

Die meisten Frauen aber kommen nicht in erster Linie in das Frauenhaus,<br />

weil sie aufhören wollen, als Prostituierte zu ar<strong>bei</strong>ten, sondern um sich vor<br />

weiterer Mißhandl ung und Ausbeutung "ihres" Zuhälters zu schützen. Die Probleme<br />

dieser Frauen stehen im Mittelpunkt der weiteren Darstellung.<br />

Sie ar<strong>bei</strong>ten überwiegend auf dem Straßenstrich, in Eros-Centern und Bordel<br />

len, im Schnitt seit 2-5 Jahren, und ihre Ar<strong>bei</strong>tssituation ist entscheidend<br />

geprägt durch den Zuhälter und die auf seine Interessen zugeschnittenen Kiez­<br />

Regeln.<br />

Kiez-Regeln, das heißt:<br />

1. Sexuelle Dienstleistungen haben Warencharakter. Angebot und Nachfrage<br />

bestimmen weitgehend den Preis. Spezielle Techniken erzielen höhere Entlohnung.<br />

2. Die Frau wird zum "Kapital" des Zuhälters; sie kann gegen eine Summe<br />

("Abstecke") an einen anderen Zuhälter verkauft werden bzw. sich selbst<br />

freikaufen.


- 220 -<br />

3. Das Ansehen der Frau richtet sich nach ihrem Verdienst und somit danach,<br />

welchen Gewinn der Zuhälter durch sie hat. Dadurch entsteht ein Konkurrenzverhältnis<br />

zwischen den Frauen.<br />

4. Gewalttätigkeit stärkt das Image des Zuhälters.<br />

5. Physische Gewalt gegen Prostituierte, wenn sie nicht im Sinne des Zuhälters<br />

funktionieren, ist alltäglich.<br />

6. Für den Fall, daß eine Frau aus der Prostitution aussteigt, wird mit physischer<br />

Gewalt gedroht. Die Drohung verstärkt sich, wenn eine Frau ihren<br />

Zuhälter anzeigt.<br />

7. Die finanziellen Mittel zur Realisierung einer längerfristigen Zukunftsplanung<br />

sind im Zugriff der Zuhälter. Versucht eine Frau eigenständig für die<br />

Zukunft zu sparen ("bunkern"), muß sie mit Sanktionen rechnen.<br />

8. Die tägliche Ar<strong>bei</strong>tsplanung wird weitgehend durch Männer (Wirtschafter/Zuhälter)<br />

gemacht; zum Teil impliziert die Ar<strong>bei</strong>t in Bordellen teuer<br />

bezahlte Versorgungsleistungen, wie sie sonst nur in Heimen vorhanden sind<br />

(z.B. Anliefern von Bettwäsche, Essen usw.).<br />

9. Sexuelle Kontakte sind nur mit dem Zuhälter oder gegen Bezahlung gestatte<br />

t.<br />

Die Probleme, die mit dem Ausstieg auf die Frauen zukommen, sind zahlreich,<br />

wo<strong>bei</strong> sich schlimmer noch als die äußeren Schwierigkeiten di e inneren<br />

auswirken. Sel bst wenn die Frauen unfreiwillig aussteigen, überkommen sie <strong>bei</strong><br />

diesem Schritt der "absolute Horror", die Unsicherheit und Angst - alles, was<br />

sie vorher nicht zulassen konnten.<br />

Im Vordergrund steht natürlich die Angst vor dem Zuhälter. Selbst, wenn<br />

eine Frau "ihren" Zuhälter nicht anzeigt, kann sie damit rechnen, von ihm verfolgt<br />

und bestraft zu werden. Ihr Bewegungsfreiraum schränkt sich damit erheblich<br />

ein. Zeigt sie den Zuhälter aber an, potenziert sich diese Bedrohung<br />

und sie muß sich zudem einem Gerichtsverfahren als Zeugin aussetzen.<br />

Die Gerichte zeigen oft kein Verständnis für das Verhalten von Prostituierten.<br />

Die Gerichtsverhandlung stellt aber auch unabhängig davon eine große<br />

psychische Belastung für die Frau dar. Es treten ähnliche Probleme auf wie <strong>bei</strong><br />

Vergewaltigungsprozessen, in denen die Frau ihre Glaubwürdigkeit und "Nicht­<br />

Schuld" beweisen muß. Weniger belastend ist es, wenn die Ex-Prostituierte als<br />

Nebenklägerin auftritt, da sie dann die Unterstützung einer Rechtsanwältin hat.<br />

Da die meisten Frauen, wenn sie aussteigen, von der Sozialhilfe leben müssen,<br />

können sie Prozeßkostenhilfe für die Nebenklage (Kosten für die Anwältin) beantragen.<br />

Diese Möglichkeit ist in der letzten Zeit in Hamburg erschwert worden,<br />

da die staatlichen Instanzen die Auffassung vertreten, der Staatsanwalt<br />

nehme auch die Interessen der Frau ausreichend wahr.<br />

Entscheidend ist, daß Bezugspersonen für die Prostituierte fehlen, die sie<br />

auffangen. Familienbeziehungen oder Freundschaftsbeziehungen außerhalb des


- 221 -<br />

Prostituiertenmilieus können sie kaum aufrechthalten. Meistens scheitern sie<br />

daran, daß ihre Ar<strong>bei</strong>t dem gesellschaftlichen Wertsystem nicht entspricht ("Ich<br />

habe keine Tochter mehr"). Auch das Anknüpfen neuer Beziehungen wird besonders<br />

konfliktträchtig. Prostituierte, die ausgestiegen sind, verlieren durch den<br />

Verstoß gegen die "Kiezregeln" meist ihr gesamtes soziales Bezugsnetz im Kiez<br />

und müssen sich daher mit Isolations- und Einsamkeitsgefühlen auseinandersetzen.<br />

Sie machen weiter die Erfahrung, daß sie diskriminiert und stigmatisiert<br />

sind. ("Einmal Prostituierte, immer Prostituierte", "die will ja sowieso nicht<br />

ar<strong>bei</strong>ten", "die geht sowieso mit dem Erstbesten fremd"). Verschweigt die Exprostituierte<br />

ihre Vergangenheit, so lebt sie stets in der Angst, irgendwann<br />

erkannt zu werden (z.B. von einem Freier, der in ihrer Nachbarschaft wohnt;<br />

von einem Kunden, der in dem Laden einkaufen geht, in dem sie gerade als<br />

Verkäuferin angefangen hat •••). Verschweigt sie ihre Vergangenheit neuen Bekannten,<br />

sind die Sanktionen <strong>bei</strong> Entdeckung noch schmerzlicher: sie hat das<br />

Vertrauen mißbraucht und ist somit nicht mehr vertrauenswürdig. Spricht sie<br />

offen über ihre Vergangenheit, muß sie damit rechnen, daß dieses Wissen in<br />

anderen Bezügen gegen sie verwandt bzw. <strong>bei</strong> Konflikten herangezogen wird,<br />

um ihr die Gleichwertigkeit mit ihrem "Partner" abzusprechen ("Was hast du<br />

schon zu sagen - ohne mich wärst du längst wieder in der Gosse gelandet").<br />

Auch die Behörden begegnen der Prostituierten oft mit Mißtrauen und<br />

Vorurteilen. Falls eine Prostituierte <strong>bei</strong> der zentralen Beratungsstelle des Gesundheitsamtes<br />

in Hamburg registriert ist, muß sie sich amtlich bestätigen lassen,<br />

daß sie nicht mehr der Prostitution nachgeht, um Hilfe zum Lebensunterhalt<br />

vom Sozialamt beziehen zu können. Bei den Ämtern ist nicht mit Einfühlungsvermögen<br />

im Interesse der Frau zu rechnen. So wurde z.B. <strong>bei</strong>m Ar<strong>bei</strong>tsamt<br />

einer ehemaligen Prostituierten eine Stelle als Barfrau im "Milieu" angeboten.<br />

Andere Ar<strong>bei</strong>tgeber wollen keine ehemalige Prostituierte beschäftigen.<br />

Jede vor der Prostitution erworbene Qualifikation wird abgewertet, wenn<br />

die Frau zugibt, als Prostituierte gear<strong>bei</strong>tet zu haben. Verschweigt sie ihre<br />

Prostitutionserfahrungen, kann sie ihre Berufsunterbrechung nicht begründen<br />

und hat dadurch schlechte Chancen. Für die Frauen, die in das Frauenhaus<br />

kommen, ist die Situation noch zusätzlich erschwert, da sie neben einer fehlenden<br />

Berufsausbildung häufig keinen Schulabschluß aufweisen können. Für viele<br />

Frauen ist es zudem schwierig, nach der Erfahrung des organisierten Lebens im


- 222 -<br />

Bordell selbständig zu wirtschaften. Während ihrer Ar<strong>bei</strong>t als Prostituierte<br />

waren sie es gewohnt, Geld, das ihnen zur Verfügung stand, schnell auszugeben,<br />

da es ihnen sonst wieder weggenommen worden wäre. Durch die Versorgung<br />

im Bordell sind viele Frauen die alltägliche Lebensplanung, wie Lebensmittel<br />

einkaufen, das Geld über einen Monat einteilen usw. nicht mehr gewohnt.<br />

Nach ihrem Ausstieg sind sie nun damit konfrontiert, mit dem Existenzminimum<br />

des Sozialhilfesatzes auszukommen und es sinnvoll einzuteilen.<br />

Abschließend kommt noch als spezieller Aspekt hinzu, daß einige Frauen<br />

erhebliche Probleme mit Alkohol haben. Die Ursachen liegen zum Teil im Getränkezwang<br />

der Puffs, aber auch im Verhalten mancher Frauen, sich mit Alkohol<br />

oder anderen Drogen zu beFäuben, um ihre Ar<strong>bei</strong>t besser ertragen zu können.<br />

Viele Frauen haben durch die Ausübung ihres Berufes schwere<br />

Gesundheitsschäden.<br />

Hier zeigen Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen wie ständige Verfügbarkeit und<br />

Ar<strong>bei</strong>tsorte wie der Straßenstrich, der leichte Berufskleidung <strong>bei</strong> jedem Klima<br />

erfordert, ihre Folgen. Hier macht sich aber auch bemerkbar, daß der Ausschluß<br />

von Prostituierten aus der Sozialversicherung die Frauen aus finanziellen<br />

Gründen zwingt, gesundheitliche Schäden solange zu ignorieren, wie das<br />

möglich ist.<br />

Vor dem Hintergrund dieser Probleme ist es nicht überraschend, daß sich<br />

ein Teil der Frauen zur Rückkehr in das Milieu entschließt. Sie pendeln da<strong>bei</strong><br />

nicht selten zwischen dem Ein- und Ausstieg, denn sie halten <strong>bei</strong> jedem Wieclereinstieg<br />

die Mißhandlungen weniger lange aus.<br />

Von den Frauen, die den Ausstieg schaffen, gelingt es ganz wenigen, eine<br />

Berufsausbildung anzufangen, und allenfalls in so unsicheren Berufen wie z.B.<br />

Friseuse. Ihnen fällt es häufig schwer, die Ausbildung durchz uhalten.<br />

Der Mehrheit bleibt aufgrund der schlechten Ausbildungssituation nur die<br />

Alternative, von der Sozialhilfe zu leben oder sich mit wechselnden, meist<br />

schlechten Jobs zu begnügen. Für die Frauen, die noch Schulden aus der Prostitution<br />

abzutragen haben, verringern sich die Chancen, einen Ar<strong>bei</strong>tsplatz zu<br />

bekommen, weiter, denn drohende Lohnpfändungen motivieren keinen Ar<strong>bei</strong>tgeber<br />

zur Einstellung. Hier gilt es, im Vorfeld Verhandlungen mit den Gläubigern<br />

aufzunehmen, um sie von Lohnpfändungen abzuhalten. Gleichzeitig müssen niedrige<br />

Ratenzahlungen ausgehandelt werden, denn die Frauen verlieren die Lust,<br />

an einem Ar<strong>bei</strong>tsplatz festzuhalten, wenn das Einkommen nach Abzug der Raten<br />

die Höhe der Sozialhilfe nicht überschreitet.


- 223 -<br />

Die Frauen befinden sich so in einem Teufelskreis, den zu durchbrechen<br />

nur wenige schaffen.


- 224 -<br />

Helga Bilitewski<br />

Regina Döll<br />

(Hydra - Treffpunkt und Beratung für Prostituierte, Berlin)<br />

PROSTITUIER TE ORGANISIEREN SICH<br />

Prostitution wird häufig und nicht ganz zu Unrecht als das älteste Gewerbe<br />

der Welt bezeichnet. "Wenn wie <strong>bei</strong>m Adel oder <strong>bei</strong>m Wein das Alter den Wert<br />

einer Institution bestimmt, so kann die Prostitution jedenfalls stolz darauf sein,<br />

eine ältere Institution als die Ehe zu sein" (Bornemann 1984, S. 1134). Tatsächlich<br />

geIten jedoch für die Prostitution wesentlich andere, vornehmlich moralische<br />

Maßstäbe. Von daher ist auch der soziale Status von Prostitutierten in<br />

verschiedenen gesellschaftlichen Epochen recht unterschiedlich.<br />

"Einen Status, der vorher wie nachher nicht mehr erreicht wurde,<br />

besaßen die griechischen Hetären. Sie waren die einzigen Frauen in<br />

di eser frauenfeindlichen Gesellschaftsform, die sich Bildung aneignen<br />

und am kulturellen Leben teilhaben durften. Alle anderen Kulturen<br />

haben dann versucht, Prostitution bzw. Prostituierte zu neutralisieren,<br />

zu diskriminieren oder 'auszumerzen'" (Rückert 1985, S. 39).<br />

Von besonderer Bedeutung für die Reglementierung der Prostitution war<br />

die Verbreitung der Syphilis seit dem Ende des 15. Jahrhunderts.<br />

1. Der Widerstand gegen die Diskriminierung hat Tradition<br />

Der Widerstand gegen die Diskriminierung von Prostituierten da uert nunmehr<br />

schon über hundert Jahre. 1875 wurde in Großbritannien von bürgerlichen Frauen<br />

die "Internationale Abolitionistische Föderation" gegründet. Die Abolitionistinnen<br />

bekämpften die Reglementierung der Prostitution und die Kasernierung<br />

der Betroffenen in Bordellen. Ihre Argumente lauteten:<br />

"Zwangskasernierung, Zwangsuntersuchung und Strafandrohung stempeln<br />

einen Teil des weiblichen Geschlechts von Staats wegen zur Ware und<br />

si nd ein Eingriff in die Menschenrechte der Frau, da sie den Grundsatz<br />

von der Gleichheit vor dem Gesetz verletzen. Durch die Reglementierung<br />

wird nur die beteiligte Frau betroffen, und somit bildet<br />

si e die Basis der doppelten Moral" (Janssen-J urreit 1986, S. 16).<br />

Der<br />

erste deutsche Zweigverein der Internationalen Abolitionistischen<br />

Föderation wurde 1898 in Hamburg gegründet, und schon bald zählte Prostitu-


- 225 -<br />

tion zu den zentralen Themen der Frauenbewegung und trug wesentlich zu deren<br />

Radikalisierung <strong>bei</strong>. In den folgenden Jahren änderte sich jedoch die Haltung<br />

der Abolitionistinnen und nahm zunehmend konservative Züge an. Zwar<br />

konnten noch in einigen Punkten Verbesserungen erreicht werden, an eine<br />

gr undlegende Anderung der Situation war jedoch nicht mehr zu denken. Dies<br />

zeigte sich besonders deutlich <strong>bei</strong> Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als die<br />

Reglementierung der Prostitution erneut drastisch verschärft wurde.<br />

Auch während der Weimarer Republik blieb Prostitution ein heftig umstrittenes<br />

Thema - selbst innerhalb der Frauenbewegung. So ist es nicht verwunderlich,<br />

daß das im Oktober 1927 in Kraft getretene neue Gesetz zur Bekämpfung<br />

von Geschlechtskrankheiten lediglich einen Kompromiß darstellte.<br />

War Prostitution vorher grundsätzlich verboten und nur <strong>bei</strong> Einhaltung bestimmter<br />

polizeilicher Auflagen geduldet, so entfiel nun diese Regelung, und an<br />

deren Stelle trat die sanitäre Fürsorge des Gesundheitsamtes für die Prostituierten.<br />

Die Lage der Prostituierten änderte sich daaurch nicht grundlegend, denn<br />

auch das neue Gesetz ließ Zwangsmaßnahmen zu. Problematisch war der Umstand,<br />

daß das Gesetz keinerlei Durchführungsbestimmungen enthielt, die Ausführung<br />

somit den einzelnen Kommunen überlassen blieb. Zeichnete sich Berlin<br />

durch eine liberale Handhabung aus, so führten die meisten Kommunen die früheren<br />

Bestimmungen unter der Hand wieder ein. Diese Praxis kennzeichnet bis<br />

heute die Situation.<br />

Dem Sexualstrafrecht liegen Moralvorstellungen zugrunde, die die Naziherrschaft<br />

überlebt und weiterhin Gültigkeit behalten haben. Einen großen<br />

Raum nimmt hier<strong>bei</strong> die Prostitution ein, und die Fortdauer der Jahrhunderte<br />

alten Diskriminierung findet hier ihre Grundlage.<br />

Die Abschaffung bzw. Anderung dieser Gesetze ist daher eines der vorrangigen<br />

Ziele der Prostituiertenbewegung.<br />

In den 60er und 70er Jahren traten Prostituierte erstmals selbst für ihre<br />

Rechte ein, eine dauerhafte Organisatin entstand jedoch nicht. Dies änderte<br />

sich erst, als 1979 in Berlin Frauen aus der Frauenbewegung die Prostituierten<br />

unterstützten, sich zu organisieren und gegen ihre Diskriminierung zu kämpfen<br />

und so eine notwendige Zusammenar<strong>bei</strong>t von Frauenbewegung und Prostituierten<br />

dokumentierten.


--<br />

- 226 -<br />

"Die Masse Gesellschaft zu verändern, hieße z.Z. noch, gegen Windmühlen<br />

zu kämpfen. Der Frau aber, die der Prostitution nachgeht,<br />

den Rücken zu stärken, ihr entweder das Leben mit der Prostitution<br />

zu erleichtern, mit ihr alle Rechte zu erkämpfen, die erkämpfenswert<br />

sind, und ihr die Möglichkeit zu geben, sich ihre Situation bewußter<br />

werden zu lassen, und - sollte sie sel bst das Bedürfnis haben,<br />

aus dieser Sit uation auszubrechen, die Prostitution aufzugeben - ihr<br />

mit allen Mitteln und Möglichkeiten zu helfen, eine neue Lebensperspektive<br />

zu finden, ist eine sehr wichtige Aufgabe" (Simon 1984-, S.<br />

8).<br />

Aus diesen Uberlegungen entstand im Sommer 1980 "Hydra" als erstes<br />

autonomes Prostituiertenprojekt in Deutschland.<br />

2. Prostitution ist Ar<strong>bei</strong>t<br />

In ihrem Kampf um bessere und geschützte Ar<strong>bei</strong>tsplätze, die Anerkennung ihrer<br />

Tätigkeit als Dienstleistung und den Abbau gesellschaftlicher und rechtlicher<br />

Diskriminierung sind Prostituierte auf die Frauenbewegung angewiesen. Diese<br />

spaltet sich jedoch an der Frage, ob sie Prostituierte unterstützen kann oder<br />

will. Im Mittelpunkt der Diskussion steht hier<strong>bei</strong> nicht die Prostituierte, um<br />

deren Recht es ja schließlich geht, sondern die Prostitution an sich. Wenn Prostituierte<br />

angesprochen werden, dann nicht als Frauen, sondern als Verkörperung<br />

ihres Berufs, der patriarchalischen Institution Prostitution. Wie vordergründig<br />

Argumente dieser Art sind, zeigt sich, wenn wir an Stelle des Berufs<br />

Prostituierte den Beruf Hausfrau (Ehefrau, Mutter) setzen.<br />

"Die Argumentation, die Frauenbewegung könne Prostituierte in ihrem<br />

Kampf um Emanzipation nicht unterstützen, da Prostituierte durch<br />

ih re Tätigkeit der Frauenbewegung in den Rücken fielen, ist für uns<br />

ni cht haltbar. Prostitution beruht auf fundamentalen Grundlagen unserer<br />

Gesellschaftsordnung und kann aus dieser nicht entfernt werden,<br />

solange keine grundlegende Anderung stattgefunden hat. Prostitution<br />

ist nicht eine Krankheit innerhalb der Gesellschaft, sondern<br />

das Symptom einer kranken Gesellschaft" (H ydra Nachtexpress<br />

1986/87, S. 6).<br />

"Innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung erfüllt Prostitution<br />

eine strukturbedingte Funktion. Die Ausübung einer solchermaßen<br />

notwendigen Tätigkeit wird gemeinhin als Ar<strong>bei</strong>t bezeichnet. In diesem<br />

Sinne ist also Prostitution eine Ar<strong>bei</strong>t wie jede andere auch.<br />

Prostitution ist keine Ar<strong>bei</strong>t wie jede andere auch, insofern die sie<br />

Ausübenden starken physischen (besonders gesundheitlichen) und extremen<br />

psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Letztere sind jedoch<br />

nicht nur auf den beruflichen Bereich beschränkt, sondern er-


- 227 -<br />

strecken sich auf grund der gesellschaftlichen Achtung auch auf das<br />

gesamte Privatleben der Prostituierten. Der Schutz der Prostituierten<br />

vor Dis kriminierung ist daher unerläßlich" (Hydra Nachtexpress<br />

1986/87, S. 6).<br />

Prostitution ist eine Ar<strong>bei</strong>t; sie wird von Frauen -ausgeübt, die diese Tätigkeit<br />

einer anderen vorziehen, aber auch von Frauen, für die Prostitution<br />

lediglich eine, oft die einzige Alternative zur Erwerbslosigkeit ist. Ein wichtiges<br />

Moment ist, daß Prostitution jeder Frau offensteht, da sie hierfür keine<br />

Ausbildung benötigt. Als wesentlicher Nachteil erweist sich jedoch die fehlende<br />

soziale Absicherung. Besonders Frauen, die längere Zeit der Prostitution nachgegangen<br />

sind, schaffen es kaum, einen anderen Beruf zu ergreifen, da ihnen<br />

aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit jede Befähigung zu einem "anständigen"<br />

Beruf abgesprochen wird. Für die Prostituierte ergeben sich somit nur die Möglichkeiten,<br />

während der Prostitution eine berufliche Aus- oder Weiterbildung zu<br />

absolvieren oder durch die Prostitution eine finanzielle Existenzgrundlage zu<br />

erwerben, die die Zukunft sichert. Beide Möglichkeiten lassen sich jedoch -<br />

insbesondere angesichts der besonderen physischen Belastungen dieses Berufs -<br />

nur in seltenen Fällen realisieren.<br />

Prostitution ist in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin -<br />

ausgenommen für Ausländerinnen - nicht verboten. Dennoch werden Prostituierte<br />

auf vielfältige Weise rechtlich und gesellschaftlich diskriminiert. Die gesellschaftliche<br />

Diskriminierung empfinden viele Prostituierte als besonders schwerwiegend,<br />

da sie sich stark auf das Privatleben auswirkt. Die meisten Prostituierten<br />

führen daher gezwungenermaßen ein Doppelleben, indem sie ihre Tätigkeit<br />

verheimlichen, um sich und ihre Familie zu schützen.<br />

Ein wesentlicher Beitrag zum Abbau der gesellschaftlichen Diskriminierung<br />

wäre die Aufhebung der rechtlichen Diskriminierung, wo<strong>bei</strong> hier nur die<br />

wichtigsten Punkte angeführt werden sollen.<br />

Prostitution gilt nach unserer Rechtsprechung als sittenwidrig. Die Prostituierte<br />

hat daher keinen rechtlichen Anspruch auf ein Entgelt für ihre Leistung.<br />

Mit der gleichen Begründung wird Prostitution nicht als Gewerbe anerkannt,<br />

wodurch sich für die Prostituierte erhebliche steuer- und versicherungsrechtliche<br />

Nachteile ergeben.<br />

Die Ausübung der Prostitution kann durch verschiedene Gesetze beschränkt<br />

oder gänzlich verboten werden. Die Bestimmungen dienen angeblich dem Schutz<br />

der Jugend und des öffentlichen Anstandes, dürften diesen Zweck aber wohl


- 228 -<br />

kaum jemals erfüllt haben. Sie bewirken jedoch die Konzentration der Prostitution<br />

auf relativ kleine Gebiete und fördern die Ausbeutung der Prostituierten<br />

du rch Bar- und Bordellbesitzer sowie Zuhälter. Sie dienen somit auch keineswegs<br />

der Bekämpfung der sogenannten Begleitkriminalität, sondern sind vielmehr<br />

eine ihrer Ursachen.<br />

Wesentliches Mittel zur Reglementierung der Prostitution ist nach wie<br />

vor das bereits erwähnte Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,<br />

das die Verpflichtung zu regelmäßigen Gesundheitskontrollen der Prostituierten<br />

enthält. Die Handhabung dieses Gesetzes dient auch heute noch der Repression<br />

gegen Prostituierte, womit die eingangs genannten Argumente der<br />

Abolitionistinnen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Da dieses Gesetz<br />

di e Verantwortung einseitig den Prostituierten zuschiebt, fördert es zugleich<br />

das in gesundheitlicher Hinsicht verantwortungslose Verhalten von Freiern.<br />

Gerade im Hinblick auf die zunehmende Ausbreitung von Aids entsteht hierdurch<br />

eine besondere Gefährdung der Prostituierten.<br />

Zur rechtlichen und sozialen Absicherung der Prostituierten sowie zum<br />

Abbau der allgemeinen gesellschaftlichen Diskriminierung fordern die Prostituiertenprojekte<br />

daher:<br />

1. Aufhebung jeglicher Registrierung, Reglementierung und Kontrolle von Prosti<br />

tuierten.<br />

2. Anerkennung der Prostitution als Dienstleistung mit allen daraus resultierenden<br />

Rechten.<br />

3. Staatliche Förderungsmaßnahmen für Frauen, die aus der Prostitution aussteigen<br />

wol len.<br />

3. Nationale und internationale Aktivitäten<br />

Um diese Forderungen zu verwirklichen und eine gesellschaftliche Veränderung<br />

zu erreichen, ist jedoch eine Solidarisierung der Betroffenen wesentliche Voraussetzung.<br />

Hier<strong>bei</strong> hat sich die Ar<strong>bei</strong>t von "Hydra" bisher als erfolgreich erwiesen.<br />

Unserem Beispiel folgend, gründeten sich weitere Prostituiertenprojekte<br />

wie z.B. "Huren wehren sich gemeinsam (H WG)" in Frankfurt und "Rotstift" in<br />

Stuttgart. Außerdem gibt es in mehreren Städten Bestrebungen zur Gründung<br />

weiterer Selbsthilfegruppen.


- 229 -<br />

1985 fand in Berlin der 1. Nationale Prostituiertenkongreß der deutschen<br />

Geschichte statt, an dem Prostituierte aus sieben Bundesländern teilnahmen<br />

und gemeinsam einen 22 Punkte umfassenden Forderungskatalog erstellten. Zur<br />

Intensivierung und Koordination der Ar<strong>bei</strong>t folgten 1986 zwei weitere nationale<br />

Kongresse in Stuttgart und Frankfurt.<br />

Auch in anderen Ländern hatten sich, zum Teil bereits in den 70er Jahren,<br />

zahlreiche Prostituiertenorganisationen gebildet, und so war es nur eine<br />

Frage der Zeit, bis sich 1985 auf dem 1. Internationalen Hurenkongreß in Amsterdam<br />

Prostituierte aus aller Welt trafen, das Internationale Komitee für die<br />

Rechte der Prostituierten (ICPR =: International Committee for Prostitutes'<br />

Rights) gründeten und die Welt-Charta fü die Rechte der Prostituierten verabschiedeten.<br />

Die nationalen und internationalen Aktivitäten machten auch andere Bevö<br />

lkerungsgruppen und politische Organisationen auf die Problematik von Prostituierten<br />

aufmerksam. So konnte die 2. Internationale Prostituiertenkonferenz<br />

mit Unterstützung des Grün-Alternativen Europäischen Bündnisses (GRAEL) im<br />

Regenbogen vom 1.-3. Oktober 1986 in den Gebäuden des Europäischen Parlaments<br />

in Brüssel stattfinden. Dieser Kongreß fand weltweite Aufmerksamkeit.<br />

Die Berichterstattung der Presse war größtenteils sachlich, informativ, und allein<br />

dies stellt schon einen Erfolg dar. Dieser Kongreß in Brüssel' war für die<br />

Prostituierten in aller Welt ein großer Schritt, um mit ihren Problemen und<br />

Forderungen ernstgenommen zu werden.<br />

Die mittlerweise 7jährige Ar<strong>bei</strong>t von "Hydra" und die anderer Projekte<br />

hat inzwischen immerhin dazu geführt, daß Stel lungnahmen der Prostituierterigruppen<br />

zumindest angehört werden, wie z.B. <strong>bei</strong> der Ausar<strong>bei</strong>tung des Anti­<br />

Dis kriminierungs-Gesetzes (ADG) der Grünen. Doch ebenso wie in der Frauenbewegung<br />

und aus fast gleichlautenden Gründen sind auch <strong>bei</strong> den Grünen die<br />

Meinungen gespalten, ob die Forderungen der Prostituierten unterstützt werden<br />

sollen oder nicht. Entgegen dem ursprünglichen Entwurf des ADG, den Ergebnissen<br />

der Anhörung in Bonn im April 1986 und dem Beschluß des Kongresses<br />

vom 28./29. Juni 1986 in Frankfurt wurde der Bereich Prostitution inzwischen<br />

aus dem ADG herausgenommen, da das Thema Prostitution innerhalb der Fraktion<br />

der Grünen noch immer nicht genügend ausdiskutiert sei. Für 1987 ist ein<br />

neuer, umfassenderer Gesetzentwurf vorgesehen.


- 230 -<br />

Wir kämpfen weiterhin darum, daß unsere berechtigten Forderungen anerkannt<br />

werden und Prostituierte <strong>bei</strong> der Ausübung ihrer Tätigkeit und in ihrem<br />

Privatleben dieselben Rechte erhalten wie andere Menschen auch. Auf uns allein<br />

gestellt, ist es kaum möglich, dies zu erreichen. Eine unserer vordringlichsten<br />

Aufgaben muß es daher sein, ständig und auf allen Ebenen Uberzeugungsar<strong>bei</strong>t<br />

zu leisten und die Öffentlichkeit auf unsere Probleme aufmerksam zu<br />

machen. Inzwischen können wir stolz vermerken, daß wir immer häufiger Einladungen<br />

zu öffentlichen Versammlungen erhalten, um unsere Sichtweise zu verschiedenen<br />

Problemen darzustellen. Wir denken, daß wir auch ein Recht darauf<br />

haben, gefragt und gehört zu werden, denn wer könnte die Interessen von Prosti<br />

tuierten besser vertreten als die Prostituierten sei bst.<br />

LITERATUR<br />

Bornemann, Ernest: Lexikon der Liebe, Materialien zur Sex ual wissenschaft.<br />

Wien 1984<br />

Hydra Nachtexpress: Heilige und Hure. Winter 1986/87<br />

Janssen-J urreit, Marielouise (Hrsg.): Frauen und Sexualmoral. Frankfurt 1986<br />

Rückert, Gabi: Aufhebung der Diskriminierung von Prostitution und Kampf gegen<br />

Zuhälterei. In: Grünes Info NR W (1985) 7-8<br />

Simon, Heide: Zur besonderen Problematik von Prostituierten. Beitrag zur Ar<strong>bei</strong>tstagung<br />

"Reintegration von Frauen, die der Prostitution nachgehen",<br />

zi tiert nach Hydra Nachtexpress: Das Prostituierten-Projekt Hydra, Frühjahr<br />

1984


- 231 -<br />

VI.<br />

MEDIEN UND WISSENSCHAFT<br />

Zur Einführung:<br />

Ingeborg Stahr<br />

FREI ZU SEIN BEDARF ES WENIG •••<br />

UBER DIE FREIBERUFLICHE TATIGKEIT VON FRAUEN<br />

IN MEDIEN UND WISSENSCHAFT<br />

Die Beschäftigungsbereiche Medien und Wissenschaft wie auch die Erwachsenenbildung<br />

gelten als privilegiert. Mitar<strong>bei</strong>ter und Mitar<strong>bei</strong>terinnen in diesem<br />

Bereichen haben normalerweise ein relativ hohes Qualifikationsniveau und genießen<br />

ein entsprechendes gesellschaftliches Ansehen. Allen drei Beschäftigungsbereichen<br />

ist allerdings gemeinsam, daß die überwiegende Zahl der dort<br />

Tätigen in ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tverhältnissen stehen. Das drückt sich aus in<br />

Zeitverträgen, relativ kurz befristeten Teilzeitar<strong>bei</strong>tsverhältnissen, Werkverträgen<br />

und Beschäftigung im Status sogenannter freier Mitar<strong>bei</strong>ter und Mitar<strong>bei</strong>terinnen.<br />

Die folgenden Beiträge von Elke Baur, Paula Schütze und Romy Wehrda<br />

sowie Luise Pusch behandeln insbesondere die Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>terin.<br />

Dies ist eine Form der Beschäftigung, wie sie im Medien- und Erwachsenenbildungsbereich<br />

bereits Tradition hat, in der Wissenschaft aber erst mit dem<br />

Einstellungsstop und den massiven Personalstrukturveränderungen im Hochschul-


- 232 -<br />

bereich in den letzten Jahren zu einem Problem geworden ist. Obwohl die Einrichtungen<br />

der Erwachsenenbildung ohne ihre freiberuflich tätigen Kursleiter/innen<br />

und Dozenten/innen nicht existieren könnten, gibt es nur wenige Untersuchungen<br />

zur Situation dieser Beschäftigtengruppe (Dieckmann u.a. 1981;<br />

Beinke, Arabin, Faulstich 1981; Stahr 1981; Dieckmann/Stahr 1982; Scherer<br />

1987); differenzierte Analysen fehlen völlig. Damit bleibt <strong>bei</strong>spielsweise ungeklärt,<br />

ob sich die Zahl der weiblichen Kursleiter in den letzten Jahren überproportional<br />

erhöht hat, oder ob hier eher ein Verdrängungswettbewerb stattfindet,<br />

der den Frauen auch noch diese kleinen Enklaven ungesicherter Erwerbsarbe<br />

it streitig macht.<br />

Ansä tze zur Strukturerfassung stoßen rasch an Grenzen: Nicht nur die<br />

Weiterbildungseinrichtungen gewähren ungern Einblick in ihre Dozenten/innen­<br />

Karteien, sondern dagegen stehen auch die Art der Beschäftigungsverhältnisse,<br />

die Kurzfristigkeit, Fluktuation und der Status als Selbständige/r, der die arbe<br />

its- und sozialversicherungsrechtliche Absicherung <strong>bei</strong> den Dozenten/innen<br />

be läßt. Auch über die Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen im Medienbereich<br />

ist wenig bekannt, obwohl Ende der 70er , Anfang der 80er Jahre - besonders<br />

von Elke Baur - der Versuch unternommen wurde, die Situation der Frauen im<br />

Rundfunk und in der privaten Film- und Fernsehproduktion genauer zu erfassen<br />

(K lartext 1978; Baur 1978 und 1980).<br />

1. Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen in den Medien<br />

Die meisten freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen im Medienbereich, Funk und Film ar<strong>bei</strong>ten<br />

als Cutterin, Bildmischerin oder Tontechnikerin, typische Frauenberufe im Produ<br />

ktionsbereich. Im darstellenden Bereich sind sie als Ansagerin, Sprecherin,<br />

Moderatorin und Schauspielerin tätig, im redaktionellen Bereich als Redaktionsassistentin,<br />

Rechercheuse, Autorin, Journalistin oder Filmemacherin.<br />

Welche Bedingungen speziell Frauen als freie Journalistinnen <strong>bei</strong>m Rundfunk<br />

vorfinden, damit befassen sich die Beiträge von Elke Baur sowie Paula<br />

Schütze und Romy Wehrda. Unterschiedlich ist da<strong>bei</strong> die Perspektive, aus der<br />

die Autorinnen die Situation bel euchten. Elke Baur, selbst Redakteurin und<br />

Produzentin in einer eigenen Filmgesellschaft, beschreibt die Situation der<br />

freien Mitar<strong>bei</strong>terin im Rundfunk vor dem Hintergrund ihrer früheren Erfahrungen<br />

als Freie und Festangestellte im Rundfunk. Der Beitrag von Paula Schütze


- 233 -<br />

und Rom y Wehrda ist eindeutig aus der Sicht der Betroffenen geschrieben. Beide<br />

sind freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen <strong>bei</strong>m Hörfunk, und es spricht für sich, daß sie es<br />

vo rziehen, unter Pseudonymen zu schreiben. Deutlich wird, welcher subjektive<br />

Verdrängungsprozeß auf psychischer und materieller Wahrnehmungsebene täglich<br />

vollzogen wird, wenn die Autorinnen berichten, welche Schwierigkeiten sie<br />

<strong>bei</strong> der Erstellung des Beitrags hatten: "Erstmals waren wir gezwungen, uns<br />

wi rklich mit unserer eigenen Situation auseinanderzusetzen. Uns wurde pl ötzlich<br />

klar, daß das keine Beschäftigung auf Dauer sein kann und daß für Kinder<br />

da <strong>bei</strong> überhaupt kein Platz ist."<br />

Die subjektiven Bewältigungsstrategien, die einzelne in ungeschützten<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen entwickeln, haben offenbar viel mit der Einstellung zu den<br />

Ar<strong>bei</strong>tsinhalten und den Erwartungshaltungen an soziale Sicherheit im Beruf zu<br />

tun, wie Elke Baur dies beschreibt. Soziale Sicherung erscheint nicht so wichtig,<br />

wenn die berufliche Tätigkeit Resultat eines selbstgewählten Entscheidu<br />

ngsprozesses ist. Zwangsweise Selbständigkeit lähmt die Ar<strong>bei</strong>tsfähigkeit und<br />

produziert Leidensdruck, während die Wahrnehmung der beruflichen Situation<br />

als selbstgewählte, produktive, schöpferische Tätigkeit trotz sozialer Unsicherheit<br />

Befriedigung verleihen kann. Diese subjektiven Verar<strong>bei</strong>tungsformen geraten<br />

erst dann ins Schwanken, wenn über die objektiv vorhandene existentielle<br />

Gefährdung nichts mehr hinwegtäuschen kann. Wenn nur noch unter Zeitdruck<br />

und unter erheblichen Einschränkungen die Qualität der Ar<strong>bei</strong>t produziert werden<br />

kann, um ein Existenzminimum zu erwirtschaften, dann drängt sich auch<br />

die mangelnde soziale Sicherheit wieder in den Vordergrund.<br />

Im Status der freien Mitar<strong>bei</strong>terin gilt frau als Selbständige, die für ihre<br />

soziale Sicherung selbst sorgen muß. Dies gilt auch für diejenigen, die in relativ<br />

kontinuierlichen Ar<strong>bei</strong>tsbezügen zu bestimmten Rundfunkanstalten stehen.<br />

Der Beschäftigungsstatus der Freien <strong>bei</strong>nhaltet meist eine starke Abhängigkeit,<br />

so wohl in inhaltlich-gestalterischer wie zeitlicher, persönlicher, wirtschaftlicher<br />

und weisungsrechtlicher Hinsicht, der keine entsprechende soziale Sicherheit<br />

gegenübersteht. Freie Mitar<strong>bei</strong>ter/innen sind faktisch abhängig Beschäftigte<br />

auf Zeit, auch wenn sie vertragsrechtlich wie Unternehmerinnen behandelt<br />

werden, die ihre Produkte bzw. Dienstleistungen verkaufen und die Sozialleistungen<br />

sel ber tragen müssen.<br />

Diese Vertragsverhältnisse werden Männern und Frauen zwar in gleicher<br />

Weise zugemutet, unterschiedlich sind aber die Auswirkungen auf <strong>bei</strong>de Ge-


- 234 -<br />

schlechter. Für Frauen ergeben sich zusätzliche Probleme, die Auswirkungen<br />

auf ihre Ar<strong>bei</strong>tsmöglichkeiten haben:<br />

- Das ständige Bem ühen um Aufträge, schwankende Einkommensverhältnisse,<br />

starker Termindruck und phasenweise starke Ar<strong>bei</strong>tsbelastung sowie die Notwendigkeit<br />

regionaler Mobilität machen die Tätigkeit als freie Mitar<strong>bei</strong>terin<br />

im Medienbereich kaum mit dem weiblichen Lebenszusammenhang von Familie<br />

und Kindern vereinbar.<br />

- Freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen haben weder Anspruch auf die Lohnabhängigen während<br />

der Mutterschutzfristen gesetzlich zustehenden Leistungen (z.B. Kündigungsschutz)<br />

noch Anspruch auf Beurlaubung zur Kindererziehung.<br />

- Wer aus dem Beruf auch nur zeitweise aussteigt, kommt kaum wieder hinein<br />

- und 40-50% der Frauen geben ihre Tätigkeit der Kinder wegen auf. Es<br />

überrascht daher nicht, daß Frauen mit Familie und Kindern in diesem Beru<br />

fsbereich stark unterrepräsentiert sind.<br />

- Die Beschränkung der Frauen auf wenige Programm- und Themenbereiche<br />

verschärft die Konkurrenz unter ihnen erheblich.<br />

- Der wachsende Konkurrenzdruck unter · den Freien erhöht das Risiko außerprofessioneller<br />

Auswahlkriterien; Attraktivität und sexuelle Ansprechbarkeit<br />

von Frauen können für die Auftragsvergabe entscheidend werden.<br />

- Obwohl immer mehr Frauen in journalistische Ausbildungsgänge drängen, sind<br />

si e weiterhin in leitenden Positionen unterrepräsentiert.<br />

- Frauen werden oft auf "kleine Sachen", z.B. kleine Spielfilme und Hörfunk<strong>bei</strong>träge,<br />

festgelegt.<br />

- Die Tendenz, daß viele kleine Beiträge in immer kürzerer Zeit erbracht werden<br />

müssen, führt zu einer erheblichen Intensivierung der Ar<strong>bei</strong>t; dennoch<br />

is t dadurch oftmals nicht einmal ein Mindesteinkommen zu erzielen.<br />

- Die Regionalisierung des Rundfunks führt u.a. dazu, daß Freie mehr "soziale<br />

Ar<strong>bei</strong>t" mit Bezug auf die lokalen Bedingungen leisten müssen; Frauen werden<br />

für solche Tätigkeiten bevorzugt eingesetzt. Nachteilig daran ist, daß<br />

diese Themenbereiche oft ein "Abstellgleis" ohne Aufstiegs-<br />

Zugangsmöglichkeiten in andere Programmbereiche darstellen.<br />

und breitere<br />

Frauen erreichen im Medienbereich aus all diesen Gründen ein erheblich<br />

geringeres Durchschnittseinkommen als ihre männlichen Kollegen.<br />

Die Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>terin ist geprägt von der Notwendigkeit<br />

zum Ausbalancieren des Bedürfnisses nach journalistischer Gestaltungsfreiheit<br />

einerseits und nach sozialer Sicherheit andererseits. Dieses individuelle Austa-


- 235 -<br />

rieren verschleiert die gesellschaftliche Realität einer Tätigkeit als freie Mitar<strong>bei</strong>terin,<br />

in der diese <strong>bei</strong>den Bedürfnise offenbar nicht miteinander vereinbar<br />

sind. Die Kompensation dieses Widerspruchs wird deutlich, wenn Elke Baur in<br />

ihrem Artikel einen Perspektivenwechsel vornimmt: drängt sich zunächst der<br />

Eindruck auf, daß hier eine Frau spricht, "die es geschafft hat", die ein reines<br />

"Kreativbeamtenturn" für unvorstellbar hält und die freie journalistische Tätigkeit<br />

für das zentrale Antriebsmoment innovativ-kreativer Medienar<strong>bei</strong>t hält, so<br />

kommen im zweiten Teil ih res Beitrags eher ihre leidvollen Erfahrungen als<br />

freie Mitar<strong>bei</strong>terin zur Sprache.<br />

Auch Paula Schütze und Romy Wehrda beschränken ihren Bericht nicht<br />

nur auf die negativen Seiten ihrer Beschäftigungssituation, obwohl ihre konkrete<br />

Lage sie häufiger vor die Frage stellt, wovon sie im nächsten Monat ihren<br />

Lebensunterhalt bestreiten sollen. In einem Akt des "Trotzdem" werden am<br />

Ende ihres Artikels die Funken der Freude und des Spaßes an der Ar<strong>bei</strong>t deutlich,<br />

die innere Befriedigung, die sich aus den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten<br />

ergibt.<br />

2. Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen in der Wissenschaft<br />

Im Wissenschaftsbereich ist die Beschäftigungsstruktur etwas anders gelagert<br />

als im Medienbereich, denn wissenschaftliche Ar<strong>bei</strong>t wurde bisher - im Gegensatz<br />

zur journalistischen - überwiegend von abhängig Beschäftigten geleistet.<br />

Eine spezifische Problematik für Wissenschaftlerinnen liegt darin, daß sie die<br />

professionellen Qualifizierungsprozesse (Promotion, Habilitation) in einer Lebensphase<br />

erbringen müssen, in die üblicherweise auch Familiengründung und<br />

Kindererziehung fallen. Hinzu kommt; daß trotz hauptberuflichem Beschäftigungsverhältnis,<br />

die Stellen zeitlich oft kurz befristet und Anschlußperspektiven<br />

fraglich sind. Frauen sind überwiegend im sogenannten Mittelbau der<br />

Hochschule (der Frauenanteil im Mittelbau beträgt 17% - MEMO H, 1984, S. 16)<br />

als Hochschulassistentinnen, Wissenschaftliche Assistentinnen und Wissenschaftliche<br />

Mitar<strong>bei</strong>terinnen beschäftigt, und zwar fast ausnahmslos auf befristeten<br />

Stellen zwischen einem Vierteljahr und fünf Jahren Dauer.<br />

Seit der Novellierung des Hochschulrahrnengesetzes 1979 haben Veränderungen<br />

in der Personalstruktur der Hochschulen zu einem erheblichen Abbau<br />

von Qualifikationsstellen zugunsten Wissenschaftlicher Mitar<strong>bei</strong>terstellen mit


- 236 -<br />

reinen Dienstleistungsfunktionen geführt. Frauen sind hiervon besonders betroffen.<br />

Ihr Anteil unter den Assistenten ist überproportional gesunken und im Bereich<br />

der Wissenschaftlichen Mitar<strong>bei</strong>terinnen gestiegen (Mittelbaustudie Essen<br />

1986, S. 15-19). Die Verschiebungs- und Dequalifizierungsprozesse innerhalb des<br />

Hochschulbereichs gehen mithin insbesondere zu Lasten der Frauen. Zudem<br />

wurde die Fors


- 237 -<br />

te zu Kollegen <strong>bei</strong> Berufungen, Hilfe <strong>bei</strong> Publikationen etc.) herausgebildet, die<br />

sich fast ausschließlich zwischen und zugunsten von Männern abspielen und als<br />

das "old-boys-network" der Hochschule bezeichnet werden kann (de Jong u.a.<br />

1981). Frauen, die sich mit ihrem eigenen Wissenschafts verständnis ausdrücklich<br />

gegen die etablierte männliche Wissenschaft wenden, sind doppelt diskriminiert.<br />

Das wird an dem Beispiel von Luise Pusch besonders deutlich, einer Frau, die<br />

aufgrund ihres Ansatzes einer feministischen Linguistik aus der "scientific community"<br />

ausgeschlossen wurde.<br />

Ohne an dieser Stelle auf weitere, oft subtile Diskriminierungen von Frauen<br />

in der Wissenschaft einzugehen (hierzu siehe u.a. Memo I und II 1980 u.<br />

1984; Bock/Braszeit/Schmerl 1983; Schlüter/Kuhn 1986), ist doch anzunehmen,<br />

daß Wissenschaftlerinnen aufgrund der genannten Entwicklungen in einem erheblich<br />

größeren Umfang als ihre männlichen Kollegen dazu gezwungen sind,<br />

freiberufliche Tätigkeiten zu übernehmen. Die Palette umfaßt Lehraufträge,<br />

Werkaufträge in Drittmittelprojekten inner- und außerhalb der Hochschule, Projektaufträge<br />

oder wissenschaftliche Ar<strong>bei</strong>ten für Verlage, Presse, Rundfunk und<br />

Fernsehen, eben dort, wo wissenschaftliches "Know-how" gefragt ist.<br />

Insofern gibt es Parallelen in der Beschäftigungssituation von Wissenschaftlerinnen<br />

und Journalistinnen, die als Freiberufliche tätig sind. Beide ar<strong>bei</strong>ten<br />

in unregelmäßig intensiven Phasen; je nach Auftragslage und Nachfrage<br />

haben sie mehr oder weniger große Entscheidungsfreiheit, Angebote anzunehmen<br />

oder abzulehnen, die Ar<strong>bei</strong>t selber inhaltlich zu gestalten. Stets aber tragen<br />

sie ein erhebliches existentielles und soziales Risiko. Unterschiedlich ist<br />

jedoch die Ausgangslage: Während die Freiberuflichen inzwischen zu einem festen<br />

Bestandteil des Medienbereichs geworden sind, was nicht ohne Folgen für<br />

die Erwartungshaltung angehender Journalistinnen bleiben kann, haben im Wissensehaftsbereich<br />

die hochqualifizierten Frauen ihre Berufslaufbahn mit anderen<br />

Erwartungen angetreten und haben nicht damit gerechnet, als "freischaffende<br />

Wissenschaftlerin ohne Berufsperspektive" tätig zu sein.<br />

Wie deprimierend die Situation für \XI issenschaftlerinnen sein kann, die<br />

nicht selten ihre wissenschaftliche Karriere mit Verzicht auf Familie und Kinder<br />

soweit vorangetrieben haben, wurde mir wieder an der ablehnenden Haltung<br />

mehrerer betroffener Frauen deutlich, die ich gebeten hatte, über ihre Situation<br />

als "freie Wissenschaftlerin" zu berichten. Sie bestätigten zwar die Notwendigkeit,<br />

die Lage der "unterprivilegierten Privilegierten" sichtbar zu machen,<br />

doch auch für diese Frauen gehörte offensichtlich die notwendige Ver-


- 238 -<br />

drängung ihrer objektiven Lage zur Bewältigungs- und Uberlebensstrategie,<br />

vielleicht in der Hoffnung, es sei nur eine Ubergangssituation.<br />

In Luise Pusch fand ich schließlich eine Wissenschaftler in, die zu den inzwischen<br />

in der Bundesrepublik renommiertesten "freischaffenden W issenschaftlerinnen"<br />

gehört. In ihren autobiographischen Darstellungen wird der Prozeß<br />

deutlich, den sie vollziehen mußte, um ihre Situation für sich konstruktiv und<br />

positiv zu wenden und damit auch zur gesellschaftlichen Anerkennung ihrer<br />

Forschungen <strong>bei</strong>zutragen. Erst als sie sich von ihrem Bem ühen um eine Professur<br />

abwandte in der Erkenntnis, daß die deutsche Männeruniversität ihr den<br />

Zugang verweigerte, entstanden in ihr Impulse eigener, neuer Schaffenskraft.<br />

Einer resignativ-depressiven Phase folgte eine Phase der Suche, des Herumreisens,<br />

der Entdeckung neuer gestalterischer Fähigkeiten, eines eigenen Sprachstils,<br />

den viele lesen und verstehen können. Sie entdeckte ihr eigenes Publikum,<br />

ihre eigenen Leser linnen. Die Ar<strong>bei</strong>t, die sie nun als Freiberufliche leistet,<br />

empfindet sie nicht mehr als fremdbestimmt, sie ist lustvoll und engagiert. Dies<br />

wiegt in ihrer Wahrnehmung das soziale Risiko auf.<br />

Welche strukturellen Konsequenzen sich aus dem zunehmenden Ver drängungsprozeß<br />

von Wissenschaftler innen in freiberufliche Beschäftigungsverhältnisse<br />

ergeben und wie sich Frauen am "offiziellen" Ar<strong>bei</strong>tsmarkt behaupten und<br />

durchsetzen werden, ist noch nicht abzusehen. Eines ist jedoch deutlich erkennbar:<br />

die freiberufliche Tätigkeit als existenzsichernde Beschäftigungsmöglichkeit<br />

ist unter den derzeitigen Bedingungen mit Familie und Kindern nicht<br />

vereinbar. Die "Freiheit", die die Bezeichnung verspricht, erfordert dauernde<br />

motivationale Selbststimulierung - und dies vor dem Hintergrund des unbefriedigten<br />

Bedürfnisses nach sozialer Sicherheit!<br />

LITERATUR<br />

Aktion Klartext (Hrsg.): Frauen und Medien. Die Lage im Rundfunk. Berichte -<br />

Kritik - Fragen - Vorschläge. Bonn 1978<br />

Ar<strong>bei</strong>tskreis Wissenschaftlerinnen in NR W (Hrsg.): Memorandum und Dokumentation<br />

zur Situation von Wissenschaftlerinnen an den Hochschulen von NW<br />

und Vorschläge zu ihrer Verbesserung. Dortmund 1980. Zitiert als MEMO I<br />

Ders. (Hrsg.): Privilegiert und doch diskriminiert. Memorandum H. Dortmund<br />

1984. Zitiert als Memo Ir<br />

Baur, Elke: Frauen als Freie in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten<br />

und der privaten Filmwirtschaft. In: Aktion Klartext (Hrsg.), a.a.O., S.<br />

78-100


- 239 -<br />

Dies.: ••• und Frauen kommen vor. Eine Untersuchung über Anzahl und Positionen<br />

der Frauen in der privaten Film- und Fernsehproduktion (Schriftenreihe<br />

der Aktion Klartext e. V. Bd. 2). Baden-Baden 1980<br />

Beinke, L./ Arabin, L./Faulstich, P. (Hrsg.): Der Weiterbildungslehrer • Weil der<br />

Stadt 1981<br />

Bock, U./Braszeit, A./Schmerl, Ch. (Hrsg.): Frauen an den Universitäten. Zur<br />

Situation von Studentinnen und Hochschullehrerinnen in der männlichen<br />

Wissenschaftshierarchie. Frankfurt/New York 1983<br />

de Jong, J./Knapp, U./Metz-GÖckel, S./Schön, B./Stahr, I.: Vom Studium der<br />

Frauen zur Wissenschaft der Frauen. in: Branahl, U. (Hrsg.): Didaktik für<br />

Hochschullehrer. Notwendigkeit, Stellenwert, Beispiele. (Reihe Blickpunkt<br />

Hochschuldidaktik Bd. 65) Hamburg 1981, S. 215-235<br />

Dieckmann, B./Fischer, G./Lange, K./Reichhelm, B./Reuß, F.-H. (Hrsg.): Nebenberufliche<br />

Kursleiter in den Volkshochschulen von Berlin (West) mit einem<br />

Tabellenanhang. (TUB-Dokumentation Weiterbildung H. 2) Berlin 1981<br />

Dieckmann, B./Stahr, I. (Hrsg.): Gewerkschaften und nebenberufliche Mitar<strong>bei</strong>ter<br />

in kulturellen Einrichtungen. (TUB-Dokumentation Weiterbildung H. 10)<br />

Berlin 1983<br />

Fischer, I./Marx, P./Rosenboom, J./Schmidt, J./Schophaus, Ch./Stahr, I. (Hrsg.):<br />

Die Situation des Mittelbaus an der UGE. Zwischenbericht des Projekts<br />

Mittelbau. Essen im Dezember 1986. Zitiert als Mittelbaustudie Essen<br />

Scherer, Alfred: Freie Mitar<strong>bei</strong>ter in der Erwachsenenbildung. Frankfurt/M.<br />

u.a. 1987<br />

Schlüter, A./Kuhn, A. (Hrsg.): Lila Schwarzbuch. Zur Diskriminierung von Frauen<br />

in der Wissenschaft. Düsseldorf 1986<br />

Stahr, Ingeborg: Nebenberufliche Lehrer und Weiterbildung. Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />

in der beruflichen Weiterbildung. Weinheim 1981


- 240 -<br />

Elke Baur<br />

FREIE JOURNALISTINNEN, "STILLE RESERVEARMEE" ODER<br />

DAS "SALZ IN DER SUPPE"<br />

Im Gegensatz zu Prostituierten oder Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen ar<strong>bei</strong>ten die "freien"<br />

Frauen im Medienbereich in gesellschaftlich relativ privilegierten Berufen,<br />

die ein bestimmtes Bildungsniveau voraussetzen, trotz des' sogenannten "freien<br />

Berufszugangs" häufig eine akademische Ausbildung. Zwar gibt es in den öffentlich-rechtlichen<br />

Rundfunkanstalten <strong>bei</strong>spielsweise im Produktions- und<br />

technisch/künstlerischen Bereich "typische" Frauenberufe, im journalistischen<br />

Bereich existiert diese Trennung nicht. Allerdings bleiben bestimmte Themenbereiche,<br />

zum Beispiel die politischen Kommentare oder die Moderation politischer<br />

Magazine u.a., nach wie vor Männern vorbehalten. Gesicherte empirische<br />

Daten über Frauen als Freie oder Festangestellte in den Medienbetrieben liegen,<br />

abgesehen von wenigen, teilweise bereits veralteten Teilstudien, nicht vor.<br />

Weder private noch öffentlich-rechtliche Medienbetriebe sind gesetzlich verpflichtet,<br />

Auskunft über Anzahl, Positionen oder Funktionen von Frauen in den<br />

Medienbetrieben zu geben. Die männerdominierten Medienbetriebe verweigern<br />

mit Hinweis auf den Datenschutz bisher größtenteils erfolgreich die Herausgabe<br />

der Grunddaten, die der Betriebsleitung natürlich bekannt sind. Paradoxerweise<br />

fordern sie von den Frauen, wenn diese ihre Gleichstell ungsrechte<br />

anmahnen, zunächst einmal den Nachweis der Ungleichstellung anhand 'gesicherter<br />

empirischer Daten. Mit Sicherheit ist das Problem der Ungleichstellung<br />

mittlerweile erkannt worden, aber für die Männer scheint es nach wie vor<br />

leichter, das Problem taktisch vor sich herzuschieben, als die eigenen Berufs-,<br />

Aufstiegs- und Karrierechancen zu schmälern. Das neue hoffnungsvolle Zauberwort<br />

heißt <strong>bei</strong> einigen Sendern "Frauenförderpläne". Das mag ja prinzipiell der<br />

richtige Weg zu sein, nur wenn ein solches Programm vorsieht, daß Frauen zunächst<br />

einmal über spezielle Schulungsprogramme für Führungspositionen qualifiziert<br />

werden müssen, dann sind doch Zweifel angebracht, ob es sich nicht<br />

er neut um eine Hinhaltetaktik handelt. Die wenigen Untersuchungen zur "Lage<br />

der Frauen in den Medienbetrieben" haben nämlich allesamt gezeigt, daß Frauen,<br />

die in gleichen Positionen wie Männer ar<strong>bei</strong>ten, in der Regel höher qualifiziert<br />

sind, sonst hätten sie ihre Positionen vermutlich nicht erreicht.


- 241 -<br />

Aber zurück zu den Freien in den Medienbetrieben. Grundsätzlich sind<br />

von der "ungeschützten" Ar<strong>bei</strong>tssituation sowohl Männer als auch Frauen betroffen.<br />

Trotz aller Rufe nach höherer sozialer Sicherheit gibt es nach wie vor<br />

Freie, die frei bleiben wollen, weil dieser Weg besser mit ihrer Lebens- und<br />

Berufsauffassung übereinstimmt als eine Festanstellung. Andererseits gibt es<br />

Freie, die die freiberufliche Tätigkeit ausschließlich als Vorstufe zu einer<br />

Festanstellung sehen, da sie ein gesichertes und geregeltes Berufsleben vorziehen.<br />

Die Vielfalt der freien journalistischen Tätigkeiten und deren Kombination<br />

schafft also viele unterschiedliche und manchmaJ auch kaum zu vergleichende<br />

Situationen. Darüber hinaus erlebt jede/r Freie die eigene Lage subjektiv anders.<br />

Je stärker die Erwartungshaltung an das Berufsleben mit dem Streben<br />

nach sozialer Sicherheit verknüpft ist, desto "ungeschützter" wird die/der Freie<br />

das eigene Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis im Vergleich zu den Festangestellten empfinden.<br />

Je weniger die Freien ihre journalistische Ar<strong>bei</strong>t auf nur eine einzige Redaktion<br />

oder auf einen bestimmten Themenschwerpunkt konzentrieren, und je mehr<br />

es ihnen gelingt, programm- und medienübergreifend zu ar<strong>bei</strong>ten - was Festangestellte<br />

nur in Sonderfällen können -, desto wen!ger tragen sie ihr "ungescbütztes"<br />

Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis als tägliches Lebens- und Leidensproblem mit sich<br />

herum. Für die "Stars" unter den Freien, die so gefragt sind, daß sie mit<br />

Höchstgagen und Honoraren mehr verdienen als die Festangestellten, stellt sich<br />

die Frage nach "geschützten" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen überhaupt nicht. Aber das<br />

trifft nur auf wenige zu. Problematisch ist die Ar<strong>bei</strong>tssituation der Freien, die<br />

trotz Qualifikation, Leistung und Erfolg mit ihrer Ar<strong>bei</strong>t ihren Lebensunterhalt<br />

nur unzureichend sichern können. Der Wunsch nach einer gesicherten Festanstellung<br />

ist ihnen nicht zu verdenken. Und schließlich gibt es Ar<strong>bei</strong>tssituationen<br />

für Freie, <strong>bei</strong> denen überhaupt nicht mehr einzusehen ist, warum sie im Vergleich<br />

mit den Festangestellten in weniger "geschützten" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen<br />

ar<strong>bei</strong>ten. Die Ar<strong>bei</strong>t mancher Freier ist innerbetrieblich so stark eingebunden,<br />

daß sie mit der Ar<strong>bei</strong>t der Festangestellten identisch ist. Die Medienbetriebe<br />

stellen aber in einigen Fällen keine Personalmittel für eine Planstelle zur Verfügung,<br />

um diese ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen Freien fest einzustellen.<br />

Alles in allem erfordert die freie journalistische Tätigkeit eine hohe Berufsmobilität,<br />

fachliche Qualifikation, kreatives, analytisches und nicht zuletzt<br />

leistungsorientiertes Denken und ein gewisses Maß an Durchsetzungsvermögen.<br />

Der Konkurrenzdruck unter der "stillen Reservearmee", wie die Freien oft ge-


- 242 -<br />

nannt werden, ist groß. Theoretisch wächst die Zahl der Anwärter/innen immer<br />

um die Zahl ar<strong>bei</strong>tsloser Akademiker und Akademikerinnen, die in der freien<br />

journalistischen Tätigkeit einen Ausweg aus der Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit suchen. Nur,<br />

es ist ein Trugschluß zu glauben, daß Medienbetriebe ein Heer ar<strong>bei</strong>tsloser Intellektueller<br />

auffangen könnten. Die Auftragsvergabe richtet sich nach den<br />

Mitteln, die die Medienbetriebe aus ihrem Programmetat ausgeben können oder<br />

wo llen. Hoffnungen, die freie Erwerbstätigkeit besser in Einklang mit familiären<br />

Pflichten wie Haushalt oder Kindererziehung zu bringen, als dies <strong>bei</strong> einem<br />

abhängigen Beschäftigungsverhältnis der Fall ist, erfüllen sich in der Reali tä t<br />

wegen des hohen Konkurrenzdrucks, der geforderten beruflichen Mobilität und<br />

der Leistungsanforderung nicht.<br />

Verbessert hat sich seit 1983 die sozialerechtliche Situation der Freien.<br />

Mit der Verabschiedung des Künstlersozialgesetzes durch den Gesetzgeber sind<br />

Künstler und Publizisten in der Kranken- und Rentenversicherung pflichtversichert.<br />

Vor diesem Zeitpunkt konnten sich Freie nur frei willig versichern. Sie<br />

mußten die Beiträge selbst aufbringen, was vielen nicht möglich war und im<br />

Alter häufig zu sozialen Härtefällen führte. Seit der Pflichtversicherung müssen<br />

die Versicherten nur noch für die Hälfte der Beiträge aufkommen, die andere<br />

Hälfte zahlen anteilig der Bund und die Medienunternehmen. Freie, die<br />

jedoch nur ein Minimaleinkommen erzielen, unterliegen dieser Versicherungspflicht<br />

nicht. Es gibt keine Angaben darüber, ob von dieser Regelung mehr<br />

Frauen als Männer betroffen sind. Außerdem haben einige Medienunternehmen,<br />

allen voran die Verleger/innen, Verfassungsbeschwerde gegen diese Pflichtabgabe<br />

eingereicht. Das Urteil steht noch aus. Ein Pensionsanspruch besteht für die<br />

Freien der öffentlich-rechtlichen Anstalten nur dann, wenn sie freiwillig Beiträge<br />

in die seit 1972 bestehenden Pensionskassen einzahlen, an denen sich die<br />

Anstalten sowie anstaltseigenen Produktionsfirmen beteiligen.<br />

Je nach Vertragsgestaltung besteht für die Freien kein Kündigungsschutz<br />

und häufig auch kein Anspruch auf Ar<strong>bei</strong>tslosengeld. Die Freien sind jedoch<br />

ständig von Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit bedroht, denn die Medienunternehmen sind nicht<br />

verpflichtet, den Lebensunterhalt der Freien durch eine ausreichende Auftragslage<br />

zu sichern. Bei den Honorarverhandlungen über ihre jeweiligen Leistungen<br />

richtet sich die Höhe der Honorare nach von Sender zu Sender verschiedenen<br />

Tarifverträgen, Dienstanweisungen und Honorarrahmenverträgen. Vergleichbare<br />

Leistungen werden <strong>bei</strong> den einzelnen Sendern also höchst unterschiedlich hono-


- 243 -<br />

riert. Die Freien sind oftmals über die Möglichkeiten, die sie <strong>bei</strong> den einzelnen<br />

Sendern aushandeln können, nicht informiert. Darüber hinaus scheinen die neuen<br />

privaten Anbieter noch willkürlicher mit den einseitig diktierbaren Leistungsvergütungen<br />

der Freien zu verfahren.<br />

Bei einigen Rundfunkanstalten erschweren die sogenannten Prognoseverfahren<br />

die Ar<strong>bei</strong>tssituation der. Freien. Sie sind die Antwort der Sender auf<br />

eine Welle von Festanstellungsklagen Mitte der 70er Jahre, mit denen sich<br />

Freie in "verkappten" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen per Ar<strong>bei</strong>tsgericht und Unterstützung<br />

der Gewerkschaften in Festanstellungen hineingeklagt hatten. Die Prognoseverfahren<br />

limitieren die Ar<strong>bei</strong>tszeit und damit auch die Honorareinnahmen<br />

der Freien. Die Rundfunkanstalten sehen darin den einzigen "Schutz" vor Festanstellungsklagen.<br />

In der Realität bringen sie Nachteile für eine konstruktive<br />

und kontinuierliche Programmzusammenar<strong>bei</strong>t von Freien und Festen, da Freie<br />

immer wieder für eine bestimmte Zeit sozusagen "gesprrt" werden. Aufgrund<br />

der damaligen Festanstellungen von ca. 900 ehemaligen Freien entstanden den<br />

Sendern höhere Personalkosten, die sie in der Folgezeit teilweise <strong>bei</strong> den Programmitteln,<br />

aus denen auch die Honorare der Freien bezahlt werden, wieder<br />

einsparten. Bei den nachfolgenden Tarifverhandlungen über di e Honorare der<br />

Freien war <strong>bei</strong> den Anstalten die Bereitschaft sehr gering, einer Anhebung der<br />

Honorare, die jahrelang eingefroren waren, zuzustimmen. Last but not least<br />

si nd die Anstalten auch nicht verpflichtet, Freie an Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen<br />

zu beteiligen. Ausnahmen bestätigen nicht die Regel .<br />

Die konkrete Ar<strong>bei</strong>tssituation der Freien vollzieht sich in interpersonellen<br />

Absprachen mit Festangestellten, die für die Programmverantwortlichen Garanten<br />

sind, die inhaltliche und gestalterische Ar<strong>bei</strong>t der Freien in den Programmauftrag<br />

einzubinden. Die Verhandlungspartner für die Freien sind nach wie vor<br />

überwiegend Männer, ganz selten Frauen. Das bedeutet für die Frauen unter<br />

den Freien, ihre Ar<strong>bei</strong>t von Frau zu Mann "an den Mann" zu bringen, für ihre<br />

Kollegen jedoch nur "von Mann an den Mann" zu bringen. In den vergangenen<br />

Jahren versuchten einige Sender, ihr Image aufzubessern, indem sie frei werdende<br />

Planstellen im redaktionellen Bereich mit Frauen besetzten oder in einstigen<br />

Männerdomänen sichtbar Nachrichtensprecherinnen und Sportmoderatorinnen<br />

einsetzten. Mehr als Schönheitsreparaturen sind da<strong>bei</strong> bis jetzt noch nicht herausgekommen.<br />

In Spitzenpositionen gibt es neuerdings zwei Frauen. Bleibt abzuwarten,<br />

inwieweit ihnen nur eine "Feigenblattfunktion" zukommt. Uber Finanz-,<br />

Investitions- und Programmpolitik entscheiden also fast ausschließlich


- 244 -<br />

Männer. Für die Freien wird sich die männerdominierte Welt der Festangestellten<br />

auch nur langsam ändern, denn diese sind ar<strong>bei</strong>tsrechtlich bis zu ihrer Pensionierung<br />

geschützt. Bisher besetzt kein Sender frei werdende Stellen radikal<br />

nur mit Frauen. Auch Spitzenpositionen wie Intendanten, Programmdirektoren<br />

und teilweise Chefredakteure, die auf Zeit gewählt werden, bleiben fest in<br />

Männerhand, solange die politischen Parteien in Männern die besseren Garanten<br />

für ihre Einflußnahme sehen. Obwohl es qualifizierte Frauen gibt, schlagen<br />

Parteien in der Regel keine Frauen für diese Amter vor, oder besser gesagt,<br />

lassen sie nicht über die Gremien vorschlagen. Die Leistungen der Freien werden<br />

also auch in Zukunft mehrheitlich von Männern beurteilt werden.<br />

Die Qualität der Zusammenar<strong>bei</strong>t der Freien und der Festen hängt davon<br />

ab, ob die Festangestellten die Ar<strong>bei</strong>t der Freien für das "Salz in der Suppe"<br />

halten und die konstruktive, kreative, kontinuierliche Programmar<strong>bei</strong>t schätzen<br />

und fördern, indem sie sachliche Kriterien zugrunde legen. Problematisch gestaltet<br />

sich die Zusammenar<strong>bei</strong>t immer dann, wenn Festangestellte in den Freien<br />

lediglich nur die berühmte "stille Reservearmee" sehen, aus der sie sich<br />

unerschöpflich nach dem "hire and fire"-Prinzip bedienen können, unter dem<br />

Motto: hier die mächtigen "Kreativ beamten" und dort das "abhängige Kreativproletariat".<br />

Vor letzterem sollten die Freien allerdings geschützt werden.


- 245 -<br />

Paula Schütze / Romy Wehrda<br />

VORLAUFIGE TERRAINERKUNDUNG<br />

ZUR SITUATION DER FREIEN MITARBEITERINNEN BEIM HÖRFUNK<br />

Wir sind freie Journalistinnen und hatten uns vorgenommen, zur Situation der<br />

freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen <strong>bei</strong> Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik zu recherchieren.<br />

Unser täglich Brot ist es, Informationen zu beschaffen. Aber über die<br />

Situation dieser Mitar<strong>bei</strong>terinnen/Journalistinnen war nicht viel herauszubekommen.<br />

Von den Honorar- und Lizenzabteilungen waren keine Angaben zur Zahl<br />

der Frauen unter den freien Mitar<strong>bei</strong>tern zu erhalten: "Ja, da müßten wir ja<br />

erst ein neues Computerprogramm schreiben." Erst recht gab es keine Zahlen<br />

zum wesentlich kleineren Stamm der ständigen freien Mitar<strong>bei</strong>ter und dem Anteil<br />

der Mitar<strong>bei</strong>terinnen. Zu den geschätzten Einkommen von nichtständig und<br />

ständig beschäftigten Freien waren wir auf Literatur angewiesen, zur rechtlichen<br />

und zur tariflichen Situation und damit zu den sozialen Bedingungen des<br />

Berufs lag uns eine Diplomar<strong>bei</strong>t vor (Heidemann 1984 ). 1<br />

Wenn die Auftraggeber, die Rundfunkanstalten, nach den Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />

ihrer Freien gefragt werden, herrscht Schweigen. Obwohl kein Programm<br />

ohne deren Ar<strong>bei</strong>t auskommt, ist das Thema nicht beliebt. Denn" so nötig die<br />

Freien sind, es geht auch darum, ein "Nachwachsen anstellungsverdächtiger<br />

freier Mitarbeher" zu verhindern (Heidemann 1984, S. 76). Das Stichwort heißt<br />

"Prognose". Damit ist die Beschränkung der Ar<strong>bei</strong>tszeit und -leistung der Freien<br />

seitens der Anstalten gemeint, so daß keine ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Bedingungen<br />

entstehen, die etwa auf eine Festanstellung hinauslaufen könnten.<br />

Das Aktionsfeld der freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen erstreckt sich zwischen Bedarf<br />

und Behinderung durch die Anstalten. Der Anteil der Journalistinnen unter<br />

den Freien liegt schon seit einigen Jahren <strong>bei</strong> gut einem Drittel. 2 Damit liegt<br />

er höher als die Zahl der festangestellten Redakteurinnen <strong>bei</strong> Hörfunk und<br />

Fernsehen 3 • Wieso es mehr Frauen im freien Beruf gibt als im Gefüge der<br />

Rundfunkanstalten, darauf versuchen wir eine Antwort zu geben durch unsere<br />

persönlichen Eindrücke und Beobachtungen. Daß inzwischen die Präsenz der<br />

Journalistinnen und Moderatorinnen gestiegen ist, ist im Rundfunk nicht mehr<br />

zu überhören. Aber soviel ist auch klar: die Entscheidungsstellen hinter den<br />

Kulissen sind fest in männl icher Hand.


- 246 -<br />

Und noch etwas: Wir haben uns, obwohl seit geraumer Zeit in diesem Metier<br />

tätig, erst anläßlich dieses Artikels ausführlich mit unserer eigenen Situation<br />

beschäftigt. Zu verdrängen, wie ungewiß und ungeklärt inzwischen der<br />

Status der Freien ist, gehört mit zu den Voraussetzungen, sich auf diesen Beruf<br />

überhaupt einzulassen. Nach einiger Zeit kommt man und besonders frau aber<br />

um eine Auseinandersetzung nicht mehr herum.<br />

1. Intermezzo<br />

"Ja, können Sie denn davon leben?" oder "Haben Sie etwa ein Rittergut zu<br />

Hause?", kalauernde oder besorgte Fragen nach der finanziellen Situation der<br />

freien Mitar<strong>bei</strong>ter sind an der Tagesordnung. Weniger häufig sind dagegen die<br />

Fragen, ob das Honorar für eine Sendung auch dem Rechercheaufwand entspricht.<br />

Ob ich an einer Sendung für 250 DM einen oder drei Tage ar<strong>bei</strong>te, an<br />

einem Stundenfeature drei oder sechs Wochen, das ist Sache meiner Ar<strong>bei</strong>tsökonomie<br />

und meines Budgets. Bezahlt wird nach Fertigstellung der Sendung<br />

von den Honorar- und Lizenzabteilungen, d.h. <strong>bei</strong> manchen Anstalten ist das<br />

Gel d nach zwei Wochen, <strong>bei</strong> manchen erst nach zwei Monaten da. "Ranklotzen"<br />

ist notwendig, damit der Ausstoß der Sendungen und damit der Geldfluß gesichert<br />

sind. Vier bis fünf Projekte, die gleichzeitig im Manuskript fertiggestellt,<br />

an recherchiert, angeboten oder für die Interviews geführt werden, sind keine<br />

Seltenheit. Daneben wollen die Meldungen für die Sozialversicherungen, die<br />

Steuererklärung usw. organisiert und die spärlichen sozialen Tarifleistungen der<br />

Anstalten wie z.B. das jährliche Urlaubsgeld, das alle Rundfunkanstalten inzwischen<br />

gewähren, reklamiert sein. Voraussetzung ist eine Tätigkeit von mindestens<br />

42 Ar<strong>bei</strong>tstagen in sechs Monaten <strong>bei</strong> einer Stammanstalt, und man/frau<br />

muß dort 50% des Jahreseinkommens verdient haben. Auf meinen ersten Urlaubsantrag<br />

trug ich daraufhin pflichtgemäß meinen wir klichen Ar<strong>bei</strong>tsaufwand<br />

ein. Später erfuhr ich, daß als Schlüssel pro Ar<strong>bei</strong>tstag etwa ein Verdienst von<br />

20 0 DM angesetzt wird. "Darunter lohnt es sich ja nicht." Schön wär's. Aber<br />

das, was ich an Ar<strong>bei</strong>tstagen leiste und das, was die Anstalten als Ar<strong>bei</strong>tstag<br />

an erkennen, klafft bedenklich auseinander. Und es ist ein Kunststück an Disposi<br />

tion - zumal, wenn man für mehrere Anstalten ar<strong>bei</strong>tet -, die Sendungen <strong>bei</strong><br />

der Stamman,stalt so hintereinanderzulegen, daß der Anspruch auf Urlaubsgeld<br />

nicht verloren geht.


- 247 -<br />

Freie Mitar<strong>bei</strong>ter - ein unmögl icher Berufsstand. Für die Gewerkschaftler<br />

von der DJU (Deutsche Journalisten Union) und der RFFU (Rundfunk-Fernseh­<br />

Film-Union) <strong>bei</strong>spielsweise sind die Leute eigentlich ar<strong>bei</strong>tslos oder müßten fest<br />

angestellt sein. Sie tun sich schwer, z.B. Tarifbedingungen für Freie auszuhandeln<br />

bzw. die Freien überhaupt organisiert zu vertreten. Denn eine Grenze muß<br />

immer gewahrt bleiben, die zwischen Festangestellten und Freien. Alle Definitionen,<br />

die in den letzten Jahren für den Status der Freien, z.B. von Ar<strong>bei</strong>tsgerichten,<br />

vorgenommen wurden, laufen auf diese Abgrenzung hinaus. Vertragsverhältnisse<br />

wie "ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlicher Mitar<strong>bei</strong>ter" oder "auf Produktionsdauer<br />

Beschäftigte" dienen dazu, überhaupt diese Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse zu umschreiben.<br />

Heraus kommt ein Status von Sel bständigen, die dennoch eng mit dem Programm-<br />

und Produktionsablauf der Rundfunkanstalten verflochten sind. Bis zu<br />

240 Hauptmitwirkungsarten der Freien gibt es, von denen 80 "stark besetzt<br />

sind" (Heidemann 1984, S. 12).<br />

Seit 1976 gibt es den § 12 .a im Tarifvertragsgesetz für ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche<br />

Personen, die zwar als selbständig gelten, aber wirtschaftlich abhängig<br />

ar<strong>bei</strong>ten. In Einzelverträgen handelten die Rundfunkanstalten mit den Gewerkschaften,<br />

z.B. der RFFU und dem DJ V (Deutscher Journalisten-Verband) Bedingu<br />

ngen aus . Die Tarifleistungen stellen sich daher innerhalb der Bundesrepublik<br />

für die einzelnen Anstalten unterschiedlich dar. Urlaubsgeld ist inzwischen<br />

überall verbindlich, aber Schutzbestimmungen, z.B. für freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen,<br />

die schwanger werden oder die Kinder haben, sind als verbindliche Leistungen<br />

<strong>bei</strong> allen Anstalten noch in weiter Ferne. Zahlungen <strong>bei</strong> Schwangerschaft, also<br />

vor und nach der Entbindung, können <strong>bei</strong> einigen Anstalten theoretisch in Anspruch<br />

genommen werden, doch scheint es unmöglich, auch Ar<strong>bei</strong>tsaussichten<br />

nach einem Babyjahr zuzusichern.<br />

Unter den jetzigen Bedingungen ist es nahetu ausgeschlossen, diesen Beruf<br />

mit einer langfristigen Lebensplanung zu verbinden. Auch unvorhersehbare Ereignisse<br />

wie Unfälle oder Krankheiten werden finanziell zu einem Desaster,<br />

wenn nicht eine Mindestbeschäftigungszeit von 72 Ar<strong>bei</strong>tstagen pro Jahr <strong>bei</strong><br />

einer Anstalt vorliegt und damit der Anspruch auf Krankengeld besteht oder<br />

private Versicherungen abgeschlossen wurden. Die verbesserung der sozialen<br />

Bedingungen wird von den Rundfunkanstalten mit dem Hinweis auf die große<br />

Zahl der freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen abgelehnt. Auf über 100.000 wird die Zahl<br />

der Freien geschätzt. Verschwiegen wird da <strong>bei</strong>, daß die Zahl der ständigen<br />

freien Mitar<strong>bei</strong>ter, der sogenannten "festen Freien" (Kriterium wäre da<strong>bei</strong> etwa


- 248 -<br />

ein Jahreseinkommen ab 20 .000 DM und die hauptberufliche Tätigkeit}, <strong>bei</strong> allen<br />

Rundfunkanstalten wesentlich niedriger liegt. Mit rund 500 gab sie der jetzi<br />

ge WDR-Intendant Nowottny auf einer Tagung der regionalen Rundfunkstudios<br />

an. Das ist nicht viel für die größte Anstalt der Bundesrepublik 4 . Diese hauptberuflichen<br />

Freien unterliegen den gleichen sozialen und ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen<br />

Bedingungen wie der gelegentlich vortragende Professor, nebenamtlich tätige<br />

Lehrer/innen oder als "nebenberuflich" tätige Student/innen.<br />

Nach Ansicht der Anstalten ist eine große Zahl von freien Mitar<strong>bei</strong>tenden<br />

notwendig, da deren Kreativitätspotential das Niveau des Programms hebt. Als<br />

ei n "Stück Rundfunkfreiheit" bezeichnete sie daher der frühere WDR-Intendant<br />

von Seil. Sie sind tatsächlich <strong>bei</strong> der Aufgabe, ein umfassendes Meinungs- und<br />

Themenspektrum zu bieten, unentbehrlich. Inzwischen verkommen, so scheint<br />

es, ist dies "Stück Rundfunkfreiheit". Eher wird nach dem "Prinzip Durchlauferhitzer"<br />

allen möglichen Leuten ein Mikrofon in die Hand gedrückt, und die Talentierten<br />

werden sich schon irgendwie durchsetzen. Ex und hopp lautet die<br />

Devise.<br />

Die Situation der Freien war nicht immer so schlecht. Für heute frei ar<strong>bei</strong>tende<br />

Rundfunkjournalisten kaum vorstellbar war die Zeit während des Aufbaus<br />

der Rundfunkanstalten und der Programme (Heidemann 1984, S. 66-85)<br />

nach 1945. Die Zeit war günstig, kreative Mitar<strong>bei</strong>ter wurden gesucht. Sie trugen<br />

in der Hauptsache das Programm und experimentierten mit neuen Sendeund<br />

Programmformen. Für sie lohnte es sich, frei zu ar<strong>bei</strong>ten und damit auf<br />

Sozial- und Tarifleistungen zu verzichten, denn die Honorare lagen höher als<br />

die der Festangestellten.<br />

Erst in den 60er Jahren stieg der Kostenanteil des festangestellten technischen,<br />

künstlerischen und journalistischen Personals, der heute den größten Teil<br />

der Etats aus dem Rundfunkgebührenaufkommen ausmacht. Die Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

für Freie wurden reduziert, die Verdienste sanken weit unter das<br />

Einkommen der Festangestellten. Die Reaktion auf die schlechten Bedingungen<br />

wa r die Festanstellungswelle, die di e Anstal ten von 1973 bis 1978 überrollte.<br />

An der Spitze der Entwickl ung lag der WDR mit 260 Festanstell ungsklagen und<br />

mi t 363 "freiwilligen" Ubernahmen in Fällen, in denen der Gang zum Ar<strong>bei</strong>tsgeri<br />

cht für die Mitar<strong>bei</strong>ter erfolgreich gewesen wäre. Danach reagierten die Anstalten<br />

mit weiteren Ar<strong>bei</strong>tsrestriktionen, der "Prognose", und neuen Vertragsformen.<br />

Vor allem die "Prognose" verursacht Ar<strong>bei</strong>tsbeschränkungen und finanzielle<br />

Einbußen. So wurde im WDR letztes Jahr wieder einmal die Beschränkung


- 21./.9 -<br />

auf fünf Ar<strong>bei</strong>tstage im Monat diskutiert. Damit wäre die Prognose so niedrig,<br />

daß die Voraussetzungen für die Reklamation der Tarifleistungen entfallen.<br />

Auch kommt es vor, daß die freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen nkht offiziell von neuen<br />

Einschränkungen informiert werden, sondern dies erst von den Redakteuren erfahren<br />

müssen. Meistens erfahren sie davon, wenn sie gerade ein neues Thema<br />

angeboten haben, das dann natürlich von anderen bear<strong>bei</strong>tet wird.<br />

Heute gilt die freie Mitar<strong>bei</strong>t zwangsläufig als Sprungbrett in die Festanstellung:<br />

Dies gilt für die Redaktionen aller Medien sowie Presseabteilungen<br />

öffentlicher Einrichtungen, aber auch privater Unternehmen. Die noch immer<br />

vorhandene Orientierung auf die männlichen Kollegen <strong>bei</strong> Festanstellungen begründet<br />

zum Teil den relativ hohen Anteil der Mitar<strong>bei</strong>terinnen unter den Freien<br />

. Sie sind nach unseren Beobachtungen länger als Freie tätig. Hinzu kommt,<br />

daß von den freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen angenommen wird, die flexible Ar<strong>bei</strong>tszeit<br />

mache die Vereinbarung mit anderen Verpflichtungen (Kinder, Haushalt) oder<br />

auch die Berücksichtigung außerberuflicher Bedürfnisse möglich. Auch eine<br />

andere, von uns subjektiv beobachtete Tatsache spielt eine Rolle: Männer<br />

wechseln nach einiger Zeit freier Mitar<strong>bei</strong>t ungerührt die Fronten, gehen z.B.<br />

in die Presseabteilung einer Institution, kompensieren den Verlust von Meinungs-<br />

und Themenvielfalt mit höherem Gehalt und der Entfaltung in einer neuen<br />

Hierarchie; Journalistinnen dagegen liegt mehr an der Herausforderung und<br />

der Mannigfaltigkeit ihrer Ar<strong>bei</strong>t. Sie sind weniger bereit, das Interesse an<br />

Menschen und Ereignissen aufzugeben und sich einem meinungsbestimmenden<br />

Ar<strong>bei</strong>tgeber loyal gegenüber zu verhalten. Damit bewerten wir die Klage über<br />

die angeblich mangelnde Durchsetzungsfähigkeit von Frauen in Institutionen<br />

umgekehrt.<br />

2. Intermezzo<br />

Nach einigen Jahren freier Mitar<strong>bei</strong>t und gelegentlichem Austausch mit Kolleg/innen<br />

über Themen und Sendeformen meinte ich, daß die Rundfunkanstalt<br />

auch etwas für meine Fortbildung tun sollte. Also ging ich zum/r Ausblldungsbeauftragten<br />

meiner Stammanstalt. Was es denn für Möglichkeiten und Angebote<br />

gäbe, fragte ich, und daß ich Interesse an einem Austausch zu Featureformen<br />

habe, ggf. auch zu Recherchemethoden. "Nein, nein, eine Fortbildung ist<br />

sehr teuer, und die Freien bekommen wir wahrscheinlich auch gar nicht zusam-


- 250 -<br />

men", lautete die Antwort. Und überhaupt, da gäbe es auch Schwierigkeiten mit<br />

der Prognose, wenn die Fortbildungszeit als Ar<strong>bei</strong>tstage angerechnet werden<br />

müßte. Ich verstand. Und: "Wenn Sie auch für den WDR ar<strong>bei</strong>ten, gehen Sie<br />

doch dort hin, die haben die Fortbildung für Freie vorgesehen". Inzwischen kam<br />

ich mir vor, als befände ich mich ungebührlicher weise in einem Bewerbungsgespräch.<br />

Diese Atmosphäre macht sich sofort breit, wenn Freie einmal etwas<br />

verlangen oder nr vorschlagen. Da<strong>bei</strong> ging es mir doch nur um meine Qualifikation,<br />

die auch dem Programm der Anstalt zugute käme.<br />

Der freie Journalismus gilt als Begabungsberuf, der Zugang ist offen.<br />

Wer's kann, kann's oder experimentiert, probiert, ar<strong>bei</strong>tet auf eigene (Zeit-)Kosteno<br />

Fortbildung für Freie ist noch lange keine selbstverständliche Einrichtu<br />

ng. Selbst wenn die Forderung Sinn macht, stehen seitens der Anstalten viele<br />

(ar<strong>bei</strong>tsrechtliche) Argumente dagegen. Zwar können sich Freie zu Kursen und<br />

Seminaren der Gewerkschaften melden, müssen dann aber die hohen Kosten (in<br />

der Regel 200-300 DM) selbst tragen. Und es gibt in Frankfurt die ZEP, die<br />

zentrale Fortbildung der<br />

Programmitar<strong>bei</strong>ter, eine Gemeinschaftseinrichtung<br />

vo n ARD und ZDF, zu der die Anstalten ihre Redakteure schicken und die Kosten<br />

übernehmen. Auch Freie können für die Angebote der ZEP vorgeschlagen<br />

werden. Das machen z.B. der Hessische Rundfunk und neuerdings auch verstärkt<br />

der WDR. Beim WDR gibt es schon länger eine Vereinbarung, die auch Freien<br />

di e Teilnahme an Fortbildungskursen ermöglicht. Theoretisch-praktisch sieht es<br />

so aus, daß die Freien dazu von einer Redaktion vorgeschlagen werden müssen.<br />

Oft sind die wichtigsten Kurse der ZEP schon lange ausgebucht, bis auch Freie<br />

einmal das Programm in die Hand bekommen. Seit z.B. der WDR schlechte Erfa<br />

hrungen mit der Qualität der Sendungen in den neuen Regionalprogrammen<br />

machte, andererseits aber die Konkurrenz mit den Privaten sich im Hörfunk vor<br />

al lem im lokalen Bereich abspielen wird, gibt es dort ein neues Bestreben, "von<br />

oben" Freie weiterzuqualifizieren. Seit 1986 stehen Freien drei bezahlte Weiterbildungstage<br />

im Jahr zur Verfügung, unabhängig von den sonstigen Ar<strong>bei</strong>tsbeschränkungen.<br />

Notwendig ist aber jeweils die Fürsprache einer Redaktion.<br />

Die Anstalten verhalten sich zur Qualifikation ihrer freien Mitar<strong>bei</strong>ter<br />

weiterhin zwiespältig. Zwar ist erkannt, daß die Rekrutierung von Freien vor<br />

Ort nicht auf Anhieb Professionelles zutage bringt, aber andererseits wird der<br />

Pool der Freien ständig erweitert. So schickt der WDR Fragebögen "Zur Fest-<br />

\<br />

stellung der Versicherungspflicht/-freiheit in der Sozialversicherung" an alle,<br />

die das erste Mal für die Anstalt gear<strong>bei</strong>tet haben. Darauf darf dann säuberlich


- 25 1 -<br />

angekreuzt werden, ob sie Ar<strong>bei</strong>tnehmer/in, Beamt/er/in, Schüler/in, Student/in,<br />

Hausmann oder -frau sind, Pensionär/in, Rentner/in, Ar<strong>bei</strong>tslos/e/er<br />

oder eben Freiberufler/in. Die Palette zeigt es: Reinriechen darf jede/r einmal,<br />

die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, die Begabung wird' s<br />

schon richten, und die Fortbildung wird gespart. Eine fortlaufende Qualifizierung,<br />

die auch außerhalb der viel gerühmten und zugegeben wichtigen Praxis<br />

nötig wäre, findet in der Wirklichkeit und zugänglich für viele Freie nicht<br />

statt.<br />

3. Intermezzo<br />

Die öffentlich-rechtlichen Regionalstudios brauchen Freie, die sich vor Ort<br />

auskennen und ständig präsent sind. Ihr Kontakt mit dem Studio und den Redakteuren<br />

ist daher relativ fest, sie nehmen an den Redaktionskonferenzen teil<br />

und sind auch sonst häufig anwesend. Die "Einstellung" einer Freien erfolgt in<br />

der Regel durch den Chef, den Studioleiter oder seinen Stellvertreter. Das ist<br />

nichts Ungewöhnliches, es ergeht auch Männern so. Doch wir haben erlebt, daß<br />

sich der Studioleiter neben den üblichen Fragen nach Ausbildung, journalistischen<br />

Vorerfahrungen und Themenschwerpunkten auch lebhaft nach der privaten<br />

Situation der zukünftigen Mitar<strong>bei</strong>terinnen erkundigte. Seiner Ansicht nach,<br />

so erfuhren wir, haben Frauen kaum Chancen, sich hausintern zu etablieren. Da<br />

er<br />

aber die ortsverbundene, zuverlässige Mitar<strong>bei</strong>terin braucht, ist sein Ideal<br />

die "versorgte" Freie, z.B. eine ar<strong>bei</strong>tssuchende Journalistin, die mit einem<br />

Studienrat verheiratet ist. Das verspricht Kontinuität und wenig Konflikte, weil<br />

aufgrund der "nebenberuflichen" Beschäftigung mit Profilierung und Ar<strong>bei</strong>tsansprüchen<br />

kaum zu rechnen ist. Bändelt eine Freie dann doch mit anderen Redaktionen<br />

der Anstalt - in diesem Fall im WDR -. an, so hört sie in der täglichen<br />

Redaktionskonferenz Sätze wie "Die hat übrigens gestern einen ausgezeichneten<br />

Beitrag in der und der Sendung gehabt". Damit wird Anerkennung<br />

zwischen Neid und Verwunderung ausgedrückt, gleichzeitig aber auch eine Maßregelung<br />

für den ungebührlichen Versuch, sich überregional einen Namen zu<br />

machen.<br />

Unserer Einschätzung nach korrespondiert der Einsatz der freien Journalistinnen/<br />

Autorinnen mit den Aufgabengebieten der festangestellten Redakteurinnen.<br />

Demnach dürften sie in den Kultur- und Familienredaktionen und in den


- 252 -<br />

Regionalstudios am stärksten vertreten sein. Wenn eine Freie z.B. den Themenschwerpunkt<br />

"Sozialpolitik" hat und es tatsächlich schafft, damit im politischen<br />

Programm Fuß zu fassen, muß sie sich hüten, z.B. in den Frauenprograrnmen<br />

der Morgenschiene ebenfalls Themen anzubieten. Obwohl das inhaltlich naheliegt,<br />

wäre sie damit für die meist männlichen Redakteure in der Politik "untragbar".<br />

Die Mitar<strong>bei</strong>t in verschiedenen Redaktionen schließt sich mitunter<br />

aus.<br />

Die Tätigkeit der freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen hat auch geschlechtsspezifische<br />

Akzente, weswegen sie in manchen Bereichen wie den Regionalstudios gerne<br />

gesehen sind. Die Ar<strong>bei</strong>t vor Ort, den "kleinen Mann" (die "kleine Frau") vor<br />

dem Mikrofon zum Sprechen zu bringen, verlangt zwischenmenschliche Fähigkeiten,<br />

verlangt, auf Menschen zugehen zu können und ihnen die Angst vor dem<br />

Mikrofon zu nehmen. Der Programmauftrag der regionalen Berichterstattung,<br />

den Leuten von "nebenan" in Reportagen und in Original-Tonaufnahmen Gehör<br />

zu verschaffen, erfordert auch SozialarbeIt. Bezeichnenderweise ist es eine<br />

Ar<strong>bei</strong>t, die zeitaufwendig ist, während zielstrebige Karrieristen sich lieber auf<br />

den pointierten Kommentar und den schnell geschriebenen Bericht verlegen. So<br />

schwierig die Sozialreportage ist, so wenig Ansehen genießt sie unter den Journalisten<br />

und Redakteuren.<br />

Die atmosphärischen Bedingungen, unter denen freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen ar<strong>bei</strong>ten,<br />

lassen sich schwer beschreiben, andererseits sind sie maßgebend für<br />

Ar<strong>bei</strong>tseinsatz und -lust. Von den Redakteuren werden ihre Beiträge in der<br />

Regel kaum ernsthaft diskutiert. Entweder sie gefallen oder nicht, es gibt nur<br />

selten sachliche Auseinandersetzungen, die auch das Kollegenverhältnis betonen.<br />

Eher begegnet frau der väterlichen oder der Kavaliersrolle.<br />

Das Verhältnis mit den Redakteurinnen ist ein anderes. Sie ar<strong>bei</strong>ten meist<br />

in den Redaktionen, die in der Hierarchie der Anstalten kaum für wichtig gehalten<br />

werden. Vor allem die Frauenprogramme, und sofern es das noch gibt, der<br />

Frauenfunk, müssen um Sendeplätze und Finanzen kämpfen. Manchmal wird diese<br />

Form der "Mißachtung" an die Mitar<strong>bei</strong>terinnen weitergegeben, z.B. wenn<br />

sie sich woanders um Aufträge bemühen oder aber gerade, weil sie sich nicht<br />

auch in anderen Redaktionen profilieren. Sicher ist frau da nicht. Andererseits<br />

haben wir erfahren, daß es Redakteurinnen sind, die mit Engagement und Aufmerksamkeit<br />

auch die Ar<strong>bei</strong>t der Freien wahrnehmen und mit den Freien für<br />

eine gute Sendung eng zusammenar<strong>bei</strong>ten. Die Anzahl der Redakteurinnen in<br />

den Redaktionen beeinflußt langfristig den Einsatz und die Anzahl der Mitar-


- 253 -<br />

<strong>bei</strong>terinnen, die sich freiberuflich durchsetzen werden. Eine gegenseitige Unterstützung<br />

ist nötig, um die Präsenz der Frauen in den Medien überhaupt zu<br />

verstärken.<br />

Wir haben bisher nicht erwähnt, daß die freie Mitar<strong>bei</strong>t auch Spaß macht:<br />

die Vielfalt der Themen, die Begegnung mit Menschen, die spannende Erkundu<br />

ng eines Themas während der Recherche, die Umsetzung in hörbare Sendeformen.<br />

Aber die Frage nach der Perspektive dieser Tätigkeit wird besser nicht<br />

gestellt, damit der Spaß auch noch bleibt. Beklagt wurde der Abbau der sozialen,<br />

wirtschaftlichen und ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Grundlagen für den Beruf des freien<br />

Mitar<strong>bei</strong>ters schon lange. "Vom Aussterben bedroht" hieß eine Dokumentation<br />

der RFFU von 1977. Wir kennen nur die schlechten Bedingungen, die<br />

eigentlich jede/ n Freie/n daz u bringen, den Sprung in die Festanstellung anzustreben.<br />

Doch es gibt auch unter den Freien Maßnahmen gegen die Aushöhlung<br />

ihrer Berufsgrundlagen. So bemühen sich z.B. Journalistinnen, Büros zu gründen.<br />

Das be endet die Isolation und kann zugleich die Professionalität durch den<br />

Austausch mit Kollegen und Kolleginnen und allein schon durch den Einsatz<br />

aröeitsökonomisierender Geräte erhöhen.<br />

Zu fordern bleibt gl eichwohl, daß sich die Gewerkschaften in Zukunft<br />

stärker für die freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen einsetzen, Tarifleistungen aushandeln<br />

und vor allem überregional vereinheitlichen und die Freien in Broschüren über<br />

ihre Rechte informieren. Da gi bt es noch ein weites Betätigungsfeld. Das Argument,<br />

das oftmals vorgebracht wird, die Freien seien nicht zu erreichen, trifft<br />

ni cht mehr zu: Nach unserem Eindruck sind die meisten Freien in der Gewerkschaft<br />

oder im DJV organisiert.<br />

Die Initiative der freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen könnte sich so darstellen, daß<br />

si e ein Einstieg in den Medienbereich, der ihnen durch die ungeschützte freie<br />

Mitar<strong>bei</strong>terschaft möglich war, sichern uno ausbauen. Zusammenschlüsse zu<br />

Journalistinnenbüros, lokale Netzwerke und - leider - die schonungsl ose Analyse<br />

ihrer gemeinsamen Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen sind erste Schritte dazu.<br />

ANMERKUNGEN<br />

Diese Ar<strong>bei</strong>t versammelt die wichtigste Literatur der letzten 15 Jahre zur<br />

sozialen und ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>ter.<br />

2 Eine schriftliche Umfrage unter den ständigen Freien <strong>bei</strong> HR und SWF von<br />

1976 durch Ines Elster ergab einen Anteil von 33% Mitar<strong>bei</strong>terinnen, und


- 254- -<br />

zuletzt, 1986, ergab eine Umfrage der 'feder', Zeitschrift der IG Druck und<br />

Papier, unter freien Mitar<strong>bei</strong>tern nach den Verdienst- und Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />

eine Zahl von 34-% Journalistinnen - die Umfrage bezog sich auch auf<br />

di e Freien <strong>bei</strong> Printmedien.<br />

3 Redakteurinnen <strong>bei</strong>m Hörfunk ca. 17%, <strong>bei</strong>m Fernsehen ca. 12%; die Zahlen<br />

si nd von 1981 und beziehen sich auf die Situation der Mitar<strong>bei</strong>terinnen im<br />

WDR. Vgl. hierzu Becher 1981.<br />

4 Von 203 ständigen oder "festen" Freien <strong>bei</strong> HR und SWF geht Ines Elster aus<br />

(vgl. Anm. 2).<br />

LITERATUR<br />

Becher, Vera u.a.: Die Situation der Mitar<strong>bei</strong>terinnen im WDR. Auszug aus der<br />

Studie. Köln, Mai 1981<br />

Elster, Ines: Journalisten Zweiter Klasse. Die ständigen freien Mitar<strong>bei</strong>ter der<br />

Rundfunkanstalten. In: Kepplinger, H.M. (Hg.): Angepaßte Außenseiter.<br />

Was Journalisten denken und wie sie ar<strong>bei</strong>ten. Freiburg/München 1979<br />

Freie fordern 200 Prozent. Umfrage der "feder", Zeitschrift der IG Druck und<br />

Papier für Journalisten und Schriftsteller. In: die feder Nr. 6/Juni 1986<br />

Heidemann, Annette: Frei zu sein bedarf es wenig. Zur Situation freier Mitar<strong>bei</strong>ter<br />

<strong>bei</strong> Hörfunk und Fernsehen. Unveröffentl . Diplomar<strong>bei</strong>t. Dortmund<br />

1984-<br />

Tarifverträge für auf Produktionsdauer Beschäftigte und ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlicher<br />

Personen des Westdeutschen Rundfunks. Köln (neue Fassung Okt. 1981)


- 255 -<br />

Luise Pusch/Ingeborg Stahr<br />

FRAU PROFESSOR TINGEL T DURCH DIE LANDE 000<br />

- EIN INTERVIEW MIT LUISE PUSCH<br />

Das folgende Interview habe ich mit Luise Pusch im April 1987 in Hannover<br />

geführt. Sie wohnt dort in einer Wohngemeinschaft. Mich überraschte die Einfachheit<br />

ihres Lebensstils, der für ihre gesellschaftliche Statusgruppe nicht<br />

üblich ist.<br />

Luise Pusch ist 43 Jahre alt, war von 1979-1984 Heisenberg-Stipendiatin und<br />

ist seit neun Jahren habilitiert. Sie hat ca. achtzig Aufsätze und zwei Bücher<br />

zur Grammatik des Deutschen, Englischen, Italienischen und Lateinischen sowie<br />

zur feministischen Linguistik geschrieben. Bekannt geworden ist sie vor allem<br />

durch ihre zahlreichen Glossen - ' u.a. in Courage - und drei Frauenbücher , nämlich<br />

als Autorin von "Das Deutsche als Männersprache: Aufsätze und Glossen<br />

zur feministischen Linguistik" (1984), als Herausgeberin von "Feminismus: Introspektion<br />

der Herrenkultur" (1983) und "Schwestern berühmter Männer: Zwölf<br />

biographische Portraits" (1985).<br />

I. : Luise, kannst Du mir kurz die Stationen Deiner beruflichen Laufbahn bis<br />

zur Habilitation schildern?<br />

L. : Ja, also Studium in Hamburg: Englisch, Latein, allgemeine Sprach wissenschaften<br />

von 1963 bis 1969, also 12 Semester Studium. Dann Promotionszeit,<br />

die Dissertation Ende 1971 abgeschlossen, Anfang 1972 das Rigorosu<br />

m. Danach war ich bis 1975 in einem Forschungsprojekt über kontrastiven<br />

Sprachvergleich Deutsch: Italienisch als wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin tätig.<br />

Von 1975 bis 1977 hatte ich ein Habilitationsstipendi um von der Deutschen<br />

Forschungsgemeinschaft. Ach, und dann hatte ich danach noch ein<br />

Forschungsstipendium, ein halbjähriges. 1978 war dann die Habilitation, und<br />

in dem Jahr auch noch Ar<strong>bei</strong>t an einem italienischen Grammatikprojekt. Da<br />

habe ich über das italienische Tempus-System ein großes Kapitel geschrieben.<br />

Und seit 1979 bis 1984 Heisenberg-Stipendium, also praktisch Forschungsfreiheit<br />

für fünf Jahre.


- 256 -<br />

I.: Ja. Im Jahr 1978 hast Du also in Konstanz habilitiert. Das war vor neun<br />

Jahren. Dann das Heisenberg-Stipendium. Seitdem bist Du mehr oder weniger<br />

als freischaffende Wissenschaftl erin oder als Selbständige tätig?<br />

L. : Ja, wie gesagt, bis 1984 hatte ich diese Forschungsprofessur • Da war ich<br />

schon ziemlich selbständig, ich wurde gut bezahlt. Ich konnte selbständig<br />

ar<strong>bei</strong>ten und kriegte dafür quasi ein Gehalt. Das war eine tolle Zeit.<br />

L: Das war ein regelrechter Ar<strong>bei</strong>tsvertrag als wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin?<br />

L.: Das kann man so sagen. Also ja.<br />

Das Stipendium kriegten nur ganz wenige, die Voraussetzungen waren ja<br />

sehr scharf: Nicht älter als 33 und habilitiert sollte frau oder man sein. Es<br />

war quasi eine Belohnung für das, was vorher gel eistet worden war . Es<br />

wurde wohl davon ausgegangen, daß das so intensive Forschungspersönlichkeiten<br />

werden, daß sie natürlich immerzu fleißig forschen. Nachweisen<br />

mußte ich nur nach drei Jahren einen Bericht. Davon hing dann die Verlängerung<br />

ab, und die habe ich auch bekommen. Aber die war sowieso mehr<br />

oder weniger automa!isch. Das war also für fünf Jahre geplant. Das war<br />

damals ein HiIfsprogramm. Das läuft immer noch - ja, um den wissenschaftlichen<br />

Nachwuchs an der Uni oder für die Uni zu erhalten - weil Stellen ja<br />

ni cht da waren. Damit die Leute nicht in die USA abwandern und auch<br />

ni cht verzweifeln. Ich habe das dann eben etwas zweckentfremdet. Ich<br />

habe in der Zeit dann feministische Linguistik gemacht und Frauenforschung<br />

und diese biographische Forschung. Das hast Du ja so ein bißchen<br />

mitgekriegt. Da ich ja machen konnte, was ich wollte, habe ich das einfach<br />

auch gemacht. Das war nicht so im Sinne der Stipendiengeber. Aber, ja, ich<br />

fand das eben einfach sehr gut so.<br />

Und richtig stellungslos oder ar<strong>bei</strong>tslos ••• Ich würde sagen, ich bin weder<br />

ar<strong>bei</strong>tslos noch erwerbslos. Der beschönigende Ausdruck ist eben: freiberuflich.<br />

Das sagen die Leute auch lieber als ar<strong>bei</strong>tslos. Ich bin freiberuflich,<br />

weil ich an der Uni keine Stelle bekomme. Beworben habe ich mich seit<br />

1976 ungefähr auf 100 Stellen oder mehr.<br />

L: Waren das Professuren oder auch andere Stellen?<br />

L. : Professuren und Forschungsstellen, z.B. <strong>bei</strong>m Institut für Deutsche Sprache.<br />

Dort hatten sie ein Grammatikprojekt für neun Jahre, und da habe ich mich<br />

1984 beworben. Da wollten sie mich auch nicht.<br />

L:<br />

Auf welche Gründe führst Du das zurück?


- 257 -<br />

L.: Der Hauptgrund ist, daß ich seit 1979 verschrieen bin in meiner Disziplin<br />

als feministische Linguistin, und die Disziplin behauptet, das ist keine Lingu<br />

istik, was ich da mache, denn Linguistik werte nicht, sondern die beschreibe<br />

bloß. Und es wird gesagt, wie unheimlich schade es ist, daß die<br />

begabte Linguistin der Disziplin verloren gegangen ist, wo ich doch vorher<br />

diese steile Karriere gemacht habe, bis zum Heisenberg-Stipendium. Das<br />

waren damals drei Frauen, die das bekommen haben in der Bundesrepublik.<br />

Ja, großes Bedauern, daß ich vom rechten Wege abgekommen bin. Meine<br />

Definition ist, daß das, was ich da gemacht habe, das Beste und Wichtigste<br />

war, was ich je gemacht habe. Davon bin ich einfach überzeugt, und die<br />

Resonanz außerhalb der Uni ist auch entsprechend, aber innerhalb der Uni<br />

eisige Kälte. Seit 1979.<br />

I. : Uni, damit meinst Du also bundesweit an den Hochschulen?<br />

L. : Ja, bundesweit an den Hochschulen. Es gibt da auch noch einige besondere<br />

Anekdoten, also so etwa meine Uni Konstanz, die mich <strong>bei</strong> einer Bewerbung<br />

ni cht berücksichtigt hat. Also ich habe mich öfter da beworben. Ich fiel als<br />

Heisenberg-Stipendiatin nicht unter das Hausberufungsverbot. Also konnte<br />

ich mich an meiner Heimat-Uni bewerben. Da war eine AnglistiksteIle, C2,<br />

und da haben sie beschlossen, ich wäre in der Anglistik nicht qualifiziert.<br />

Ich habe ja in Anglistik promoviert, aber formal war das vielleicht in Ordnung,<br />

weil ich mich ja in Italianistik mehr oder weniger habilitiert habe. Da<br />

konnten sie das also sagen. Das Interessante ist, daß sie dann einen Mann<br />

genommen haben aus Hannover. Als der den Ruf auf diese Stelle nach Konstanz<br />

bekam, habe ich seinen Chef in Hannover vertreten. Eine C4-Professur.<br />

In Hannover war ich qualifiziert genug, seinen Chef zu vertreten,<br />

aber an meiner Heimat-Uni nicht qualifiziert für Anglistik. Da sind sie also<br />

besonders gegen mich in Konstanz. Das liegt daran, weil einige männliche<br />

Kollegen - und einige Frauen - das als Nicht-Linguistik definiert haben. Ich<br />

merke allerdings, daß sich das allmählich ändert, weil die Studentinnen<br />

ni cht mehr mitmachen. Ich bekomme ständig Einladungen für Lehraufträge,<br />

z.B. in Saarbrücken, jetzt in Oldenburg, Darmstadt usw. Allerdings bin ich<br />

durch meine Schreiberei jetzt zum Glück in der Situation, daß ich mich<br />

di eser Sel bstausbeutung nicht mehr unterziehen muß. Ich kann inzwischen<br />

als Freiberuflerin eine sehr viel bessere Ar<strong>bei</strong>t machen, interessantere<br />

Ar<strong>bei</strong>t, auch besser bezahlt heißt das.


- 258 -<br />

I.: Kannst Du noch einmal ein bißchen mehr beschreiben, was für Tätigkeiten<br />

Du in der Zeit nach Deinem Heisenberg-Stipendium ausgeübt hast? In welcher<br />

Art von Beschäftigungsverhältnissen und für welche Zeiträume warst<br />

Du jeweils tätig?<br />

L: Ich hatte einige Lehrstuhlvertretungen schon während des Heisenberg-Stipendiums,<br />

dreimal hier in Hannover. Also eine Vertretung einer C3-Professur<br />

in Germanistik und zwei Vertretungen eines Lehrstuhls in Anglistik.<br />

Dann hatte ich in Duisburg noch eine C3-Vertretung in Germanistik und<br />

eine Gastprofessur in Illinois an der Universität Urbana/Champaign, eine<br />

Vortragsreise durch die USA, so die berühmtesten Universitäten Princeton,<br />

Stanford, Berkeley bis Alaska, weil ich die Einzige bin, die feministische<br />

Linguistik des Deutschen macht. Also die Senta Trömel-Plötz, meine Kollegi<br />

n, sie macht Gesprächsanalyse. Speziell zum Deutschen ar<strong>bei</strong>tet sie nicht.<br />

Das ist natürlich in den USA sowieso sehr gut vertreten. Ich bin eingeladen<br />

worden von der Berufsvereinigung der Germanistinnen, die da über das ganze<br />

Land verteilt sind und an ihren jeweiligen Universitäten die Vorträge<br />

organisieren. Daher habe ich in den USA ziemlich gute Kontakte und bin da<br />

auch sehr oft zu Vorträgen und auch zu Forschungsaufenthalten. Also das<br />

waren so die universitären Kontakte in der Bundesrepublik. Wie gesagt,<br />

di ese paar Vertretungen - aber dann auch etliche Vorträge, die meisten die<br />

AStA-Frauen organisieren, aber hin und wieder auch männliche Kollegen.<br />

1.: Und sonst außerhalb der Uni?<br />

L: Ein Riesenvortragsprogramm im gesamten bundesdeutschen Kulturbetrieb.<br />

Es ist mir damals erst aufgegangen, was das für ein Netz ist. Es besteht<br />

großes Interesse an Referentinnen und <strong>bei</strong> der Frauenbewegung sowieso an<br />

feministischen Themen. Ist ja klar! Aber auch so etwas wie die katholische<br />

Kirche oder Freidenker in der Schweiz, eine merkwürdige Organisation. Ja,<br />

und <strong>Text</strong>er und so, die da an ihrem Ort einfach mal ihre Progressivität<br />

kundtun wollen, laden sich also eine Feministin ein mit einem Professorinnentitel,<br />

und die zahlen nicht schlecht. Davon kann ich ganz gut leben. Ja,<br />

im Moment kann ich sogar von meinen Glossen leben, die ich schreibe. Deshai<br />

b auch diese Sache mit dieser Sei bstausbeutung, daß ich also die Lehraufträge<br />

ablehne. Wenn ich mich einen Tag hinsetze und zwei Glossen<br />

schreibe, dann verdiene ich dassel be wie mit so einem Lehrauftrag, und ich<br />

habe natürlich viel mehr Spaß daran. Also ich kann bescheiden leben von


- 259 -<br />

meinen Glossen. Wenn ich dann zusätzlich noch Sachen parallel mache,<br />

et wa den Kalender da ••.<br />

I. : Auch im Auftrag eines Verlages?<br />

L. : Nee, das habe ich mir selber ausgedacht.<br />

Frauenchronik<br />

im Computer<br />

Hannover (dpa). Eine bislang<br />

einmalige sogenannte<br />

Frauenchronik will die<br />

Sprachwissenschaftlerin Luise<br />

Pusch aus Hannover zusammenstellen.<br />

Im Computer hat<br />

die Professorin in Eigenar<strong>bei</strong>t<br />

bereits 8 000 Frauenbiographien<br />

gespeichert. Sie will ihr<br />

Archiv auf mindestens 22 000<br />

Biographien erweitern, um einen<br />

"<br />

Schlüssel zur Frauenforschung<br />

" zu schaffen. So soll<br />

verhindert werden, daß die<br />

wenigen bedeutenden Frauenfiguren<br />

aus Vergangenheit<br />

und Gegenwart, die Aufnahme<br />

in die Geschichtschroniken<br />

gefunden haben, wieder in<br />

Vergessenheit geraten. Studenten<br />

ziehen die Computerliste<br />

bereits <strong>bei</strong> wissenschaftlichen<br />

Ar<strong>bei</strong>ten zu Hilfe.<br />

L: Und die Daten hast Du alle selber gesammelt?<br />

Ich habe das dem Verlag angeboten,<br />

und die waren Feuer und<br />

Flamme daf ür natürlich.<br />

Ja, ich<br />

denke, daß ich damit, weil es ein<br />

Endlos-Projekt ist, auch schon<br />

mein Leben abgesichert habe. Also<br />

di e Berge an Daten, auf denen ich<br />

sitze, das sind 15.000 Frauen aller<br />

Länder. Ja, und was ich damit zunächst<br />

mache, ist ein<br />

Kalender.<br />

Der beginnt ab 1988. Dann wird für<br />

jeden Tag eine Frau mit Bild vorgestellt,<br />

die dann ein rundes Jubiläum<br />

hat. 50 Frauen werden vorgestellt<br />

mit einer längeren Biographie<br />

und einem schönen großen<br />

Bild. Das ganze soll auch auf Englisch<br />

gemacht werden. Also interna<br />

tional angeboten werden. Ich<br />

wüßte nicht, daß es etwas Vergleichbares<br />

gibt • .Es wird sehr gut<br />

sein. Ich ar<strong>bei</strong>te seit 1982 daran.<br />

L. : Ja. Und seit dem letzten Sommer ar<strong>bei</strong>tet noch Ulla Reis mit daran.<br />

L: Ohr<br />

L. : Also, ich kann Dir <strong>bei</strong>spielsweise, wenn Du Lust hast, sofort alle Frauen<br />

nennen, die an Deinem Ge,burtstag Geburtstag haben. Das ist so eine Spielerei<br />

von mir. Und alle Zeitgenossinnen, was weiß ich, von Helene Lange,<br />

die gleichzeitig in Berlin gelebt haben. Also das wird dann sicherlich auch<br />

zu einem wichtigen Informationsdienst ausgebaut werden können. Für alle<br />

möglichen Forschungsvorhaben. Ich kann auch viele Frauen nennen, <strong>bei</strong>-


- 260 -<br />

spielsweise, die im Kindbett gestorben sind, verrückt geworden sind oder so<br />

etwas. Eben für systematische Studien.<br />

I.: Ich möchte nochmal auf Deine Beschäftigungssituation zurückkommen. Wie<br />

ist es mit Sozialversicherung, Krankenversicherung usw.?<br />

L. : Ich bin in der Künstlersozialkasse versichert, ja, und altersversichert ...,<br />

ja, ich habe kaum Zeit dafür, mich darum zu kümmern. Aber ich bin da<br />

drin. Krank bin ich inzwischen nicht geworden. Ich bin in der xy-Kasse,<br />

weil die hier nebenan ist. Ich denke, wenn ich krank werde, wird das auch<br />

funktionieren. (Lachen).<br />

I. : Es ist doch aber ein großes Problem für Sel bständige, wenn Aufträge nicht<br />

er füllt werden können, z.B. wegen Krankheit. Dann fehlt doch das Einkommen,<br />

nicht?<br />

L. : Ja, da bin ich krankenversichert, da bekomme ich auch Einkommensersatz,<br />

soviel ich weiß. Ich glaube, aber nur ein paar Wochen. Ja, ich werde wahrscheinlich<br />

nie so kra,nk. Ich müßte schon irgendwie ••• ja bewußtlos sein.<br />

Wenn ich krank im Bett liege, bin ich ja immer noch ar<strong>bei</strong>tsfähig. (Lachen)<br />

Um mir etwas auszudenken - wenn ich eine kaputte Hand habe oder so,<br />

dann höre ich ja nicht auf zu denken!<br />

I.: Ja, das führt hin zu der Frage nach Deiner Ar<strong>bei</strong>tszeit und Deinem Ar<strong>bei</strong>tsumfang.<br />

Wie sieht das denn aus?<br />

L. : Eigentlich rund um die Uhr. Ich würde am liebsten am Schreibtisch sitzen<br />

un d nicht so viel herumfahren und Vorträge halten. Das ist sehr anstrengend.<br />

Aber das gehört eben dazu. Einfach weil ich damit Geld verdienen<br />

muß. Ich glaube, letztendlich könnte ich ähnlich viel verdienen oder genausoviel,<br />

wenn ich nur am Schreibtisch säße. Aber das muß ich mir auch alles<br />

durch das Herumfahren erar<strong>bei</strong>ten. Diese Position in der Öffentlichkeit, daß<br />

das, was ich dann ar<strong>bei</strong>te, auch gefragt ist, hängt natürlich auch mit den<br />

öffentlichen Lesungen zusammen und Auftritten, geht so Hand in Hand.<br />

Jetzt kommen also viele Fragen vom Rundfunk, Fernsehen hin und wieder,<br />

und ich veröffentliche ja auch viel in der Schweiz. Die Zeitungen dort, die<br />

zahlen dreimal so gut wie hier, so daß ich vom Schreiben eigentlich leben<br />

könnte, wie gesagt.<br />

Das Ar<strong>bei</strong>ten rund um die Uhr hängt damit zusammen, daß ich einfach gerne<br />

ar<strong>bei</strong>te und so viele Projekte habe, di ich einfach gar nicht alle realisieren<br />

kann. Jetzt fange ich gerade an zu delegieren.


- 261 -<br />

Ich erhole mich <strong>bei</strong> den langen Bahnfahrten. Morgen oder übermorgen fahre<br />

ic h zum Beispiel nach Bern. Das sind 8 Stunden. Da lese ich. Hier muß ich<br />

meistens irgendetwas erledigen. Du siehst ja, wie es hier aussieht! Ich komme<br />

gar nicht nach, weil ich zur Zeit unheimlich in diesem Kalenderprojekt<br />

drinsitze. Es muß bis Ende Mai fertig sein. Ich habe mir das erst zu Weihnachten<br />

ausgedacht. (Lachen) Die Daten hatte ich alle. Ich wollte damit<br />

eigentlich etwas anderes machen.<br />

1.: Kommst Du denn überhaupt einmal dazu, Urlaub zu machen?<br />

L. : Hm. Ja, ich habe lange keinen Urlaub gemacht. Aber ich werde in diesem<br />

Jahr Urlaub machen. In Schweden. Es wird auch Zeit.<br />

1.: Ohne den Hintergrund, irgendwelche Ar<strong>bei</strong>tsprojekte zu erledigen?<br />

L. : Ja.<br />

I. : Wie erlebst Du eigentlich diese Beschäftigungssituation als Professorin, wie<br />

is t das für Dich? Schlimm, oder?<br />

L. : Nee. Das ging durch verschiedene Stadien. Zunächst, als ich nur Linguistik<br />

gemacht habe und feministisch zwar interessiert war, aber nicht wußte,<br />

daß ich davon leben kann, da hatte ich große Angste. Was wird bloß aus<br />

mir? Ich hatte diesen einen kleinen Aufsatz geschrieben. Das hat meine<br />

Uni-Karriere völlig zerstört. Eigentlich konnte ich es kaum fassen, aber es<br />

war so. Was willst Du machen als Linguistin außerhalb der Uni? Das kannst<br />

Du doch nur an der Uni überhaupt verkaufen. Da war ich sehr verzweifelt.<br />

Denn ich hatte 20 Jahre immerhin dafür investiert, um das machen zu können.<br />

Da war ich eigentlich sehr verbittert. Ich habe gedacht, diese Scheißkerle<br />

da. Meine Schüler, die sitzen jetzt auf ihren Lehrstühlen. Nun ja, ich<br />

halte mich zum Teil für wesentlich qualifizierter . Aber das nützt mir ja<br />

nun nichts, davon kann ich auch nicht leben. Jetzt rückblickend würde ich<br />

sagen, diese totale Ablehnung der Universität hat mich tatsächlich gezwungen,<br />

Fähigkeiten in mir zu entdecken und zu kultivieren, von denen ich bis<br />

dahin keine Ahnung hatte. Journalistisch, publizistisch, schriftstellerisch,<br />

satirisch - also schon immer Schreiben - aber meine wissenschaftliche Präzision<br />

zu verbinden mit einer leicht faßlichen Darstellung für ein breites<br />

Publikum, das verkauft sich natürlich sehr viel besser als alles, was ich<br />

vorher gemacht habe. Das lesen viele Leute. Es freut sie, und ich glaube,<br />

da habe ich aufgrund dieses langen Studiums eben doch vor vielen einen<br />

Vorsprung, so daß ich im Grunde eine gute Position habe. Jetzt würde ich<br />

sagen, wenn sie mir jetzt eine Professur anbieten, das würde ich mir sehr


- 262 -<br />

überlegen, ob ich sie nehmen würde. Denn die Uni ist wirklich unheimlich<br />

charakterschädlich, damals habe ich ganz anders gedacht. Heute denke ich<br />

viel freier, kühner, weil diese Schere im Kopf nicht mehr da ist. Ich<br />

schreibe und sage auch das, was ich denke, wo ich früher immer gedacht<br />

habe, da werden die ja auf mich herunterfallen wie die Geier, das kann ich<br />

ni cht aushalten.<br />

Und insofern ist die Situation für mich doch jetzt sehr angenehm. Ich empfinde<br />

es auch als angenehm, daß ich frei entscheiden kann, was ich mache.<br />

Uberhaupt, ich kann doch einfach Urlaub machen oder irgendetwas absagen,<br />

wenn ich das nicht machen möchte, ich brauche eigentlich nur das zu machen,<br />

wozu ich Lust habe. Ich brauche auch keine Vorträge zu halten,<br />

wenn ich mehr Lust habe, ein paar Glossen oder ein Buch zu schreiben.<br />

Also diese Freiheit schätze ich sehr. Dafür habe ich keine Sicherheit, aber<br />

ich glaube, die habe ich mir allmählich trotzdem geschaffen. Also etwa in<br />

dem Kalender-Projekt, wenn es nicht total eingeht oder danebengeht, was<br />

ic h mir kaum vorstellen kann. Dann kann ich wohl davon, glaube ich, leben.<br />

Das ganze funktioniert natürlich nur auf der Basis der Bescheidenheit.<br />

Aber das ist für mich kein Problem. Ich habe sowieso immer mehr verdient,<br />

als ich jemals Zeit und Lust hatte auszugeben. Also dieses hohe Heisenberg-Stipendium<br />

••• also ich habe in der Zeit, wo ich noch gut verdient<br />

habe, einfach auch einiges angespart, so daß ich wirklich für die nächsten<br />

10 Jahre, was das betrifft, keine Sorgen zu haben brauche, denn ich kann<br />

das Geld bis dahin ja einfach aufbrauchen.<br />

L: Im Medienbereich wird ja häufig argumentiert, die Beschäftigung von freien<br />

Mitar<strong>bei</strong>tern und Mitar<strong>bei</strong>terinnen spiele auch deshalb eine Rolle, weil<br />

wenn man nur fest Angestel lte in diesem Bereich beschäftigen würde, ginge<br />

die Kreativität und die Innovationsfreudigkeit verloren. Siehst Du das für<br />

den Wissenschaftsbereich auch so? Gerade <strong>bei</strong> dem Stichwort, was Du vorhin<br />

nanntest, die Uni ist charakterschädigend?<br />

L. : Ja, das sehe ich für die Uni ganz genauso, aJlerdings nicht auf dem top<br />

level, den die Männer für sich reserviert haben, da können sie, glaube ich,<br />

frei entscheiden, ob sie Verwaltungshengste werden wollen, also in der<br />

Wissenschaftsorgansiation eine große Figur darstellen oder ob sie weiter<br />

kreativ ar<strong>bei</strong>ten wollen. Jemand, das meine ich, der sich da stark einbinden<br />

läßt, in diese Repräsentations- und Verwaltungspflichten, der ist natürlich<br />

ni cht mehr besonders kreativ, aber ich glaube, dem kann sich solch ein


- 263 -<br />

C4-Mensch durchaus auch entziehen, wenn er will, und hat dann mit einem<br />

sehr schönen Gehalt die Möglichkeit, seinem Hobby zu frönen. Aber der<br />

gesamte Mittelbau, da sieht es völlig anders aus, der ist weisungsgebunden,<br />

und ich war immer nur im Mittelbau, ich mußte weisungsgebunden forschen,<br />

und ich hatte an sich eine sehr gute Stelle. Es war ein angenehmes Klima;<br />

aber jetzt, wo ich meine eigenen Sachen mache, weiß ich, was das einfach<br />

für eine geistige Bevormundung war. Denn ich mußte natürlich in dem Rahmen<br />

forschen, den mein Professor gesetzt hatte. Und wir waren eigentlich<br />

vö llig verschiedene denkerische Persönlichkeiten, und da hat's auch geknallt,<br />

und ich mußte mich im Endeffekt ihm unterwerfen. Denn er mußte<br />

es nach außen vertreten. Das verstehe ich irgendwie, aber dieses Auf-eigene-faust-Denken<br />

und dies auch nach außen vertreten, das kann ich erst,<br />

seitdem ich freiberuflich bin, und das schätze ich sehr. Aber das kann, wie<br />

gesagt, jedes hohe Tier an der Uni auch, aber nur in den entsprechenden<br />

Rängen, und die behalten die Männer für sich. (Lachen)<br />

L: Ja, damit hast du schon gesagt, inwieweit sich Dein Beschäftigungsverhältnis<br />

auf Deine Qualifikation und auch Motivation ausgewirkt hat. Gibt es<br />

auch Konsequenzen für Deine körperliche Verfassung?<br />

L. : Ja. Ich habe oft gehört: "Wenn ich so wie Du leben würde, dann wäre ich<br />

schon längst tot!" Weil ich nämlich wirklich unheimlich viel ar<strong>bei</strong>te und<br />

rauche wie verrückt, mich wenig bewege, und das ist natürlic'h meine eigene<br />

Dummheit, daß ich das so handhabe. Du würdest das auch anders machen,<br />

das ist vielleicht auch mein Charakterzug, und ich kann mir das leisten,<br />

weil ich von meinen lieben Eltern eine irrsinnige Gesundheit geerbt<br />

habe, also das erbt frau oder sie erbt es halt nicht. Also meine Mutter<br />

wird siebzig, die war nie krank. Mein Vater fünfundsiebzig. Von dem ist<br />

auch nie berichtet worden, er wäre jemals krank gewesen, und meine Geschwister<br />

sind auch sehr gesund. Also ich habe da wirklich, glaube ich,<br />

ziemliches Glück, eine große Robustheit geerbt zu haben. Ich war auch nur<br />

als Kind krank, und seitdem nicht mehr. (Lachen) Aber das ist eine Ausnahme.<br />

Sonst, wie gesagt, die Bedingungen, unter denen ich lebe, sind, glaube<br />

ich, sehr gesundheitsschädlich. Also dieses viele Sitzen, sei es in der Bundesbahn,<br />

sei es am Schreibtisch, also Du kannst nicht so viel Jogging machen<br />

und Tennis spielen, wenn Du geistig ar<strong>bei</strong>test. Das impliziert Sitzenkönnen.<br />

Das finde ich jedenfalls, also auch gerade am Computer, das viele<br />

Denken. Ich denke auch gerne mit meinem Material nach, was um mich her-


- 264 -<br />

um ist, und daz u muß ich sitzen. Das ist auch immer meine Formulierung<br />

gewesen, also die wichtigste Voraussetzung für eine Wissenschaftlerin ist,<br />

Sitzfleisch zu haben. (Lachen).<br />

L: Ja. (Lachen).<br />

L.: Das konnte ich schon immer sehr gut. Ich bin sehr bewegungsfaul.<br />

L: Hat sich eigentlich die Art oder das Niveau Deiner Ar<strong>bei</strong>tsanforderungen<br />

durch diese Art des Beschäftigungsverhältnisses verschoben?<br />

L. : Ja. Früher, da habe ich im Widerstand gelebt. Diese Aufträge, die ich machen<br />

sollte, über die ich forschen sollte, ich habe das meistens in der<br />

Nacht, bevor die Sitzung war, gemacht. Zwischendurch habe ich dann Musik<br />

gehört und bin vor der Ar<strong>bei</strong>t davongelaufen. Das hing damit zusammen,<br />

daß es nicht meine eigenen Ideen waren. Ich habe zwar während meines<br />

Studiums und während meiner Schulzeit alles nett gemacht und auch ziemlich<br />

gut, aber immer in letzter Minute und mit größter Unlust. Das hat sich<br />

bis 1978 hingezogen, und das ist genau ins Gegenteil umgeschlagen, seitdem<br />

ich das mache, was ich mir selber ausgesucht habe, was ich selber will. Ich<br />

erlebe auch einen unheimlichen Gebrauchswert, so daß mir vom Verlag und<br />

auch so alles aus den Händen gerissen wird, was ich schreibe. Das motiviert<br />

natürlich noch mehr. Seitdem ar<strong>bei</strong>te ich mit größter Lust und Konsequenz<br />

und laufe nicht mehr vor der Ar<strong>bei</strong>t weg.<br />

Jetzt laufe ich nur vor der Verwaltungsar<strong>bei</strong>t wieder weg. Also was hier<br />

jetzt so ist, das müßte ich alles verwalten. Stattdessen mache ich aber den<br />

Kal ender. Das kann ich auch motivieren, aber eigentlich habe ich ein ganz<br />

schlechtes Gewissen, daß ich seit 1 1/2 Monaten nichts mehr verwaltet<br />

habe.<br />

I. : Wie sieht denn eigentlich so Dein Alltag aus?<br />

L.: Ich gehe meistens so gegen 4 oder 5 Uhr zu Bett und schlafe bis 12 oder<br />

13 Uhr, dann frühstücke ich, dann fange ich an zu ar<strong>bei</strong>ten, wieder bis<br />

nachts um 4 oder 5, und an den Tagen, wo ich unterwegs bin, was allerdi<br />

ngs auch viel ist, dann geht das eben, umgekehrt. Dann fahre ich morgens<br />

weg so gegen 9 Uhr, stehe also auch früher auf, sitze dann fröhlich verschlafen<br />

in der Bahn, wache aber zu dem Vortrag wieder auf. Also das finde<br />

ich dann immer sehr belebend, die Begegnung mit anderen Frauen.<br />

Ja, wenn ich aufgestanden bin, dann sitze ich hier und ar<strong>bei</strong>te. Früher, da<br />

habe ich oft viel ferngesehen, bin sehr gerne ins Kino gegangen. Wenn ich<br />

mir jetzt mal was im Fernsehen angucke, dann habe ich große entsetzliche


- 265 -<br />

Langeweile. Ar<strong>bei</strong>t ist halt viel spannender. Also ich bin richtig unruhig,<br />

wenn ich nicht ständig aktiv bin.<br />

I.: Ist das eigentlich so, daß Dir von Verlagen auch schon einmal inhaltlich<br />

irgendetwas vorgeschrieben wird, oder bist Du inzwischen so weit, daß Du<br />

nur das machst, was Dich wirklich interessiert und keine Kompromisse eingehen<br />

mußt?<br />

L.: Ja, ich mache nur das, was mich wirklich interessiert. Beim Verlag, die<br />

wissen sehr wohl, was sie an mir haben. Auch rein geschäftlich. Das ist ein<br />

schön egoistisches Interesse. Die haben wenig Kontakt mit der Frauenbewegung<br />

und haben sich zuerst gegen meine Projekte gesträubt. Also "Deutsch<br />

als Männersprache", was ist das für ein Titel?! Außer dem wissenschaftliche<br />

Aufsätze .•• das bringen wir nur ab 65 ••• von großen Tieren. Da werden<br />

da nn die wissenschaftlichen Aufsätze noch einmal abgedruckt. Da mußte<br />

ich ihnen mühsam erklären, daß es darum nicht geht, um das große Tier,<br />

sondern um das Thema und daß es da nur diese Ar<strong>bei</strong>ten gibt. Das Thema in<br />

di eser Form, und sie sollten es halt mal machen. Als sie immer noch nicht<br />

wollten, wollte es ein anderer Verlag machen. Da haben sie sofort zugeschlagen,<br />

weil sie sagten, wir wollen unsere Autorin am Verlag behalten,<br />

da nn machen wir das in Gottes Namen. Das war 1984, und dann ist das<br />

Buch sehr gut eingeschlagen, inzwischen in der 5. Auflage. Und diese<br />

"Schwestern" (gemeint ist ihr letztes Buch, "Schwestern berühmter Männer",<br />

1985), da haben sie sich auch erst gesträubt, das wäre ihnen zu dick<br />

und das ginge gar nicht, und das ist in der 3. Auflage. Das verkauft sich<br />

also sehr gut, so daß sie jetzt gemerkt haben, das, was ich mache, wird<br />

sc hon gut sein. Ich kriege da keine Auflagen, nur Unterstützung. Sie sagen<br />

dann, das geht vielleicht geschäftlich nicht so gut, also das ist mehr so das<br />

Marktpolitische, was wir miteinander besprechen. Aber ich habe noch sehr<br />

vi ele Ideen, was ich noch machen möchte, und sie warten dringend darauf,<br />

daß ich das auch mache. Das ist natürlich für meine männlichen Kollegen<br />

auch immer wieder ein Argernis, denn sei würden schon gerne <strong>bei</strong> diesem<br />

Verlag veröffentlichen. (Lachen) Sie würden auch gerne haben, daß ihre<br />

Werke so diskutiert würden.<br />

I. : Unter welchen Bedingungen würdest Du Dir das denn überlegen, eventuell<br />

eine Professur anzunehmen?<br />

L. : Ich müßte ein feministisches Umfeld haben, also nicht die einzige Feministin<br />

in der Gegend weit und breit sein. Denn es ist mir völlig klar, daß ich


- 266 -<br />

andernfalls kaputtgehen würde, weil das Forschungsbedürfnis der Frauen so<br />

an gestaut ist. Die paar feministischen Professorinnen, die ich kenne, die<br />

gehen kaputt, sind völlig überlaufen, werden von den Männern geschnitten<br />

und lächerlich gemacht und von den Studentinnen aufgefressen. Also an<br />

dem Fachbereich müßte mindestens noch eine Feministin sein, die da die<br />

Hälfte der Ar<strong>bei</strong>t übernimmt. Hinzukommen müßte ein gut ausgestatteter<br />

Lehrstuhl - unter einem Lehrstuhl würde ich es also nicht tun - mit drei<br />

Assistentinnen, mit guten Bibliotheksgeldern und Möglichkeiten, anderen<br />

Ar<strong>bei</strong>tsplätze zu verschaffen. Ich würde sofort ein großes Forschungsprojekt<br />

machen. Also was ich hier so privat am Küchentisch mache, das ist<br />

natürlich ein großes Forschungsproj ekt. Wir sind ja hier so ganz unter uns<br />

all eine ein Familienbetrieb. Das geht natürlich auch angenehm und schön,<br />

an dere kriegen dafür Massen von Geldern. Wir machen das für sehr wenig<br />

im Moment, hoffen aber, daß es sich dann auszahlt in Form des Kalenders.<br />

L: Ich habe Euch zu dritt hier ar<strong>bei</strong>ten sehen. Werdet ihr drei vom Verlag<br />

bezahlt?<br />

L.: Ich gebe das Ding heraus, die Beate wird von mir bezahlt als freie Mitar<strong>bei</strong>terin,<br />

und Ulla ist also praktisch zweite Herausgeberin, hat also auch<br />

sehr viel von den Daten <strong>bei</strong>getragen, und sie wird zur Hälfte am Erlös be-<br />

. teiligt. Sie will dann damit eine Stiftung machen, eine feministische. Und<br />

der Verlag, der, ja, also ich ar<strong>bei</strong>te immer mit Freundinnen, die der Verlag<br />

ni cht gut kennt, und mache immer die Herausgabetätigkeit und garantiere<br />

die Kontinuität. Das Ganze läuft unter meiner Regie.<br />

L: Um noch einmal auf die Professur zu kommen, denkst Du auch daran, eventuell<br />

nach Amerika zu gehen, weil Du vorhin sagtest, daß Du auch häufig<br />

drüben bist?<br />

L.: Ja, in Amerika ist die Situation für mich auch nicht einfach, weil die dort<br />

unter Linguistik etwas anderes verstehen. Also ich mache moderne linguistik,<br />

das ist da im Fach Englisch wunderbar vertreten. Im Fach Deutsch<br />

verstehen sie unter Linguistik Altphilologie. Da sitzen immer einige alte<br />

Herren, die niemand braucht, so daß der Bereich meistens besetzt ist. Im<br />

Grunde brauchen sie moderne germanistische Linguistik, aber dazu müssen<br />

sie erst einmal noch kommen, daß sie das einsehen. Sie lernen im Studium<br />

al le mögliche Literatur kennen, auch feministische, und dann müssen di e<br />

Leute an die Schulen und müssen Sprqchunterricht machen und haben keine<br />

Ahnung. Die brauchen dringend eine Linguistin. Aber so ähnlich, wie ich


- 267 -<br />

hier zwischen allen Stühlen sitze, ist es da ebenso. Es gibt aber einige<br />

Leute, die sind da<strong>bei</strong>, darauf hinzuweisen, daß sie das nun dringend brauchen.<br />

Also neulich hatte ich mich auf eine Professur beworben in Minneapolis.<br />

Die sind auch sehr sparsam, da waren 1.500 Bewerbungen und 6 Professuren,<br />

also praktisch auf jede hatten sich 300 beworben, und ich bin<br />

dann unter die ersten 18 gekommen und bin auf Platz 9 gelandet, also<br />

praktisch auf Platz 2. Diese 6 sind also verteilt worden, und ich bin jetzt<br />

<strong>bei</strong> den sechsen auf Platz neun. Ich bin da gelandet, obwohl ich sehr viel<br />

qualifizierter war als die meisten. Die Berufungskommission bestand aus 7<br />

Männern und 5 Frauen, die 5 Frauen waren alle für mich, die 7 Männer alle<br />

gegen mich. (Lachen) Also selbst da war ich zu radikal!<br />

1: Also selbst in Amerika! (Lachen)<br />

L.: Ja, also das war wirklich witzig, die 5 Frauen fanden alle, ich sei erster<br />

Klasse, die anderen alle zweiter. Da sieht man also, wie objektiv die Wissenschaft<br />

ist. Also wenn, dann würde ich ganz gerne etwas machen, so<br />

etwas, was die Sölle hat, ein halbes Jahr in den USA und ein halbes Jahr<br />

hier. Das könnte sich durchaus ergeben in der nächsten Zeit. Ich möchte<br />

auf keinen Fall die ganze Zeit in Amerika bleiben, weil ich ja am Deutschen<br />

ar<strong>bei</strong>te, und was soll ich da . Das ist also mein Hauptforschungsgebiet,<br />

das heutige Deutsch.<br />

I. : Was meinst Du eigentlich, wie sicher Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnenar<strong>bei</strong>tsplätze<br />

heute sein sollten? Wie sie ausgestattet sein sollten?<br />

L. : Das ist diese Frage "Beamtenverhältnisse - Angestelltenverhältnisse", nicht<br />

wa hr?<br />

I. : Ja, besonders in dieser Ambivalenz, die Du vorhin aufgezeigt hast: Einbuße<br />

an<br />

Kreativität und Abhängigkeit auf der einen Seite, auf der anderen Seite<br />

das Bedürfnis nach Sicherheit.<br />

L. : Zum Beispiel ich habe oft gedacht, wenn wir hier diese kapitalistischen<br />

Unis hätten wie in den US A, dann hätten Senta und ich - also Senta Trömel-Plötz<br />

ist auch ar<strong>bei</strong>tslos - die bestbezahlten Professuren in der Bundesrepublik,<br />

weil wir einfach einen wahnsinnigen Zulauf hätten - anders als<br />

die Herren Professoren mit ihren dicken Gehältern, denn die machen ja<br />

häufig extra etwas völlig Entlegenes, damit niemand kommt, also z.B. Okzitanisch<br />

im Fach Romanistik, und darüber schreiben sie ihr Buch. Das geht<br />

ja alles an einer kapitalistischen Uni nicht. Die müssen sich wirklich nach<br />

der Bezahlung richten, und die bezahlen ja auch wirklich völlig verschiede-


- 268 -<br />

ne Gehälter, je nachdem, wie diese Professoren oder der Professor der Uni<br />

guttut oder nicht. Also von daher wünschte ich mir dann häufig ebenso<br />

et was hier. Andererseits sehe ich, wie die sich dumm und dämlich zahlen<br />

für die Ausbildung ihrer Kinder, also meine Freundinnen da drüben. Die<br />

Universitäten, die guten, auch die guten Schulen sind so entsetzlich teuer,<br />

daß das halbe Gehalt draufgeht, und da sehe ich dann hier unsere Staatsuniversitäten<br />

und unsere Staatsschule auch wieder als etwas sehr Positives.<br />

Also eine Fluktuation für diejenigen, die das wollen im Angestelltenverhältnis<br />

- also ich bin verwaltungstechnisch, ökonomisch eigentlich gar nicht<br />

genug gebildet -, aber es müßte eigentlich ein Modell geben, was die guten<br />

Seiten dieses kapitalistischen Modells hat, gegenüber den guten Seiten unserer<br />

öffentlichen Schulen, den Staatsschulen und Staatsuniversitäten. Also<br />

mehr Privatuniversitäten einfach zulassen.<br />

L: Wie siehst Du denn auf diesem Hintergrund die Situation der Frauen, besonders<br />

das Verhältnis von Familie und Beruf. Unter den Bedingungen, unter<br />

denen Du ar<strong>bei</strong>test, ist es ja gar nicht möglich, Familie und Kinder zu haben.<br />

L.: Ja, das ist ja im Grunde genommen für Männer auch nicht möglich, wenn<br />

sie nicht entsprechend die Frau haben, die ihnen den Rest abnimmt. Das<br />

war also auch so interessant <strong>bei</strong> mir in Konstanz. Alle Männer sind verheiratet,<br />

und die Frau machte ihnen die Habil-Schrift und die Bibliotheksrecherchen,<br />

wusch die Socken und kümmerte sich um die Kinder. Alle Wissenschaftlerinnen,<br />

also Kolleginnen, waren unverheiratet, hatten keinen Mann,<br />

der das für sie machte, waren also dadurch auch unheimlich benachteiligt.<br />

Mein Gesellschaftsmodell ist also gut feministisch: 20-Stunden-Woche usw.,<br />

<strong>bei</strong>de Geschlechter müssen natürlich voll die Hausar<strong>bei</strong>t machen, wenn sie<br />

heiraten und Kinder wollen. Na, und dann gibt es ja auch noch diejenigen<br />

Männer und Frauen, die das eh nie vorgehabt haben. Ja, und die widmen<br />

sich dann eben ihren Kindern nicht so intensiv, sondern ihren sonstigen Interessen.<br />

In diesem Fall also Wissenschaft. Aber jeder Mann, der einmal<br />

Kinder haben wHI, muß damit rechnen, meiner Ansicht nach, daß er nur die<br />

Hälfte der Zeit für die Wissenschaft aufbringen kann. Genau die Hälfte, die<br />

ihm sonst die Frau abnimmt.<br />

L: Ja, aber dann hätte man auch gleich wieder ein Zwei-Klassen-System in<br />

der Wissenschaft, nicht? Wenn man auf der einen Seite die Wissenschaftler


- 269 -<br />

l<br />

und Wissenschaftlerinnen betrachtet, die nur für die Wissenschaft da sind,<br />

und auf der anderen Seite diejenigen, die auch Familie haben.<br />

L. : Ja, ich glaube, das ist ja auch ein großer Verzicht. Denn die haben ja immerhin<br />

die Kinder . Das ist ja auch eine sehr schöne Lebensbereicherung.<br />

Ich würde sagen, die Lebensbereicherung durch Kinder, durch Menschen<br />

oder durch Forschung, das läßt sich auch durchaus gegeneinander aufwiegen.<br />

Denn, wie gesagt, wenn die Kinder groß sind, dann können sie sich ja<br />

auch wieder ganz der Wissenschaft widmen. Wenn sie wollen. Aber viele<br />

wollen das ja überhaupt gar nicht. Wer will das denn schon? Denn so viele<br />

si nd das doch überhaupt gar nicht, die so leben möchten, und überhaupt,<br />

ich glaube, ich bin da wirklich ziemlich extrem. Ich bin eben eine Intellektuelle.<br />

Es hat mir schon immer am meisten Spaß gemacht, mir etwas auszudenken.<br />

Während meine Schwester <strong>bei</strong>spielsweise dazu überhaupt keine Lust<br />

hat. Sie ist glücklich, mal irgendetwas zu machen, aber nicht so intensiv,<br />

und um so intensiver ist sie an ihren Kindern interessiert. Ich finde das<br />

auch ganz toll. Da gibt es doch einfach auch ganz verschiedene Persönlichkeiten!<br />

Bloß die Männer, die haben ihre Kinderliebe noch nicht so ganz<br />

entdeckt. Ja, und eine andere Alternative wäre natürlich öffentliche Erziehung.<br />

Dann gäbe es nicht das Zwei-Klassen-System. Also viel mehr Tagesschulen,<br />

Kinderkrippen usw. Das ist ja unglaublich, was die Frauen die ganze<br />

Zeit leisten, ohne Bezahlung. Es würde alles zusammenbrechen, wenn sie<br />

streiken würden. Ja, wirklich alles.<br />

L: Das stimmt. Ja.<br />

L. : Die gesamte Krankenpflege, Altenpflege, Altenversorgung. 95%, habe ich<br />

mal gelesen, in der Altenversorgung findet zu Hause statt.<br />

L: Oder auch ehrenamtlich, nicht?<br />

L. : Ja.<br />

I. : Was meinst Du, wie die Rückwirkungen der derzeitigen Beschäftigungssituation<br />

von Wissenschaftlerinnen auf den wissenschaftlichen - vor allem<br />

auch weiblichen wissenschaftlichen - Nachwuchs sind?<br />

L. : Katastrophal! Das fängt <strong>bei</strong>m Studi um an. Streichung von BAföG und all so<br />

Sachen. Also, als ich Abitur gemacht habe, da war das Abitur immerhin<br />

Garantie dafür, daß ich studieren konnte, was ich wollte. Das ist ja jetzt<br />

überhaupt nicht mehr so. Die Promotion war 1972 auch noch eine gute Garantie<br />

für einen guten Ar<strong>bei</strong>tsplatz, obwohl es allmählich auch schon etwas<br />

schlechter wurde. Die Habilitation war da mals, Anfang der 70er Jahre,


- 270 -<br />

noch immer eine gute Garantie für eine gute Lebensstellung. All das gilt<br />

überhaupt nicht mehr. Auch für Männer nicht. Aber für Frauen eben extrem<br />

nicht. Gerade in der Berufsklasse, wo ich eigentlich hingehöre, da<br />

si nd ja, wie gesagt, 99% Männer und 1 % Frauen. Das liegt an unserer Berufungskommissionszusammensetzung,<br />

und das läßt sich, meiner Meinung nach,<br />

nur durch Quotierung ändern. Alles andere ist völlig unmöglich. Also auch<br />

was sonst vorgeschlagen wird. Bevorzugung von Frauen <strong>bei</strong> gleicher Qualifi<br />

kation ••• da kann ich nur lachen! Also ich bin wirklich höher qualifiziert<br />

ge wesen als viele Mitbewerber, aber es fehlte mir eben das männliche Geschlecht.<br />

Es ist nun mal äußerst schädlich in diesem Beruf, weiblich zu<br />

sein! Ich habe früher immer romantische Ansichten über Wissenschaft gehabt,<br />

über Innovation in der Wissenschaft. Ich habe gedacht, es käme auf<br />

di e Qualität der Ar<strong>bei</strong>t an, aber es kommt auf das Geschlecht an. Die suchen<br />

sich einen Mann, das weißt Du ja, der die Innung stärkt. Also auch<br />

Män ner, die aus dem Rahmen fallen, sind ja nicht beliebt. Aber Frauen fallen<br />

schon per Geschlecht aus dem Rahmen.<br />

L: Ja, und dann besonders die, die noch vom klassischen Wissenschaftsverständnis<br />

abweichen.<br />

L. : Ja, und dann die Frauen, die Feministinnen sind, sind natürlich völlig draußen.<br />

Die Frau, die es in der Uni noch schafft heutzutage, also die Feministi<br />

n, die es heute an der Uni überhaupt noch gi bt, das sind eben diejenigen,<br />

die zum Feminismus gekommen sind, als sie ihre Stelle schon da gehabt<br />

haben. Das finde ich auch sehr schön, daß sie dazu gekommen sind. Also<br />

jetzt neuere Feministinnen, da kenne ich jetzt wirklich nur drei Frauen.<br />

Diese Literaturwissenschaftlerin in Hamburg, ich weiß nicht, das ist vielleicht<br />

auch eine Initiative von der Heide Pfarr (P rof. Dr. Heide Pfarr war<br />

die erste Frau in der Geschichte, die Vizepräsidentin einer bundesdeutschen<br />

Hochschule war, Anm. d. Verfass.) gewesen. Ich weiß nicht. Aber<br />

sonst, Quotierung ist das einzig Mögliche, wo<strong>bei</strong> das sicher wieder auf die<br />

formale Qualifikation durchschlagen wird. Wie ich die Herren kenne, werden<br />

sie dann die Promotion für Frauen erschweren. ,<br />

L: Also Deiner Meinung nach werden dann die Bedingungen so hoch geschraubt,<br />

daß da kaum noch eine Frau etwas erreichen kann?<br />

L. : Ja. Das ist schon sehr weit gedacht. Zunächst einmal trete ich für die<br />

Quotierung ein. Was die Männer dann im Gegenzug wieder erfinden, darüber<br />

möchte ich jetzt noch nicht nachdenken. Das ist ja wohl klar, daß sie


- 271 -<br />

so etwas machen werden. Also die Männer leichter habilitieren und die<br />

Frauen schwerer. Das kann ich mir gut vorstellen. Das wird sich wohl nur<br />

ändern, wenn wir wirklich 50% Frauen haben. Das ist alles so grotesk! Ich<br />

komme mir in dieser Gesellschaft wirklich oft so vor wie im Irrenhaus.<br />

Wenn ich einfach von der Grundtatsache ausgehe, daß Männer und Frauen<br />

gl eich intelligent und gleich forschungstüchtig sind, wenn ich dann ansehe,<br />

wer da forscht und lehrt und wer nicht ••• ein Irrenhaus!<br />

1: Ja, fällt dir noch was Wichtiges ein, was Du zu diesem ganzen Themenkomplex<br />

sagen möchtest?<br />

L.: Nein, ich glaube nicht im Moment, weil ich jetzt ar<strong>bei</strong>ten muß. Ich muß<br />

doch meine Reise organisieren, die ich morgen oder übermorgen machen<br />

muß.<br />

1: Dann danke ich Dir.<br />

L.: Ja, bitte.

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