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Hedwig Rudolph / Helga Manthey /<br />
Christine Mayer / Helga Ostendorf /<br />
Ursula Rabe-Kleberg/Ingeborg Stahr (Hrsg.)<br />
Ungeschützte<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
Frauen zwischen Risiko<br />
und neuer Lebensqualität<br />
I<br />
VSA-Verlag, Hamburg 1987
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I 'i..}1i. oJ <br />
AUTORINNEN \._.. _ _<br />
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Baur, Elke, Dr., Jg. 1942, 1968-1972 festangestelh'rrnatrreie Mitar<strong>bei</strong>terin <strong>bei</strong><br />
verschiedenen Rundfunkanstalten der ARD. 1972-1979 Wissenschaftliche Assistentin<br />
am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der FU Ber<br />
Hn, Schwerpunkt: Film/Fernsehen. Seit 1979 Freie Fernsehproduzentin und Filmemacherin<br />
BiHtewski, Helga, Mitar<strong>bei</strong>terin von HYDRA, Treffpunkt und Beratung für Prostituierte,<br />
Kantstraße 54, 1000 Berlin 12<br />
Dieckhoff, Erika, Mitar<strong>bei</strong>terin des 4. Hamburger Frauenhauses<br />
Discher, Inga, DipI.-Soziologin, Dozentin an der Fachhochschule Wiesbaden/Rüsseisheim,<br />
Mitar<strong>bei</strong>t an der Untersuchung: "Telear<strong>bei</strong>t - Chancen und Risiken für<br />
Frauenerwerbstätigkeit in Hessen" im Auftrag der Bevollmächtigten der hessischen<br />
Landesregierung für Frauenangelegenheiten<br />
Döll, Regine, Mitar<strong>bei</strong>terin von HYDRA, Treffpunkt und Beratung für Prostituierte,<br />
Kantstraße 54, 1000 Berlin 12<br />
Eiche, Christiane, Dipl.-Politologin, Mitar<strong>bei</strong>terin von FRAU UN D ARBEIT e.V.<br />
in Hamburg<br />
Goldmann, Monika, Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin am Landesinstitut Sozialforschungsstelle<br />
Dortmund im Forschungsbereich "Berufsar<strong>bei</strong>t von Frauen"<br />
GottschaU, Karin, J g. 1955, Dipl.-Sozial wirtin, Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin<br />
am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI), Forschungsschwerpunkte:<br />
Frauenerwerbsar<strong>bei</strong>t, Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik, Neue Technologien im Dienstleistungssektor<br />
Haas, Lu, 43, Soziologin, 1968-84 Lehre und Forschung an den Universitäten<br />
Frankfurt und Göttingen, Ar<strong>bei</strong>tsschwerpunkte: Berufsausbildung im kaufmännisc<br />
hen und gewerblich-technischen Bereich, Frauenforschung. 1982 Gründung der<br />
Frankfurter Frauenschule. Seit 1984 Konzeption, Projektleitung und wissenschaftliche<br />
Begleitforschung des Qualifikationskurses zur beruflichen Selbständigkeit<br />
für Frauen - Frauenbetriebe, Beratung von Frauenbetrieben, Konzeption<br />
der Ausbildung von Entwicklungsberaterinnen, Förderung der Markthalle GmbH.<br />
Mitglied des EG-Network on Local Initiatives of Women<br />
HUREN WEHREN SICH GEMEINSAM (HWG), Verein zur Förderung der Information<br />
und Kommunikation zwischen weiblichen Prostituierten e.V., Karlsruher<br />
Str. 5, 6000 Frankfurt 1<br />
Karsten, Maria-Eleonora, Dr. phil., Dipl.-Pädagogin, 37 Jahre, Hochschulassistentin<br />
im Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaft der Fernuniversität<br />
Hagen, Ar<strong>bei</strong>tsbereich: Interkulturelle Studien und Ausländerpädagogik<br />
Klug, Gabriele C., Jg. 1955, Juristin, Schwerpunkte: Ar<strong>bei</strong>tsrecht und jüngere<br />
Rechtsgeschichte. Mitar<strong>bei</strong>t an der Untersuchung: "Telear<strong>bei</strong>t - Chancen und<br />
Risiken für Frauenerwerbstätigkeit in Hessen" im Auftrag der Bevollmächtigten<br />
der hessischen Landesregierung für Frauenangelegenheiten<br />
t<br />
L
Krüger, Helga, Dr. phil., Professorin für Familiensoziologie, familiale und berufliche<br />
Sozialisation im Studiengang Berufliche Bildung an der Universität Bremen.<br />
Forschungsaktivitäten aktuell vor allem im Bereich der beruflichen Ausbildung<br />
von Mädchen und der Situation von Frauen in Dienstleistungsberufen<br />
Manthe y, Helga, Jg. 194 7, Politologin. Seit 20 Jahren I,.icht- und Schattenseiten<br />
ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse testend. Nach diversen "Jobs" während des<br />
Studiums 13jährige Tätigkeit auf Honorarbasis in der Erwachsenenbildung und<br />
4j ährige Ar<strong>bei</strong>t mit Honorar- und ABM-Verträgen im Wissenschaftsbereich<br />
Me yer, Christine, Jg. 1949, Dr., Dipl.-Pädagogin, Lehrerausbildung für berufsbi<br />
ldende Schulen. 1979-85 Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin an der Universität<br />
Hannover; seit 1986 Hochschulassistentin am Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik<br />
der Universität Hamburg<br />
Morokvasic, Mir jana, Dr., Soziologin, 1970-77 Dozentin an der Universität Lilie,<br />
Frankreich; seitdem am Centre National de la Recherche Scientifique, Paris.<br />
Schwerpunkte: Frauenfragen und internationale Migration. 1984/85 Alexander<br />
von Humboldt-Stipendiatin an der TU Berlin<br />
Nesemann, Christa, Jg. 1954, Dipl.-Soziologin, Mitar<strong>bei</strong>terin in einem Frauenberatungsprojekt,<br />
Projektberaterin im "Ar<strong>bei</strong>tskreis zur Förderung autonomer<br />
Frauen- und Alternativprojekte und Beschäftigungsinitiativen e.V."<br />
Ostendorf, Helga, Dr. rer.pol., Dipl.-Politologin, Ar<strong>bei</strong>ten zu Frauen in technischen<br />
Berufen und zu Staatsfinanzen, zur Zeit Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin<br />
an der Technischen Universität Berlin<br />
Pusch, Luise F., geboren 1944 in Gütersloh, Promotion (Anglistik) Hamburg<br />
1972, Habilitation (Sprachwissenschaft) Konstanz 1978. Apl. Professorin für<br />
Sprachwissenschaft, Universität Konstanz. Wegen ihres feministischen Engagements<br />
ohne Aussicht auf eine Stelle an der deutschen Männer-Universität. Ar :..<br />
<strong>bei</strong>tet seit 1982 (seit 1986 zusammen mit Ulla Reis) an einer Frauenchronik und<br />
'an einem Kalender mit Frauen-Gedenktagen<br />
Rabe-Kleberg, Ursula, Dr. phi!., Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin im Forschungsschwerpunkt<br />
"Ar<strong>bei</strong>t und Bildung" der Universität Bremen. Forschung zur Entwicklung<br />
von Frauenberufen und Frauenar<strong>bei</strong>t<br />
Richter, Gudrun, Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin am Landesinstitut Sozialforschungsstelle<br />
Dortmund im Forschungsbereich "Berufsar<strong>bei</strong>t von Frauen"<br />
Rudolph, Hed wig, Prof. Dr., seit 1975 Hochschullehrerin an der Technischen<br />
Universität Berlin, Ar<strong>bei</strong>ten über Strukturfragen des Bildungs- und Beschäftigu<br />
ngssystems, insbesondere zur Situation von Frauen im Spannungsfeld technischer<br />
und gesellschaftlicher Modernisierung<br />
Schütze, Paula (Pseudonym), freie Journalistin<br />
Schuster, Irene, Dipl.-Soziologin, war Wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin am Sonderforschungsbereich<br />
101 der Universität München im Projektbereich "Familiale<br />
Ar<strong>bei</strong>t in ihrer Bedeutung für Berufsar<strong>bei</strong>t" und ar<strong>bei</strong>tete in diesem Rahmen an
einer Fallstudie über Teleheimar<strong>bei</strong>t. Forschungsschwerpunkte: Frauenar<strong>bei</strong>t,<br />
Neue Technologien und Ar<strong>bei</strong>tszeit<br />
Schwarz, Helga, Mitar<strong>bei</strong>terin des 4. Hamburger Frauenhauses<br />
Simon, Heide, Sozialar<strong>bei</strong>terin, Gruppenleiterin der Beratungsstelle Geschlechtskrankheiten<br />
des Bezirksamtes Charlottenburg von Berlin. Uberwiegend<br />
Ar<strong>bei</strong>t mit Prostituierten<br />
Stahr, Ingeborg, Dr. phii., geb e 1950, verheiratet, hat einen vierjährigen Sohn.<br />
Promotion in Erziehungswissenschaft. Seit 1979 Wissenschaftliche Assistentin<br />
an der Universität Gesamthochschule Essen (UGE) im Bereich Erziehungswissenschaft,<br />
1980 Ab ordnung an das Hochschuldidaktische Zentrum der UGE; seit<br />
1982 Aufbau eines Bereichs Frauenstudien. Forschungsschwerpunkt: Ar<strong>bei</strong>tsund<br />
Studiensituation von Frauen an der Hochschule<br />
Wehrda, Romy (Pseudonym), freie Journalistin<br />
Wulfers, Christa, 29, Dipl.-Sozialpädagogin, Studentin an der Universität Bre <br />
men mit dem Ziel Lehramt in der beruflichen Bildung. Vielfältige berufliche<br />
Tätigkeiten und Ausbildungen, u.a. als Kindermädchen in der Familie, Kinderkra<br />
nkenschwester und Arzthelferin. Existenzsicherung durch eine Reihe von<br />
"bad jobs"<br />
Zimmermann, Ursula, Mitar<strong>bei</strong>terin des 4. Hamburger Frauenhauses
I N H A L T<br />
Helga Manthey/Hedwig Rudolph<br />
Ungeschützt ins Reich der Freiheit?<br />
Memorandum: "Frauen in ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen"<br />
13<br />
25<br />
10 AR BEITS BESCHAFFUNGSMASSNAHM EN<br />
Helga Ostendorf<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen? Die Unzulänglichkeit<br />
des "wichtigsten ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitischen Instruments"<br />
Karin Gottschall<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik für Frauen? Zur Teilhabe erwerbsloser Frauen<br />
an Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
Christiane Eiche<br />
Den Mangel innovativ nutzen? Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen in<br />
Frauenpro ekten j<br />
29<br />
42<br />
53<br />
Ho "N EU E" S EL BST }\NDIG E<br />
Christine Mayer<br />
Zum Spannungsverhältnis von beruflicher Selbständigkeit<br />
von Frauen und eigenständiger Existenzsicherung 59<br />
Christa Nesemann<br />
Zur staatlichen Subventionierung von Frauenpro jekten:<br />
Entstehungszusammenhänge prekärer Ar<strong>bei</strong>tsplätze 70<br />
Lu Haas<br />
Frauenbetriebe - Ein Weg in ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse 79<br />
,/Mir jana Morokvasic<br />
" Ausländische Frauen: Selbständigkeit - Privileg als Uberlebenschance 91<br />
I H. T EL E-H EIMAR BEIT<br />
Hedwig Rudolph<br />
Heim - heimlich - unheimlich: Tele-Heimar<strong>bei</strong>t 101<br />
Monika Goldmann/Gudrun Richter<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t als 'neue Selbständigkeit' oder 'Vereinbarungsmodell'<br />
Zur Auslagerung von Fach- und Gebrauchsübersetzungen 1 1
Irene Schuster<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t - Neue Perspektiven für die Ar<strong>bei</strong>t in Familie und<br />
Beruf? 120<br />
Inga Discher<br />
Trautes Heim - Glück allein?<br />
Uber den vielfältigen Nutzen der Ansiedelung weiblicher Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
im Wohnbereich und seine kleinen Schattenseiten<br />
-"<br />
129 '<br />
Gabriele C. Klug<br />
Juristische Probleme und Gestaltungsmöglichkeiten der Telear<strong>bei</strong>t 136<br />
IV.<br />
TRADITION ELL E FRAU ENB ERUF E<br />
Ursula Rabe-Kleberg<br />
Traditionelle Frauenberufe - traditionell unsicher 147<br />
Helga Krüger<br />
Der Staat als Ar<strong>bei</strong>tgeber. Labilisierung und Stabilisierung in personenbezogenen<br />
sozialen Dienstleistungen 154<br />
Christ a Wulfers<br />
" ••• das kann man sich nicht bezahlen lassen."<br />
Die Hauspflegerin: ein neuer Beruf, eine alte Tradition 168<br />
Maria-Eleonora Karsten<br />
Migrantinnen. Traditionelle Frauenar<strong>bei</strong>t in ungeschützten und<br />
illegalen Verhältnissen 178<br />
V. PROSTITUTION<br />
Helga Manthey<br />
Berührungsängste oder: Der schöne Schein der Intimität<br />
Erika Dieckhoff/Helga Schwarz/Ursula Zimmermann<br />
Der Zwang zur Ab weichung - Prostitution und Recht<br />
Huren wehren sich gemeinsam (H WG)<br />
Ar<strong>bei</strong>tspla tz Prosti tution<br />
Heide Simon<br />
Das Geschäft mit der "Exotik"<br />
Erika Dieckhoff/Helga Schwarz/Ursula Zim mermann<br />
Aussteigen aus der Prostitution<br />
Helga Bilitewski/Regina Döl!<br />
Prostituierte organisieren sich<br />
185<br />
196<br />
20 3<br />
211<br />
219<br />
224
VI . M EDI EN UND WISS ENSCHAFT<br />
Ingeborg Stahr<br />
Frei zu sein bedarf es wenig •••<br />
Ob er die freiberufliche Tätigkeit von Fra uen in Medien und<br />
Wissenschaft<br />
Elke Baur<br />
Freie Journalistinnen, "Stille Reservearmee" oder das "Salz in<br />
der Suppe"<br />
Paula Schütze/Romy Wehrda<br />
Vorläufige Terrainerkundung - Zur Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />
<strong>bei</strong>m Hörfunk<br />
Luise Pusch/Ingeborg Stahr<br />
Frau Professor tingelt durch die Lande •••<br />
- Ein Interview mit Luise Pusch<br />
231<br />
240<br />
245<br />
255
Diese Veröffentlichung ist im Anschluß an den Workshop "Frauen in 'ungeschützten'<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen" im Rahmen der Hochschultage Berufliche Bildung<br />
'86 (I.-4. Oktober 1986 in Essen) entstanden.<br />
Die Durchführung des Workshops wurde durch Zuwendungen der Parlamentarischen<br />
Staatssekretärin für die Gleichstellung von Frauen und Männern des Landes<br />
Nordrhein-Westfalen, Frau Fischer-Runde, sowie der Hans-Böckler-Stiftung<br />
gefördert. Das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und die Hans<br />
Böckler-Stiftung ermöglichten durch Zuschüsse die Publikation der Tagungs<strong>bei</strong>träge.<br />
Den genannten Personen und Institutionen gilt unser Dank.<br />
Die Herausgeberinnen
- 13-<br />
Helga Manthey /Hedwig Rudolph<br />
UNG ESCHUTZT INS R EICH D ER FREIH EIT?<br />
Noch nie seit Gründung der Bundesrepublik waren so viele Frauen erwerbstätig<br />
wie seit Beginn der 80er Jahre. Ihre Zahl hat sich zwischen '72 und ' 85 um ca.<br />
300.000 erhöht, während die der Männer um rd. 700.000 sank (Alex 1987). Aber<br />
es gibt selbst in den ansonsten überaus diskreten amtlichen Statistiken Hinweise<br />
darauf, daß hier Qu antität keineswegs in Qu alität umschlug - im Gegenteil.<br />
Daß der Terraingewinn von Frauen am Ar <strong>bei</strong>tsmarkt sich überwiegend nicht in<br />
den üppigen Gefilden abspiel t, wird signalisiert durch<br />
- den (erstmals '83) Wiederanstieg der mithelfenden Familienangehörigen, der<br />
für Frauen fast doppelt so hoch ausfiel wie für Männer;<br />
- den überproportionalen Zuwachs <strong>bei</strong> der Teilzeitar<strong>bei</strong>t, während Vo llzeitar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
vernichtet wurden; zwischen '77 und ' 83 geht allein 2/3 der Gesamtzunahme<br />
der abhängig erwerbstätigen Frauen auf das Konto der Teilzeitar<strong>bei</strong>t<br />
bis 20 Stunden/Woche;<br />
- die zunehmende Öffnung der Verdienstschere zwischen erwerbstätigen Frauen<br />
und Männern; 1982 hatten 3 von 4 Frauen über 15 Jahren entweder kein<br />
Ein kommen oder weniger als DM 1.200,-- im Monat (Möller/Hehr 1985).<br />
Es gibt Anhaltspunkte für die These, daß es <strong>bei</strong> der aktuellen technischökonomischen<br />
Rationali SierungsweIle und der damit verbundenen Umstrukturierung<br />
des Ar <strong>bei</strong>tsmarktes nicht um das Ziel geht, Frauen zurück an den Herd zu<br />
verbannen. Vielmehr wurden und werden materiell und sozialpsychologisch die<br />
Rahmenbedingungen geschaffen, um weibliche Ar <strong>bei</strong>tskräfte flexibel - und das<br />
heißt entsprechend dem jeweiligen Bedarf der Wirtschaft - als Versatzstücke<br />
der Modernisierung einsetzen zu können. Das von Politikern angestimmte Hohe<br />
Lied auf Familie und Mutterschaft steht in bemerkenswertem Kontrast zur Ve r<br />
schlechterung bzw. Verzögerung sozialpolitischer Leistungen für eben diese<br />
gesellschaftlichen Institutionen.<br />
Seit einer Reihe von Jahren läßt sich beobachten, daß unbefristete Vollzeitar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
abgebaut und durch rechtlich, materiell und/oder sozial ausgehöhlte<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse ersetzt werden, eine Praxis, die zunehmend durch<br />
entsprechende Gesetze abgesichert wird (Zachert 1986). Gemeint sind Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
wie: Teilzeitar<strong>bei</strong>t, Ar<strong>bei</strong>t auf Abruf, Aushilfen, sog. geringfügige
- 14-<br />
Beschäftigung (unterhalb 43 0,- DM pro Monat), Job-sharing, Leihar<strong>bei</strong>t, Werkvertragsar<strong>bei</strong>t,<br />
"freie Mitar<strong>bei</strong>t", befristete Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, Heimar<strong>bei</strong>t,<br />
ABM-Stellen, Saisonar<strong>bei</strong>t, Zwangsar<strong>bei</strong>t Hir Sozialhilfeempfänger. Was sich aus<br />
betriebswirtschaftlicher Sicht als Moment der "Flexibilisierung von Unternehmensorganisation"<br />
darstellt -, ähnlich wie Unternehmensteilung, Betriebsaufspaltung,<br />
Betriebsstillegung - bedeutet eine Individualisierung von Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen,<br />
eine Differenzierung und Fraktionierung von Belegschaften, wo<strong>bei</strong> kollektive<br />
Regelungen unterlaufen werden.<br />
Diese "modernen" Ar<strong>bei</strong>tsformen der Erwerbsar<strong>bei</strong>t lassen sich nach den<br />
Kriterien ordnen, durch die sie von der Norm unbefristeter, tarifrechtlich abgesicherter<br />
Vollzeitar<strong>bei</strong>t abweichen: Befristung, Teilzeit, nicht bzw. nicht voll<br />
tariflich oder sozialversicherungsrechtlich eingebunden sowie nicht existenzsicherndes<br />
Einkol)1men und damit unzureichende Altersversorgung (Möller/Hehr<br />
1985). Anfang der 80er Jahre waren davon schätzungsweise 3 Mio. Frauen betroffen,<br />
d.h. fast 30% aller weiblichen Erwerbstätigen.<br />
Frauen ist diese Art des Modernismus nicht neu, denn die genannten<br />
Merkmale sind solche, die immer schon als typisch Hir die Frauenerwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
galten. Die aktuelle Diskussion, ausgelöst durch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz<br />
und Günter Wallraffs Enthüll ungen der skandalösen illegalen<br />
Praktiken des Leihar<strong>bei</strong>tsgewerbes, sollte nicht den Blick dafür verstellen, daß<br />
für Frauen die Norm unbefristeter, tariflich abgesicherter Vollzeitar<strong>bei</strong>t immer<br />
schon die Ausnahme war. Der vorliegende Band greift deshalb mit den Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen,<br />
der Tele-Heimar<strong>bei</strong>t und den "neuen" Selbständigen<br />
nicht nur "neue" Fomen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>t auf, sondern weist ebenso mit<br />
den traditionellen Frauenberufen, der Prostitution, den Medien und der Wissenschaft<br />
auf die Kontinuität im Wandel hin.<br />
1. Vom notwendigen Ende der Verschwiegenheit<br />
Wenn die Ausweitung ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse in steigender Zahl auch<br />
Männer einbezieht, ist es dennoch nicht zufällig, daß diese Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
vor allem Frauen zugemutet werden. Wenig hat sich nämlich verändert an den<br />
Ausgangsbedingungen, der gesellschaftlich normierten Zuständigkeit von Frauen<br />
für unbezahlte Haushalts- und Familienar<strong>bei</strong>t, und ihrer daraus resultierenden<br />
begrenzten Verfügbarkeit für den Erwerbsar<strong>bei</strong>tsmarkt.
- 15-<br />
Gerade die "alten" Formen ungeschützter Erwerbsar<strong>bei</strong>t, im besonderen<br />
die Traditionellen Frauenberufe und die Prostitution, verweisen nachdrücklich<br />
auf ihren strukturellen Zusammenhang mit privat erbrachten Reproduktionsar<strong>bei</strong>ten<br />
von Frauen als Hausfrauen und Mütter. Wenn - wie hier im Bereich der<br />
sozialen, erziehenden und pflegenden Ar<strong>bei</strong>t - die vordergründige Ahnlichkeit<br />
der beruflichen Tätigkeit von Erzieherinnen oder Hauswirtschafterinnen die<br />
Vorstellung verfestigt, daß eine gelungene weibliche Sozialisation für die Ausübung<br />
dieser Tätigkeit genüge, dann ergeben sich daraus weitreichende Folgen<br />
für Status, Entlohnung, Professionalisierungsgrad und Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen dieser<br />
Berufe (vgl. Rabe-Kleberg in diesem Band). Während nämlich die beruflichen<br />
Anforderungen mit der Umformung dieses weiblichen Verhaltensrepertoires in<br />
eine berufliche Form kalkulieren, negieren sie gleichzeitig den Wert dieser<br />
Anstrengungen. Entsprechend geht der Umformungsprozeß nicht in die Definition<br />
von Qualifikationsanforderungen ein und findet auch kein Aquivalent in<br />
der Bezahlung. Darüber hinaus werden diese "verschwiegenen" Qualifikationen<br />
insbesondere dort verlangt, wo die Bedingungen ihrer Realisierung in besonderer<br />
Weise entgegenstehen. Dadurch verstärkt sich das Spannungsverhältnis zwischen<br />
den Anforderungen an die Ar<strong>bei</strong>t und den Bedingungen, unter denen sie<br />
zu erbringen sind (ebenda).<br />
Wiederholen sich hier bekannte Kriterien für die Erklärung, warum Frauenar<strong>bei</strong>t<br />
selbst hier vorzugsweise die unteren Ränge der beruflichen Hierarchie<br />
einnimmt,. so verdankt sich die Möglichkeit ihrer "ungeschützten" Ausgestaltung<br />
einem Bündel von Faktoren: der nicht ausreichenden Existenzsicherung, der<br />
einfachen Austauschbarkeit von Ar<strong>bei</strong>tskräften aufgrund niedriger formaler<br />
Qualifikation sowie dem Einsatz eines relativ hohen Anteils nicht entsprechend<br />
oder gar nicht beruflich qualifizierter Frauen unter den Erwerbstätigen, die als<br />
Laien gleiche oder vergleichbare Aufgaben unbezahlt ausüben und in Konkurrenz<br />
zueinander eingesetzt werden können (ebenda). Als Nebeneffekt bleiben<br />
die Möglichkeit und Legitimation für eine Rückverlagerung der Aufgaben in<br />
den privaten Bereich, sollte sie aus wirtschaftlichen und/oder politischen Erwägungen<br />
opportun erscheinen.<br />
Auch <strong>bei</strong> der Prostitution läßt sich aufzeigen, daß die Umformung privaten<br />
sexuellen Verhaltens in die berufliche Form nicht als Faktum akzeptiert wird,<br />
was wesentlich zur negativen sozialen Bewertung dieses Berufes <strong>bei</strong>trägt. Der<br />
Tabuierung kommt in diesem Zusammenhang noch eine besondere Funktion zu,
- 16 -<br />
nämlich die Realität dieses Berufszweiges zu verleugnen nach dem Motto: daß<br />
nicht sein kann, was nicht sein darf (vgl. Manthey in diesem Band).<br />
Bei den "neuen" Formen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse gehen - anders<br />
als <strong>bei</strong> den "alten" - die aus der Familienar<strong>bei</strong>t abgeleiteten Fähigkeiten nicht<br />
in das berufliche Anforderungsprofil ein. Hier wird - wie das Beispiel der Tele<br />
Heimar<strong>bei</strong>t zeigt - das Dilemma der Frauen profitabel ausgenutzt, Kinderbetreuung<br />
und Erwerbsar<strong>bei</strong>t zu verknüpfen. Ihre aufgrund familialer Versorgungsaufgaben<br />
eingeschränkte Verfügbarkeit wird zum Anlaß genommen, ihnen wenig<br />
attraktive, ar<strong>bei</strong>tsintensive und schlecht entlohnte Tätigkeiten anzudienen (vgl.<br />
das Beispiel der Hausfrauenübersetzerinnen <strong>bei</strong> Goldmann/Richter in diesem<br />
Band). Wenn Tele-Heimar<strong>bei</strong>t auch neue Technik und Ar<strong>bei</strong>tsorganisation nutzt,<br />
setzt sie doch eher die Tradition der Ausbeutung von Ar<strong>bei</strong>tskräften fort, die<br />
aufgrund ihrer Lebensumstände auf Heimar<strong>bei</strong>t angewiesen sind (vgl. Rudolph in<br />
diesem Band). Das betriebliche Profitkalkül realisiert sich in diesem Bereich<br />
häufig in erzwungener Selbständigkeit. Daß Frauen seltener in der Lage sind,<br />
die in der ökonomischen Selbständigkeit auch angelegten Chancen zu ihren<br />
eigenen zu machen, belegen Goldmann und Richter vor dem Hintergrund eines<br />
Vergleichs zwischen männlichen und weiblichen Fach- und Gebrauchsübersetzern.<br />
Während Männer <strong>bei</strong>m mehr oder weniger erzwungenen Ausscheiden aus<br />
dem Betrieb häufiger Werkverträge mit Auftragsgarantien erhalten, die ihnen<br />
einen regelmäßigen Umsatz sichern, erwähnen Frauen lediglich mündliche Zusagen,<br />
daß sie mit Aufträgen rechnen können (ebenda). Diese ungleichen Startbedingungen<br />
verschärfen sich noch durch eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche<br />
Gestaltung der neuen Situation. Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen,<br />
die in kürzester Zeit den Eindruck gut situierter Selbständigkeit durch<br />
gerätetechnische und repräsentative Ausstattung vermitteln, sind Frauen zögerlich,<br />
sich als Selbständige zu begreifen, betrachten die Situation als Not- oder<br />
Ubergangslösung, scheuen langfristig orientierte Investitionen und verfahren<br />
insgesamt seltener nach betriebswirtschaftlichen Kriterien (ebenda). Folgerichtig<br />
sind es die Männer, die den Schritt in die Selbständigkeit als gelungene<br />
Weiterentwicklung ihrer Karriere auch dann bewerten können, wenn er nicht<br />
freiwillig erfolgte. Sie schaffen sich die Rahmenbedingungen, um ihre Interessen<br />
an Qualifikationszuwachs, höherem Einkommen, Flexibilität und selbstgestaltetem<br />
Leben zu erfüllen (ebenda).<br />
Frauen behindern sich demnach - zusätzlich zu den Benachteiligungsfaktoren,<br />
die an sie herangetragen werden - offensichtlich auch selbst durch jene
- 17 -<br />
Ambivalenzen, die Prokop (19 76 ) treffend auf die "Fesselung weiblicher Produktivkräfte<br />
durch die Produktionsverhältnisse" zurückführt. Ihrem mangelnden<br />
----.<br />
Selbstvertrauen, ihrer Scheu, Risiken einzugehen und Chancen innovativ zu<br />
nutzen, ist es auch zuzuschreiben, daß ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse für<br />
_f ra ___<br />
lJ_
- 18 -<br />
eine offen profitable Nutzung der eingeschränkten Verfügbarkeit für den Erwerbsar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
unterstellt werden.<br />
Auf diesem Hintergrund gewinnt das Beispiel der Frauenbetriebe seine<br />
besondere Brisanz. Es wird versucht, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
der Frauen, die aus ihrer Sozialisation für die Familienar<strong>bei</strong>t resultieren, gezielt<br />
für eine Selbständigkeit zu nutzen und die Vergrößerung der Erfolgschancen<br />
der Frauen mit qualitativen Zielbestimmungen für die Gestaltung und das<br />
Produkt der Ar<strong>bei</strong>t zu verbinden. Sie machen damit den Prozeß der Umformung<br />
reproduktiver Fähigkeiten zu einem beruflichen Selbstverständnis öffentlich,<br />
weisen ihn als qualifikatorischen aus und brechen ein Qualifikationsverständnis,<br />
dessen Maßstäbe ausschließlich der traditionellen Lohnar<strong>bei</strong>t entstammen. Sie<br />
greifen darüber hinaus die "Andersartigkeit" dieser reproduktiven Fähigkeiten<br />
auf, um damit eine qualitative Beeinflussung gesellschaftlicher Zielbestimmung<br />
vorzunehmen, und zwar im Sinne einer Symbiose aus den hier herauszukristallisierenden<br />
qualitativen Elementen und den markterforderlichen Qualifikationen.<br />
Nur wenn diese Symbiose gelingt, sehen sie eine Chance zu verhindern, daß<br />
Frauen als Selbständige Strategien übernehmen, die Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit oder Ungeschütztheit<br />
für andere zur Folge haben. Nur dann besteht auch Hoffnung, daß<br />
Frauen Ar<strong>bei</strong>tsplätze schaffen, an denen sie sich wohlfühlen und eine neue<br />
Qualität betrieblichen Handeins definieren, die die ausschließliche Orientierung<br />
am Ertrag bricht (ebendaj zur weiteren Präzisierung der Symbiose vgl. Haas<br />
1985).<br />
2. Die Schattenseiten der Freiheit<br />
Das Beispiel der Frankfurter Frauenbetriebe weist mit seinem experimentellen<br />
Charakter auf eine qualitative Dimension ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse hin,<br />
die <strong>bei</strong> den sich verstärkenden Kassandra-Rufen unterzugehen droht. So berechtigt<br />
die Sorge über die Ausweitung ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse und<br />
deren Qualität ist, sollte sie dennoch nicht als Anlaß einer pauschalen Ablehnung<br />
dienen. Die gegenwärtig stattfindende Umstrukturierung des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes<br />
kann nur deshalb ideologisch durch die Argumentation gestützt werden, daß<br />
Ungeschütztheit immer schon der Preis für mehr Selbständigkeit, Kreativität<br />
und Selbstbestimmung sei, weil diese Ideologie einen materiellen Kern enthält.<br />
Sie greift ein tatsächlich ansteigendes Bedürfnis der Ar<strong>bei</strong>tnehmer/innen nach
- 19 -<br />
flexibler Gestaltung, vor allem auch der Ar<strong>bei</strong>tszeit, auf und spiegelt wider,<br />
daß Schutz rechte, die sich an dem Ideal einer möglichst lebenslangen, weisungsgebundenen<br />
Vollzeitar<strong>bei</strong>t orientieren, tatsächlich auch ein Aquivalent für<br />
fremdnützige Ar<strong>bei</strong>t und Unterwerfung unter fremde Weisungsbefugnis sind (vgl.<br />
Klug in diesem Band). Ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse stellen deshalb immer<br />
auch eine Alternative für Menschen dar, die sich dieser Norm nicht fügen können<br />
oder wollen, sei es, weil<br />
- ihre "eigentliche" Ar<strong>bei</strong>t sich schwerlich oder gar nicht marktförmig gestalten<br />
läßt und sie daher zusätzliche Möglichkeiten einer Existenzsicherung in<br />
zeitlich begrenztem Rahmen benötigen,<br />
- sie sich in Lebensstadien befinden oder Lebensperspektiven verfolgen, die<br />
mit der Norm lebenslanger Vollzeitar<strong>bei</strong>t nicht verträglich sind,<br />
- sie Experimentierräume und alternative Gestaltungen suchen, die geschützte<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse aufgrund ihrer häufig restriktiven Eingangs- und Rahmenbedingungen<br />
nicht zulassen.<br />
Ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse liefern somit einerseits - ganz profan -<br />
die Subsistenzmittel als Basis für andere Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensformen, die selbst<br />
keine Existenzsicherung bieten; andererseits müssen sie selbst aber auch strukturelle<br />
Ahnlichkeit mit solchen qualitativen Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensformen haben.<br />
Eine der Vielschichtigkeit des Problems angemessen differenzierte Diskussion<br />
hätte zudem zu berücksichtigen, daß es Gruppen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
gibt, die durchaus Momente der Geschütztheit <strong>bei</strong>nhalten. Dazu zählen<br />
<strong>bei</strong>spielsweise die Medien, Erwachsenenbildung oder Wissenschaft, die in<br />
ihrer ursprünglichen Intention darauf aufbauen, daß sie ausreichende Existenzund<br />
Sicherungsmöglichkeiten bieten (Medien), als Nebenerwerb gelten (Erwachsenenbildung)<br />
oder aber ein vorübergehendes Stadium in einem letztlich geschützten<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis darstellen (Wissenschaft, auch Medien). Diese Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
gewinnen als ungeschützte erst dadurch an Brisanz, daß ihre<br />
relative Geschütztheit durch Ar<strong>bei</strong>tsmarktveränderungen aufgehoben wird, die<br />
Nebenar<strong>bei</strong>ten zu nicht existenzsichernden Hauptar<strong>bei</strong>ten werden lassen, vorübergehende<br />
Stadien der Ungeschütztheit in dauerhafte verwandeln und durch<br />
Verschärfung der Konkurrenz eine ausreichende Existenzsicherung verhindern.<br />
Ungeschütztheit ist demnach ein relatives Kriterium; sie kann nur im Kontext<br />
der Ar<strong>bei</strong>tsmarktsituation, d.h. an der Quantität, Qualität und auch Durchlässigkeit<br />
des sonstigen Ar<strong>bei</strong>tsangebotes angemessen eingeschätzt werden. Die<br />
Ungeschütztheit verliert an Gewicht, wenn zusätzliche Sicherungen oder die
- 20 -<br />
Möglichkeit des Umsteigens auf geschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse bestehen. Sie ist<br />
weiter relativ in der subjektiven Bewertung der Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, da nicht<br />
nur Erwartungshaltungen an soziale Sicherheit unterschiedlich sind, sondern<br />
Ungeschütztheit auch in dem Maße an Bedeutung verliert, wie andere mit dieser<br />
Ar<strong>bei</strong>t verbundene Bedürfnisse an Wichtigkeit gewinnen. Beispielsweise<br />
spielen die Einstellung zu den Ar<strong>bei</strong>tsinhalten wie auch die Tatsache, daß die<br />
berufliche Tätigkeit das Ergebnis eigener Entscheidungen ist, eine relativierende<br />
Rolle. Zwangsweise Ungeschütztheit lähmt die Ar<strong>bei</strong>tsfähigkeit und produziert<br />
Leidensdruck, während die Wahrnehmung der Ar<strong>bei</strong>t als selbstgewählte,<br />
produktive, schöpferische Tätigkeit trotz mangelnder Sicherheit Befriedigung<br />
verleihen kann (vgl. Stahr in diesem Band).<br />
Entsprechend muß eine differenzierte Beurteilung ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
das Augenmerk darauf richten, wie sich die Konfliktlinien für die<br />
Durchsetzung von Interessen und Bedürfnissen auf dem Hintergrund der Ar<strong>bei</strong>tsmarktentwicklung<br />
verschieben, welche neuen Formen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
sich da<strong>bei</strong> herausbilden und wie sich bestehende dadurch verändern.<br />
Aufgrund der überwiegend quantitativen Analysen (Büchtemann/Burian<br />
1986; Büchtemann/Schupp 1986; Forsa Analysen 1986) bleibt die Einschätzbarkeit<br />
der qualitativen Entwicklung beschränkt. Die Anzeichen sprechen für einen<br />
Trend zum Schlechteren. Die anhaltend hohe Erwerbslosigkeit, die politische<br />
Unterstützung von Flexibilisierungstendenzen im Interesse der Betriebe sowie<br />
die Defensivhaltung der Gewerkschaften markieren ein für die Ar<strong>bei</strong>tnehmer/innen<br />
ungünstiges Kräfteverhältnis. Die Zunahme befristeter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse,<br />
<strong>bei</strong> Frauen häufig gekoppelt mit Teilzeit, stellt eine Gefährdung der Existenzgrundlagen<br />
für wachsende Beschäftigtengruppen dar. Daneben bilden sich Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
heraus, denen selbst in geschützter Form nichts abzugewinnen<br />
wäre. Hierzu zählen die in diesem Band dargestellten Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
(vgl. Ostendorf) und die weniger anspruchsvollen Tätigkeiten der Tele<br />
Heimar<strong>bei</strong>t, aber auch eine Reihe von Ar<strong>bei</strong>ten im sogenannten Grauzonenbereich.<br />
An Gewicht gewinnen vor allem die Ar<strong>bei</strong>ten in der Grauzone unterhalb<br />
der sog. Geringverdienergrenze, die mangels Material in diesen Band nicht aufgenommen<br />
werden konnten.<br />
Bei abnehmendem Anteil geschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse verschärft sich<br />
die Konkurrenz selbst um die ungeschützten. Als Folge bilden sich, wie das Beispiel<br />
der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen zeigt, zweite und dritte Ar<strong>bei</strong>tsmärkte
- 21 -<br />
heraus, die es sich trotz schlechter Rahmenbedingungen leisten können, anspruchsvolle<br />
Auswahlkriterien an die Bewerber/innen anzulegen.<br />
Auch die bestehenden Formen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse bleiben<br />
von dieser Entwicklung nicht unberührt, ,wie etwa die Verschiebungen in den genannten<br />
Bereichen Medien, Erwachsenenbildung und Wissenschaft belegen. Aber<br />
nicht nur die Existenzgefährdung nimmt zu. Wie alle Beispiele in diesem Band<br />
zeigen, lassen die einschränkenden Rahmenbedingungen auch die Qualität von<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen und -produkt nicht unangetastet, wirken sich abträglich auf<br />
dfe-Quä.Üfikationsentwicklung aus, erschweren die Verfolgung berufsbiographischer<br />
Perspektiven und beschneiden insbesondere auch die Chancen, Gesch'lechtsrollenstereotypen<br />
und geschlechtshierarchische Ar<strong>bei</strong>tsteil ung zu verändern.<br />
Der offensichtlich gewachsene Problemdruck fällt vor allem <strong>bei</strong> der<br />
Därstellung jener Bereiche auf, die eher Kreativität und Selbstbestimmung versprechen.<br />
Hier ist die Wahrnehmung der positiven Seiten dieser Berufsausübung<br />
nahezu gänzlich der Betonung ihrer Schwierigkeiten gewichen.<br />
Liegt die Verschärfung der Gesamtentwicklung demnach ebenso in einem<br />
Qualitätsverl ust ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, so potenziert sich dieser<br />
Aspekt, weil sich der Raum für Experimente und alternative Formen verengt.<br />
Das wachsende Risiko der hier angesiedelten Versuche ist mit der Gefahr gekoppelt,<br />
daß ihre Zielsetzungen unterlaufen werden durch eine Han dlungsorientierung,<br />
die stärker von einer Flucht aus der Erwerbslosigkeit als von einem<br />
Interesse an den spezifischen Gestaltungsmöglichkeiten geleitet ist.<br />
Ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse breiten sich zunehmend aus als Zwangsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
für Personen, die solche Bedingungen nicht suchen und<br />
schwer ertragen. Für einzelne mag zwar gelten - wie das Beispiel von Luise F.<br />
Pusch in diesem Band zeigt -, daß sie gerade in Extremsituationen ihre kreativen<br />
Potentiale entdecken. Derartige. Schocktherapien können aber nicht beliebig<br />
als Empfehlung für andere gelten.<br />
Auch <strong>bei</strong> denjenigen, die bislang ungeschützte Erwerbsar<strong>bei</strong>t dadurch relativieren<br />
konnten, daß dies der Preis für ihnen wichtigere Bedürfnisse war, verschieben<br />
sich die Relationen. Einerseits nimmt die materielle Gefährdung objektiv<br />
zu, andererseits schwindet die Bedeutung, der sie relativierenden Faktoren,<br />
eine Auswirkung, die im Zusammenhang mit der qualitativen Veränderung<br />
. der Ar<strong>bei</strong>tsbereiche steht. Die Verdrängung der Ungeschütztheit erfordert immer<br />
mehr Kraft, damit die Ar<strong>bei</strong>tsfähigkeit erhalten bleibt und der Spaß an der<br />
Ar<strong>bei</strong>t nicht gänzlich verlorengeht (vgl. Schütze/ Wehrda in diesem Band).
- 22 -<br />
Wenn eine solche Entwicklung berufs- und lebensperspektivisch keine<br />
Wahlmöglichkeiten mehr läßt, falsche Entscheidungen mangels Alternativen<br />
nicht mehr korrigiert werden können, kein Raum für Experimente und vielfältige<br />
Lebensformen bleibt, Existenzsicherung immer mehr in Gegensatz zu sinnvoller<br />
und befriedigender Ar<strong>bei</strong>t gerät, dann beschreibt dies einen enormen<br />
Verlust an individueller und gesellschaftlicher Lebensqualität.<br />
3. Einmischung mit Eigensinn<br />
Die skizzierte Betonung der qualitativen Dimensionen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>t<br />
sollte den Blick darauf lenken, daß die Problematik nicht in der Ungeschützheit<br />
allgemein liegt, sondern daß sie dort angesiedelt ist, wo Ungeschütztheit zum<br />
Zwangsar<strong>bei</strong>tsverhältnis wird und in einen reinen Uberlebenskampf mündet. Die<br />
qualitativen Dimensionen gilt es zu bewahren, solange sie als Korrektiv zu geschützten<br />
Ar<strong>bei</strong>tsformen dienen, in denen sie sich schwer entfalten können.<br />
Für den Medienbereich formuliert eine Journalistin polemisch, daß sie sich <strong>bei</strong>m<br />
besten Willen keine "Kreativ beamten" vorstellen könne (vgl. Baur in diesem<br />
Band). Wenn lso in den Beiträgen die Absicherung der verschiedenen Formen<br />
ungeschützter Ar<strong>bei</strong>t zur Diskussion steht, dann immer auch unter dem Gesichtspunkt<br />
ihres Sinns und der Art und Weise ihrer Ausgestaltung.<br />
Die Diskussion wäre aber verkürzt, würde sie die Sicherung qualitativer<br />
Dimensionen von Ar<strong>bei</strong>t als Frage nach der Alternative zwischen geschützter<br />
und ungeschützter Ar<strong>bei</strong>t definieren. Statt der platten Behauptung, Sicherheit<br />
saturiere und sei mit Flexibilität, Kreativität und Eigeninitiative nicht vereinbar,<br />
gilt es grundsätzlicher zu hinterfragen<br />
die Struktur und Organisation von (bezahlter) Ar<strong>bei</strong>t, die offenbar einen<br />
Gegensatz zwischen <strong>bei</strong> dem schafft,<br />
- die Ar<strong>bei</strong>tsdefinition, die in einseitig interessengeleiteter Verengung weite<br />
Teile gesellschaftlich notwendiger Ar<strong>bei</strong>t ausgrenzt mit der Folge, daß sich<br />
- auch auf die Weltbevölkerung bezogen - die Existenzsicherung Weniger an<br />
die materielle und psychische Verelendung Vieler koppelt und die Lebensgrundlagen<br />
des Menschen weiter durch eine <strong>bei</strong>spiellose Umweltzerstörung<br />
bedroht werden,<br />
- die Relevanz des zentralen Dogmas einer Ar<strong>bei</strong>tsgesellschaft, die Sinnhaftigkeit<br />
des Lebens ausschließlich an Erwerbsar<strong>bei</strong>t bindet und damit nicht nur
- 23 -<br />
den Zwang der Existenzsicherung über (bezahlte) Ar<strong>bei</strong>t idealisiert, sondern<br />
umgekehrt auch nur dem Tun gesellschaftliche Anerkennung verleiht, das<br />
sich über (bezahlte) Ar<strong>bei</strong>t legitimiert.<br />
Muß sich demnach die langfristige Perspektive an einer Umstrukturierung<br />
gesellschaftlicher Ar<strong>bei</strong>t und anderen Formen der Existenzsicherung orientieren,<br />
heißt es kurzfristig, den mit der Ausweitung ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
verbundenen Entwicklungen gegenzusteuern. Können Frauen weder auf<br />
eine Beeinflussung der konzeptionellen Gestaltung zukünftiger Ar<strong>bei</strong>t verzichten,<br />
ist ihre Einmischung erst recht dort gefragt, wo sie als Vorhut der Moderne<br />
der größten Gefahr ausgesetzt sind, zu ihrer Manövriermasse funktionalisiert<br />
zu werden. In ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen setzt sich für Frauen<br />
eine Ausbeutungstradition fort, die darauf beruht, daß ihre Distanz zur Norm<br />
des unbefristeten geschützten "Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnisses" immer schon Quelle<br />
profitabler Nutzung war. Ihre Situation verschärft sich dadurch, daß sie einerseits<br />
die Folgen der Ausweitung unbezahlter Ar<strong>bei</strong>t zu tragen haben und andererseits<br />
im Verdrängungswettbewerb durch Männer um die relativ "besseren"<br />
ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse unterlegen sind. Zudem wirkt sich für die<br />
subjektiven Bewältigungsstrategien erschwerend aus, daß Frauen mit dieser ihre<br />
Ambitionen blockierenden Situation konfrontiert werden, nachdem in den letzten<br />
<strong>bei</strong>den Jahrzehnten ihr allgemeines und berufliches Bildungsniveau, ihre<br />
Berufsmotivation und ihre Ansprüche auf eigenständige Existenzsicherung erheblich<br />
gestiegen sind.<br />
Daß Frauen zu "Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnissen" seltener Zugang finden, ist<br />
nicht nur Ursache ihrer leidvollen Erfahrungen, sondern auch Ausdruck ihrer<br />
anderen Bedürfnisorientierung. Eine Fülle berufskritischer Ansätze und Annahmen,<br />
daß Frauen für alternative Lebensformen offener seien, finden hier ihren<br />
Erklärungshintergrund. Die seit Jahren geführte Auseinandersetzung um einen<br />
"weiblichen Lebenszusammenhang" hat nicht nur zu einer Vielzahl theoretischer<br />
und praktischer Erkenntnisse geführt, sondern eine Haltung von Frauen geprägt,<br />
die sie ihre Vorstellungen von anderen Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensformen selbstbewußt<br />
ei _ läßt. Dieser Eigensinn spiegelt die vielfältige Suche von Frauen wider,<br />
sich aus der Orientierung auf Männer zu lösen und eine weibliche Identität<br />
auf dem Hintergrund eigener Interessen und Bedürfnisse aufzubauen. Sie müssen<br />
da<strong>bei</strong> ihre Zerrissenheit und Ambivalenzen, Ausdruck ihrer Prägung durch ein<br />
patriarchales System, als Bausteine dieser Entwicklung akzeptieren, sich der<br />
Unterschiedlichkeit ihrer Lebenssituationen und -interessen stellen sowie ihre
- 24 -<br />
eigene Verflochtenheit in traditionelle Strukturen zur Kenntnis nehmen. In diesem<br />
Prozeß sind sie zwar den Risiken von Spaltungs- und Einbindungsversuchen<br />
ausgesetzt; sie haben jedoch - davon zeugt die Geschichte der Frauenbewegung<br />
- schmerzhaft lernen müssen, daß die Gemeinsamkeit der Unterdrückung von<br />
Frauen in einem patriarchalen System als Basis für eine Solidarität nicht trägt,<br />
solange diese Prägungen und die Verschiedenartigkeit der Lebenslagen ausgeblendet<br />
werden.<br />
Die Beispiele ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse in diesem Band vermitteln<br />
Bilder von der Vielschichtigkeit dieses Problems; sie lassen aber gleichzeitig<br />
auch erkennen, daß Frauen, stellen sie sich ihrer Realität, eine historisch <strong>bei</strong>spiellose<br />
Chance für die Entwicklung einer kollektiven Basis haben, die ihnen<br />
erlaubt, vielfältige Lebensformen zu integrieren und zu tolerieren.<br />
LITERATUR<br />
Alex, Laszlo: Ausbildung und Beschäftigung von Frauen. Vortragsmanuskript IG<br />
Chemie. Hattingen, 23.3.1987<br />
Büchtemann, Ch.F./Burian, K.: Befristete Beschäftigungsverhältnisse: ein internationaler<br />
Vergleich. In: Internationale Chronik zur Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik<br />
24, April 1986<br />
Büchtemann, Ch.F./Schupp, J.: Zur Sozio-Ökonomie der Teilzeitbeschäftigung in<br />
der Bundesrepublik Deutschland. Wissenschaftszentrum Berlin, discussion<br />
papers IIM/LMP 86-15. Oktober 1986<br />
FORSA Analysen: Ungeschützte und Statusgeminderte Ar<strong>bei</strong>tverhältnisse. Gesellschaft<br />
für Sozialforschung und statistische Analysen mbH. Dezember<br />
1986<br />
Haas, Lu: Frauenbetriebe zwischen den Stühlen. In: Beiträge zur feministischen<br />
Theorie und Praxis (19 85) 15/16<br />
Möller, C./Hehr, I. : Der Zusammenhang von Ar<strong>bei</strong>t, Armut und geschlechtshierarchischer<br />
Ar<strong>bei</strong>tsteilung. Forschungsbericht für das Hamburger<br />
Institut für Sozialforschung. 198 5<br />
Prokop, Ulrike: Weiblicher Lebenszusammenhang. Von der Beschränktheit der<br />
Strategien und der Unangemessenheit der Wünsche. Frankfurt am Main<br />
19 76<br />
Zachert, Ulrich: Ein Jahr "Beschäftigungsförderungsgesetz". In: WSI-Mitteilungen<br />
(1986) 5
- 25 -<br />
MEMORANDUM:<br />
"FRAUEN IN 'UNGESCHU TZ TEN' AR BEITSVERHA LTNISSE N' "<br />
im Rahmen der Hochschultage Berufliche Bildung an der Universität/ Gesamthochschule<br />
Essen am 3.10.1986 verabschiedet.<br />
Der Ar<strong>bei</strong>tsmarkt modernisiert sich: Seit 11 Jahren liegen die Erwerbslosenzahlen<br />
über einer Million, seit vier Jahren übersteigen sie zwei Millionen.<br />
Da<strong>bei</strong> verengen sich die beruflichen Chancen insbesondere für Frauen immer<br />
mehr. Vor dem Hintergrund wachsender Konkurrenz auf dem "ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt"<br />
- mit den besseren Plätzen, den unbefristeten Stellen, der Weit erqualifizierung<br />
und dem Aufstieg - werden Frauen auf nachrangige Ar<strong>bei</strong>tsmärkte 1<br />
abgedrängt.<br />
Wei l sie Mütter sind, waren oder sein könnten, und weil sie wegen "ihrer"<br />
Zuständigkeit für Haushalt und Familie als für den Ar<strong>bei</strong>tsmarkt nur begrenzt<br />
verfügbar angesehen werden, sind sie gezwungen, zu Be dingungen zu ar<strong>bei</strong>ten,<br />
die weitgehend abgekoppelt sind von ar<strong>bei</strong>ts- und sozialrechtlichen Standards.<br />
Der Status der "ungeschützten" Ar<strong>bei</strong>tskraft verbaut Perspektiven im Be <br />
rufsverlauf; Weiterkommen durch Qualifizierung und Aufstieg sind nicht vorgesehen,<br />
selbst der Verbleib im Beruf ist nicht gesichert. "Ungeschützte" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
stellen auf die - meist zeitlich begrenzte - Nutzung der Qualifikationen<br />
von Frauen ab, ohne ihnen Möglichkeiten mittel- und längerfristiger Planung<br />
ihres Berufsverlaufs zu bieten.<br />
In manchen Ar<strong>bei</strong>tsbereichen von Frauen haben "ungeschützte" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
Tradition, in anderen nehmen sie rapide zu. Im Bereich der Gebäud e<br />
reinigung ist Ar<strong>bei</strong>t unterhalb der Geringverdienerinnengrenze zum "Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnis"<br />
geworden, und fast ein Drittel der im Einzelhandel neu Eingestellten<br />
erhält nur befristete Verträge.<br />
"Ungeschützte" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse können darüber hinaus genutzt werden<br />
als Instrumen t der Spaltung unter den Frauen hinsichtlich Berufs- und Ar<strong>bei</strong>tsanforderungen.<br />
Insbesondere ausländische Frauen müssen selbst diese unsicheren<br />
Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnisse im Rahmen ihrer Lebensbedingungen unsichtbar halten.<br />
Um "ungeschützten" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen gegenzusteuern, müssen<br />
- alle Formen von Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnissen rechtlich und sozial abgesichert<br />
werden;
- 26 -<br />
- einers eits Frau en in zukunftsträchtig en Ausbildung en, W eit erbildung en und<br />
Umschulung en verstärkt Zugang<br />
er halt en und muß and er ers eits di e Wirtschaftsstrukturpolitik<br />
nicht nur an beruflich e Qualifikation en von Männ ern<br />
ori en ti ert w erd en, sond ern auch auf di e Qualifikation en von Frau en abst ellen;<br />
- arb eitsmarkt - und wirtschaftsstrukturpolitisch e Maßnahm en mit ein er besonder<br />
en Förd erung von Frau en verbund en werd en;<br />
- Frau enförd erplän e v erbindlich en Charakt er er halt en. All e Arb eitg eb er öffentlich<br />
e und privat e - sind zu verpflicht en, aktiv Chanc engl ei ch heit zwisch<br />
en Mä nern und Frau en herz ust el en. Zur Ums etzung d er Förd erplän e sind<br />
in B etri eb en und Behörd en Frau enb eauftragt e einzus et z en;<br />
- Politik en der Gl eichst ellung der Frau en auf dem Arb eitsmarkt sozialpolitisch<br />
flanki er t werd en: Einrichtung en zur Kind erb etr euung in ausr eich end er<br />
Zahl, famili enfr eundlich e Arb eitsz eit en, mat eri ell e Absich erung von er w erbslos<br />
en Frau en und Frau en in der W eit erbildung usw.<br />
In bezug auf di e V ert eilung g es ellschaftlich er Arb eit muß di e P ersp ektiv e<br />
ein e Gl eichv ert eilung auf Frau en und Mä ner sein.<br />
In den Arb eitsgrupp en des Workshops wurd en di es e Ford erung en im Hinblick<br />
auf Tel e-H eimarb eit, "n eu e" Selbständig e, tradition ell e Frau enb eruf e,<br />
Arb eitsb eschaffungsmaßnahm en, Prostitution sowi e Frau en in M edi en und Wissen<br />
schaft konkr etisi ert.<br />
Sp ezifisch e Ford erung en im Hinblick auf einz eln e Form en "ung eschützt er"<br />
Arb eitsv erhältniss e:<br />
T ele-Heimar<strong>bei</strong>t<br />
1. T el e-H eimar eit ist arb eitsr echtlic h umfass end abzusich ern.<br />
2. Betri eblich e und auß er b etri eblich e Beschäftigt e sind b ezüglich Arb eitsb edingung<br />
en, -z eit und -entlohnung gl eich zu behand eln.<br />
3. Di e betri eblich e und gew erkschaftlich e Int er ess env ertr etung ist zu sich ern,<br />
z. B. durch int ensiv e Betr euung von T el earb eit erinn en durch di e Betri ebsrät e.<br />
4. Di e (R e- )Int egration der Tel earb eit erinn en in den Betri eb ist zu gewäh rl eist<br />
en .
- 27 -<br />
Neue Selbständige<br />
1. Z ur Förderung von Frauen, die sich individuell oder als Kollektiv selbständig<br />
machen wollen, sollte ein öffentlich finanzierter Fonds eingerichtet werden.<br />
2. Es sind regionale und lokale Be ratungs- und Weiterbildungseinrichtungen zu<br />
institutionalisieren und zu fördern, die Frauen <strong>bei</strong> Be triebsgründungen unterstützen<br />
und ihnen fehlende Qualifikationen vermitteln.<br />
3. Zur Finanzierung von Frauenprojekten, die sozialstaatliche Aufgaben übernehmen,<br />
und deren Kosten nicht über Gebühren oder Leistungen der Sozialversicherung<br />
gedeckt werden können, ist ein ressortübergreifender Fonds<br />
einzurichten, aus dem eine tarifliche Entlohnung bezahlt wird. Diese Frauen <br />
projekte dürfen nicht auf ehrenamtliche Ar<strong>bei</strong>t und freiwilliges Engagement<br />
verwiesen werden.<br />
Ar<strong>bei</strong>t in Medien und Wissenschaft<br />
1. Frauenförderpläne in den Medien und in wissenschaftlichen Einrichtungen<br />
sollten nicht nur die Gesamtbeschäftigtenzahlen der Frauen erhöhen, sondern<br />
speziell ihre Be förderung in höhere Positionen und mit unbefristeten<br />
Verträgen unterstützen, d.h. in den Hochschulen Positionen mit selbständigen<br />
Forschungs- und Lehraufgaben.<br />
2. Qualifizierungsmaßnahmen sind zugunsten von Frauen zu quotieren und sollten<br />
<strong>bei</strong> den Medien auch für freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen vorgesehen werden.<br />
Traditionelle Frauenberufe<br />
1. Die Be dingungen in sog. Frauenberufen erfüllen i.d.R. heute nicht die Voraussetzungen<br />
für langfristige, qualifizierte, existenzsichernde Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
von Frauen. Als Gegensteuerung zu der Tendenz in diesen Be reichen, Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
durch "ungeschützte" Be schäftigungsformen bis hin zum<br />
(neuen) Ehrenamt zu verdrängen, ist der Erhalt von Be schäftigungspositionen<br />
und die Schaffung z usätzlicher Stellen zu fordern.<br />
2. Angesichts der Erhöhung der Konkurrenz durch das Eindringen männlicher<br />
Be werber müssen Frauen durch Weiterbildung und Regelung des Zugangs zu<br />
Ausbildung, Weiterbildung und <strong>bei</strong> der Be setzung leitender Positionen gefördert<br />
werden (Quotierung).
- 28 -<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbesc ha ffungsma ßna hmen<br />
1. Um dem Stellenabbau durch Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsma ßnahmen gegenzusteuern,<br />
müssen im AF G zusätzliche Ar<strong>bei</strong>tsplätze, nicht nur zusätzliche Ar<strong>bei</strong>t gefordert<br />
we rden.<br />
2. Statt kurzfristiger Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsma ßnahmen in der bisherigen Form,<br />
die Frauen keine beruf ichen l Perspektiven bieten, sollten - mindestens im<br />
derzeitigen Umfang von A BM - zum Abbau der Erwerbslosigkeit verstärkt<br />
mittelfristige Ar<strong>bei</strong>tsvorhaben als Vorbereitung von Dauerar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />
durchgeführt werden. Die Zeitdauer der Finanzierung sollte der Projektzeitda<br />
uer entsprechen, damit eine fundierte Einar<strong>bei</strong>tung und Qualifizierung<br />
durch die Tä tigkeit ermöglicht wird.<br />
3. Die für Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen und andere Programme aufgewendeten<br />
Mittel müssen proportional zum höheren Anteil von Frauen an der Erwerbslosigkeit<br />
für Frauenar<strong>bei</strong>tsplätze eingesetzt werden. Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
und andere Programme sollten durch Fort- und Weiterbildungsma<br />
ßnahmen ergänzt werden, die nicht nur auf die jeweiligen betrieblichen<br />
Be dürfnisse begrenzt sind.<br />
Prostitution<br />
1. Die Prostitution ist durch eine ar<strong>bei</strong>ts- und sozialrechtliche Anerkennung zu<br />
entdiskriminieren.<br />
2. Die Frauenbeauftragten sollen mit den betroffenen Frauen und beteiligten<br />
Institutionen verstärkt Be ratungsangebote einrichten und berufliche Alternati<br />
ven entwickeln.
- 29 -<br />
I. AR BEI TS BESCHAFFUNGS MASSNAHMEN<br />
Zur Einführung:<br />
Helga Ostendorf<br />
AR BEITS BESCHAFFUNGS MASSNAHMEN FU R FRAUEN ?<br />
DIE UNZU L}\NG LICHKEIT DES "WICHTIGSTEN AR BEITS MARKTPO LITISCHEN<br />
INSTRUMENTS"<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) werden für viele Bevölkerungs- und Berufsgruppen<br />
immer mehr vom "zweiten" zum "ersten" Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Für viele<br />
sind sie die einzige Möglichkeit, überhaupt einen Einstieg in Erwerbsar<strong>bei</strong>t zu<br />
finden, und zunehmend bleiben sie auch die einzige Möglichkeit, erwerbstätig<br />
zu sein. Vorbilder der AB-Maßnahmen waren der Reichsar<strong>bei</strong>tsdienst und die<br />
Notstandsar<strong>bei</strong>ten z.B. in Berlin in den 50er und 60er Jahren.<br />
In größerem Umfang werden Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen erst seit 1976<br />
eingesetzt. Im Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetz (AFG) von 1969 waren sie geplant als<br />
antizyklisches Instrument, das der - vorübergehenden - Unterbeschäftigung entgegenwirken<br />
sollte (vgl. Kühl 1982). Auf der Basis der Erfahrungen mit den<br />
Kr isen 1966/67 und 1971 wurde noch Mitte der 70er Jahre von einer baldigen<br />
konjunkturellen Erholung und damit einem Wiedererreichen der Vollbeschäftigung<br />
ausgegangen. Als sich herausstellte, daß die "Baisse" andauernder war, als
- 30 -<br />
die Erfahrungen lehrten, wandelte sich auch das ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische Instrument<br />
"A BM": es wurde von einem antizyklischen zu einem problemgruppenorientierten.<br />
Seither ging - und geht - es darum, den Gruppen, die besonders<br />
von Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit betroffen sind, den (Wieder-)Einstieg zu ermöglichen. Die<br />
Definition, wer zu den "Problemgruppen" zählt, wird da<strong>bei</strong> immer breiter: neben<br />
Schwerbehinderten und Personen mit gesundheitlichen Einschränkungen zählen<br />
heute die unter 25- und die über 40jährigen dazu ( öTV 1984). Umgekehrt gewendet:<br />
Nu r noch denjenigen zwischen 25 und 40 Jahren werden - auch von<br />
offizieller Seite - Chancen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt eingeräumt.<br />
AB-Maßnahmen müssen folgende Kriterien erfüllen (vgl. §§ 91 ff. AFG):<br />
- Sie müssen im öffentlichen Interesse liegen und<br />
- zusätzlich sein: ohne die Finanzierung durch die Mittel der Bu ndesanstalt<br />
für Ar <strong>bei</strong>t dürfen die Ar<strong>bei</strong>ten nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt<br />
durchgeführt werden können.<br />
Nach de r Einschätzung des La ndesar<strong>bei</strong>tsamtes Be rlin sind die AB-Maßnahmen<br />
das wichtigste ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische Instrument des Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetzes<br />
(AFG), denn es ist das einzige Instrument, das direkt auf den Ar<strong>bei</strong>tsmarkt einwirkt<br />
(vgl. taz v. 22.1.1986). Die Ziele sind:<br />
- Abbau der Erwerbslosigkeit,<br />
- dauerhafte und qualifikationsgerechte Wiedereingliederung erwerbsloser Ar<strong>bei</strong>tnehmer,<br />
- Impulse zur Verbesserung der sozialen Infrastruktur und zu sonstigen Strukturverbesserungen<br />
zu geben mit dem Ziel der Schaffung von Dauerar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />
(vgl. A BM-Anordnung v. 13. Dez. 1984, § 1).<br />
In diesem Aufsatz wird aufgezeigt werden,<br />
- daß Ar <strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen lediglich die Erwerbslosigkeit verwalten,<br />
indem sie Erwerbslose an verschlechterte Ar <strong>bei</strong>tsbedingungen und an berufliche<br />
Perspektivlosigkeit gewöhnen;<br />
- daß Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen den verkürzten beruflichen Planungshorizon<br />
t von Frauen aufnehmen, reproduzieren und weiter verkürzen;<br />
- daß Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen ein Instrument des keynesschen Krisenmanagements<br />
sind, das in der gegenwärtigen Situation einer langfristigen<br />
ökonomischen Stagnation nicht nur wirkungslos ist und bleiben muß, sondern<br />
zum Mißbrauch und damit zur Verkehrung der Ziele einlädt. Letztlich wird<br />
f ür eine Abschaffung der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen plädiert. In Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
finden gegenwärtig ca. zwei von einhundert
- 31 -<br />
Erwerbslosen eine Beschäftigung; der Anteil von Frauen schwankt zwischen<br />
28 und 38%. Diese Benachteiligung von Frauen selbst in den AB-Maßnahmen<br />
hat ihre Ursachen sowohl in der Struktur der Maßnahmen, die auf männertypische<br />
Berufsstrukturen zugeschnitten sind, als auch in der vom "ersten"<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmarkt bekannten Diskriminierung.<br />
1. Neue Ar<strong>bei</strong>tsplätze durch Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen?<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen sind zu ca. 80% im öffentlichen Dienst angesiedelt,<br />
der Rest entfällt auf Wohlfahrtsverbände, Kirchen und die kleinen "freien<br />
Träger" wie Bürgerinitiativen, autonome Proj ekte usw. Gelingt es nun mit Hilfe<br />
von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen, die Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit abzubauen und die<br />
Wiedereingliederung der Ar<strong>bei</strong>tslosen zu erreichen?<br />
Von Kritikern und Kritikerinnen werden Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
auch als "AVN", als Ar<strong>bei</strong>tsvernichtungsmaßnahmen, bezeichnet. Zeitgleich mit<br />
der Ausweitung der AB:'Maßnahmen wurden in den öffentlichen Haushalten zunehmend<br />
Einsparungen vorgenommen (Ostendorf 1987). Viele Dienststellen der<br />
öffentlichen Verwaltung nutzten daher die Möglichkeit, erzwungene Personaleinsparungen<br />
durch "zugewiesene" Ar<strong>bei</strong>tskräfte, die aus Mitteln der Bundesanstalt<br />
für Ar<strong>bei</strong>t bezahlt wurden, zu ersetzen. Gleiches gilt für die freien Träger,<br />
die reduzierte Zuschüsse der öffentl ichen Hand ausgleichen mußten.<br />
Ohne die AB-Maßnahmen könnten viele Dienststellen und freie Träger ihre<br />
Aufgaben nicht mehr erfüllen. So werden die Lohnabrechnungen in den Berliner<br />
Gartenbauämtern seit nunmehr 11 (!) Jahren von ABM- Beschäftigten erstellt<br />
(taz v. 22.1.1986); im Kreuzberger Gartenbauamt gibt es 210 ABM-Kräfte, aber<br />
nur 157 Planstellen; insgesamt wurden in Berlin mit der Einrichtung von 6.600<br />
ABM-Stellen 3.000 Planstellen gestrichen (Ochs 1985). Um solche Substitutionseffekte<br />
zu vermeiden, sind die Ar<strong>bei</strong>tsämter ,<br />
gehalten, die Personalentwicklung<br />
der jeweiligen Träger zu überprüfen. Doch, auch wenn sie Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
verweigerten, würde keine neue Planstelle geschaffen.<br />
Bei den freien Trägern, den Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Selbsthilfeprojekten<br />
wird oftmals vorher ehrenamtlich oder auf Honorarbasis geleistete<br />
Ar<strong>bei</strong>t in eine AB-Maßnahme umgewandelt. Auch hierdurch werden keine neuen<br />
Stellen geschaffen, für die ehemaligen Ehrenamtlichen oder Honorarkräfte be-
- 32 - ,<br />
deutet ABM jedoch eine bessere finanzielle Absicherung. Diese Wirkung ist<br />
aber im AFG nicht intendiert und in diesem Sinne ein Mitnahmeeffekt.<br />
Ein weiterer Mitnahmeffekt ergibt sich durch die Finanzierung von zeitlich<br />
be grenzten Ar<strong>bei</strong>ten durch ABM statt durch Zeitverträge. Solche Aufgaben,<br />
die sich leicht als zusätzliche ausweisen lassen, scheinen prädestiniert für<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen. Selbst Forschungsprojekte werden heute mit<br />
Mitteln der Bundesanstalt für Ar<strong>bei</strong>t bezahlt, unabhängig davon, ob die Bundesanstalt<br />
Interesse am Ergebnis des Projekts hat. Neue Aufgaben der öffentlichen<br />
Verwaltungen, die zu Zeiten der Vollbeschäftigung durch unbefristet Beschäftigte<br />
- oft zusätzliche Kräfte - erledigt oder durch Modellversuche zunächst<br />
erprobt wurden, werden heute als Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen definiert. So<br />
werden in Hessen Umweltberater vom Ar<strong>bei</strong>tsamt finanziert und vielerorts Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />
<strong>bei</strong> Frauenbeauftragten bzw. Gleichstellungsstellen.<br />
Die Antwort auf die Frage, ob Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen neue Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
schaffen oder ob Ar<strong>bei</strong>tsplätze vernichtet werden, beantwortet sich<br />
von selbst: Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen blockieren die Schaffung neuer Ar<strong>bei</strong>tsplätze.<br />
Es besteht kein Handlungsdruck, solange die Personalkosten statt<br />
durch den jeweiligen Haushalt auch von der Bundesanstalt für Ar<strong>bei</strong>t bezahlt<br />
werden können.<br />
2. Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
Ar<strong>bei</strong>ten in AB-Maßnahmen werden nicht selten unterhalb der tariflichen Stellenbewertungen<br />
bezahlt: Sachbear<strong>bei</strong>terinnentätigkeit wird als Schreibar<strong>bei</strong>t<br />
umdefiniert, sozialwissenschaftliche Ar<strong>bei</strong>t als Sozialar<strong>bei</strong>t und damit bis zu<br />
fünf Tarifgruppen niedriger bezahlt. Ablehnen können die Betroffenen eine<br />
Stelle in einer AB-Maßnahme kaum. Auch wenn die persönlichen Lebensumstände<br />
es ermöglichten, weiterhin erwerbslos zu sein, so würde die Ablehnung des<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplatzes einen dreimonatigen Verlust der Ar<strong>bei</strong>tslosenunterstützung zur<br />
Folge haben. Die Zuweisung einer Stelle erfolgt zwangsweise: Ar<strong>bei</strong>t in AB<br />
Maßnahmen ist Zwangsar<strong>bei</strong>t! Die 1982 erlassene Zumutbarkeits-Anordnung legitimiert<br />
da<strong>bei</strong> die tarifliche Herabgruppierung. Je länger jemand erwerbslos<br />
ist, um so niedriger qualifizierte und bezahlte Ar<strong>bei</strong>t muß er/sie annehmen. Daß<br />
tarifliche Zusatzleistungen wie z.B. Urlaubsgeld oder 13. Gehalt häufig nicht<br />
gezahlt werden, erscheint fast selbstverständlich. Wie <strong>bei</strong> anderen Zeitverträ-
- 33 - ,<br />
gen auch, fehlen oft die Anspruchsvoraussetzungen, weil an den festgelegten<br />
Stichtagen das Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis entweder noch nicht bestand oder schon beendet<br />
ist.<br />
Die Betroffenen müssen jedoch nicht nur diese finanziellen Restriktionen<br />
hinnehmen, manchmal entsprechen die Bedingungen am Ar<strong>bei</strong>tsplatz nicht einmal<br />
Minimalstandards. In den AB-Maßnahmen werden lediglich die Personalkosten<br />
bezuschußt, zusätzliche Sachmittel werden nicht gewährt. Streng genommen<br />
bedeutet dies, daß z.B. für eine Büroangestellte weder ein Schreibtisch<br />
noch Ar<strong>bei</strong>tsmittel und eigentlich auch gar kein Büro zur Verfügung stehen. Im<br />
allgemeinen werden für solche "Nebenkosten" ca. 50% der Personalkosten kalkuliert.<br />
Diese Mittel müssen aus dem Haushalt des jeweiligen Trägers aufgebracht<br />
werden. Für Bürgerinitiativen, alternative Projekte usw. wird dadurch<br />
die Nutzung von Mitteln der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen schwierig, manchmal<br />
unmöglich (vgl. den Beitrag von Christiane Eiche). Aber auch etablierte<br />
Träger von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen tun sich vielfach schwer, zumutbare<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen zu geWährleisten.<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, wie im folgenden skizziert, dürften keine Seltenheit<br />
sein: Eine ABM-Kolonne eines Gartenbauamtes mußte die Ar<strong>bei</strong>tspausen auf der<br />
Ladefläche eines Kleinlasters verbringen, während den Gärtnern die LKW-Kabine<br />
mit Standheizung zur Verfügung stand; für 90 Beschäftigte gab es nur drei<br />
Toiletten; acht Ar<strong>bei</strong>tskräfte mußten sich ein Büro teilen, das für fünf zu eng<br />
war (Kurbj uweit 1986).<br />
In A BM Beschäftigte können sich gegen solche Bedingungen kaum wehren,<br />
denn damit würden sie nicht nur die Aussicht auf eine Festanstellung zusätzlich<br />
in Frage stellen, sondern vor allem müßten sie ihre eigenen Hoffnungen<br />
aufgeben. Zu dem großen Anpassungsdruck, dem "Gefühl , immer 'ja' sagen zu<br />
müssen", kommt der Drang, "immer alles ganz besonders gut zu machen, weil<br />
dann vielleicht eine Planstelle winkt. Darauf hofft jeder, auch wenn bekannt<br />
ist, daß die Chancen sehr gering sind" (ebd.). Der Anpassungsdruck wird noch<br />
verstärkt durch die ständige berufliche und ökonomische Unsicherheit. "Man<br />
konnte nichts richtig planen, war ständig von Existenzsorgen bedrängt" (ebd.).<br />
Anpassung ist eine der Verar<strong>bei</strong>tungsmöglichkeiten, Gleichgültigkeit die<br />
andere. Je häufiger jemand eine ABM-Stelle hatte und dann wieder erwerbslos<br />
wurde, um so mehr belasten die psychischen Folgen von Erwerbslosigkeit.<br />
"Fruchtbare Benlfserfahrungen in AB-Maßnahmen machen die folgende Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit<br />
nur noch schwerer" (Schindler 1987, S. 43). Je mehr es gelingt, keine
- 34 -<br />
Hoffnungen auf Festanstellung aufkommen zu lassen, "desto eher ist er/sie in<br />
der Lage, emotional damit umzugehen, psychisch zu überleben" (König 1987, S.<br />
31). Das bedeutet aber auch, sich nicht richtig für die Ar<strong>bei</strong>t zu engagieren<br />
und "damit den letzten Hauch einer Chance, doch noch übernommen zu werden",<br />
zu verspielen (ebd.).<br />
3.
- 35 -<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen für Frauen, die keine oder nur eine geringe<br />
berufliche Qualifikation aufweisen, ein beruflicher Status, der für Frauen durch<br />
die geschlechtsspezifische Segmentierung des Ausbildungs- und Ar<strong>bei</strong>tsmarktes<br />
typisch ist. Sie konstatiert die Unzulänglichkeit der bisherigen AB-Maßnahmen<br />
für Frauen. Da<strong>bei</strong> rekurriert sie auf die typische Berufsstruktur • Im folgenden<br />
wird eine andere, zusätzliche Folie unterlegt: Inwieweit gehen AB-Maßnahmen<br />
auf die typischen Bruchstellen im Erwerbsverlauf von Frauen ein? Erleichtern<br />
AB-Maßnahmen den Übergang von der Schule in die Berufsausbildung, den Einstieg<br />
nach der Ausbildung und den Berufswechsel bzw. das Wiedereinsteigen in<br />
der Lebensmitte? Zwar liegen empirische Daten dazu nicht vor (nicht einmal<br />
di e Altersstruktur der in AB-Maßnahmen beschäftigten Frauen ist bekannt),<br />
dennoch läßt sich aufzeigen, daß Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen keine Unterst<br />
ützung <strong>bei</strong> der Überwindung typischer Bruchstellen der weiblichen Berufsbiographie<br />
bieten.<br />
4.1 Nach der Schule in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffnsmaßnahmen?<br />
In den letzten Jahren wurden AB-Maßnahmen zunehmend für Jugendliche eingesetzt,<br />
einige wenige wurden mit Bildungsmaßnahmen gekoppelt. Die Maßnahmen<br />
haben vorrangig eine Verwahrfunktion, denn sie sind nicht auf Perspektiven<br />
ausgerichtet, die sich für Jugendliche anschließen könnten. Die Ar<strong>bei</strong>tsämter<br />
teilen die Jugendlichen den Maßnahmen zu, ohne - zumindest in Berlin - Kenntnis<br />
von deren konkreter Ausgestaltung zu haben (vgl. Weißmann 1986). Anschließende<br />
Ar<strong>bei</strong>tsperspektiven und Möglichkeiten des Erwerbs beruflicher<br />
Qualifikationen werden von den Vermittlern in den Maßnahmen nicht ausgemacht.<br />
Die einzigen Ziele aus der Sicht der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung sind eine soziale<br />
Integration und finanzielle Absicherung der Jugendlichen, denen mannigfaltige<br />
soziale Defizite zugesprochen werden.<br />
Das Projekt "Jonas" untersuchte AB-Maßnahmen für Jugendliche. Soziale<br />
Defizite der Teilnehmer/innen wurden von dem Projekt nicht ermittelt - selbst<br />
wenn, wären AB-Maßnahmen sicherlich die unzureichendste aller Hilfsmöglichkeiten<br />
(Vock/Weißmann/Wordelmann 1987, S. 4). Eine große Anzahl der Jugendlichen<br />
verfügt über einen Schulabschluß, und für viele sind die AB-Maßnahmen<br />
eine Notlösung, weil ihre Bewerbungen um Ausbildungs- oder Ar<strong>bei</strong>tsplätze erfolglos<br />
blieben.<br />
Mädchen sind von der Krise am Erwerbs- und Ausbildungsmarkt besonders<br />
betroffen: Seit Jahren sind ca. 100 Ts. Mädchen erwerbslos gemeldet, 2/3 der
- 36 -<br />
Ausbildungsplatzsuchenden sind Mädchen; davon haben wiederum ca. 2/3 einen<br />
Realschulabschluß vorzuweisen. Angesichts der Strukturen und der fehlenden<br />
Perspektiven können Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen keine Lösung für diese<br />
Mädchen darstellen. Sie bieten weder eine Qualifizierung noch sonstige berufliche<br />
Aussichten. "Was den Qualifizierungseffekt betrifft, so wird bestätigt, was<br />
angesichts der durchweg einfachen Tätigkeitsinhalte auf Hilfsar<strong>bei</strong>terniveau zu<br />
vermuten ist. Von beruflich verwertbarer beruflicher Qualifizierung kann nicht<br />
gesprochen werden, allenfalls vom Einüben von Ar<strong>bei</strong>tstugenden und von der<br />
Vermittlung von Hilfsar<strong>bei</strong>terfähigkeiten, soweit diese nicht ohnehin vorhanden<br />
sind" (Jonas 1986, S. 9). Das mit den AB-Maßnahmen vermittelte eher negative<br />
Bild des Ar<strong>bei</strong>tslebens hat in Schweden dazu geführt, daß Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
für Jugendliche unter 18 Jahren seit 1982 verboten sind und stattdessen<br />
Bildungsmaßnahmen gefördert werden (Auer/Maier 1984, S. 163 f.). Auch<br />
das Jonas-Projekt spricht sich dafür aus, "Jugend-ABM als Programm unter<br />
Vorausplanung von Alternativen ersatzlos zu streichen" (Vock/Weißmann/Wordelmann<br />
1987).<br />
4.2 Nach der Ausbildung in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen?<br />
Nahezu die Hälfte der Mädchen wird in nur 10 der 430 Ausbildungsberufe qualifiziert.<br />
Diese Berufe sind wiederum die mit den höchsten Ar<strong>bei</strong>tsmarktrisiken,<br />
und sie ermöglichen selten, unter Verwertung des Gelernten in anderen Berufen<br />
unterzukommen (O stendorf 1986). Die traditionelle Perspektive für gelernte<br />
Friseurinnen, Arzthelferinnen usw. war die einer Tätigkeit als un- oder angelernte<br />
Industriear<strong>bei</strong>terin. Dieser Weg ist in den letzten Jahren zunehmend versperrt.<br />
Diese Frauen haben heute weder Chancen in ihrem Beruf noch zeichnen<br />
sich für sie andere Erwerbsmöglichkeiten ab. In AB-Maßnahmen können sie nur<br />
in einfachen Tätigkeiten unterkommen, in denen sie keine neue, auf anderen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmärkten verwertbare Qualifikation erwerben, sondern sogar ihre berufliche<br />
Qualifikation verlieren.<br />
"Erwerbslosigkeit nach der Lehre" ist relativ häufig in den Berufen, die in<br />
erster Linie auf eine Erwerbstätigkeit im öffentlichen Dienst ausgerichtet sind.<br />
Dies sind gleichzeitig die Bereiche, in denen Frauen verstärkt in AB-Maßnahmen<br />
vertreten sind. Hier zeigen sich die Rekrutierungsmuster innerhalb der<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen und gleichzeitig die Substitutionseffekte im öffentlichen.<br />
Dienst am deutlichsten. Bei ABM im Sozial- und Erziehungsbereich<br />
sind <strong>bei</strong> 91,6% der Beschäftigten Herkunfts- und Einmündungsberufe deckungs-
- 37 -<br />
gleich (S pitznagel 1985). In diesen Berufen wird ABM allmählich vom "zweiten"<br />
zum "ersten" Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Gleiches gilt in den Verwaltungs- und Büroberufen,<br />
wo <strong>bei</strong> 67% die Herkunftsberufe den Einmündungsberufen entsprechen.<br />
4.3 Wiedereinsteigen oder Umsteigen mit Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen?<br />
Zur Eignung von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen im Hinblick auf den dritten<br />
"Stolperstein" im Berufsverlauf von Frauen liegen kaum empirische Befunde<br />
vor. Dazu gehören der Wiedereinstieg nach einer Phase familienbedingter Berufsunterbrechung<br />
und das Umsteigen aus einem Beruf, der ab Mitte 30 nicht<br />
mehr auszuüben ist, wie z.B. Angelernte in der Elektroindustrie (vgl. Bednarz<br />
Braun 1983) oder Friseurin (vgl. Cremer 1984). Hausfrauen, die wieder erwerbstätig<br />
sein wollen, haben außerdem nur bedingt Zugang zu ABM, weil sie oftmals<br />
die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllen (vgl . Karin Gottschall in diesem<br />
Band). Für diese Frauen, ebenso wie für die "älteren" - über 39jährigen -<br />
bieten AB-Maßnahmen keine Perspektive: sie bereiten nicht auf neue berufliche<br />
Anforderungen vor. Notwendig wäre eine Nachqualifizierung bzw. Umschulung<br />
und vor allem eine ausreichende Zahl von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen.<br />
5. Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen für Frauenprojekte nutzen?<br />
Autonome Projekte nutzen verstärkt Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen, da diese<br />
eine der wenigen Finanzierungsmöglichkeiten für ihre Ar<strong>bei</strong>t darstellen. Die<br />
zweischneidigen Konsequenzen, di e dieser "Finanzsegen" für Frauenprojekte<br />
hinsichtlich der inhaltlichen Ar<strong>bei</strong>t und der Hierarchisierung der Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />
hat, beschreibt Christiane Eiche (in diesem Band).<br />
Auf Wohlwollen stießen die . autonomen Projekte vor allem, weil sich abzeichnete,<br />
daß die Ansiedlung von AB-Maßnahmen in den öffentlichen Verwaltungen<br />
und <strong>bei</strong> den etablierten Wohlfahrtsverbänden sowie den Kirchen an Sättigungsgrenzen<br />
stieß. Diese Projekte leisten oftmals einen Beitrag zur Verbesserung<br />
der sozialen Infrastruktur, eine Aufgabe, die im § 91 AFG explizit als<br />
Einsatzfeld für AB-Maßnahmen vorgesehen ist. Die feste Zeitvorgabe des AFG<br />
für AB-Maßnahmen entspricht allerdings in keiner Weise den Anforderungen der<br />
Projekte. Im allgemeinen wird für Innovationen im sozialen Dienstleistungsbereich<br />
mit einer Anlaufphase von fünf Jahren gerechnet (Maier 1982). Auch<br />
Ausweichst:ategien der Projekte, z.B. die Kontinuität der Ar<strong>bei</strong>t durch di e
- 38 -<br />
zeitlich versetzte Beantragung von AB-Mitteln zu gewährleisten, funktionieren<br />
nur solange, wie die Mitar<strong>bei</strong>ter/innen bereit sind, zwischenzeitlich ohne Bezahlung<br />
zu ar<strong>bei</strong>ten.<br />
Die stärkere Nutzung von AB-Maßnahmen für experimentelle Programme<br />
im sozialen Sektor, wie Maier (1982) fordert, ist <strong>bei</strong> der gegenwärtigen Ausgestaltung<br />
der ABM nicht problem angemessen. (Maier geht es allerdings nicht um<br />
die Bezahlung bisher kostenlos geleisteter Ar<strong>bei</strong>t, sondern um die "finanzielle<br />
Entlastung des sozialen Sicherungsnetzes".) Dennoch sind viele Projekte - insbesondere<br />
auch Frauenprojekte - auf diese Finanzquelle angewiesen. Vor allem<br />
ist die Ansiedlung dieser Projekte in den AB-Maßnahmen mit weniger Widerständen<br />
verbunden als etwa in den kommunalen Haushalten. Gerade Frauenprojekte<br />
sind innerhalb der Verwaltungen und der Parlamente oftmals politisch<br />
umstritten und brisant: die Finanzierung aus Mitteln der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung<br />
befreit von sonst notwendigen Auseinandersetzungen. Die Projekte werden von<br />
den öffentlichen Verwaltungen oftmals als "experimentelle Programme" deklariert:<br />
Wenn das Projekt sich als gut und nützlich erweist, soll eine Regelfinanzierung<br />
über die öffentlichen Haushalte erwogen werden. Im Grunde ist ein solches<br />
Vorgehen sowohl der öffentlichen Verwaltungen als auch der Projekte ein<br />
Mißbrauch der Mittel der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung. Im Vordergrund steht nicht das<br />
Ziel des AFG, Ar<strong>bei</strong>tslose zu (re-)integrieren und Ar<strong>bei</strong>tsplätze zu schaffen,<br />
sondern das Ziel ist vielmehr, politische Ansprüche durchzusetzen bzw. die<br />
Auseinandersetzung mit diesen Ansprüchen zu vertagen.<br />
6. Fazit<br />
Das Instrument Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen, das für kurzfristige ökonomische<br />
Krisen geschaffen wurde, ist in langfristigen Stagnationsphasen nicht geeignet:<br />
Wenn in ein oder zwei Jahren die Vollbeschäftigung nicht wieder erreicht<br />
ist, gelingt keine dauerhafte (Re-)Integration der Erwerbslosen. Im Gegenteil,<br />
die Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen setzen an den Bruchstellen der Berufsbiographie<br />
von Frauen an und reproduzieren diese: Der Planungshorizont<br />
der Frauen wird auf ein bis zwei Jahre verkürzt.<br />
- Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen entwickeln sich zum Rotationsar<strong>bei</strong>tsmarkt:<br />
Die Maßnahmen bleiben bestehen, nur die dort Beschäftigten wechseln gemäß<br />
der gesetzlichen Höchstförderungsdauer • Mit der Kopplung der Aufgaben<br />
- der (Re-)Integration von Problem gruppen und der Schaffung neuer<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplätze durch die Vorbereitung strukturverbessernder Maßnahmen -
- 39 -<br />
werden die Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen überfrachtet. Struktur verbessernde<br />
Innovationen durch Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen können nicht dauerhaft<br />
sein, solange eine Anschlußfinanzierung nicht gesichert ist.<br />
- Inhaltlich anspruchsvolle Projekte, von denen ein Anstoß für die Strukturverbesserung<br />
erwartet werden kann, haben überwiegend hohe Ansprüche an<br />
die Qualifikation des Personals. Die Problemgruppen des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes lassen<br />
sich durch solche Projekte nicht (re-)integrieren.<br />
7. Forderungen<br />
Die zwei Ziele der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen, die Strukturverbesserung<br />
und die (Re-)Integration der Problemgruppen sind zu trennen. Bei innovativen<br />
Projekten stellt sich - zumindest <strong>bei</strong> langanhaltender Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit · -<br />
Frage, warum sie aus Mitteln der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung bezahlt werden sollen.<br />
Strukturverbesserungen sind Aufgaben des Staates, sie sollten auch von diesem<br />
bezahlt werden und nicht mit Geldern der Versicherungen. Die (Re-)Integration<br />
der sogenannten Problemgruppen kann unter den gegenwärtigen Ar<strong>bei</strong>tsmarktbedingungen<br />
mit AB-Maßnahmen nicht gelingen. Notwendig sind auf die jeweiligen<br />
Problemgruppen zugeschnittene Programme:<br />
a) Für Mädchen, die keinen Ausbildungsplatz finden, müssen Ausbildungsplätze<br />
geschaffen werden, statt sie an anspruchslose Ar<strong>bei</strong>t zu gewöhnen.<br />
b) Für junge Frauen, die nach der Ausbildung keinen Ar<strong>bei</strong>tsplatz in ihrem Beruf<br />
finden, sind Umschulungsmaßnahmen und Anpassungsfortbildungen notwendig.<br />
Der Fehlausbildung in Berufen ohne Ar<strong>bei</strong>tsmarktchancen ist durch<br />
zukunftsorientierte Ausbildungsangebote gegenzusteuern.<br />
c) Für Frauen, die nach einer Zeit ausschließlicher Familienar<strong>bei</strong>t wieder in<br />
die Erwerbstätigkeit zurück wollen, sind berufliche Auffrischungskurse und<br />
Anpassungsmaßnahmen einzurichten; Frauen, die den Beruf wechseln müssen,<br />
be nötigen Umschulungsmaßnahmen.<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen sind für Mädchen und Frauen ungeeignet,<br />
sie leisten keinen Beitrag zur Verbesserung ihrer Chancen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt.<br />
Im AFG stehen teilweise entsprechende Instrumente für Ausbildung und<br />
Umschulung zur Verfügung. Sie gilt es, stärker zu nutzen, auf die Bedürfnisse<br />
von Frauen auszurichten und nicht zuletzt zugunsten von Frauen zu quotieren.<br />
Die <strong>bei</strong>den Ziele - die Förderung von strukturverbessernden Maßnahmen und die<br />
(R e-)Integration von Problem gruppen - lassen sich da<strong>bei</strong> zugunsten der Frauen<br />
in der Weise verbinden, daß die beruflichen Vor erfahrungen von Frauen aufgegriffen<br />
und Bestandteil der Strukturpolitik werden.<br />
die
- 40 -<br />
Abschaffung von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen!<br />
Strukturpolitik unter Einbeziehung der Qualifikationen von Frauen!<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplätze für Frauen (und Männer)!<br />
LITERATUR<br />
Auer, P./Maier, H.E. : Strategien zur Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffung in der Bundesrepublik<br />
Deutschland und im Ausland: Erfahrungen aus fünf Ländern. In: MittAB<br />
2/84<br />
Bednarz-Braun, Iris: Ar<strong>bei</strong>terinnen in der Elektroindustrie. Zu den Bedingungen<br />
vo n Anlernung und Ar<strong>bei</strong>t an gewerblich-technischen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen von<br />
Frauen. München 1983<br />
Berghahn, S./Klähn, M.: Projekt Jonas. Pretest-Ergebnisse. Jonas-Ar<strong>bei</strong>tspapiere<br />
4. Berlin 1986. Hekt. Manuskript<br />
Cremer, Christa: Schönheit wird zur Pflicht. Friseurin - Beruflichkeit auf Zeit.<br />
In: Mayer, Christine u.a.: Mädchen und Frauen. Beruf und Biographie.<br />
München 1984<br />
Jonas: Projekt Jonas: Jugendliche ohne Ar<strong>bei</strong>t - Nutzen von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen.<br />
Jonas-Ar<strong>bei</strong>tspapiere 6. Zwischenbericht. Berlin 1986.<br />
Hekt. Manuskript<br />
König, Detlef: Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. In: König, D./Krüger,<br />
H. /Schröder, U.: "Eine Zeitlang gehöre ich dazu". ABM und zweiter Ar<strong>bei</strong>tsmarkt.<br />
Hamburg 1987<br />
Kühl, Jürgen: Das Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetz (AFG) von 1982. Grundzüge seiner<br />
ar <strong>bei</strong>tsmarkt- und beschäftigungspolitischen Konzeption. In: MittAB<br />
3/ 1982<br />
Kurbjuweit, Dirk: "Ein ständiges Gefühl der Unsicherheit". Zweifelhafte Erfolge<br />
<strong>bei</strong> Jobs auf Zeit. Die Zeit v. 18.4.1986<br />
Maier, H.E. unter Mitar<strong>bei</strong>t von L. Deutz und D. Schulze: Experimentelle Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
<strong>bei</strong> kleinen freien Trägern. IIM/LMP 82-20.<br />
Berlin 1982<br />
Ochs, Jürgen: Enttäuschung garantiert. ABM- Skandal in Kreuzberg. Blickpunkt<br />
34/1985<br />
öTV: Ar<strong>bei</strong>t auf Abruf. Zur Situation der Beschäftigten mit Zeitverträgen,<br />
Honorarverträgen, Werkverträgen und der ABM-Beschäftigten im öffentlichen<br />
Dienst sowie zu den Rechten der Ar<strong>bei</strong>tslosen. Hrsg.: ÖTV-Bezirksleitung<br />
Berlin. Berlin 1984<br />
Ostendorf, Helga: Dilemma Staatsverschulung. Austerity-Politik in der Bundesrepublik<br />
Deutschland von 1975 bis 1981. Berlin 1987<br />
Ostendorf, Helga: Mädchen am Start: Gute Kondition aber schlechte Wegstrecke.<br />
In: Rudolph, Hedwig u.a.: Berufsverläufe von Frauen. Lebensentwürfe<br />
im Umbruch. München 1986<br />
Schindler, Hans: "Von Jägern und Gejagten" oder Psychosoziale Folgen sogenannter<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen. In: König, D./Krüger, H./Schröder,<br />
U.: "Eine Zeitlang gehöre ich dazu". ABM und zweiter Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Hamburg<br />
1987<br />
Spitznagel, Eugen: Über ABM zurück ins Ar<strong>bei</strong>tsleben? Berufsspektrum in ABM<br />
verhältnismäßig schmal - Geförderte beweisen in hohem Maße berufliche
- 41 -<br />
Mobilität - Knapp die Hälfte nach ABM in "normalem" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis.<br />
In: materialien aktuell 1/1985<br />
taz: Anhörung zu ABM Mißständen: "Ar<strong>bei</strong>tsvernichtungsmaßnahme". taz v.<br />
22.1.1986<br />
Vock, R./Weißmann, H./Wordelmann, P •. : Projekt Jonas. Lösungsüberlegungen<br />
und Umsetzungsempfehlungen. Jonas-Ar<strong>bei</strong>tspapiere. 13/1987. Berlin 1987.<br />
Hekt. Manuskript<br />
Weißmann, Hans: Projekt Jonas. Expertenbefragung - Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung -. Jonas<br />
Ar<strong>bei</strong>tspapiere 9. Berlin 1986. Hekt. Manuskript<br />
Zillich, Christian: "Wir ABM' ler sind Behinderte". In: König, D./Krüger,<br />
H. /Schröder, U.: "Eine Zeitlang gehöre ich dazu". ABM und zweiter Ar<strong>bei</strong>tsmarkt.<br />
Hamburg 1987
- lJ.2 -<br />
Karin Gottschall<br />
ARBEITSMARKTPOLITIK FUR FRAUEN?<br />
ZUR TEILHABE ERWERBSLOSER FRAUEN AN<br />
ARBEITSBESCHAFFUNGSMASSNAHMEN<br />
Frauen sind bereits seit Jahren von den Schrumpfungs- und Umverteilungsprozessen<br />
der Erwerbsar<strong>bei</strong>t gravierend betroffen: Die Zahl der registrierten ar<strong>bei</strong>tslosen<br />
Frauen hat sich seit 1980 mehr als verdoppelt und beläuft sich gegenwärtig<br />
auf über eine Million. 1 Trotz der in jüngster Zeit konstatierbaren<br />
leichten Beschäftigungszuwächse 2 ist die registrierte Frauenerwerbslosigkeit<br />
weiter überproportional gewachsen: Während die Männerar<strong>bei</strong>tslosigkeit von<br />
1981J. zu 1985 (Ende September) um ca. 2% abgenommen hat, ist <strong>bei</strong> den Frauen<br />
im selben Zeitraum ein Anstieg von mehr als 3% zu verzeichnen (vgl. ANBA Nr.<br />
3, 1986). Geschlechtsspezifische Ar<strong>bei</strong>tsmarktstrukturen und die spezifische<br />
Konstitution sozialer Absicherung in dieser Gesellschaft bewirken, daß der<br />
Ausschluß von bezahlter Ar<strong>bei</strong>t für Frauen besonders schnell zu sozialer Ausgrenzung<br />
führt (Stichwort: Neue Armut). Gegenwärtig sind _ ca. 30% der ar<strong>bei</strong>tslos<br />
gemeldeten Frauen länger als ein Jahr erwerbslos, ca. 40% haben keinen<br />
Anspruch auf Ar<strong>bei</strong>tslosenunterstützung (vgl. ANBA, ebenda); selbst diejenigen,<br />
die Leistungen vom Ar<strong>bei</strong>tsamt beziehen, sind häufig zusätzlich auf Sozialhilfe<br />
angewiesen (vgl. Welzmüller 1985, S. 329; Bahlsen u.a. 1981J., S. Ill, 1lJ.3).<br />
Gleichzeitig gilt unter den gegenwärtigen Bedingungen stärker als je zuvor,<br />
daß die Mehrzahl der Frauen auf eine eigenständige Absicherung ihres Lebensunterhalts<br />
bzw. Aufbringung des Familieneinkommens durch Erwerbsar<strong>bei</strong>t angewiesen<br />
ist.<br />
Die genannten Ausgrenzungsprozesse treffen nicht alle Frauen gleichermaßen.<br />
Ein wesentliches Moment der Strukturierung der Frauenerwerbslosigkeit<br />
liegt in der überproportionalen Betroffenheit von Frauen ohne berufliche bzw.<br />
mit nur geringer formaler Qualifikation (d.h. ungelernte Industrie- und Dienstleistungsar<strong>bei</strong>terinnen<br />
sowie Frauen mit einfacher verkaufs- und bürobezogener<br />
Qualifikation). Diese Gruppe umfaßt gegenwärtig mehr als die Hälfte der registrierten<br />
weiblichen Erwerbslosen (vgl. ANBA, a.a.O.). Im Unterschied zu formal<br />
höherqualifizierten erwerbslosen Frauen sind sie - in der Regel in Kombination<br />
mit weiteren sogenannten "einschränkenden" Merkmalen wie <strong>bei</strong>spiels-
- 43 -<br />
weise gesundheitlichen Einschränkungen, höherem Alter usw. - in besonderem<br />
Ausmaß von Dauererwerbslosigkeit und "Abrutschen" in die Sozialhilfebedürftigkeit<br />
betroffen. Offensichtlich gelingt diesen Frauen unter den gegenwärtigen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmarktbedingungen der Wiedereintritt in reguläre Beschäftigungsverhältnisse<br />
nur schwer (vgl. Gottschall 1986, S. 514 f.). Zu fragen ist, was in dieser<br />
Situation staatliche Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik, die ja insbesondere in bez ug auf das<br />
Instrument der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen mit dem Anspruch auf Prot>lemgruppenorientierung<br />
und Kompensationswirkung auftritt, zur Reintegration von<br />
Frauen als einer besonders benachteiligten Ar<strong>bei</strong>tskräftegruppe leistet.<br />
1. ABM als ein Mittel zielgruppenorientierter staatlicher Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik<br />
Staatliche Ar<strong>bei</strong>tsförderung in Form eines individuellen Rechtsanspruchs auf<br />
finanzielle Unterstützung der Teilnahme an Blldungs- und Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
wurde in der Bundesrepublik erstmals 1969 mit Inkrafttreten des<br />
Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetzes (AFG vom 25.6.1969) etabliert. Die ursprüngliche<br />
Ausrichtung auf Qualifizierung von (beschäftigten) Ar<strong>bei</strong>tnehmern für beruflichen<br />
Aufstieg hat mit der in der zweiten Hälfte der 70er Jahre einsetzenden<br />
Beschäftigungskrise eine Schwerpunktverlagerung hin auf die Reintegration von<br />
Erwerbslosen erfahren (Garlichs/Maier 1982, S. 89). In diesem Zusammenhang<br />
gewann auch das zunächst gegenüber den Weiterbildungsmaßnahmen nachrangige<br />
Instrument der Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahme aufgrund der Möglichkeiten<br />
gezielter Anpassung an regionale und strukturelle Erfordernisse des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes<br />
an Bedeutung. Weiterhin wurden mit Bezug auf die starke Strukturierung<br />
der Erwerbslosigkeit, d.h. die überproportionale Betroffenheit von "gering<br />
Qualifizierten" und von "Frauen" diese <strong>bei</strong>den Gruppen zu bevorzugt zu fördernden<br />
Zielgruppen erklärt. Diese den objektiven Veränderungen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
Rechnung tragenden Umakzentuierungen wurden allerdings durch<br />
verschiedene fiskalpolitisch motivierte Anderungen des Ar<strong>bei</strong>tsförderungsgesetzes<br />
(vgl. die 5. Novellierung des AFG 1979, das Ar<strong>bei</strong>tsförderungskonsolidierungsgesetz<br />
(AFKG) von 1982 sowie die Haushaltsbegleitgesetze von 1983 und<br />
1984) zum Teil nachhaltig konterkariert. Ohne hier näher auf die Veränderungen<br />
in Konzeption und Förderungsbedingungen (Maier 1982, S. 119) von ABM<br />
einzugehen, soll im folgenden für erwerbslose Frauen in bezug auf die gegenwärtige<br />
Situation gefragt werden, (1) in welchem Umfang Frauen überhaupt an
- q.q. -<br />
ABM partizipieren; (2) welche Gruppen von Frauen mit ABM erreicht werden;<br />
(3) welche Chancen und Probleme mit der Teilhabe an ABM verbunden sind; (q.)<br />
ob und inwieweit der Übergang in Dauererwerbsar<strong>bei</strong>tsplätze, in den sogenannten<br />
"ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt", gelingt. 3<br />
Basis der folgenden Aussagen zu Umfang und Struktur der Teilhabe von<br />
Frauen an ABM ist die Auswertung der amtlichen Ar<strong>bei</strong>tsmarktstatistik und<br />
eine kürzlich durchgeführte, im wesentlichen qualitativ angelegte Studie zum<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmarkt in Hamburg (Gottschall 1985). Die Ergebnisse zu den strukturellen<br />
Problemen der Partizipation von Frauen resultieren vornehmlich aus der in<br />
Hamburg durchgeführten Untersuchung.<br />
2. Zur quantitativen Repräsentanz von Frauen in ABM<br />
Die Beteiligung von Frauen an Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen ist bundesweit in<br />
den letzten zehn Jahren, d.h. seitdem ABM in nennenswertem Umfang eingesetzt<br />
worden sind (vgl. dazu im folgenden Tab. 0, gestiegen; sie ist gleichwohl,<br />
bezogen auf den Umfang der Frauenerwerbslosigkeit, bis heute unzulänglich.<br />
Tabelle 1:<br />
Frauenerwerbslosigkeit und Teilnahme von Frauen an Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
1980 bis 1985<br />
ar<strong>bei</strong>tslose Frauen I Beschäftigte in ABM 2<br />
in % an al-<br />
davon Fauen<br />
len Ar<strong>bei</strong>ts-<br />
Jahr abs. losen insgesamt abs. in %<br />
1978 475.73 9 55,0 51.236 13.881 27.1<br />
1979 419.815 57 ,0 51.192 17.047 33,3<br />
1980 454. 199 55,2 41.251 15.927 38,6<br />
1981 640.067 50,9 38.461 15.109 39,2<br />
1982 836.228 46,0 29. 198 10.652 36,5<br />
1983 988.988 46 ,3 44.680 12.927 28 ,9<br />
1984 988.41 4 46 ,1 70.938 22.86 2 32,2<br />
47,4<br />
1985 1.0 18.653<br />
1986 1.006.026 49,2<br />
87.026 29.467 33,9<br />
1 Jeweils Ende September<br />
2 J ahresdurchschni ttszahlen (an hand von 12 Stichtagen)<br />
Quelle:<br />
Anba Nr. 3, 1981 bis 1986, sowie AN BA Ar<strong>bei</strong>tsstatistik 1980, 1982, 1984, 1985<br />
Jahreszahlen (Sondernummer 29. Jg. 29. Juli 1981 , 31. Jg. 12. Auust 1983; 33.<br />
Jg. 18. Juli 1985; 34. Jg. 15. Juli 1986); <strong>bei</strong> den Zahlen für 1986 (aus Presseinformation<br />
Nr. 56/86 der Bundesanstalt für Ar<strong>bei</strong>t, Nürnbeg vom 03.10.1986)<br />
ha ndelt es sich um nicht saisonbereinigte Monatszahln; eigene Berechnungen.
- 45 ,-<br />
Erwerbslose Frauen sind in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen im Vergleich<br />
zu Männern immer schon unterrepräsen"tiert. 1985 betrug der Anteil der Frauen<br />
an allen gemeldeten Ar<strong>bei</strong>tslosen 47,7%, in ABM waren sie jedoch nur mit<br />
33,9% vertreten. Diese Relation war <strong>bei</strong> dem starken Rückgang von ABM Anfang<br />
der 80er Jahre ebenso wie <strong>bei</strong> der neuerlichen Ausweitung seit 1983/84<br />
kennzeichnend. Bezogen auf die Steigerung der Frauenerwerbslosigkeit muß<br />
weiterhin konstatiert werden, daß die Anwendung von ABM trotz der enormen<br />
Ausweitung in den letzten Jahren bis heute nicht einmal den Wirkungsgrad<br />
vom Ende der 70er Jahre wieder erreicht hat: Während 1979 immerhin auf 25<br />
ar<strong>bei</strong>tslos gemeldete Frauen durchschnittlich eine weibliche ABM-Beschäftigte<br />
kam, sieht die Relation 1985 mit 35:1 wesentlich schlechter aus. Gleichwohl<br />
hat die absolute Höhe weiblicher Beschäftigter in ABM mit ca. 29.500 1985<br />
einen vorläufigen Höchststand erreicht.<br />
3. Zur Struktur der weiblichen ABM-Beschäftigten und zur Struktur von ABM<br />
Die Beteiligung von Frauen an ABM ist auch in bezug auf die Struktur der<br />
Frauenerwerbslosigkeit unzulänglich. Wie bereits eingangs angeführt, sind insbesondere<br />
formal geringqualifizierte Frauen von Dauererwerbslosigkeit und sozialer<br />
Ausgrenzung betroffen, und diese Gruppe stellt mit ca. der Hälfte aller<br />
weiblichen Ar<strong>bei</strong>tslosen eine quantitativ bedeutsame Problemgruppe dar. Ein<br />
Blick auf die Verteilung der in ABM beschäftigten Frauen zeigt, daß sich mehr<br />
als drei - mit nur geringfügigen Schwankungen im Zeitverlauf - auf die<br />
Einsatzfelder "Soziale Dienste" (ca.· 56%) und "Büro und Verwaltung" (ca. 22%)<br />
konzentrieren. In den ABM-Einsatzbereichen mit überwiegend gewerblicher<br />
Aufgabenstruktur (z.B. Bau- und Verkehrswesen, Landwirtschaft, Gartenbau)<br />
sind Frauen mit Ausnahme des Bereichs Gartenbau/Landwirtschaftspflege (ca. ,<br />
5%) so gut wie gar nicht vertreten (vgl. Tab. 2). Für die Mehrzahl der in ABM<br />
beschäftigten Frauen sind entsprechend vergleichsweise hohe Schul- und Berufsabschlüsse<br />
insbesondere im Bereich sozialer, zum Teil auch kaufmännischer<br />
Berufe kennzeichnend. Bezogen auf die Qualifikations- und Altersstruktur erwerbsloser<br />
Frauen sind in ABM gering qualifizierte Frauen aus gewerblichen<br />
Tätigkeiten und aus Büro und Verkauf sowie Frauen mittlerer und höherer Altersgruppen<br />
deutlich unterrepräsentiert. Für männliche Ar<strong>bei</strong>tslose konnte der<br />
Einbezug insbesondere von gewerblichen Ar<strong>bei</strong>tnehmern eher realisiert werden;
- 46 -<br />
ca. zwei Drittel der männlichen AßM-ßeschäftigten sind in Einsatzfeldern mit<br />
überwiegend gewerblich-handwerklicher Aufgabenstruktur tätig, nur ca. 15% in<br />
dem stark akademisch geprägten Einsatzfeld "Soziale Dienste" (vgl. dazu auch<br />
ßreuer/Hellmich 1979).<br />
Tabelle 2:<br />
Beschäftigte (Männer und Frauen) in AB-Maßnahmen nach Art der Maßnahme<br />
1985 (Jahresdurchschnittszahlen)<br />
Beschäftigte geförderte Ar<strong>bei</strong>tnehmer/innen<br />
Män ner<br />
Frauen<br />
Art der Maßnahme abs. in % abs. in %<br />
L<br />
Landwirtschaft, Gartenund<br />
Landschaftsgartenbau 17.960 31,5 1.537 5,2<br />
II.<br />
Küstenschutz und Landgewinnung<br />
486 0,8 6<br />
III.<br />
Forstwirtschaft 5.212 9,2 147 0,5<br />
N.<br />
Verkehrswesen 1.771 3,1 35 0,1<br />
V.<br />
Bau-, lnd.- und FreizeitgeländeerschIießung<br />
sowie<br />
Hochbau 6.069 10,7 337 1,3<br />
VI.<br />
Versorgungsanlagen 921 1,7 35 0,1<br />
VII.<br />
Büro und Verwaltung 6.370 11,2 6.547 22,3<br />
VIII.<br />
.soziale Dienste 8.547 15,0 16.664 56,7<br />
IX.<br />
Sonstige 9.570 16,8 4.038 13,7<br />
----------------------------------------------------------------------------------------<br />
Zusammen 56.906 100 29.386 100<br />
QueUe:<br />
AN BA, Ar<strong>bei</strong>tsstatistik 1985, Jahreszahlen, Sondernummer vom 15. Juli 1986
- 47 -'<br />
4. Chancen und Probleme <strong>bei</strong> der Teilnahme an ABM<br />
Die Chancen, die in der Teilnahme an ABM liegen, sind aus der Perspektive der<br />
betroffenen Frauen:<br />
- die damit erreichte materielle Absicherung, die selbst <strong>bei</strong> Eingruppierung in<br />
die untersten Gruppen des Manteltarifvertrages der Länder bzw. des Bundesangestelltentarifvertrages<br />
die Haushaltseinkommen der Frauen gegenüber<br />
der vorangegangenen Situation soweit verbessert, daß sie ihre Lebensführung<br />
eigenständig bestreiten können und der mit der ABM- Beschäftigung neu begründete<br />
bzw. stabilisierte Anspruch auf Leistungen aus der Ar<strong>bei</strong>tslosenversicherung.<br />
Gerade für die formal gering qualifizierten Frauen gilt darüber<br />
hinaus, daß eine Beschäftigung in ABM in der Regel die einzige Alternative<br />
zur Aufnahme nicht sozialversicherungspflichtiger Tätigkeiten als<br />
Reinigungskraft, Ladenhilfe, Buffetkraft usw. darstellt.<br />
- die soziale und psychische Stabilisierung, die durch die - wenn auch befristete<br />
- Integration ins Erwerbsleben erfolgt; die betroffenen Frauen heben<br />
unabhängig von Qualifikationsniveau und der ausgeübten Tätigkeit positiv<br />
die Chancen zur Kommunikation mit anderen und die Teilhabe an gesellschaftlich<br />
sinnvoller Ar<strong>bei</strong>t hervor.<br />
In der Wahrnehmung der betroffenen Frauen liegen die Probleme:<br />
- in einer Minderung des Gehalts durch den Ausschluß von verschiedenen im<br />
Rahmen von Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnissen gewährten Leistungen wie <strong>bei</strong>spielsweise<br />
Weihnachts- und Urlaubsgeld, Anspruch auf Bildungsurlaub usw.<br />
- in Uberforderung durch den zugewiesenen Ar<strong>bei</strong>tsplatz; dies gilt insbesondere<br />
für gering qualifizierte Frauen, die zum Teil zur angemessenen Ausübung<br />
der Tätigkeit, aber auch in bezug auf die weitere Beschäftigungsperspektive<br />
auf begleitende Qualifizierungsangebote angewiesen sind, die ABM-tellen<br />
jedoch in der Regel nicht enthalten.<br />
- in Diskrepanzen zwischen den abgeforderten Fähigkeiten und Leistungen<br />
einerseits, der gewährten Bezahlung und dem beruflichen Status andererseits;<br />
dies gilt insbesondere für die akademisch-sozialpädagogischen Einsatzfelder,<br />
wo verstärkt durch die neue Abgruppierungspraxis für 'Berufsanfänger/innen<br />
im Öffentlichen Dienst, das Qualifikationspotential gerade auch in<br />
bezug auf Motivation, Kreativität, Handlungskompetenz und soziale Unvoreingenommenheit<br />
von Lehrerinnen, Geistes- und Naturwissenschaftler/innen<br />
einerseits voll ausgeschöpft wird, andererseits die ABM- Beschäftigten fak-
- 48 -<br />
tisch unter Tarif bezahlt werden und auch innerhalb der jeweiligen Institution<br />
nur begrenzt Handlungs- und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten erhalten.<br />
- in fehlender praktischer sozialer Unterstützung zur Regelung der häufig<br />
während der Erwerbslosigkeit entstandenen materiellen und sozialen Probleme<br />
(Schuldenregelung, Wohnungsfragen, Rechtsstreitigkeiten <strong>bei</strong> Scheidung,<br />
Kinderunterbringung usw.).<br />
Das sicher härteste Problem liegt in der Befristung der Beschäftigung und<br />
der fehlenden oder unsicheren Anschlußperspektive.<br />
5. Ubergangschancen in den ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
über die Wirksamkeit von Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen in bezug auf den<br />
Übergang in Dauerar<strong>bei</strong>tsplätze liegen keine verläßlichen Daten vor. Auf der<br />
Basis von Experten/innengesprächen in der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung sowie einzelnen<br />
empirischen Untersuchungen (vgl. Nachweise <strong>bei</strong> Gottschall 1985, S. 88) ergibt<br />
sich folgendes Bild: Offensichtlich wird nur ein sehr geringer Teil von ABM<br />
Stellen - insbesondere im Bereich "soziale Dienste", wo in erster Linie höher<br />
qualifizierte Ar<strong>bei</strong>tskräfte beschäftigt werden - in feste Stellen umgewandelt. 4<br />
Nur wenigen Frauen - wiederum eher den höher qualifizierten - gelingt es, innerhalb<br />
der Institutionen einen anderen Ar<strong>bei</strong>tsplatz oder aber anderweitig<br />
Beschäftigung zu finden. Die überwiegende Mehrheit der weiblichen ABM-Beschäftigten<br />
und insbesondere die formal gering qualifizierten Frauen sind jedoch<br />
nach Auslaufen von AB-Maßnahmen wieder erwerbslos. In der Ar<strong>bei</strong>tsverwaltung<br />
wird nicht zuletzt deshalb die wesentliche Wirkung von ABM in der<br />
materiellen und psychosozialen Stabilisierung sowie der sozialisierenden Wirkung<br />
der ein- oder zweijährigen Beschäftigung gesehen, die die Betroffenen im<br />
Unterschied zu Dauererwerbslosen befähigen, die Suche nach einem Erwerbsar<strong>bei</strong>tsplatz<br />
nicht aufzugeben. Zusammenfassend kann also festgehalten werden,<br />
daß die Partizipation von Frauen an ABM in quantitativer und qualitativer Hinsicht<br />
unzulänglich ist und insbesondere die mit dem Instrument ABM verknüpfte<br />
ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische Zielsetzung der Reintegration von gering qualifizierten<br />
Dauererwerbslosen <strong>bei</strong> Frauen nur begrenzt realisiert wird.
- 49 -'<br />
6. Strukturelle Grenzen der Wirksamkeit von ABM<br />
Die Gründe für die unzulängliche Teilhabe von Frauen verweisen auf strukturel<br />
le Grenzen des Instruments Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen in bezug auf die<br />
j -- _,"Ne-_<br />
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r.::b::sl:,o::se:r Frauen. Als struktureller Mangel in bezug auf die<br />
rein quantitativ unterproportionale Beteiligung von Frauen (im Unterschied zu<br />
Männern) sind die rechtlichen Fördervoraussetzungen zu nennen:<br />
Voraussetzung für die Zuweisung in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen ist neben<br />
registrierter 6monatiger Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit der Bezug von Ar<strong>bei</strong>tslosengeld bzw.<br />
Ar<strong>bei</strong>tslosenhilfe oder - seit Mai 1985 - der Anspruch auf Unterhaltsgeld. Die<br />
Anspruchsvoraussetzung "Leistungsbezug" wirkt sich negativ für dauererwerbslose<br />
Frauen aus, da Frauen in weitaus stärkerem Maße als Männer <strong>bei</strong>m Anspruch<br />
auf Ar<strong>bei</strong>tslosenhilfe an der Bedürftigkeitsprüfung scheitern. Dies trifft<br />
insbesondere für verheiratete Frauen zu. Mit der Neuregelung der Zuweisungsberechtigung<br />
<strong>bei</strong> Anspruch auf Unterhaltsgeld seit Mai 1985 ist nunmehr sowohl<br />
ein Teil der Frauen ABM-berechtigt, die nach längerer Unterbrechung wegen<br />
Kinderbetreuung wieder ins Berufsleben zurückkehren wollen als auch derjenigen,<br />
deren Anspruch auf Ar<strong>bei</strong>tslosenhilfe wegen fehlender Bedürftigkeit entfallen<br />
ist. Trotz veränderter Rechtslage bleiben diejenigen erwerbslosen Frauen<br />
von der ABM- Berechtigung ausgeschlossen, die entweder nur eine kurze (d.h.<br />
weniger als zwei Jahre) oder diskontinuierliche Erwerbsbiographie haben oder<br />
die überwiegend in Teilzeitar<strong>bei</strong>tsverhältnissen mit weniger als 20 Stunden pro<br />
Woche beschäftigt waren oder mit einem Kind die Erwerbstätigkeit für mehr<br />
als acht Jahre unterbrochen haben. Faktisch sind von dieser Regelung insbesondere<br />
erwerbslose Frauen betroffen, die Sozialhilfe beziehen. In einzelnen<br />
Städten ist man dazu übergegangen, in Anlehnung an die Konstruktion von<br />
ABM, auf freiwilliger Basis und zu tariflicher Entlohnung Beschäftigungs -<br />
... <br />
lichkeiten für Sozialhilfeempfänger/innen zu schaffen.<br />
Die unzulängliche Zielgruppenwirksamkeit von ABM, d.h. der geringe Einbezug<br />
dauererwerbsloser gering qualifizierter Frauen hängt zunächst eng mit<br />
'---..<br />
der Konstruktion von ABM als "zusätzlicher Leistung im öffentlichen Interesse"<br />
zusammen. Zusatzbedarf an Tätigkeiten läßt sich gerade in der öffentlichen<br />
Verwaltung am ehesten in Bereichen finden, die nicht zu den Pflichtaufgaben<br />
(nach bisheriger Definition) gehören und/oder bisher gar nicht abgedeckt wurden:<br />
Das sind unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen dann am<br />
ehesten Aufgaben im ökologischen und sozial pflegerischen Bereich sowie generell<br />
Evaluierungstätigkeiten, die formal höher, in der Regel akademisch qualifizierte<br />
Ar<strong>bei</strong>tskräfte erfordern.<br />
Die Schaffung von ABM-Stellen im gewerblichen Bereich bzw. <strong>bei</strong> eher einfachen<br />
Tätigkeiten <strong>bei</strong>spielsweise in der Verwaltung ist in der Regel schwerer<br />
möglich bzw. politisch problematisch, da hier am offensichtlichsten wird, daß<br />
mit ABM in der Tendenz eine Substitution von Dauerar<strong>bei</strong>tsplätzen durch befristete<br />
Beschäftigung erfolgen kann: Personalvertretungen sind deshalb <strong>bei</strong> der<br />
Beantragung von ABM-Stellen <strong>bei</strong>spielsweise für die Verwaltung, für Reinigungstätigkeiten<br />
oder Gartenar<strong>bei</strong>ten usw. besonders zurückhaltend, weil genau
- 50 -<br />
in diesen Bereichen im Öffentlichen Dienst bereits seit Jahren Personaleinsparungen<br />
erfolgen; einzelne Tätigkeitsbereiche, wie <strong>bei</strong>spielsweise das Reinigungswesen,<br />
sind durch Privatisierung zum Teil völlig abgeschafft worden. Insgesamt<br />
gilt, daß der Schutz von Substituierungsprozessen, Mitnahmeeffekten und Umverteilung<br />
<strong>bei</strong> der Anwendung von ABM durch die gegenwärtig gültigen Bewilligungsregeln<br />
eher gering ist.<br />
Die o.g. geschlechtsspezifischen<br />
Zuweisungsprozesse verdeutlichen ein<br />
weiteres strukturelles Problem von AB-Maßnahmen. Indem AB-Maßnahmen vom<br />
Tätigkeitszuschnitt her wie auch von den Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen, insbesondere<br />
der Entlohnung, an die im Beschäftigungssystem etablierten Ar<strong>bei</strong>tsplatzstrukturen<br />
anknüpfen, konservieren sie auch alle darin enthaltenen Diskriminierungen<br />
von Frauen: Dies gilt sowohl für den tendenziellen Ausschluß von Frauen aus<br />
bestimmten Tätigkeitsfeldern wie auch die an Frauenar<strong>bei</strong>tsplätzen insbesondere<br />
im gewerblichen Bereich übliche, in unteren Lohngruppeneinstufungen verfestigte<br />
geringere Bewertung weiblicher Ar<strong>bei</strong>tskraft. Gemessen daran, daß es<br />
sich <strong>bei</strong> ABM um ein frei gestaltbares Mittel staatlicher Politik handelt, sind<br />
in der gegenwärtigen Konstruktion und Anwendungspraxis von ABM wesentliche<br />
Chancen zu Frauen positiv diskriminierenden Korrekturen im Beschäftigungssystem<br />
verpaßt worden. Neben der systematischen Erschließung neuer Tätigkeitsfeider<br />
für Frauen und der Entwicklung zielgruppenadäquater Maßnahmetypen<br />
würden dazu auch berufsfachliche, im ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt verwertbare Qualifizierungen<br />
für bestimmte Gruppen von Frauen gehören.<br />
Als letzter, gleichwohl zentraler Mangel von ABM sei die fehlende Absicherung<br />
von Substitutionsprozessen bzw. die faktisch nicht realisierte Strukturkomponente<br />
der Schaffung von Dauerar<strong>bei</strong>tsplätzen genannt. Um ABM zu einem<br />
wirksamen Instrument der Beschäftigungspolitik werden zu lassen, müßten eben<br />
die durch AB-Maßnahmen nachgewiesenen "Bedarfe" als gesellschaftlich sinnvolle<br />
und notwendige Tätigkeiten ,in den Kanon öffentlicher Pflichtaufgaben<br />
eingehen und dürften gerade nicht den Sparprioritäten öffentlicher Haushalte<br />
zum Opfer fallen.<br />
7. Fazit: Offensive Nutzung und Verbesserung von ABM im Interesse<br />
erwerbsloser Frauen<br />
Trotz der angeführten strukturellen Grenzen der Wirksamkeit von ABM sollte<br />
auf eine offensive Nutzung und Gestaltung dieses ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitischen Instruments<br />
im Interesse erwerbsloser Frauen nicht verzichtet werden, denn auch
- 51 -<br />
<strong>bei</strong> dieser befristeten Beschäftigungsform geht es um die Verteilung bezahlter<br />
Ar<strong>bei</strong>t zwischen Männern und Frauen und damit die Verteilung sozialer Chancen.<br />
Notwendig sind<br />
- die Öffnung des Zugangs für alle erwerbslosen Frauen durch Verzicht auf<br />
den Leistungsbezug als Eintrittskriterium, so daß insbesondere auch Sozialhilfeempfängerinnen<br />
beteiligt werden können;<br />
- die Erschließung neuer Tätigkeitsfelder für ABM;<br />
- "Quotierungen" <strong>bei</strong> der Vergabe von ABM-Stellen sowie<br />
- die konsequente Verbindung von Ar<strong>bei</strong>t und Qualifizierung innerhalb der<br />
Maßnahmen.<br />
Dessen ungeachtet bleiben die gerechte Verteilung von bezahlter und unbezahlter<br />
Ar<strong>bei</strong>t sowie die Schaffung dauerhafter Existenzsicherungsmöglichkelten<br />
für aUe im ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt die zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen.<br />
ANMERKUNGEN<br />
1 Da<strong>bei</strong> ist zu berücksichtigen, daß die amtliche Statistik das Ausmaß der Betroffenheit<br />
gerade (aber nicht nur) <strong>bei</strong> Frauen nur unvollständig wiedergibt.<br />
Nach neueren Berechnungen beläuft sich bundesweit die Stille Reserve der<br />
Frauen auf 690.000 (1984). Für eine exaktere Bestimmung des Ausmaßes der<br />
Frauenerwerbslosigkeit müßte diese Größe zu den gemeldeten weiblichen<br />
Ar<strong>bei</strong>tslosen von 988.400 (1984) hinzugezählt werden (vgl. MittAB 1/1985,<br />
Tab. 6c, S. 29).<br />
2 Von 1984 zu 1985 (jeweils 30.6.) ist die sozialversicherungspflichtige Frauenbeschäftigung<br />
global um 2% gestiegen (der Gesamtbeschäftigtenanstieg betrug<br />
1,7%). Eine genauere Betrachtung <strong>bei</strong> den Frauen zeigt allerdings einen<br />
überproportionalen Anstieg <strong>bei</strong> Teilzeitar<strong>bei</strong>t sowie sogenannten Jede-Frau<br />
Tätigkeiten im Dienstleistungssektor (vgl. ANBA Nr. 3, 1986).<br />
3 Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier zur Einschätzung der Wirkungsmöglichkeiten<br />
staatlicher Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik unter den gegenwärtigen ökonomischen<br />
Rahmenbedingungen folgendes angemerkt: Umfang und Struktur<br />
der Erwerbslosigkeit von Frauen - wie auch der von Männern - resultieren<br />
nicht in erster Linie aus Qualifikationsdefiziten der Betroffenen, sondern<br />
vielmehr aus strukturellen Begrenzungen der Ar<strong>bei</strong>tskräftenachfrage: Solange<br />
das Vol umen bezahlter Ar<strong>bei</strong>t nicht steigt oder anders verteilt wird, kann<br />
die Förderung von Teilgruppen von Erwerbslosen zu weiteren Verdrängungsprozessen<br />
im Ar<strong>bei</strong>tsmarkt führen. Qualifizierungsmaßnahmen im weitesten<br />
Sinn (d.h. incl. ABM) bewirken insofern "nur" eine Verbesserung der individuellen<br />
Marktchancen in der Konkurrenz um die verbleibenden Ar<strong>bei</strong>tsplätze.<br />
Daneben bleibt jedoch die eigenständige Bedeutung beruflicher Qualifizierung<br />
als Alternative zur Erwerbslosigkeit und der damit verbundenen<br />
materiellen und sozialen Deprivation bestehen. Dies gilt fnsbesondere für die<br />
gering qualifizierten dauererwerbslosen Frauen, die einerseits mehrheitlich
- 52 -'<br />
zur Realisierung einer selbstbestimmten Lebensführung auf die Teilhabe an<br />
bezahlter Ar<strong>bei</strong>t angewiesen sind und deren Erwerbsar<strong>bei</strong>tsbiographie andererseits<br />
in der Regel bisher in hohem Maß fremdbestimmt verlaufen ist.<br />
4 Mit der quantitativen Ausweitung von ABM in den letzten Jahren zeichnet<br />
sich zunehmend auch der Charakter von ABM als Rotationsar<strong>bei</strong>tsmarkt ab;<br />
d.h., die ABM- Stellen bleiben über Jahre hinweg als solche erhalten, die<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplatzinhaber/innen wechseln jedoch spätestens nach zwei Jahren.<br />
Nicht wenige erwerbslose Akademiker/innen haben inzwischen "Berufskarrieren",<br />
die sich durch den Rhythmus von Erwerbslosigkeit/ ABM-Beschäftigung/Erwerbslosigkeit<br />
und erneute ABM- Beschäftigung auszeichnen.<br />
LITERATUR<br />
Bahlsen, Werner u.a.: Die neue Arm ut. Köln 1984<br />
Breuer, W./Hellmich, A.: Frauen in Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen. Hrsg. Ministerium<br />
für Ar<strong>bei</strong>t, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen,<br />
Ar<strong>bei</strong>t und Beruf, Reihe 25. Köln 1979<br />
Garlichs, D./Maier, F.: Die ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische Wirksamkeit der beruflichen<br />
Weiterbildung. In: Scharpf, F. W. u.a. (Hrsg.): Aktive Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik.<br />
Frankfurt/New York 1982<br />
Gottschall, Karin: Frauen und Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik. Zur Teilhabe erwerbsloser<br />
Frauen an Weiterbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen in Hamburg. Untersuchung<br />
im Auftrag der Leitstelle Gleichstellung der Frauen <strong>bei</strong>m Hamburger<br />
Senat. Forschungsbericht Göttingen/Hamburg 1985<br />
Dieselbe: Frauen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt: Verdrängung statt Integration? In:<br />
WSI-Mitteilungen 8 (1986)<br />
Maler, Hans E. : Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen als Instrument aktiver Ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitik.<br />
In: Scharpf, F. W. u.a. 1982, a.a.O.<br />
Welzmüller, Rudi: Ungleichheit der Einkommensverteilung gewachsen - Aktuelle<br />
Daten zur Verteilungsentwicklung. In: WSI-Mitteilungen 6 (1985)
- 53 -<br />
Christiane Eiche<br />
DEN MANGEL INNOVATIV NUTZEN?<br />
ARBEITSBESCHAFFUNGSMASSNAHMEN IN FRAUENPROJEKTEN<br />
Autonome Frauenproj ekte, die vor allem im Sozial-, Kultur-, Beratungs- und<br />
Bildungsbereich tätig sind, leisten überaus notwendige und nützliche Ar<strong>bei</strong>t.<br />
Als Beispiele für Hamburg seien genannt: die BIFF's (Beratungs- und Informationsstellen<br />
für Frauen), die Frauenhäuser, das Frauenbildungszentrum,<br />
die EFA (Erwerbslose Frauen Altona) und das Projekt "Frau und Ar<strong>bei</strong>t", alles<br />
Initiativen, die seit mehreren Jahren Angebote "von Frauen für Frauen" organisieren<br />
und Frauen in den unterschiedlichsten Lebenslagen beraten und unterstützen.<br />
Zunehmend verweisen die Hamburger Behörden auf die Angebote der<br />
Gruppen und schicken aus ihren eigenen Beratungsstellen Frauen dorthin. Durch<br />
die Ar<strong>bei</strong>t der Projekte werden soziale Handlungsbedarfe nachgewiesen und<br />
aufgegriffen, die eigentlich Pflichtaufgaben von Behörden wären oder deren<br />
Durchführung durch freie Träger zumindest vom Staat bezahlt werden müßte.<br />
Dies geschieht jedoch, was die Ar<strong>bei</strong>t der Frauenproj ekte betrifft, nur in geringem<br />
Umfang. Die Ar<strong>bei</strong>t ist für den Staat billig oder sogar kostenlos, die Projekte<br />
"leben" von viel unbezahlter, sogenannter ehrenamtlicher Ar<strong>bei</strong>t. Die<br />
Anerkennung der Behörden führt bisher kaum zu einer finanziellen Absicherung<br />
über den Hamburger Haushalt. Von den Frauenprojekten erhalten nur vier eine<br />
Regelförderung aus Landesmitteln. Laut Aussage des Senats soll auch mittelfristig<br />
keine weitere Frauengruppe laufend aus Haushaltsmitteln finanziert werden,<br />
obwohl Frauenpolitik in Hamburg nach Bürgermeister von Dohnanyi ein<br />
"Prioritätsbereich der Senats politik " ist. 1 Die anderen Initiativen finanzieren<br />
sich über einmalige Sondermittel aus den Bezirks- und Landesbehörden, aus<br />
Spenden, aus Privatgeldern der Gruppenmitglieder und/oder - neuerdings zunehmend<br />
- über Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen (ABM).<br />
AB-Maßnahmen wurden für Frauenprojekte attraktiv, nachdem der Hamburger<br />
Senat für 1983 ein 100-Mio.-Mark-ABM-Programm verabschiedete - 1987<br />
werden es 190 Mio. sein -, mit dem der Massenerwerbslosigkeit in der Hansestadt<br />
begegnet werden soll. Bei der Beschreibung der Einsatzbereiche für die<br />
Maßnahmen erwähnt die entsprechende Senatsdrucksache ausdrücklich auch die
- 54 -<br />
Frauenprojekte als Beschäftigungsorte für langfristig erwerbslose Lehrerinnen,<br />
Sozialar<strong>bei</strong>ter innen, Psychologinnen usw. 2<br />
Der Beschluß des Senats, für jede AB-Maßnahme zusätzliche Mittel für<br />
Sachkosten bereitzustellen und eventuelle Restpersonalkosten, die die Bundesanstalt<br />
für Ar<strong>bei</strong>t nicht bewilligt, zu übernehmen, öffnete das Programm auch<br />
für kleinere freie Träger. Gerade diese Verknüpfung von Personal- und Sachkosten<br />
macht auch die Attraktivität von ABM für autonome Frauenproj ekte aus.<br />
Hier ergibt sich eine Möglichkeit, einen Teil der Ar<strong>bei</strong>t zumindest befristet<br />
bezahlen zu können. Der finanzielle Druck und die hohe Ar<strong>bei</strong>tsbelastung der<br />
Frauen sowie die Chance, Ar<strong>bei</strong>tsplätze für einen gewissen Zeitraum zu schaffen,<br />
ließen die politischen Vorbehalte gegen dieses ar<strong>bei</strong>tsmarktpolitische In<br />
,:;trument in den Hintergrund treten.<br />
Im Dezember 1986 ar<strong>bei</strong>teten 80 Frauen in 32 Frauenproj ekten, die aus<br />
Mitteln für ABM finanziert wurden. Zum Vergleich: Ende Oktober 1986 waren<br />
in Hamburg 4400 Menschen in ABM beschäftigt, der Anteil der Frauenprojekte<br />
beträgt also noch nicht einmal zwei Prozent. Im Gegensatz zu den "alten" Initiativen,<br />
in denen Frauen vor der Finanzierung durch ABM oft jahrelang unbezahlt<br />
tätig waren, entstehen jetzt Frauengruppen, die nach kurzer Vorlaufzeit<br />
gleich auf der Basis von ABM ihre Ar<strong>bei</strong>t beginnen. Diese Projekte sind teilweise<br />
nicht mehr nur im sozialen, sondern auch im gewerblichen Bereich angesiedelt.<br />
Das Ziel, sich selbst Ar<strong>bei</strong>tsplätze zu schaffen, tritt - neben der ehemals<br />
vorrangigen politischen Motivation - in den Vordergrund. Dies geschieht<br />
oft aus der Not der Erwerbslosigkeit heraus, da sich zunehmend auch für qualifizierte<br />
Berufsgruppen von Frauen der sogenannte "erste Ar<strong>bei</strong>tsmarkt" verschließt.<br />
Für den Hamburger Ar<strong>bei</strong>tsmarkt z.B. prognostiziert das Ar<strong>bei</strong>tsamt<br />
mittelfristig über 90.000 erwerbslose Frauen, das ist mehr als das Doppelte<br />
gegenüber Ende 1986.<br />
Die positiven Aspekte der ABM - die Finanzierung sinnvoller frauenpolitischer<br />
Ar<strong>bei</strong>t und die Schaffung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen für Frauen - sind jedoch<br />
verknüpft mit einer Reihe von Problemen, die Auswirkungen auf die inhaltliche<br />
Ar<strong>bei</strong>t der Projekte und die dort beschäftigten Frauen haben.
- 55 -<br />
1. Schattenseiten des Finanzierungsinstruments<br />
Um Personals teIlen mit Mitteln der Bundesanstalt für Ar<strong>bei</strong>t zu finanzieren,<br />
sind die Projekte gezwungen, die Tätigkeitsbereiche den entsprechenden Richtlinien<br />
anzupassen. Vor allem müssen die Voraussetzungen des "öffentlichen Interesses"<br />
und der "Zusätzlichkeit" erfüllt sein.<br />
Das Kriterium der Zusätzlichkeit schließt aus, daß die Ar<strong>bei</strong>ten eines Projekts,<br />
wie sie in der Vereinssatzung niedergeschrieben sind, die Regelar<strong>bei</strong>ten,<br />
über ABM bezahlt werden können. Um in den "Genuß" einer Maßnahme zu gelangen,<br />
entsteht ein Zwang, neue Ar<strong>bei</strong>tsbereiche zu entwickeln. Das heißt<br />
auch, daß das Ziel, endlich die geleistete, erwiesenermaßen gesellschaftlich<br />
notwendige Ar<strong>bei</strong>t bezahlt zu bekommen, damit nicht erreicht werden kann.<br />
Die - meist unbezahlte - eigentliche Projektar<strong>bei</strong>t wird im Gegenteil<br />
noch belastet durch Beantragung und Verwaltung der AB-Gelder.<br />
Ein besonderes Problem ist die Finanzierung zu Beginn der Maßnahme. Oft<br />
dauert es Wochen, bis das Geld eintrifft. Kleine Träger verfügen nicht über<br />
genügend Rücklagen, um Gehälter, Sozialversicherungs<strong>bei</strong>träge, Lohnsteuern,<br />
Büromiete usw. vorzufinanzieren. Die Frauen sind oftmals gezwungen, dieses<br />
Geld selbst auszulegen.<br />
Eine längerfristige finanzielle Absicherung eines Projekts ist durch ABM<br />
nicht möglich. Nicht nur, weil die Stellen höchstens für zwei Jahre bewilligt<br />
werden, sondern vor allem auch, weil die Vergabe-Richtlinien den jeweiligen<br />
Verhältnissen des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes angepaß t werden. Es bleibt unsicher, ob in<br />
dem Projekt auch weiterhin Stellen durch ABM finanziert werden können.<br />
Gegenwärtig zeichnet sich in Hamburg noch eine politisch gewollte Zunahme<br />
der AB-Maßnahmen ab, aber auch ein Trend, mehr gewerbliche ABM-Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
zu schaffen. Dies kann dazu führen, daß die sozialen und Bildungsinitiativen<br />
Schwierigkeiten bekommen, "ihre" AB-Maßnahmen zu erhalten.<br />
Sollte der Hamburger Senat die Finanzierung der Sachkosten einstellen,<br />
könnte dies zur Gefährdung ganzer Projekte führen, da diese die nicht vom<br />
Ar<strong>bei</strong>tsamt übernommenen Mittel nicht aufbringen können.<br />
Die Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen verhindern eine langfristige personelle<br />
Kontinuität. Spätestens nach zwei Jahren muß eine neue Frau auf die Stelle<br />
kommen, es sei denn, der Verein ist in der Lage, nach dem 3. Jahr einen Dauerar<strong>bei</strong>tsplatz<br />
einzurichten. Das ist aber nur möglich, wenn eine laufende Fi-
- 56 -<br />
nanzierung aus Bundes- oder Landesmitteln erreicht wird, eine Bedingung, die<br />
die "autonomen" Projekte meist nicht erfüllen.<br />
Ziel der politisch Verantwortlichen in Hamburg ist eine höhere "Effektivität"<br />
von ABM, also eine größere statistisch belegbare Zahl. Geplant sind für<br />
1987 rund 7000 Maßnahmen. In diesem Zusammenhang ist die Tendenz zu sehen,<br />
Maßnahmen nur noch für ein Jahr zu bewilligen. Damit wird aber die personelle<br />
Kontinuität der Proj ekte noch mehr verschlechtert. Vor allem <strong>bei</strong> Therapieund<br />
Beratungseinrichtungen ist die Kurzfristigkeit der ABM hinderlich für eine<br />
effektive Ar<strong>bei</strong>t. Denn gerade hier ist eine personelle Kontinuität überaus<br />
wichtig, nicht nur für die Zielgruppe, sondern auch für die Mitar<strong>bei</strong>terinnen.<br />
Eine erfolgreiche Beratung erfordert ein hohes Maß an Erfahrung und Wissen,<br />
das sieh nicht in kurzer Zeit aneignen und nicht an andere kurzfristig weitervermitteln<br />
läßt. Der "Rotationsar<strong>bei</strong>tsmarkt ABM" ist für diese Frauenprojekte<br />
völlig ungeeignet.<br />
Wenn sich ein Proj ekt für ABM entscheidet, ist es abhängig von den entsprechenden<br />
Richtlinien. Nicht jede Frau in der Gruppe erfüllt die Voraussetzungen<br />
für eine ABM- Stel le, obwohl sie vielleicht selbst erwerbslos ist. Frauen<br />
werden durch die rechtlichen Bestimmungen, die die Voraussetz ungen für eine<br />
"ABM-Berechtigung" festlegen, benachteiligt. Sie erfüllen aufgrund ihres nicht<br />
li nearen Berufsverlaufes oftmals nicht die geforderten Kriterien. Das bedeutet<br />
für die Gruppe, daß sie eventuell eine "neue" Frau aufnehmen muß, deren Ar<strong>bei</strong>tskraft,<br />
im Gegensatz zu der der "alten" Frauen, bezahlt wird. Dadurch können<br />
gruppeninterne Probleme entstehen. Durch die Bezahlung der ABM- Frauen<br />
im Gegensatz zu den weiterhin "ehrenamtlich" tätigen Frauen entsteht eine<br />
fi nanzielle Hierarchie, die gleichberechtigte Ar<strong>bei</strong>tsstrukturen gefährdet.<br />
2. Was ABM für autonome Frauenprojekte attraktiv macht<br />
Für viele Frauenproj ekte sind Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen die einzige Möglichkeit,<br />
überhaupt eine Bezahlung der Ar<strong>bei</strong>t zu erreichen. Die oben beklagte,<br />
aus formalen Gründen ,notwendige Ausweitung der Ar<strong>bei</strong>t des jeweiligen Projektes<br />
kann auch eine Chance sein, die Ar<strong>bei</strong>t zu professionalisieren. Diese Professionalisierung<br />
ist allerdings begründet in der Finanzierung überhaupt, nicht<br />
im Instrument "ABM". Zum Beispiel können - <strong>bei</strong> geschickter AntragsteIlung -
- 57 -<br />
das Kurskonzept weiterentwickelt, ein Archiv angelegt, bessere Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t<br />
gemacht und unterstützende Forschung betrieben werden.<br />
Die den AB-Maßnahmen immanente Diskontinuität der Ar<strong>bei</strong>t - der erzwungene<br />
Personal wechsel nach längstens zwei Jahren - kann durch eine zeitlich<br />
versetzte Beschäftigung mehrerer ABM-Kräfte relativiert werden. Zumindest<br />
ist eine Kontinuität für zwei Jahre gesichert. Im Gegensatz zu den "ehrenamtlich"<br />
neben ihrer Erwerbsar<strong>bei</strong>t ar<strong>bei</strong>tenden Frauen haben die mit Mitteln<br />
der ABM bezahlten "hauptamtlichen" Frauen eher die Möglichkeit, sich<br />
weiterzuqualifizieren und damit auch die Qualität der Ar<strong>bei</strong>t des Proj ektes zu<br />
verbessern.<br />
3. Der Januskopf der Ar<strong>bei</strong>t in einer ABM<br />
Die ABM- Kräfte in den Projekten sind in der Regel hochqualifiziert. Für Sozialar<strong>bei</strong>terinnen,<br />
Lehrerinnen, Psychologinnen und Sozialwissenschaftierinnen<br />
bieten diese Proj ekte oftmals eine der wenigen Möglichkeiten einer ausbildungsadäquaten<br />
Tätigkeit.<br />
Gerade Frauen dieser Berufe haben auf dem sogenannten ersten Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
kaum Chancen, ihre beruflichen Fähigkeiten auszuprobieren und zu erweitern.<br />
Für Berufsanfängerinnen ist die Zeit in einer ABM ein Probierfeld.<br />
Hier können sie sich berufliche Fähigkeiten aneignen und Erfahrungen sammel<br />
n. Die Frauen entwickeln Kompetenzen und Selbstwertgefühl, was eine zunehmende<br />
Motivierung auch für die Projektar<strong>bei</strong>t zur Folge hat.<br />
Für Frauen, die vor ihrer AB-Maßnahme lange erwerbslos waren, ist diese<br />
Zeit eine Chance, die psychischen Folgen abzubauen. Die skeptische Bewertung<br />
der eigenen Fähigkeiten verringert sich allerdings erst langsam. Da reicht ein<br />
Jahr ABM nicht aus, um wieder Selbstvertrauen in den Wert der eigenen Ar<strong>bei</strong>t<br />
zu erlangen. Nach meinen eigenen Erfahrungen ist ein zweites Jahr unbedingt<br />
notwendig, um neue berufliche Kompetenzen und ein stabiles Selbstwertgefühl<br />
zu entwickeln. Die Entwicklung wird allerdings durch das Bewußtsein gestört,<br />
nachher ja doch wieder erwerbslos zu sein. Es entsteht das ABM- Karussell: Ich<br />
brauche Erwerbsar<strong>bei</strong>t, um mich gut zu fühlen. Da ich sonst keine Chance auf<br />
dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt habe, muß ich in eine AB-Maßnahme. In dieser ar<strong>bei</strong>te ich<br />
die psychischen Folgen der Erwerbslosigkeit auf und mache mich gleichzeitig
- 58 -<br />
wieder "fit" für die nächste Zeit ohne Erwerbsar<strong>bei</strong>t. Danach "brauche" ich<br />
dringend wieder eine ABM. Aus der Unsicherheit bezüglich der eigenen langfristigen<br />
finanziellen Absicherung und der des Projektes, resultiert eine immer<br />
wi ederkehrende Um- und Neuorientierung, die verhindert, daß alle Energien in<br />
die Ar<strong>bei</strong>t gesteckt werden können. Die drohende Zeit ohne bezahlte Ar<strong>bei</strong>t<br />
nötigt die ABM'lerinnen, sich nach anderen beruflichen Alternativen umzuschauen.<br />
4. Ausblick<br />
Die autonomen Proj ekte in Hamburg haben sich mit den Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungsmaßnahmen<br />
arrangiert. Ohne die Maßnahmen könnte die Ar<strong>bei</strong>t<br />
in dem Umfang nicht geleistet werden.<br />
Langsam wächst jedoch unter den Initiativen die Erkenntnis, daß sie ihr<br />
individuelles Vorgehen bezüglich ABM überwinden und die Problematik dieses<br />
Finanzierungsinstruments offensiv und gemeinsam diskutieren müssen.<br />
Das "Hamburger Frauenprojekttreffen" formuliert derzeit eine gemeinsame<br />
Kritik und will über ABM hinausgehende Forderungen entwickeln. Ziel ist, ABM<br />
langfristig abzuschaffen und aus Steuergeldern eine gesicherte Finanzierung zu<br />
erhalten. Um dies zu erreichen, ist ein einheitliches Vorgehen der Proj ekte notwendig:<br />
Sie müssen sich ihre eigene Lobby schaffen.<br />
ANMERKUNGEN<br />
1 Bürgerschaft der Freien und Hans·estadt Hamburg. Drucksache 11/55555, S. 1<br />
2 Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg. Drucksache 10/392, S. 14
- 59 -<br />
IL "NEUE" SELBST}\NDIGE<br />
Zur Einführung:<br />
Christine Mayer<br />
ZUM SPANNUNGSVERH}\L TNIS VON BERUFLICHER SELBST}\NDIGKEIT<br />
VON FRAUEN UND EIGENST}\NDIGER EXISTENZSICHERUNG<br />
1. Zum Begriff "neue Selbständige"<br />
Seit Beginn der 80er Jahre bemühen sich Frauen vermehrt, durch Selbstorganisation<br />
von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen - sei es im Rahmen von Frauenprojekten, Frauensel<br />
bsthilfeinitiativen oder Betriebsgründungen - eine Berufs- und Erwerbsperspektive<br />
aufzubauen. Die durch die Strukturkrise des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes hervorgerufene<br />
Vielfalt innovativer Ar<strong>bei</strong>tsaktivitäten von Frauen läßt sich nur schwer<br />
unter einen Begriff fassen. Vor dem Hintergrund des Ar<strong>bei</strong>tsmarkt- und Wertewandels<br />
entstehen neuartige, auf individuelle Lebenslagen bezogene Eigendefinitionen<br />
wirtschaftlicher Rollen, die in das traditionelle Schema von Erwerbsund<br />
Nichterwerbsrollen und das Kategoriensystem der Erwerbsstatistik häufig<br />
nicht passen (Vonderach 1980, S. 153).<br />
Aufgrund des erschwerten Zugangs zu stabilen Beschäftigungsverhältnissen<br />
ist für Frauen die Schaffung einer Erwerbsperspektive häufig nur über den Weg
- 60 -<br />
in die berufliche Selbständigkeit realisierbar; eine Abkoppelung vom System der<br />
sozialen Sicherung wird damit in Kauf genommen.<br />
Auch Frauenproj ekte und Initiativen der Frauenselbsthilfe, die - jedenfalls<br />
soweit sie soziale Dienstleistungen übernehmen - auf staatliche Förderung angewiesen<br />
sind, weichen von herkömmlichen Formen der Lohnar<strong>bei</strong>t häufig ab.<br />
Die neu entstandenen Erwerbsformen lassen Momente erkennen, die mit selbständiger<br />
Erwerbsar<strong>bei</strong>t vergleichbare Züge aufweisen, wie z.B. selbstverantwortliche<br />
Organisation, Dispositonen über Mittel und Ar<strong>bei</strong>tseinsatz.<br />
Bei Frauenprojekten wie auch <strong>bei</strong> vielen Existenzgründerinnen handelt es<br />
sich jedoch zumeist nicht um eine selbständige Erwerbsar<strong>bei</strong>t im traditionellen<br />
Sinne. Unterschiede zeigen sich z.B. in den Zielsetzungen und Wertorientierungen<br />
dieser Frauen, an den Ar<strong>bei</strong>tsschwerpunkten in spezifischen Dienstleistungsbereichen<br />
(vornehmlich Bildung, Gesundheit und Freizeit) und im Aufbau<br />
von Klein- bzw. Kleinstunternehmen, wie sie aus der angloamerikanischen Literatur<br />
unter der Bezeichnung "small businesses" und "local enterprises" bekannt<br />
sind.<br />
Zur Charakterisierung der durch strukturelle Veränderungen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
hervorgerufenen neuen Art beruflicher Selbständigkeit wurde in der<br />
Literatur der Begriff "neue Selbständige" eingeführt. Nach der Definition von<br />
Gerd Vonderach (1980, S. 154) werden darunter sowohl äußerlich eher konventionelle<br />
Formen von Selbständigkeit als auch ausgesprochene alternative, Konzepte<br />
verstanden, mit subsistenzwirtschaf tlicher, gemeinschaftlicher oder auch<br />
erwerbswirtschaftlicher Orientierung; gemeinsam ist ihnen die Eigeninitiative<br />
der Betroffenen.<br />
Diese unscharfe Begrifflichkeit kann für den vorliegenden Diskussionszusammenhang<br />
jedoch lediglich eine Hilfskonstruktion sein: Der Trend zur neuen<br />
Sel bständigkeit ist empirisch kaum erfaß t und stellt eine statistische Grauzone<br />
dar; geschlechtsspezifische Ausdifferenzierungen wurden bisher weitgehend<br />
vernachlässigt. Die Frage, inwieweit neue Formen selbständiger Ar<strong>bei</strong>t für<br />
Frauen eine Erwerbsperspektive eröffnen, kann damit nur unter Vorbehalt beantwortet<br />
werden.<br />
Die folgenden <strong>bei</strong>den Abschnitte skizzieren die Bedingungen und Perspektiven<br />
in Frauenprojekten (2.) und von Frauen als selbständige Unternehmerinnen<br />
(3.).
- 61 -<br />
2. Selbstorganisation von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen im Rahmen von Frauenprojekten<br />
Seit Mitte der 70er Jahre zeigt sich eine Verschiebung der Gründungsmotive<br />
<strong>bei</strong> Frauenprojekten. War das frauenpolitische Engagement der 70er Jahre noch<br />
eng mit dem Gedanken der Selbsthilfe und der ehrenamtlichen Ar<strong>bei</strong>t verbunden,<br />
zentrierte sich die Diskussion in den nachfolgenden Jahren zunehmend auf<br />
die Frage nach Bezahlung der geleisteten professionellen Dienste, d.h. nach<br />
Einrichtung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen (vgl. auch Nesemann in diesem Band).<br />
Die Frauen des Goldrausch-Frauennetzwerks Berlin beschreiben diesen<br />
Entwicklungsprozeß wie folgt:<br />
"Die ersten, eher kommerziellen Projekte wie Buchläden, Verlage und<br />
Zeitschriflten, die bereits Mitte der siebziger Jahre entstanden, hatten<br />
nur in ganz wenigen Fällen auch den Anspruch, dauerhafte Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
für Frauen zu schaffen. Auch in den aus den Frauenzentren<br />
herauswachsenden Sozial- und Bildungsinitiativen war es nicht<br />
üblich, die eigene Ar<strong>bei</strong>t in Lohn und Pfennig zu sehen. Hier war ein<br />
strikter Selbsthilfegedanke maßgeblich. Autonomie und gleichzeitig<br />
staatliche Finanzierung von Projekten erschien zumeist als ein ziemlich<br />
abwegiger Gedanke. Einen Job suchten Frauen anderswo. Und<br />
erst mit Frauenseminaren an Universitäten und Fachhochschulen,<br />
Frauenforen an Volkshochschulen, Frauenhausinitiativen und Mädchenar<strong>bei</strong>t<br />
usw. begann ein Prozeß der Professionalisierung, in dem<br />
Erwerbstätigkeit und Engagement für Frauen nicht mehr völlig unvereinbar<br />
waren. Neben der direkten Schaffung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />
nach dem amerikanischen Modell - z.B. über Beiträge von Kursteilnehmerinnen<br />
- erfolgte ein starker Einstieg in die Ökonomie über<br />
öffentlich finanzierte Sozial- und Bildungsproj ekte" (Cramon-Daibler/Heinisch/<br />
Kavemann 1985, S. 143) 1<br />
Die Verschiebung in den Gründungsmotiven von Frauenprojekten ist auf<br />
unterschiedliche Bedingungsmomente rückführbar • Sie ist einerseits Ausdruck<br />
des sich entwickelnden Selbstbewußtseins von Frauen durch Anerkennung und<br />
Erfolg der jahrelang ehrenamtlich erbrachten "Aufbauar<strong>bei</strong>t"; andererseits kann<br />
sie nicht losgelöst von der aufkommenden Diskussion über die neue Arm ut von<br />
Frauen betrachtet werden. Parallel dazu verschärfte sich die Ar<strong>bei</strong>tsmarktsituation<br />
von Frauen, insbesondere von Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen<br />
sowie 50zialpädagoginnen, die - wie eine Berliner Umfrage ergab (vgl. Nesemann<br />
in diesem Band) - den "Akademikerinnen-Uberhang" in Frauenproj ekten<br />
bilden.<br />
Die Uberrepräsentation von Frauen mit hohem Qualifikationsniveau in<br />
Frauenproj ekten läßt sich jedoch kaum als Berliner Spezifikum werten, sondern<br />
ist Ausdruck der allgemeinen strukturellen Veränderungen auf dem Stellenmarkt.<br />
So ist für die hohe Anzahl an Hochschulabsolventinnen, deren fachliche
- 62 -<br />
Ausbildung traditionell auf eine Beschäftigung im öffentlichen Sektor zugeschnitten<br />
ist, der Zugang aufgrund der restriktiven staatlichen Personalpolitik<br />
und des Abbaus sozialstaatlicher Leistungen in den letzten Jahren weitgehend<br />
versperrt (Blossfeld 1985, S. 102 ff.). Als Gruppe mit eingeschränkter sektoraler<br />
Mobilität sind sie von Erwerbslosigkeit besonders stark betroffen (vgl . Engel<br />
en-Kefer 1986).<br />
Angesichts drohender bzw. faktischer Erwerbslosigkeit sind Frauen somit<br />
immer mehr gezwungen, eigeninitiativ tätig zu werden, wollen sie Qualifikation<br />
und frauenpolitisches Engagement mit einer Berufs-<br />
und Erwerbsperspektive<br />
verknüpfen. Der Umfang der Erwerbsar<strong>bei</strong>t, der über Frauenprojekte erschließbar<br />
ist, kann kaum abgeschätzt werden (vgl . hierzu die Projektdarstellungen in<br />
BBJ Consult 8/86). Die bisher vereinzelt vorliegenden Hinweise rechtfertigen<br />
eher eine skeptische Einschätzung.<br />
Swantje Gertner und Ingrid Rieken (1984), die Frauenselbsthilfeinitiativen<br />
in den unterschiedlichsten Bereichen analysieren, sprechen ihnen zwar hohes<br />
Innovationspotential zu; es sei ihnen bisher jedoch kaum gelungen, im Rahmen<br />
der Aktivitäten auch neue Ar<strong>bei</strong>ts- und Tätigkeitsfelder mit Erwerbsperspektive<br />
für Frauen zu schaffen. Hierzu führen sie aus:<br />
"Im Bereich Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t wird fast ausschließlich unbezahlte<br />
Ar<strong>bei</strong>t geleistet, im Bildungsbereich gibt es so gut wie keine Projekte,<br />
die ihre Mitar<strong>bei</strong>terinnen entsprechend der gel eisteten Ar<strong>bei</strong>t<br />
angemessen bezahlen können, und Ahnliches gilt für den Produktionsund<br />
Dienstleistungsbereich. Für die Schaffung neuer Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
und als Entlastung des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes für Frauen sind die untersuchten<br />
Selbsthilfeprojekte also kaum von Bedeutung; sie bieten keine<br />
realistische und längerfristige Alternative zu herkömmlichen Formen<br />
der Erwerbsar<strong>bei</strong>t" (5.86).<br />
Auch die Studie von Kreutz/Fröhlich/Maly (1984), in der 84 alternative<br />
Projekte (darunter auch Fraueninitiativen der autonomen Frauenbewegung) hinsichtlich<br />
ihres Sel bstverständnisses un d der Projektrealität untersucht wurden,<br />
kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die Autoren ermitteln, daß nur zwei von drei<br />
Projekten überhaupt in der Lage sind, eine Erwerbsbasis zu bieten und dies<br />
wiederum für nur ein Drittel der in ihnen aktiv Ar<strong>bei</strong>tenden. Im Durchschnitt<br />
schafft erst die nichtbezahlte, ehrenamtliche Ar<strong>bei</strong>t von sechs Personen die<br />
Voraussetzung für bezahlte Erwerbsar<strong>bei</strong>t von drei weiteren Personen (vgl .<br />
ebd., S. 271). Alternative Projekte können mithin für Hochschulabsolventen insbesondere<br />
der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen eine wichtige<br />
Ubergangs- und Qualifikationschance bieten; als Basis für eine realistische<br />
Erwerbsperspektive können sie jedoch kaum gel ten.
- 63 -<br />
Da ein großer Teil der Frauenprojekte sich auf den Bereich der sozialen<br />
Dienste konzentriert, sind hinsichtlich der ökonomischen Situation besondere<br />
Probleme gewichtig, die <strong>bei</strong> einer geschlechtsneutralen Betrachtung alternativer<br />
Proj ektstrukturen und -realitäten leicht aus dem Blickfeld geraten. Die<br />
Ar<strong>bei</strong>tsaktivitäten von Frauenproj ekten richten sich in der Regel auf gesellschaftlich<br />
defizitäre Aufgabenbereiche, die von den Leistungen der sozialstaatlichen<br />
Versorgung nicht oder nicht zureichend abgedeckt werden. Die Hilfestellungen<br />
und Beratungsangebote wenden sich zudem an eine zumeist weniger zahlungskräftige<br />
weibliche Klientel. Für viele Frauenproj ekte besteht somit kaum<br />
die Chance einer eigenständigen Existenzsicherung, sie sind aufgrund ihrer spezifischen<br />
Aufgabenwahrnehmung und Zielgruppen auf ständige staatliche Förderung<br />
und/oder Spenden angewiesen.<br />
Die Kriterien für die Vergabe staatlicher Förderung gehen mithin an den<br />
Voraussetzungen und Bedingungen dieser Frauenproj ekte vor<strong>bei</strong>, wenn sie wirtschaftlichen<br />
Erfolg voraussetzen in dem Sinne, daß die Kosten wenigstens mittelfristig<br />
eigenständig gedeckt werden. Schwierigkeiten können sich für Frauenproj<br />
ekte aber auch <strong>bei</strong> staatlichen Maßnahmen ergeben, deren Ziel die Förderung<br />
von Selbsthilfegruppen ist. Wie Christa Nesemann (in diesem Band) am<br />
Beispiel des "Berliner Modells" aufzeigt, wird als maßgebliches Vergabekriteri<br />
um von einer sehr engen Bestimmung des Selbsthilfegedankens ausgegangen. In<br />
Form einer Anschubfinanzierung mit jährlicher Eigenbeteiligung werden nur<br />
"reine" Selbsthilfemaßnahmen gefördert, d.h. "Laienhilfe" mit dem Ziel der Aktivierung<br />
von ehrenamtlicher Ar<strong>bei</strong>t. Anstelle der Sicherung einer angemessenen<br />
Entlohnung besteht hier die Gefahr, daß mit dem Abbau sozialstaatlicher<br />
Leistungen und der Verlagerung sozialer Aufgaben auf Eigeninitiativen das innovative<br />
und frauenpolitische Engagement unter der Hand in den Bereich der<br />
ehrenamtlichen Ar<strong>bei</strong>t abgedrängt wird.<br />
3. Schaffung von Erwerbsperspektiven durch Existenzgründungen<br />
Die Zahl der selbständigen Frauen in der Bundesrepublik ist in den letzten Jahren<br />
sprunghaft angestiegen, allein zwischen 1982 und 1984 hat sich ihre Anzahl<br />
von 500.000 auf 565.000 erhöht (Stat. Bundesamt 1983 und 1986). Ihr Anteil<br />
unter den in der Erwerbsstatistik ausgewiesenen Selbständigen beträgt derzeit<br />
ein knappes Viertel (23,3%). Der Trend zur beruflichen Selbständigkeit von
- 64 -<br />
Frauen hält weiterhin an und läßt sich ansatzweise auch <strong>bei</strong> ausländischen<br />
Frauen beobachten (vgl. Morokvasic in diesem Band). So erfolgt mittlerweile<br />
jede vierte Neugründung eines Betriebes durch eine Frau, und in Berlin wird<br />
sogar jedes dritte Unternehmen von einer Frau eröffnet (vgl. Assig/Gather/Hübner<br />
1985). Zeitschriften- und Büchermarkt reagieren mit Tips und Ratschlägen<br />
auf diese Tendenz und versuchen anhand biographischer Beispiele von Frauen,<br />
die den Schritt in die Selbständigkeit gewagt und geschafft haben, die selbständige<br />
Tätigkeit als neuen Weg und lockende Alternative zum traditionellen<br />
Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnis den Frauen näherzubringen.<br />
Die Propagierung von "selbständig machen" und die Erfolgsmeldungen verbergen<br />
jedoch eine bisher kaum diskutierte Schattenseite. Die von Frauen mit<br />
diesem Schritt angestrebte eigenständige Existenzsicherung ist in vielen Fällen<br />
prekär. Nach der Erwerbsstatistik von 1984 lag das monatliche Nettoeinkommen<br />
<strong>bei</strong> nahezu einem Viertel (24,3%) der selbständigen Frauen unter 800 DM; 17,7%<br />
verdienten sogar weniger als 600 DM monatlich. Werden die Einkommensgruppen<br />
noch weiter gefaßt, so erwirtschaftete jede dritte weibliche Selbständige<br />
(32,8%) ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1.000 DM. Im Vergleich dazu<br />
verdienten nur 2,8% der männlichen Selbständigen weniger als 800 DM monatlich,<br />
und nur 4,7% lagen unter der l.OOO-DM-Grenze (Stat. Bundesamt 1984, S.<br />
79/80; eigene Berechnungen),<br />
Ohne Zweifel ergeben sich mit dem Schritt in die Selbständigkeit für<br />
Frauen vielfältige Chancen zu selbstbestimmter , unabhängiger und kreativer<br />
Ar<strong>bei</strong>t. Wie die Daten zur ökonomischen Situation von weiblichen Selbständigen<br />
jedoch verdeutlichen, ist dieser Weg für Frauen häufig mit erhöhten Risiken<br />
und Gefahren des Scheiterns verbunden.<br />
Als Gründe für die prekäre Einkommensstruktur von selbständigen Frauen<br />
geben die bisher vorliegenden Untersuchungen zu Existenzgründungen von Frauen<br />
und Frauenbetrieben (vgl. Assig/Gather/Hübner 1985, 1986; Wloch/ Ambos<br />
1986 und Haas in diesem Band) erste Hinweise auf besondere Schwierigkeiten<br />
und Probleme, auf objektive und subjektive Barrieren.<br />
Wenn Frauen beabsichtigen, sich selbständig zu machen, geschieht dies<br />
zumeist nicht vor dem Hintergrund eines kontinuierlichen Berufsverlaufs. Bei<br />
der Mehrzahl der Frauen wird der Start in die Selbständigkeit durch äußere<br />
Anlässe motiviert, unter denen Veränderungen der Lebens- und Familiensitua<br />
!ion (wie Ehescheidung, drohende oder faktische Erwerbslosigkeit, Wunsch nach<br />
Erwerbsar<strong>bei</strong>t nach der Familienphase) von ausschlaggebender Bedeutung sind.
- 65 -<br />
Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Probleme und Bedürfnisse der<br />
Frauen, die sich als Selbständige etablieren. Sie sind heterogen, was die einzelnen<br />
Lebenssituationen, Berufswege, Qualifikationen und Interessen der Frauen<br />
betrifft, divers auch in der Frage, ob die Existenzgründung als freiwilliger Entschluß<br />
oder als ökonomischer Zwang zu werten ist.<br />
Vor dem Hintergrund häufiger Brüche in der Berufsbiographie von Frauen<br />
erscheint der Schritt in die Selbständigkeit als entscheidender Wendepunkt ihres<br />
Lebens, als Ubergang "von einer eher fremdbestimmten, kurzfristigen Lebensplanung<br />
zu einer längerfristigen, selbstbestimmten Lebensplanung" (Assig/Gather/Hübner<br />
1986, S. 39). Der Erfolg ist problematisch aufgrund der oftmals<br />
geringen formalen Qualifikationen, die Frauen vorweisen können. Da Qualifikationen<br />
und Berufserfahrungen wesentliche Kriterien <strong>bei</strong> der Vergabe von<br />
Krediten bilden, frauenspezifische Qualifikationen dagegen, wie z.B. in der<br />
Familienar<strong>bei</strong>t erworbene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Erfahrungen, aus dem<br />
Bewertungsraster herausfallen, haben es die Frauen schwer, in ihren Gründungsabsichten<br />
und Betriebskonzeptionen von Beratungsinstitutionen ernst genommen<br />
zu werden und positive Entscheidungen <strong>bei</strong> Kreditanträgen zu bewirken.<br />
Frauen, die sich selbständig machen, gründen zumeist Klein- oder Kleinstunternehmen,<br />
und zwar schwerpunktmäßig im Bereich des Einzelhandels, speziell<br />
in "frauentypischen" Bereichen wie <strong>Text</strong>il! Bekleidung, Schuhe/Leder, Kosmetik,<br />
Lebens-<br />
und Genußmittel und im Dienstleistungsgewerbe (vor allem in<br />
der Körperpflege und im Bürobereich). Eine zunehmende Tendenz von weiblichen<br />
Existenzgründungen läßt sich des weiteren im Hotel- und Gaststättengewerbe<br />
beobachten (vgl. hierzu W loch/ Ambos 1986; Schiller 1986).<br />
Die Konzentration auf "frauentypische" Bereiche ist auf die spezifischen<br />
Qualifikationen und beruflichen Vorerfahrungen von Frauen rückführbar • Es<br />
sind zudem Branchen, wo kein hoher Kapitaleinsatz erforderlich ist. Da Frauen<br />
in der Regel über geringe finanzielle Mittel verfügen, dominiert <strong>bei</strong> weiblichen<br />
Existenzgründungen der Aufbau von Ein-Personen-Betrieben. Diese Bedingungen<br />
führen häufig dazu, daß Frauen von zinsgünstigen Starthilfen und staatlichen<br />
Maßnahmen zur Förderung von Existenzgründungen ausgeschlossen bleiben.<br />
Bei öffentlichen Förderhilfen wird davon ausgegangen, daß die selbständige<br />
Tätigkeit eine gewisse Größenordnung erreichen muß, damit<br />
auf Dauer ein hinreichendes Einkommen ermöglicht wird. Nach den<br />
Förderrichtlinien muß es sich da<strong>bei</strong> um einen nachhaltig tragfähigen<br />
Vollerwerb handeln (vgl. Schiller 1986, S. 7). Kleinstunternehmen,<br />
deren Startkapital (Eigen- und Fremdkapital) zumeist <strong>bei</strong> 10.000 DM
- 66 -<br />
liegen, erfüllen diese Bedingungen nicht; für sie kommt eine Förderung<br />
nicht in Betracht. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gründungsvo<br />
rhaben gefördert wird, ist dann gegeben, wenn die Gründungsinvesti<br />
tionen die 50.000-DM-Grenze übersteigen (vgl . ebd., S. 12). Die Betriebskonzeptionen<br />
von Frauen sind auf ein derartiges Kostenvolumen<br />
häufig nicht angelegt.<br />
Aber auch <strong>bei</strong> den einzelnen Darlehensprogrammen ergeben sich für<br />
Frauen häufig Barrieren. So baut z.B. die Förderung im Rahmen des<br />
Eigenkapitalhilfe-Programms primär auf die einzusetzenden Eigenmittel<br />
auf. Voraussetzung ist ein Eigenkapitalsockel von mindestens<br />
12% der förderfähigen Gründungskosten, der bis auf 40% mit Eigenkapitalhilfe<br />
aufgestockt werden kann (vgl. ebd., S. 24). Auch Maßna<br />
hmen, in denen langfristige Finanzierungsmittel mit niedrigem<br />
Zinssatz vermittelt werden - wie z.B. das ERP-Existenzgründungsprogramm<br />
- gehen, da Frauen häufig die erforderlichen banküblichen<br />
Sicherheiten zur Absicherung des Kreditrisikos nicht aufbringen können,<br />
an den Bedingungen von Existenzgründerinnen vor<strong>bei</strong>.<br />
Aufgrund der skizzierten Momente wird das Problem der Finanzierung für<br />
Frauen zur Hauptschwierigkeit <strong>bei</strong>m Schritt in die Selbständigkeit. Die spezifisc<br />
hen Hindernisse für Frauen <strong>bei</strong> der Kreditbeschaffung resultieren daraus, daß<br />
als Maßstab <strong>bei</strong> der Beurteilung der männliche Gründer gilt. Vor dieser Rolle<br />
erscheinen Frauen defizitär. Potentiellen Gründerinnen werden die fachliche<br />
Qualifikation und die Ernsthaftigkeit ihres Vorhabens abgesprochen, und ihre<br />
Leistungsfähigkeit und Kompetenz müssen im Vergleich zu Männern nachhaltig<br />
unter Beweis gestellt werden. Dennoch werden ihnen in der Regel vergleichswe<br />
ise schlechtere Konditionen eingeräumt (vgl. Wloch/ Ambos 1986, S. 19, und<br />
Assig/Gather/Hübner 1985, S. 112 ff.).<br />
Neben den angeführten Bedingungen und Sch wierigkeiten, die dazu <strong>bei</strong>tragen,<br />
daß Frauen eher kleinere und weniger kapitalintensive Unternehmen mit<br />
geringem Umsatzpotential gründen, wirken sich auch subjektive Barrieren <strong>bei</strong> m<br />
Start in die Selbständigkeit von Frauen aus. Zu nennen wäre hier das besondere<br />
. Verhältnis von Frauen zu Gel d. Zwar ist der Forschungsstand hierzu äußerst<br />
dürftig, doch gibt es Hinweise, daß Frauen durch ihre Sozialisation eine "besondere"<br />
Beziehung zu Geld erwerben. So ist es Frauen wichtig, daß die Ar<strong>bei</strong>t<br />
Spaß macht, für die sie auch noch Gel d be kommen, während Männer primär<br />
Wert auf den Aspekt des "Geld machens" legen. Frauen fällt es zudem im allgemeinen<br />
schwerer, Geldforderungen zu vertreten, einzuklagen oder über Gel d<br />
zu verhandeln; sie nehmen in Geldfragen eher eine Verzichthaltung ein (vgl.<br />
Königswieser 1987). Einen Kredit aufzunehmen und Schulden zu machen, verlangt<br />
von Frauen somit eine Umorientierung der traditionellen Frauenrolle und<br />
. ei ne neue Einstell ung zu Geld, dies sowohl hinsichtlich der betrieblichen Inve-
- 67 -<br />
stitionen als auch der Einschätzung der eigenen Ar<strong>bei</strong>t. Daß dieser Proezß ein<br />
vielfältiges Konfliktpotential offenlegen kann, verdeutlichen die Erfahrungen<br />
des Projekts "Frauenbetriebe":<br />
"Was sich theoretisch recht einfach als Folge des ökonomischen und<br />
kulturellen Ausschlusses der Frau aus dem Erwerbsleben benennen<br />
läßt, erweist sich in der praktischen Ar<strong>bei</strong>t an den Betriebsideen von<br />
Frauen als Aufeinanderprallen brisanter Widersprüche, für die es keine<br />
Patentlösung gibt. So etwa die Unvereinbarkeit des kulturellen<br />
Frauenbilds mit der Frage "was bringt das ein"? Die "gute" Frau ist<br />
ja gerade eben jene, die sich diese Frage nicht stellt; die ihre Ar<strong>bei</strong>t<br />
nicht nach ökonomischen Prämissen bewertet. Diesen ökonomischen<br />
Prämissen müssen sich selbständige Frauen aber auf Gedeih und Verderb<br />
stellen. Das gebrochene Verhältnis zum Geld-Kriegen und Geld<br />
Fordern können wir als besondere Schwierigkeit für die Gründung<br />
von Frauenbetrieben ausmachen; wir können aber auch erwarten, daß<br />
Frauen sich den ökonomischen Prämissen nicht fraglos unterordnen"<br />
(H aas 1985, S. 111 f.).<br />
Beim Schritt in die Selbständigkeit ergeben sich für Frauen somit spezifische<br />
Schwierigkeiten und besondere Probleme, die insbesondere daraus resultieren,<br />
daß als Leitbild der "männliche Unternehmer" fungiert und Frauen, daran<br />
gemessen, "Defizite" aufweisen. Sich selbständig zu machen, bedeutet für Frauen<br />
aber auch der Beginn eines neuen, ungewöhnlichen Weges, der in traditionellen<br />
weiblichen Lebensentwürfen nicht vorkommt, auf den sie nicht vorbereitet<br />
werden und für den es bisher kaum Orientierungshilfen gibt. Noch schwieriger<br />
gestaltet sich allerdings der Start in die Selbständigkeit für ausländische<br />
Frauen, die aufgrund von rechtlichen Beschränkungen, Informationsdefiziten<br />
und Problemen, die aus ihrem Status als "Ausländerin" resultieren, auf zusätzliche<br />
Barrieren stoßen. Daß sie zunehmend versuchen, über selbständige Tätigkeit<br />
in Marktnischen - wie am Beispiel der Flickschneiderei dargestellt - eine<br />
Erwerbsperspektive aufzubauen, bleibt in der Diskussion über weibliche Existenzgründungen<br />
hier ausgeblendet (ausführlich hierzu der Beitrag von Morokvasic<br />
in diesem Band).<br />
Im Hinblick darauf, daß angesichts der schlechten Ar<strong>bei</strong>tsmarktsituation<br />
immer mehr Frauen die Selbständigkeit als Möglichkeit zur materiellen Existenzsicherung<br />
betrachten (müssen), sind spezielle Beratungsangebote, Fördermaßnahmen<br />
sowie Bildungs- und Weiterbildungsprogramme erforderlich, die die<br />
besondere Situation deutscher wie ausländischer Frauen berücksichtigen und<br />
Gründungsvorhaben von Frauen unterstützend begleiten. Damit die Armut nicht<br />
noch "weiblicher" wird und damit Frauen auch nicht in die Zumutung der Alternative<br />
"one man away from poverty" gedrängt werden, muß der Schritt in die
- 68 -<br />
Sel bständigkeit auch für Frauen kalkulierbar werden (ausführlich hierzu der<br />
Beitrag von Haas in diesem Band).<br />
ANMERKUNG<br />
I<br />
In die gleiche Richtung verweisen auch die Entwicklungslinien und der Erfahrungsbericht<br />
des schon 1974 gegründeten Frauenoffensive Verlags (vgl .<br />
hierzu BBJ Consult 7/86, S. 5 ff.).<br />
LITERATUR<br />
Assig, D./Gather, C./Hübner, S.: Voraussetz ungen, Sch wierigkeiten und Barrieren<br />
<strong>bei</strong> Existenzgründungen von Frauen. Berlin 1985<br />
Dies.: Bruch mit der traditionellen Frauenrolle - Bericht über Existenzgründeri<br />
nnen in Berlin. In: Frauenforschung. Informationsdienst des Forschungsinsti<br />
tuts Frau und Gesellschaft (1986) 3, S. 34-45<br />
Blossfeld, Hans-Peter: Bildungsexpansion und Berufschancen. Empirische Analyse<br />
zur Lage der Berufsanfänger in der Bundesrepublik. Frankfurt/New<br />
York 1985<br />
Cramon-Daibler, B./Heinisch, H./Kavemann, B.: Geld pflastert unseren Weg •••<br />
Drei Jahre Goldrausch-Frauennetzwerk Berlin e.V. In: Beiträge zur feministischen<br />
Theorie und Praxis (1985) 15/16, S. 143-146<br />
Engelen-Kefer, Ursula: Die restriktive Personalpolitik wirkt sich auf die Chancen<br />
aus. Über Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit von Akademikern und die Perspektiven auf<br />
dem Stellenmarkt - vor allem für Frauen. In: Frankfurter Rundschau v.<br />
27 .5.1986, S. 14<br />
Frauenar<strong>bei</strong>tsproj ekte. In: BBJ Consult Info (1986) 7<br />
Gertner, S./Rieken, I.: Sel bsthilfe in der autonomen Frauenbewegung. In: Frauenforschung.<br />
Informationsdienst des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft<br />
(1984) 3, S. 82-90<br />
'<br />
Haas , Lu: Frauenbetriebe zwischen zwei Stühlen. In: Beiträge zur feministischen<br />
Theorie und Praxis (1985) 15/16, S. 111-124<br />
Königswieser, Roswitha: Über die falsche Bescheidenheit von Frauen im Umgang<br />
mit Geld. Thesen zu einem Tabu-Thema. In: Frankfurter Rundschau<br />
v. 9.5.1987<br />
Kreutz, H./Fröhlich, G./Maly, 0.: Alternative Projekte: Alternativen zur Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit?<br />
In: MittAB (1984) 2, S. 267-273<br />
Projekt Frau und Ar<strong>bei</strong>t: Frauen schaffen sich ihre Ar<strong>bei</strong>tsplätze. Dokumentation<br />
der Ar<strong>bei</strong>tstagung. In: BBJ Consult Info (1986) 8<br />
Schiller, Rüdiger: Existenzgründungen. Fördermaßnahmen und Ergebnisse. Beiträge<br />
zur Wirtschafts- und Sozialpolitik Bd. 140. Köln 1986<br />
Sta tistisches Bundesamt (H rsg.): Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik<br />
Deutschland. Stuttgart/Mainz 1983 und 1986<br />
Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Stand und<br />
Entwicklung der Erwerbstätigkeit (= Fachserie 1; Reihe 4.1 .0. Stuttgart/Mainz<br />
1984<br />
Vonderach, Gerd: Die "neuen Selbständigen". 10 Thesen zur Soziologie eines<br />
unvermuteten Phänomens. In: MittAB (1980) 2, S. 153-169
- 69 -<br />
Wloch, E./Ambos, I. : Erschließung neuer beruflicher Ar<strong>bei</strong>tsfelder und Tätigkeiten<br />
für Frauen - Frauen als Selbständige. In: Frauenforschung. Informationsdienst<br />
des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft (1986) 3, S. 1-33
- 70 -<br />
Christa Nesemann<br />
ZUR STAATLICHEN SUBVENTIONIERUNG VON FRAUENPROJEKTEN:<br />
ENTSTEHUNGSZUSAMMENH}\NGE PREK}\RER ARBEITSPL}\TZE<br />
1. "Neue Selbständige" .im Bereich der sozialen Versorgung<br />
Mit dem Begriff der "Neuen Selbständigen" werden in der Regel nur solche<br />
Projekte und Betriebe erfaß t, deren vorrangiges Ziel die Schaffung neuer Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
und damit die eigenständige Existenzsicherung ist. Diese Initiativen<br />
sind in den letzten Jahren vor allem in den Bereichen Handwerk und Gewerbe,<br />
Handel und Transport und in dem Sektor der neuen Dienstleistungen entstanden.<br />
Der weitaus größte Teil der Frauenprojekte und Frauenselbsthilfeinitiativen ist<br />
hingegen dem Gebiet der gesundheitlichen und psycho-sozialen Versorgung zuzuordnen<br />
und übernimmt damit eher sozialstaatliche Funktionen. Dadurch bieten<br />
diese Proj ekte keine Perspektive der eigenständigen Existenzsicherung, sondern<br />
sind stattdessen auf eine dauerhafte staatliche Förderung angewiesen. In Ber<br />
!in existiert seit 1983 ein Förderprogramm, das unter dem Titel "Förderung von<br />
Sel bsthilfegruppen" bundesweit als "Berliner Modell" bekannt wurde.<br />
In dem folgenden Beitrag soll anhand der Darstellung dieses Modells auf<br />
die Probleme der staatlichen Förderung von Proj ekten, insbesondere im Hinblick<br />
auf die Finanzierung von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen hingewiesen werden.<br />
Zunächst gilt es jedoch, den besonderen Charakter der sogenannten "sozialen"<br />
Frauenprojekte und -initiativen deutlich zu machen.<br />
2. Welche Ar<strong>bei</strong>t wird in den Frauenprojekten geleistet?<br />
Allen Projekten gemeinsam ist ihr frauenspezifischer Ansatz, der sich aus der<br />
faktischen gesellschaftlichen Diskriminierung der Frau herleitet. Die Frauenprojekte<br />
greifen gesellschaftliche Mißstände auf und bieten gleichzeitig praktische<br />
Hilfsmöglichkeiten und Beratungsangebote. Sie sind "sozial innovativ", indem sie<br />
sowohl auf Defizite der sozialstaatlichen Versorgung reagieren, als auch an<br />
Problembereichen ansetzen, die gesellschaftlich noch überhaupt nicht als solche<br />
erkannt sind.
- 71 -<br />
Ein Beispiel hierfür sind die Frauenhäuser, durch deren Ar<strong>bei</strong>t es erst in<br />
den letzten Jahren allmählich gelungen ist, das Thema der Gewalt in der Ehe<br />
öffentlich zu diskutieren. Ein anderes Beispiel ist die Berliner Gruppe "Wildwasser",<br />
die das Problem des sex uellen Mißbrauchs von Mädchen aufgegriffen<br />
und in die öffentliche Diskussion eingebracht hat. Andere Frauenprojekte existieren<br />
in den Bereichen der gesundheitlichen Vor- und Nachsorge, in der psycho-sozialen<br />
Versorgung, in der Betreuung von ausländischen Mädchen und<br />
Frauen, in der Beratung von Frauen in der Lebensmitte oder im Alter und in<br />
der Auseinandersetzung mit der Prostitution. Daneben gibt es zahlreiche Medien-,<br />
Kultur-, Bildungs- und politische Initiativen von Frauen für Frauen.<br />
Insgesamt haben sich Frauenproj ekte also immer dort gegründet, wo die<br />
besondere Lebenssituation der Frau konkrete Hilfen und weitreichende Veränderungen<br />
notwendig werden ließen.<br />
3. Motivation und Ausbildung der Mitar<strong>bei</strong>terinnen in Frauenprojekten<br />
Der Entstehungszusammenhang von Frauenproj ekten ist ein wichtiger Aspekt<br />
für die Diskussion um die Bezahlung der in diesen Proj ekten geleisteten Ar<strong>bei</strong>t.<br />
Da die Gründungsmotive der Frauenprojekte aus einem besonderen frauenpolitisehen<br />
Engagement resultierten, war die Frage nach der Finanzierung dieser<br />
Ar<strong>bei</strong>t und damit nach der Absicherung der Mitar<strong>bei</strong>terinnen zunächst auch<br />
nachrangig.<br />
Dies hat sich jedoch in den letzten Jahren erheblich verändert. So fordern<br />
z. B. die im Berliner "Ar<strong>bei</strong>tskreis Staatsknete" zusammengeschlossenen Projekte<br />
seit 1981 die Anerkennung und Finanzierung der in den Projekten vorhandenen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplätze. Dieser Forderung liegt die Erfahrung zugrunde, daß die jahrelange<br />
Projektar<strong>bei</strong>t nicht mehr unbezahlt und neben<strong>bei</strong> geleistet werden kann.<br />
Zudem haben sich die Frauen in den Projekten neue Ar<strong>bei</strong>ts- und Berufsfelder<br />
geschaffen und damit besondere Qualifikationen erworben, die sie weder über<br />
den traditionellen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt noch über das traditionelle Bildungssystem in<br />
dieser Weise hätten erlernen können.<br />
Es muß allerdings auch gesehen werden, daß die zunehmende Verschärfung<br />
auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt, die Frauen immer mehr ausgrenzt, besonders hochqualifizierte<br />
Frauen motiviert, in einem Frauenprojekt mitzuar<strong>bei</strong>ten. Mittlerweile<br />
gibt es in vielen Projekten einen ausgesprochenen "Akademikerinnen-Überhang".
- 72 -<br />
Bei einer im Jahre 1985 vom "Frauenplenum" des AK Staatsknete durchgeführten<br />
Fragebo genaktion zur Qualifikationsstruktur in den Projekten wurde dies<br />
eindeutig bestätigt. Von den 11 befragten Projekten bezeichnete sich nur eines<br />
als reines "Laienprojekt". In den restlichen 10 Projekten wiesen die Qualifikationen<br />
der Mitar<strong>bei</strong>terinnen die ganze Palette hochqualifizierter Berufe aus.<br />
Ein besonderes Ubergewicht bildeten hier wiederum die Geistes- und Sozialwissenschaftierinnen<br />
sowie die Sozialpädagoginnen. (Die Anzahl verteilt sich wie<br />
folgt: Erzieherinnen (5), Dipl.-Soziologinnen (4), Dipl.-Pädagoginnen (2), Sozialar<strong>bei</strong>terinnen<br />
(4), Dipl.-Psychologinnen (12), Arztinnen (4), Sozial-Pädagoginnen<br />
(7). Mit jeweils einer Nennung folgten: Lehrerin, Kommunikationswissenschaftlerin,<br />
Bürokauffrau, Stadtplanerin, Dipl.-Politologin, Pharmatechnische Assistentin<br />
und Dipl.-Biologin.)<br />
4. Projektspezifische Weiterqualifikation und Entwicklung neuer Berufsfelder<br />
Die formalen Berufsabschlüsse und Qualifikationen bilden jedoch in den meisten<br />
Projekten nicht die Voraussetzung für eine Mitar<strong>bei</strong>t. (Abgesehen von einigen<br />
Projekten, deren Leistungen über das Bundessozialhilfegesetz oder über die<br />
Krankenkassen abgerechnet werden, z.B. Therapieprojekte.) Vielmehr werden<br />
von allen Mitar<strong>bei</strong>terinnen ein frauenpolitisches Engagement und der Einsatz<br />
für eine emanzipatorische frauenspezifische Ar<strong>bei</strong>t erwartet. Da diese Motivation<br />
mit einem hohen Qualifikationsniveau in den Proj ekten einhergeht, ergeben<br />
sich aus dieser Konstellation die vielfältigsten Weiterbildungs- und Aneignungsmöglichkeiten.<br />
So finden Frauen über die Projekte auch einen Zugang zum Erlernen<br />
von sowohl fachspezifischen als auch projektspezifischen Kenntnissen. In<br />
allen Proj ekten gibt es neben der "eigentlichen" Ar<strong>bei</strong>t (z.B. Beratung) immer<br />
auch folgende Bereiche: Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t, Geschäftsführung, Haushaltsplanung<br />
und Buchhaltung, Korrespondenz, Kooperation mit anderen Proj ekten und<br />
öffentlichen Einrichtungen, Forschung und Dokumentation, Konzeptualisierung<br />
und Koordination der Projektar<strong>bei</strong>t, aber auch Renovierung und Putzar<strong>bei</strong>ten.<br />
Da in allen diesen Projekten nach dem Konsensprinzip und ohne formale Hierarchie<br />
gear<strong>bei</strong>tet wird, sind die Mitar<strong>bei</strong>terinnen oft Managerin, Beraterin und<br />
Putzfrau in einer Person.<br />
Die Projekte bieten somit neben ihrer jeweiligen konkreten inhaltlichen<br />
Ar<strong>bei</strong>t ein breites Spektrum auch zukünftiger Bildungs- und Weiterbildungsan-
- 73 -<br />
gebote. Vor diesem Hintergrund können die Projekte nicht länger als einfache<br />
"Laienhelfergruppen" bezeichnet werden, vielmehr entwickelt sich in ihnen eine<br />
neue Quali tät professioneller Ar<strong>bei</strong>t. Der Stellenwert dieser unterschiedlichen<br />
Bewertung vo n Ar<strong>bei</strong>t und Qualifikation in den Proj ekten wird im follgenden<br />
an hand der Darstellung des "Berliner Modells" verdeutlicht.<br />
5. Das Berliner Modell zur Förderung von Selbsthilfegruppen<br />
Entstehung des Programms<br />
Noch bevor dieses Programm 1983 durch den CDU-Sozialsenator eingerichtet<br />
wurde, hatten sich seit 1980 ein Teil der Berliner Frauenprojekte mit den Alternativprojekten<br />
im "Ar<strong>bei</strong>tskreis zur Förderung autonomer Frauenprojekte,<br />
Alternativprojekte und Bürgerinitiativen e.V." (AK Staatsknete) zusammengesc<br />
hlossen. Der Konsens des Zusammenschlusses bestand in der gemeinsamen<br />
Forderung nach finanzieller Absicherung und Anerkennung der in den Projekten<br />
vorhandenen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen. Bereits 1982 konnte der AK Staats knete einen<br />
Sammelantrag von über 140 \rojekten der Frauen- und Alternativbewegung vorlegen.<br />
Die finanziellen Forderungen beliefen sich auf 52 Mill. DM, die in einem<br />
So nderfonds dem AK zur Selbstvergabe überstellt werden sollten.<br />
Die Frauenprojekte hatten sich zu diesem Zweck in allen Gremien des<br />
Ar<strong>bei</strong>tskreises ihren paritätischen Anteil gesichert, und das Frauenplenum wurde<br />
zu einem autonomen Entscheidungsorgan innerhalb dieser Organisation. Daneben<br />
wurde ein eigenständiger Beirat, bestehend aus 7 Frauenprojekten, eingerichtet,<br />
der für die Vergabe der Gelder für Frauenprojekte vorgesehen war.<br />
Die Forderung nach Selbstvergabe der Gelder wurde jedoch von staatlicher<br />
Seite abgelehnt. Schließlich blieben von den einst vom Sozialsenator angekü<br />
ndigten 38 Mill. für Projekte nur noch 7,5 Mill. übrig. Gleichzeitig änderte<br />
si ch auch der Titel des Programms; sollten ursprünglich tatsächlich Frauen- und<br />
Alternativprojekte gefördert werden, so hieß es nun wesentlich moderater<br />
"Förderung von Sel bsthilfegruppen". Da der Titel <strong>bei</strong>m Senator für Gesundheit<br />
und Soziales eingerichtet wurde, fielen bereits im Vorfeld all jene Projekte<br />
heraus, die nicht in dieses Ressort paßten: Bildungs-, Kultur-, Umweltprojekte<br />
sowie politische Initiativen und Bürgerinitiativen.
- 74 -<br />
"Hilfe zur Selbsthilfe" als entscheidendes Kriterium der Vergabe<br />
Eine weitere projektinterne Ausdifferenzierung ergibt sich aus den senatseigenen<br />
Förderkriterien. Danach sollen nur diejenigen Aktivitäten innerhalb eines<br />
Projekts gefördert werden, die der "reinen" Selbsthilfe entsprechen. Nach diesem<br />
Selbsthilfeverständnis sollen sich von einem Problem betroffene Menschen<br />
zusammensetzen und sich gegenseitig selber helfen. Alle darüber hinausgehenden<br />
Ar<strong>bei</strong>ten wie z.B. Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t, Beratung oder Dokumentation werden<br />
nicht finanziert, also alle Tätigkeiten, die ein gewisses Maß an "Professionalität"<br />
erfordern. Dagegen soll "Laienhilfe" mit unbezahltem Engagement geleistet<br />
werden, wo<strong>bei</strong> die Aktivierung ehrenamtlicher Ar<strong>bei</strong>t ein ausdrückliches<br />
Ziel dieses Programms ist.<br />
Die Mittelvergabe<br />
Innerhalb des zuständigen Ressorts ist eine eigenständige Verwaltungsgruppe<br />
mit der Abwicklung des Antragsverfahrens betraut. Die Anträge müssen schriftlich<br />
eingereicht werden; danach werden Gespräche mit den Gruppen geführt<br />
und Stellungnahmen anderer öffentlicher Dienststellen eingeholt. Mit einer Förderempfehlung<br />
der Verwaltung geht der Antrag dann zur Abstimmung in den<br />
"Selbsthilfe<strong>bei</strong>rat", der sich aus sieben Personen des öffentlichen Lebens zusammensetzt<br />
(darunter eine Frau!). Der Beirat tagt einmal im Monat und muß<br />
da nn bis zu 20 Anträge beraten. Nach dem Votum des Beirats dauert es noch<br />
einmal vier bis sechs Wochen, bis die Proj ekte einen schriftlichen Bewilligungsbescheid<br />
erhalten. Die endgültige Auszahlung der Gelder kann noch einmal so<br />
lange dauern.<br />
Insgesamt ist das Antragsverfahren also recht zeitaufwendig und bürokratisch.<br />
Hinzu kommt, daß die Förderung erst ab Datum der jeweiligen Beiratssitzung<br />
erfolgt. Kommt ein Projektantrag aufgrund des langwierigen Vorlaufs z.B.<br />
erst im September in den Beirat, so erfolgen die Zahlungen nicht rückwirkend,<br />
sondern lediglich für die letzten Monate des laufenden Jahres.<br />
Die Finanzierungsart<br />
Die gesamte Selbsthilfeförderung versteht sich als "Anschubfinanzierung" mit<br />
einer Laufzeit von höchstens drei Jahren pro Projekt. Laut eigenem Verständnis<br />
des Senats soll damit den Gruppen eine Initialzündung und Starterleichterung<br />
ermöglicht werden; danach sollen sie sich finanziell selber tragen. Hierzu<br />
wird den Projekten eine jährliche Eigenbeteiligung für Bewirtschaftungskosten
- 75 -<br />
auferlegt, mit dem Ziel, eine sukzessive Entwöhnung von der staatlichen Förderung<br />
einzuleiten.<br />
Die Förderung beruht auf der sogenannten "Fehlbedarfsfinanzierung", d.h.,<br />
es werden nur die Kosten zur Durchführung der jeweiligen Selbsthilfemaßnahmen<br />
übernommen und das Projekt darf hierfür keinerlei sonstige Einnahmen<br />
erzielen. Dies führt in den meisten Fällen zu völlig abstrusen Konstruktionen<br />
innerhalb der Proj ekte, so daß z.B. in einer Ladenwohnung mit drei Zimmern, in<br />
der auch ein Beratungs- und Informationsangebot gestellt wird, nur ein Zimmer<br />
finanziert wird, in dem die "reine" Sel bsthilfe stattfindet.<br />
Im Rahmen der Anschubfinanzierung findet die Mittelbewilligung jeweils<br />
jährlich erneut statt, da für die Projekte keine Rechtsansprüche auf eine Anschl<br />
uß- oder Weiterförderung existieren.<br />
PersonaJmittel aus dem Selbsthilfeprogramm<br />
Zunächst war es ausdrückliches Ziel des Programms, nur Sachmittel zu finanzi<br />
eren, denn die Ar<strong>bei</strong>t sollte schließlich weiterhin unbezahlt geleistet werden.<br />
Dem haben die im AK Staats knete zusammengeschlossenen Projekte ihre hartnäckigen<br />
Personalmittelforderungen entgegengesetzt. Der Senat kam diesen<br />
Forderungen schließlich insoweit nach, als er die Anleitung zur Selbsthilfe mit<br />
einer sogenannten "Kostenpauschale" entschädigt. Die Pauschale beträgt zur<br />
Zeit 3040,- DM Ar<strong>bei</strong>tgeberbrutto, d.h. inklusive aller Abgaben.<br />
Mit der Pauschale, so der Senat, sei dem Verlangen der Projekte nach<br />
Einheitslohn entsprochen worden. Tatsächlich haben die Proj ekte ihre Personalkosten<br />
aber immer nach den Qualifikationen ihrer Mitar<strong>bei</strong>ter/innen entsprechend<br />
BAT beantragt, so daß das Verhältnis von beantragten Personalmitteln<br />
zu den bewilligten diesen Bedarf drastisch dokumentieren.<br />
Im Jahr 1983 beliefen sich die Personalforderungen der Proj ekte auf 18,7<br />
Mill. DM, bewilligt wurden hingegen nur 1,6 Mill. DM. Aus dieser Gesamtsumme<br />
lassen sich für 1983 ca . 50 finanzierte Stellen errechnen, 1984 kamen 10 weitere<br />
hinzu, und 1984 waren es insgesamt ca. 80 Ar<strong>bei</strong>tsplätze. Für den Berliner<br />
Sozialsena tor stellt die Anzahl der aus seinem Programm finanzierten Stellen<br />
jedoch lediglich einen Nebeneffekt dar. Diese Grundhai tung findet da nn auch<br />
ihren Niederschlag in der Finanzierung und den damit gesetzten Bedi ngungen<br />
für die Ar<strong>bei</strong>tsvertragsgestaltung der Proj ektmitar<strong>bei</strong>ter/innen.<br />
Grundsätzlich werden Personal mittel nur als Kostenpauschale gewährt, in<br />
der Regel werden diese sogar noch halbiert, so daß den Proj ekten je nach Grö-
- 76 -<br />
ße der Gruppe und Umfang der Ar<strong>bei</strong>t nur eine halbe bis eine ganze Pauschale<br />
bewilligt wird. Bei einer halben Kostenpauschale aus dem Jahr 1983 hieß das<br />
ein monatliches Ar<strong>bei</strong>tgeberbrutto von 1490,- DM, von dem nach Abzug aller<br />
Abgaben ein Nettogehalt von ca. 980,- DM übrigblieb. Hier<strong>bei</strong> handelt es sich<br />
tatsächlich um einen Einheitslohn, denn nicht berücksichtigt sind: Alter, Kinder<br />
zahl und Familienstand, Ausbildung und Berufserfahrung sowie Urlaubsgeld<br />
und Weihnachtsgeld bzw. 13. Monatsgehalt. Durch das Fehlen eines Rechtsanspruchs<br />
auf Förderung werden die Projekte als Anstellungsträger gezwungen,<br />
stets nur befristete Ar<strong>bei</strong>tsverträge abzuschließen.<br />
Des weiteren werden die Projekte verpflichtet, keine Dequalifizierung<br />
nach unten zu betreiben, d.h. die Mitar<strong>bei</strong>terinnen müssen eine Mindestqualifikation<br />
entsprechend BA T V nachweisen. Da in den Proj ekten jedoch in den meisten<br />
Fällen weitaus höhere Qualifikationen vorhanden sind, wird die Kostenpauschale<br />
in der Argumentation des Senats als "Zuschuß" umdefiniert und die höheren<br />
Personalkosten den Projekten selbst aufgelastet. Daß diese Kosten von<br />
keinem der Projekte aufgebracht werden kann, liegt auf der Hand.<br />
Gerade der Überhang der hochqualifizierten Mitar<strong>bei</strong>terinnen hat den Senat<br />
veranlaßt, in zynischer Weise einigen Projekten einen bloßen "Ar<strong>bei</strong>tsbeschaffungscharakter<br />
für ar<strong>bei</strong>tslose Akademikerinnen" zu unterstellen, ohne auf<br />
di e jeweiligen Inhalte des Projekts einzugehen. Gleichwohl sollen die Projekte<br />
ein neues Verständnis von Ar<strong>bei</strong>t praktizieren, das nicht auf Erwerbstätigkeit<br />
verkürzt ist. Darin liegt schließlich die Crux der gesamten Auseinandersetzung<br />
zwischen den Frauen- und Alternativprojekten und dem CDU-Senat: der Forderung<br />
nach Schaffung und Bezahlung von sinnvollen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen steht das<br />
konservati ve Ansinnen der Aktivierung unbezahlter, sogenannter "ehrenamtlich<br />
er" Ar<strong>bei</strong>t unerbittlich gegenüber.<br />
Zum aktuellen Stand der Selbsth.ilfeförderung<br />
Nach Ablauf der 3-Jahres-Frist (1986) wurden für die Weiterförderung einiger<br />
Projekte weitere 2,5 Mill. DM bereitgestellt. Für die Frauenproj ekte bedeutete<br />
die Übernahme in die sogenannte "Weiterförderung" eine weitere Verschlechterung<br />
ihrer ohnehin schon miserablen finanziellen Situation. So wurden von den<br />
2,5 Mill. ganze 400.000,- DM für 9 Frauenproj ekte ausgegeben und damit statt<br />
bisher 11 nur noch 5 1/2 Stellen bewilligt. Mit dieser Förderung sind die Frauenprojekte<br />
tatsächlich in ihrer Existenz bedroht. Auch für das Jahr 1987 konnte<br />
keine Verbesserung für die Projekte erreicht werden; gleichzeitig wird zum
- 77 -<br />
Ende des Jahres die Förderung ganz auslaufen. Wie es dann weitergeht, weiß<br />
bis jetzt noch niemand zu sagen.<br />
Hier zeigt sich, daß die Konzeption der Selbsthilfeförderung als "Anschubfinanzierung"<br />
völlig daneben greift. Gerade die Frauenprojekte haben vielmehr<br />
jahrelange unbezahlte Vorleistungen erbracht. Die Ar<strong>bei</strong>t der Proj ekte ist auf<br />
Kontinuität hin ausgerichtet. Der Senat erwartet diese Kontinuität und hat sie<br />
zum ausdrücklichen Kriterium der Förderung gemacht. Andererseits läuft die<br />
Vergabepraxis, die sich jährlich wiederholende Antragstell ung sowie die damit<br />
verbundene Unsicherheit für die Projektmitar<strong>bei</strong>terinnen, der erwarteten Kontinuität<br />
und Verbindlichkeit zuwider. Langfristiges Planen ist für die Mitar<strong>bei</strong>teri<br />
nnen auf dieser Grundlage unmöglich.<br />
Darüber hinaus wird durch die Begrenzung der Anlauffinanzierung der<br />
generelle Dienstleistungscharakter im Gesundheits- und Sozialbereich geleugnet.<br />
Da in diesen Bereichen keine Gewinne zu erwirtschaften sind, werden sich<br />
auch die Projekte ebensowenig wie die traditionellen Organisationen selber tragen<br />
können.<br />
Während in anderen Bundesländern und Städten die Frauenproj ekte auch<br />
<strong>bei</strong> Vorhandensein eines "Staatsknetetopfes" die Möglichkeit haben, in den festen<br />
Haushalt zu gelangen, ist dies in Berlin derzeit ganz ausgeschlossen. Mit<br />
der Reduktion der Förderkriterien auf die Hilfe zur Selbsthilfe sind die Frauenproj<br />
ekte nunmehr als ehrenamtliche Selbsthilfegruppen stigmatisiert, denen gerade<br />
dadurch die Aufnahme in den regulären Haushalt verweigert wird. Sie<br />
.<br />
müssen sich mit der "Selbsthilfeförderung Stufe II" abfinden, die wiederum Ende<br />
1987 ausläuft. Ob nach der "Anschub-" und "Stufenförderung" noch eine neue<br />
"Qualität" der Sel bsthilfe konstruiert wird, bleibt abzuwarten.<br />
Eine Anerkennung haben die Frauenproj ekte allerdings in den letzten Jahren<br />
schon erfahren; beansprucht werden sie nämlich nicht nur von einigen weni<br />
gen "Insiderinnen", sondern von Frauen aller Alters- und Sozialschichten.<br />
Damit sind die Frauenprojekte ein sichtbarer Ausdruck einer gewachsenen Bedü<br />
rfnisstruktur und eines Bewußtseinsprozesses der Frauen in dieser Gesellsc<br />
haft.
- 78 -<br />
6. Resümee: Zur Kritik des Selbsthilfebegriffs<br />
Aus dem Vorangegangenen läßt sich festhalten, daß die aus dem Selbsthilfeprogramm<br />
finanzierten Ar<strong>bei</strong>tsplätze allen Merkmalen der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse<br />
entsprechen. Die Ar<strong>bei</strong>tsverträge sind grundsätzlich befristet,<br />
die Nettoverdienste liegen in der Regel noch unter 1000,- DM und entsprechen<br />
keiner tarifgerechten Eingruppierung. Ebenso sind die Sozialversicherungs<strong>bei</strong>träge<br />
auf der untersten Ebene angesiedelt.<br />
HiilZU kommt, daß diese Stellen ausdrücklich für die Mobilisierung ehrenam<br />
tlicher, also unbezahlter Ar<strong>bei</strong>t eingerichtet wurden. Genau darin liegt jedoch<br />
die Brisanz der Selbsthilfeförderung insgesamt. Mit dem Appell des CDU<br />
Senats, die Ar<strong>bei</strong>t nicht mehr nur auf Erwerbstätigkeit zu verkürzen, soll den<br />
Frauen eine Beschäftigungsperspektive eröffnet werden, deren Anerkennung<br />
sich nicht in Lohn oder Gehalt, sondern in guten Worten ausdrückt. Mit der<br />
ideologischen Aufwertung der unbezahlten Ar<strong>bei</strong>t soll somit dem Problem der<br />
wachsenden Frauenerwerbslosigkeit begegnet werden. In diesem ideologischen<br />
Kontext wird die konservative Variante der angeblich neuen Sozialpolitik deutlich:<br />
Aktivierung der Eigenar<strong>bei</strong>t heißt "selber machen", "selbst bestimmen" und<br />
damit schließlich soziale Risiken auch selber verantworten.<br />
In diesem Zusammenhang sind auch die erneut propagierten Anreize zur<br />
Existenzgründung zu sehen, d.h. es geht um, eine weitere Rücknahme des Staates<br />
in allen Fragen der Existenzsicherheit und der sozialen Versorgung. Wer<br />
da nn noch ar<strong>bei</strong>tslos ist, macht sich entweder selbständig oder sucht sich eine<br />
sinnvolle Betätigung als "Ehrenamt". Staatliche Beschäftigungs- und Sozialpolitik<br />
wird so ersetzt durch Eigeninitiative, Risikobereitschaft und Hilfe zur<br />
Selbsthilfe.<br />
In der momentanen Euphorie über den Existenzgründungsboom gerade <strong>bei</strong><br />
den Frauen darf daher nicht übersehen werden, daß in der Perspektive einer zukü<br />
nftigen "Sel bermacher-Gesellschaft" die weitere Ausgrenzung besonders benachteiligter<br />
Bevölkerungsgruppen zwangsläufig mitangelegt ist.
- 79 -<br />
Lu Haas<br />
FRAUENBETRIEBE - EIN WEG IN UNGESCHüTZTE ARBEITSVERHf\L TNISSE<br />
1. Daten zum Trend in die Selbständigkeit<br />
80 .000 bis 100.000 Gewerbeanmeldungen von Frauen werden in der Bundesrepubl<br />
ik zur Zeit jährlich registriert; der GründungsbooiTI der letzten Jahre geht zu<br />
einem wesentlichen Teil auf das Konto der Frauen: Stellen sie insgesamt ein<br />
gutes Viertel aller Selbständigen, so sind sie <strong>bei</strong> den Neuanmeldungen bereits<br />
mit einem Drittel vertreten. 1984 gab es noch mehr weibliche mithelfende Familienangehörige<br />
(754.000) als Selbständige (564.000). Es kann davon ausgegangen<br />
werden, daß sich dieses Verhältnis langfristig zugunsten der selbständigen<br />
Frauen verändert. Die Gründe für den Trend zur Sel bständigkeit dürften in erster<br />
Linie <strong>bei</strong> dem quantitativ wie qualitativ unzureichenden Ar<strong>bei</strong>tsplatzangebot<br />
für Frauen zu suchen sein.<br />
Bei den Gewerbeneuanmeldungen findet sich ein großes Spektrum an Formen<br />
und Inhalten sel bständiger Ar<strong>bei</strong>t: Das reicht von den Ein-Frau-Schreibbüro-Heimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
über Bereiche traditioneller weiblicher Selbständigkeit -<br />
wie z.B. Friseurinnen, Krankengymnastinnen, Hebammen - zu den neuartigen<br />
Beschäftigungsinitiativen erwerbsloser Frauen und schließlich den Projekten,<br />
deren frauenpolitische Zielsetzung die Selbständigkeit zwingend mit sich bringt,<br />
wie Frauenbuchläden, -Verlage, -Cafes. Selbständige Frauen finden sich konzentriert<br />
im Dienstleistungsbereich und hier wiederum vor allem in der Kategorie<br />
der Ein-Personen- und Kleinbetriebe.<br />
Die Aussichten für die Neugründungen sind mit dem Gründungsboom eher<br />
schlechter geworden. Die Anteile von Betriebsschließungen und Gewerbeanmeldu<br />
ngen in den ersten vier Jahren bewegen sich in dem Spektrum von 30-50%.<br />
Durch Beratung und Bildungsmaßnahmen kann die Gefahr des Scheiterns auf<br />
14% gesenkt werden. Kommen zur Beratung günstige Kredite (ERP und Eigenkapitalhilfe)<br />
und berufliche Fachkenntnisse hinzu, wird die angestrebte Existenzsicherung<br />
fast immer erreicht (nur noch 2% müssen innerhalb von 4 Jahren<br />
aufgeben).
- 80 -<br />
2. Das Projekt "Frauenbetriebe"<br />
Um die Chancen langzeitar<strong>bei</strong>tsloser Frauen <strong>bei</strong> ihren Betriebsgründungen zu<br />
verbessern, wurde 1984 das Proj ekt Frauenbetriebe gegründet. Wir haben ein<br />
Kursprogramm entwickelt, mit dem Frauen sich aneignen, was sie für die berufliche<br />
Selbständigkeit brauchen: Fachkenntnisse und Informationen, Verhandlungsstrategien,<br />
realisierbare Betriebskonzepte und Handl ungswissen in verschiedenen<br />
Bereichen selbständiger Tätigkeit. Zielgruppe der 1 l/2jährigen<br />
Halbtagsausbildung sind besonders benachteiligte Gruppen unter den erwerbslose<br />
n Frauen: Mütter (2/3 der Teilnehmerinnen), die aus dem Beruf ausgeschieden<br />
si nd, Frauen aus Rationalisierungsbereichen und Akademikerinnen ohne Berufserfahrung.<br />
Im Durchschnitt entscheidet sich etwa die Hälfte der Teilnehmerinnen<br />
für die Selbständigkeit; die andere Hälfte findet Ar<strong>bei</strong>tsplätze in abhängiger<br />
Beschäftigung.<br />
Da wir mit Anfragen überrollt werden, die Einzelinformationen und Hilfe<br />
<strong>bei</strong> ihren Betriebskonzepten brauchen, haben wir ein Beratungsbüro gegründet.<br />
Für diese Beratungsar<strong>bei</strong>t haben wir ein Konzept erar<strong>bei</strong>tet, das die Grundlage<br />
. einer 6monatigen Weiterbildung f9r Entwicklungsberaterinnen . bildet (EDV-Betriebsplanung<br />
und Spezialwissen).<br />
Aus unserem ersten Kurs ist das Großproj ekt "Markthalle" entstanden, das<br />
mehrere Betriebe unter einem Dach vereinen wird; aus Bundesmitteln werden<br />
die Miete in der Anfangszeit bezuschußt und die Werkstatteinrichtung finanzi<br />
ert. Im Rahmen der Markthalle führen wir auch das Proj ekt "Recycling-Design"<br />
durch, in dem Frauen mit Hilfe von gewerblich-technischen Kursen ihre<br />
Design-Ideen realisieren (Schwerpunkt Schrott und Halogen). Die verschiedenen<br />
Facetten unserer Projektar<strong>bei</strong>t werden mit Hilfe regel mäßiger Begleitforschung<br />
kontrolliert.<br />
In unserer Ar<strong>bei</strong>t werden wir immer wieder mit Widersprüchen konfrontiert:<br />
wir sehen die Probleme, aber auch die qualitativ eigenständigen Konzeptionen,<br />
die Angste und die Fähigkeiten der Betriebsgründerinnen aus nächster<br />
Nähe. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen lassen sich hinsichtlich der Qualifikation<br />
der Gründerinnen und der Qualität der Ar<strong>bei</strong>t eher Diskussionsthesen<br />
als summarische Urteile formulieren. Vorweg jedoch noch eine kleine Bemerkung<br />
zur Seilschaft: mit unserem Projekt Frauenbetriebe gehören wir nicht zu<br />
den 'Neuen Selbständigen'. Mit dem Begriff der Neuen Selbständigen werden<br />
jene Gruppen charakterisiert, die weder dem traditionellen Rekrutierungsfeld
- 81 -<br />
für Betriebsgründungen zuzurechnen sind noch mit ihren Initiativen ideelle oder<br />
politische Zielsetzungen - wie die Alternativbetriebe - verbinden. Es gibt für<br />
uns keinerlei Veranlassung, in eine dieser Schubladen zu springen. Im Gegenteil:<br />
Eine adäquate Förderung von erwerbslosen Frauen können wir nur leisten, wenn<br />
wir die besonderen Probleme und Interessen, die diese Frauen <strong>bei</strong> der Gründung<br />
und Führung eigener Betriebe haben, berücksichtigen. Das gilt auch für die<br />
3. Konzeption von Bildungsprogrammen für Beschäftigungsinitiativen<br />
von Frauen<br />
Wir gehen davon aus, daß Frauen eine gründliche berufliche Qualifikation für<br />
die Selbständigkeit brauchen. Neben dem für Männer wie Frauen gleichermaßen<br />
notwendigen betriebswirtschaftlichen Fachwissen und der Fachpraxis hat es<br />
sich als sinnvoll erwiesen, besondere Kurse durchzuführen, die die Fähigkeiten<br />
und Probleme von Frauen <strong>bei</strong> der Betriebsgründung berücksichtigen.<br />
a) Fähigkeiten:<br />
In den neuen Beschäftigungsinitiativen erwerbsloser Frauen haben viele Gründerinnen<br />
Qualifikationen, die aus dem auf das Erwerbsleben eingegrenzten Qualifikationsbegriff<br />
herausfallen. Die Rede ist von den Kenntnissen, den Fähigkeiten<br />
und Fertigkeiten, die Frauen in der Familienar<strong>bei</strong>t und in einer auf diesen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbereich hinzielenden Sozialisation erwerben: Erfahrungen und Befähigungen<br />
in selbständiger, eigenverantwortlicher Ar<strong>bei</strong>t; die Erstellung kurz- und<br />
la ngfristiger Planungen und Kalkulationen, ar<strong>bei</strong>tsorganisatorische Fähigkeiten;<br />
Preisvergleiche und Preisverhandlungen; kommunikative Kompetenz und Flexibilität.<br />
Diese aus dem Bereich typischer Frauenar<strong>bei</strong>t resultierenden Qualifikationen<br />
können in der beruflichen Selbständigkeit genutzt und ausgebaut werden.<br />
Diese Basis an Qualifikationen, die viele erwerbslose Frauen mitbringen, wird<br />
von den traditionellen Gründungshelfern - Kurzkursen, Verbandsberatungsstellen<br />
und Handbüchern - vollständig ausgeblendet. Statt auf der Basis der vorhandenen<br />
Kenntnisse und Fähigkeiten aufzubauen und Neues zu vermitteln, werden<br />
Frauen häufig als naiv und unfähig angesehen und Vorurteile gegenüber Beschäftigungsinitiativen<br />
aufgebaut:<br />
"Zum Thema der Unternehmereignung hier einmal ein negatives Beispiel.<br />
Ein erfolgreicher Freiberufler kauft seiner im Eheleben aussc<br />
hließlich mit Haushalt beschäftigten und deshalb gelangweilten
- 82 -<br />
Ehefrau eine Boutique. Mit dieser Möglichkeit zur selbständigen unternehmerischen<br />
Tätigkeit will er ihr einen langgehegten Wunsch erfüllen.<br />
Die Ehefrau bringt aber weder die Fähigkeit mit, ein Unternehmen<br />
aus der Gesamtsicht führen zu können, noch hat sie in ihrem<br />
wohlbehüteten Familienleben die notwendige Streßstabilität aufbauen<br />
können. Sie ist bisher nie leitend tätig gewesen, hat deshalb keine<br />
Menschenführungserfahrungen". (R entrop 1982)<br />
Dieses Zitat zeugt von einem Mechanismus , der den Gründerinnen viele<br />
Schwierigkeiten bereitet: Sie werden mit einem Maß band gemessen, das für den<br />
klassischen Gründer gemacht wurde. So wird die für Bankkredite maßgebliche<br />
"Unternehmereignung" an folgenden Kriterien überprüft: Durchsetzungsvermögen<br />
, Branchenkenntnis und kaufmännisches Wissen. Die Maßeinheiten werden<br />
ausschließlich aus der Erwerbsar<strong>bei</strong>t entnommen. Auf diese Weise fallen die in<br />
der Familienar<strong>bei</strong>t erworbenen Fähigkeiten für die Selbständigkeit vollständig<br />
heraus. Daß Frauen nicht zugetraut wird, zielgerichtet und kalkuliert handeln<br />
zu können, führt zu realen ,<br />
Nachteilen: schlechte Lieferantenkonditionen, kurzfristige<br />
Mietverträge, ungünstige Kredite. Sicherlich müssen Frauen, die sich<br />
ohne Branchenkenntnis und kaufmännisches Wissen selbständig machen wollen,<br />
vieles lernen; naiv und ungeeignet für die Selbständigkeit sind sie aber nicht.<br />
Für die berufliche Bildung kommt es darauf an, den Frauen, die sich angesichts<br />
der Massivität von Vorurteilen häufig selbst als naiv einschätzen, zur Entdeckung<br />
und realistischen Einschätzung ihrer Fähigkeiten zu verhelfen und auf<br />
dieser Basis aufzubauen.<br />
b) Hindernisse:<br />
Neben den Vorurteilen gibt es eine Reihe weiterer Hürden auf dem Weg in die<br />
Sel bständigkeit. Als Beispiele daz u stehen die Berichte unserer Teilnehmerinnen.<br />
Ein Fünftel der Frauen in unserem "Qualifikationskurs für die berufliche<br />
Sel bständigkeit" hat bereits einmal 'die schmerzhafte Erfahrung gemacht, mit<br />
großem Engagement und an Selbstausbeutung grenzendem Zeitaufwand in der<br />
Pleite zu landen. Diese Frauen wollen im Projekt Frauenbetriebe lernen, wie<br />
sie es hätten machen müssen.<br />
Elke (ein Kind) und ihre Freunde kaufen einen gebrauchten Laster, holen<br />
sich einen Gewerbeschein für ein Transportunternehmen und bieten in Anzeigen<br />
Ablaugen von alten Möbeln an. Sie leben recht und schlecht davon,<br />
daß sie Möbel zu einem alternativen Ablaugbetrieb bringen und sie dann -<br />
gegen Aufpreis - an die Besitzer zurück liefern. Buchhaltung und Steuererklärungen<br />
halten sie für überflüssig. Nach zwei Jahren präsentiert das Fi-
- 83 -<br />
nanzamt die Rechnung; die Gruppe kann die Steuerschuld nicht bezahlen. Sie<br />
meldet den Betrieb ab und lebt jetzt von Sozialhilfe.<br />
Rosemarie pachtet mit ihrem Freund zusammen ein Stück Land und kauft<br />
sich eine Damtierherde. Ihre Damtierfarm muß sie aber in kürzester Zeit<br />
wieder aufgeben: Ihr Freund erweist sich nicht gerade als begeisterter<br />
Schaffer, und außerdem haben <strong>bei</strong>de nicht die geringste Ahnung von Tierzucht.<br />
Roswitha (vier Kinder) interessiert sich für Kunstgeschichte und Antiquitäte<br />
n. Sie führt ein Antiquitätengeschäft, in dem sie komplementär zu den<br />
beruflichen Erfolgen ihres Gatten Verluste machen muß. Die auf diese Weise<br />
gesparte Einkommenssteuer wird ihr im innerfamilialen Abrechnungsmodus<br />
ni cht als Verdienst zugeschrieben. Nach Jahren, in denen sie - wie sie selbst<br />
sagt - "mit intensivster Ar<strong>bei</strong>t nie einen Pfennig verdient hat", gibt sie das<br />
Geschäft auf und sucht nun nach einer neuen Existenzgrundlage. Eine Trennu<br />
ng steht an, und Roswitha muß noch einmal ganz von vorne anfangen.<br />
- Marianne (zwei Kinder) hat einen Secondhand-Laden für Kindersachen. Sie<br />
will für die Mütter etwas tun, die sich die neuen Kinderkleider nicht leisten<br />
können. Nach einiger Zeit stellt Marianne fest, daß für sie selbst nur Ar<strong>bei</strong>t<br />
da <strong>bei</strong> herausspringt. Sie steigt mit Verl ust aus.<br />
Die vier Beispiele verweisen uns auf besondere Probleme, denen erwerbslose<br />
Frauen <strong>bei</strong> der Gründung und Führung eigener Betriebe begegnen: es fehlen<br />
Branchenkenntnisse und Berufserfahrung (Rosemaries Damtierfarm), es fehlen<br />
betriebswirtschaftliche Kompetenzen, es fehlt Kapital, um unvorhergesehene<br />
Kosten zu decken (Elkes Kollektivbetrieb), und es fehlt - den Müttern - an<br />
Zeit. Zudem haben Frauen häufig soziale, kommunikative und ideelle Ziele für<br />
ihren Betrieb, die die ökonomische Existenzsicherung in Frage stellen (Mariannes<br />
Secondhand-Laden). Gegenüber den Wünschen und Interessen von Familienmitglieder<br />
n stellen Frauen ihre Ansprüche an eine eigenständige berufliche Existenzsicherung<br />
häufig zurück (Roswithas Antiquitätenladen). Wir stellen fest:<br />
Erwerbslosigkeit ist nicht nur der Anlaß dafür, daß Frauen versuchen, sich mit<br />
der beruflichen Selbständigkeit einen eigenen Ar<strong>bei</strong>tsplatz zu schaffen; Erwerbslosigkeit<br />
führt auch zu einer Reihe spezifischer Hindernisse auf diesem<br />
Weg: kein Geld, keine Berufserfahrung, keine Branchenkontakte und ein - aufgrund<br />
der Ansprüche der eigenen Kinder - nicht unbegrenztes Engagement. Diesen<br />
Schwierigkeiten können Frauen nur mit Pfiffigkeit, einem umfangreichen<br />
Repertoire betriebswirtschaftlichen Handwerkszeugs, ausgefeilten Betriebskon-
- 84 -<br />
zepten, auf ihre Person abgestimmten Verhandl ungsstrategien, gegenseitiger<br />
Hilfe und viel Eigenleistung begegnen.<br />
Die Mühe, die es kostet, die Hürden zur Seite zu räumen, verschwindet<br />
hinter dem Bild der strahlenden und erfolgreichen Selbständigen, die uns in der<br />
Zigarettenreklame, der Bankenwerbung und den Frauenzeitschriften entgegentritt.<br />
Diese Werbung ist eine problematische Begleiterscheinung des Gründungsbo<br />
oms: Es wird die Illusion geweckt, daß nichts einfacher sei, als sich selbständig<br />
zu machen. Manchmal gibt es da<strong>bei</strong> ein paar dürftige Tips - unerwähnt<br />
bleiben aber die Pleiten, die Probleme, die Anstrengungen. Für viele Frauen,<br />
di e Kontakt mit uns aufnehmen, ist es schwer verständlich, daß eine gründl iche<br />
Betriebsplanung einen Zeitraum von 3 bis 6 Monaten in Anspruch nimmt. Angeregt<br />
durch die glanzvollen Beispiele aus den Illustrierten, gehen sie stattdessen<br />
da von aus, im Schnellverfahren einen existenzsichernden Ar<strong>bei</strong>tsplatz realisieren<br />
zu können. Hier ist eine verstärkte Öffentlichkeitsar<strong>bei</strong>t notwendig, die auf<br />
die Gefahren unvorbereiteter Betriebsgründungen hinweist: ohne Qualifikation<br />
ist jede und jeder schon <strong>bei</strong> der Gründung mit einem Bein wieder draußen. Das<br />
bedeutet aber auch, ein entsprechendes breitgestreutes Bildungs- und Beratungsangebot<br />
zu schaffen.<br />
Für ein Bildungsprogramm heißt dies: die Frauen nicht in den betriebswirtsc<br />
haftlichen Windkanal zu setzen und alles abzuschleifen, was stört. Frauen<br />
brauchen vielmehr eine auf ihre Fähigkeiten und Interessen einerseits und die<br />
Probleme und Hindernisse andererseits abgestimmte berufliche Qualifikation für<br />
die SeI bständigkei t (Haas/ Krieger 1986).<br />
Während unsere Erfahrungen eine regionale und qualitative Erweiterung<br />
von Bil dungsangeboten für die Gründerinnen nahelegen, läßt sich die Frage der<br />
4, Berufsabschlüsse und Weiterbildungsmöglichkeiten in Beschäftigungsinitiativen<br />
von Frauen<br />
weniger eindeutig beantworten. Leider steckt die Forschung über Beschäftigu<br />
ngsinitiativen noch in den Kinderschuhen. Das gilt insbesondere für die neuen<br />
Gruppen unter den Gründerinnen, die im Zuge der Strukturveränderungen auf<br />
dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und veränderter Ansprüche nach bezahlter und inhaltlich<br />
befriedigender Ar<strong>bei</strong>t den Weg in die Sel bständigkeit versuchen. Während in<br />
den traditionellen Bereichen weiblicher Selbständigkeit überwiegend Frauen mit
- 85 -<br />
entsprechenden Berufsqualifikationen vertreten sind - wie etwa Schneider- und<br />
Friseurmeisterinnen, Ubersetzerinnen und Hebammen -, sind <strong>bei</strong> den neuen Besehäftigungsinitiativen<br />
vermutlich häufig Brüche in der Berufsbiographie und<br />
Ausbildungsdefizite zu finden.<br />
Auf der Basis unserer Projektar<strong>bei</strong>t und einiger qualitativer Vorstudien<br />
können lediglich die ECkpfosten ausgemacht werden, die das Terrain dieser<br />
Fragen abstecken. Diese Eckpfosten sind: a) fehlende Ar<strong>bei</strong>tsmöglichkeiten im<br />
erlernten Beruf, b) ökonomischer Druck auf die Betriebe und c) Aus- und Weiterbildungsinteresse<br />
bestimmter Gruppen von Frauen.<br />
a) Fehlende Ar<strong>bei</strong>tsmöglichkeiten<br />
Viele Frauen machen sich selbständig, weil sie in ihrem Beruf keinen Ar<strong>bei</strong>tsplatz<br />
finden. Das bedeutet, daß sehr häufig auf die ursprünglichen Berufswünsehe<br />
und Ar<strong>bei</strong>tsinteressen verzichtet wird. Die Frauen müssen neue Tätigkeitsfeider<br />
suchen, weil ihr Beruf keine Existenzsicherung gewährt. Zu dieser Gruppe<br />
gehören die Lehrerin, die eine Kneipe aufmacht, die Sozialpädagogin mit<br />
dem Secondhand-Geschäft, die Soziologin mit der Hühnerfarm und die Maschinenbauzeichnerin<br />
mit dem Renovierungskollektiv.<br />
Diese Gruppe verliert nicht nur auf Dauer ihre Berufsqualifikation, es fehlen<br />
auch die Berufsabschlüsse und -erfahrungen für die angestrebte Selbständigkeit.<br />
Das verschlechtert die Aussichten für die Existenzgründungen ganz<br />
er heblich. Problematisch sind die Auswirkungen fehlender Berufsqualifikationen<br />
be sonders im Handwerk, wenn Auswege in handwerksähnlichen Nebenbetrieben<br />
oder Schwarzar<strong>bei</strong>t gesucht werden, z.B. die Gründung von Anderungsschneidereien,<br />
obwohl neue Modelle gemacht und nicht alte ausgebessert werden.<br />
b) Ökonomischer Druck auf die Betriebe<br />
Häufig ist der Konkurrenzdruck für (neugegründete) Betriebe so groß und/oder<br />
der Ertrag so gering, daß kein Spielraum für Lernprozesse bleibt. Angesichts<br />
des ökonomischen Drucks verfestigen sich unter der Hand Ar<strong>bei</strong>tsteilungen, die<br />
den Erwerb von Qualifikationen eingrenzen: wer's kann, darf und muß es machen.<br />
Grundsätzlich gilt: Wenn Frauen für ihren eigenen Betrieb die Berufsqualifikationen<br />
fehlen, müssen sie sie auf eigene Kosten erwerben, d.h. Mehrar<strong>bei</strong>t<br />
(Fehlerquoten, längere Produktionszeiten) und geringere Erträge. Darüber hinaus<br />
haben Selbständige keinen Anspruch auf Bildungsurlaub; wenn sie sich weiterbilden<br />
wollen, müssen sie nicht nur ihre eigenen Weiterbildungskosten, son-
aq<br />
- 86 -<br />
dern auch den Ausfall ihrer Ar<strong>bei</strong>tszeit im Betrieb finanzieren können. Viele<br />
können das nicht. Wir müssen damit rechnen, daß viele Beschäftigungsinitiativen<br />
Berufsqualifikationen nicht aus eigener Kraft vermitteln können. Erste<br />
Ergebnisse einer hessischen Untersuchung über selbstverwaltete Betriebe von<br />
Frauen und Männern verweisen auf sehr geringe Qualifikationschancen. Das<br />
rot-grüne Förderprogramm für selbstverwaltete Betriebe wurde deshalb um di e<br />
Finanzierung von Meisterkursen erweitert.<br />
Bessere Chancen auf berufliche Aus- und Weiterbildung bestehen in den<br />
frauenpolitischen Initiativen. So haben inzwischen einige Frauen aus Frauenbuchläden<br />
di e Buchhändlerinnenprüfung gemacht. Bei den ar<strong>bei</strong>tsplatzschaffenden<br />
Frauenforschungs- und -bildungsproj ekten erwirbt eine Reihe von Frauen<br />
zusätzliche Kenntnisse und Fertigkeiten, die auf ihren Berufsabschluß aufbauen.<br />
c) Aus- und Weiterbildungsinteressen<br />
Als Folge fehlender Ausbildungschancen und monotoner, deq ual ifizierender Täti<br />
gkeiten haben viele Frauen ein starkes Interesse an beruflicher Aus- und Weiterbildung.<br />
Das gil t besonders für die I Wiedereinsteigerinnen' , die nach der<br />
Phase der Kinderversorgung etwas Neues lernen wollen. Für diese Frauen fehlen<br />
Ausbildungs- und Ar<strong>bei</strong>tsmöglichkeiten. Mit der Selbständigkeit werden <strong>bei</strong>de<br />
Interessen verbunden: bezahlte und inhaltlich ausfüllende Ar<strong>bei</strong>t. Für die<br />
Realisierung dieser Interessen gibt es Beispiele:<br />
- In einer englischen Blusenfabrik, die die Ar<strong>bei</strong>terinnen übernommen haben,<br />
wurde die Ar<strong>bei</strong>tsteil ung komplett aufgehoben. In einem rotierenden System<br />
machen alle alles: Nähen, Verkauf, Abrechnung, Einkauf. Auf diese Weise<br />
erweitern alle Frauen ihre vorhandenen Qualifikationen, erwerben jedoch<br />
keine neuen Berufsabschlüsse.<br />
Im Proj ekt Frauenbetriebe verschafft sich eine junge Mutter zur Zeit gerade<br />
auf ungewöhnliche Weise einen Ausbildungsplatz, indem sie sich zusammen<br />
mit einer Blumenbindemeisterin sel bständig macht.<br />
Zusammenfassend stellen wir fest: Mit dem eigenen Betrieb verbinden viele<br />
Frauen ar<strong>bei</strong>tsinhaltliche Interessen. Die in der Sel bständigkeit prinzipiell<br />
enthaltene Möglichkeit vielfältiger und an den eigenen Interessen ausgerichteter<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbereiche stellt sich nicht von all eine ein, sondern muß als ein wichtiges<br />
Moment <strong>bei</strong> der Betriebsplanung berücksichtigt werden. Ein Großteil der
- 87 -<br />
Frauen, die die neuen Beschäftigungsinitiativen ins Leben rufen, wollen und<br />
müssen dazulernen. Heißt das jedoch<br />
5. Frauen verändern, Betriebe nicht?<br />
Damit sind wir <strong>bei</strong> der Gretchenfrage angelangt: Kopieren erwerbslose Frauen,<br />
wenn sie sich selbständig machen, genau jene Unternehmensstrategien, die zur<br />
zunehmenden Erwerbslosigkeit von Frauen führen? Gemeint sind all jene Strategien,<br />
die mit Senkung der Personalkosten die Erträge erhöhen. Wohlgemerkt,<br />
die Einsparung bzw. Reduzierung von Personalkosten gehört zu den betriebswirtschaftlichen<br />
Profitstrategien erster Ordnung. Solche Tips sind z.B.: Einsparung<br />
von Büro- und Lohnnebenkosten durch Heimar<strong>bei</strong>terinnen, die ein eigenes<br />
Gewerbe anmelden sollen (eine neue Form selbständiger Ar<strong>bei</strong>t, die wir mit<br />
dem Projekt Frauenbetriebe nicht fördern); oder der Einsatz von sozialversicherungsfreien<br />
Aushilfskräften.<br />
"Pauschalversteuerung und Sozialversicherungsfreiheit ist für Teilzeitkräfte<br />
geradezu ideal. Teilzeitkräfte bieten ihnen zahlreiche<br />
Vorteile:<br />
- sie ar<strong>bei</strong>ten konzentrierter, weil sie ausgeruht zur Ar<strong>bei</strong>t kommen<br />
und ihre Leistungsfähigkeit während der kurzen Ar<strong>bei</strong>tszeit nicht<br />
wesentlich sinkt;<br />
- Ar<strong>bei</strong>tspausen fallen weg;<br />
- das Angebot ist erheblich größer als an Ganztagskräften;<br />
- Teilzeitkräfte sind einmal wegen des größeren Angebots, zum anderen<br />
wegen der Pauschalversteuerung und Sozialversicherungsfreihei<br />
t erheblich billiger als Ganztagskräfte". (Rentrop 1984, S. 83)<br />
Die Teilnehmerinnen unserer Kurse sind alle erwerbslos. Sie sind die Opfer<br />
genau solcher Strategien und lehnen sie rundweg ab. Die Frauen halten den<br />
Ertrag für ein notwendiges, aber nic,ht ausschließliches Betriebsziel. Sie wollen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplätze schaffen, an denen sie sich auch wohlfühlen können. Das heißt,<br />
auch Ar<strong>bei</strong>tsplätze, die die Monotonie und Weisungsabhängigkeit der meisten<br />
Teilzeitar<strong>bei</strong>ten nicht wiederholen. Sie wollen gleichberechtigt und wenig ar<strong>bei</strong>tsteilig<br />
ar<strong>bei</strong>ten, möglichst viele Ar<strong>bei</strong>tsplätze schaffen (keine will allein<br />
ar<strong>bei</strong>ten) und gleiche Stundenlöhne bezahlen bzw. gleiche Beträge entnehmen.<br />
Daß sie diese Haltung Ertragseinbußen kostet, können sie sich leicht ausrechnen.<br />
Das heißt aber nicht, daß in den Beschäftigungsinitiativen keine ungeschützten<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplätze entstehen. Erwerbslose Frauen überlegen sich aber<br />
gründlich, ob es nicht auch anders geht. So sehen die Betriebsplanungen häufig<br />
nur für die Aufbauphase Aushilfskräfte vor. Oft haben wir auch festgestell t,
- 88 -<br />
daß Frauen mit Aushilfskräften anders umgehen: so z.B. in einem Darmstädter<br />
Cafe, in dem jede der drei Besitzerinnen 1400,- DM im Monat entnimmt - was<br />
ei nem Stundensatz von etwa 8,- DM entspricht - und an ihre Aushilfskräfte<br />
15,- DM pro Stunde bezahlt.<br />
Wir können festhalten: Indem erwerbslose Frauen <strong>bei</strong> der Gründung eigener<br />
Betriebe die Unternehmensstrategien, die zu ihrer eigenen Erwerbslosigkeit<br />
geführt haben, kritisieren und jedenfalls nicht ohne existenzielle Not übernehmen,<br />
verändern sie die Anforderungen an die Ar<strong>bei</strong>t als Selbständi ge. Neben<br />
der Orientierung am Ertrag werden neue Zielbestimmungen für die Betriebe<br />
formuliert.<br />
Außer diesen aus den Ar<strong>bei</strong>tsmarkterfahrungen resultierenden Zielbestirnmungen<br />
gibt es Betriebsziele, die aus dem Ar<strong>bei</strong>tsbereich in der Familie und<br />
einer für diesen Ar<strong>bei</strong>tsbereich qualifizierenden geschlechtsspezifischen Sozialisation<br />
herrühren. Diese Ziele werden auf der Grundlage jener intrinsischen<br />
Fähigkeiten und Interessen formuliert, die die Ar<strong>bei</strong>t mit den Kindern erst ermöglicht:<br />
die Personenbezogenheit, das Einfühl ungsvermögen, die nicht profitorientierte<br />
Ar<strong>bei</strong>t, die sozialen Interessen, die Verantwortung für die Qualität<br />
der eigenen Ar<strong>bei</strong>tsprodukte (z.B. nicht giftig und nicht scharfkantig). Diese<br />
Interessen und Fähigkeiten lassen sich dem betriebswirtschaftlichen Repertoire<br />
ni cht ohne weiteres unterordnen. Bei der Planung ihrer Betriebe überlegen die<br />
Frauen z.B., was im Stadtteil gebraucht wird, wie sie ihre Produkte möglichst<br />
billig machen können, Plätze für Kinder in den Geschäften schaffen, wo die<br />
Zeit für Gespräche hergenommen werden kann, und wie sie umweltfreundlich<br />
produzieren. Solche UberIegungen stehen im klaren Widerspruch zu der Gewinnmaximierung.<br />
Bei der Planung und Realisierung ihrer Beschäftigungsinitiativen<br />
müssen die Frauen für diesen Widerspruch eine Lösung finden, die ihnen einen<br />
ex istenzsichernden Ar<strong>bei</strong>tsplatz verspricht, ohne daß sie auf soziale und kommunikative<br />
Interessen verzichten müssen.<br />
Langfristig gedacht, dürften Betriebe, die soziale und kommunikative Anteile<br />
realisieren, eine ernstzunehmende Konkurrenz gegenüber den verödeten<br />
Stätten stummen Wareneinsammelns sein. Frauen, die sich den Widersprüchen<br />
zwischen sozialen und betriebswirtschaftlichen Zielen stellen, ar<strong>bei</strong>ten damit<br />
auch an einer neuen Qualität betrieblichen HandeIns. Auf diesem Weg führen<br />
di e weiblichen Ar<strong>bei</strong>tserfahrungen in Beruf und Familie zu neuen Uberlegungen<br />
für die Betriebe. Es verändert sich auf diese Weise die Qualität von Ar<strong>bei</strong>t -<br />
di es weniger ein Fazit als eine Hoffnung.
- 89 -<br />
6. Frauenbetriebe - Ein Weg in ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse?<br />
Auf den ersten Blick erübrigt sich das Fragezeichen hinter der Uberschrift: Für<br />
die Gründungs- und Anfangsphase der Beschäftigungsinitiativen langzeiterwerbsloser<br />
Frauen gilt in der Regel die gewerkschaftliche Kritik von der<br />
Selbstausbeutung im eigenen Betrieb. Die Frauen ar<strong>bei</strong>ten länger als in vergleichbaren<br />
abhängigen Tätigkeiten, sie bekommen dafür zudem weniger Geld,<br />
sind fast immer nicht renten- und ar<strong>bei</strong>tslosenversichert, und es fehlen Ausund<br />
Weiterbildungsmöglichkeiten.<br />
Gleichzeitig aber wird mit dieser Ar<strong>bei</strong>t ein Ziel verfolgt, das mit abhängiger<br />
Ar<strong>bei</strong>t nicht erreicht werden kann: Ar<strong>bei</strong>tsplätze zu schaffen, die auf<br />
Dauer die Existenzsicherung leisten und zudem in der Ausgestaltung von den<br />
Frauen bestimmt werden können. Mit anderen Worten, Ar<strong>bei</strong>tsplätze, die nicht<br />
vom Alter, von Fehlentscheidungen, vom Engagement und der Fachkompetenz<br />
einzelner Betriebsbesitzer oder Geschäftsführer abhängig sind. In den Beschäftigungsinitiativen<br />
können die dort Ar<strong>bei</strong>tenden selbst Schritte für die Sicherung<br />
ihrer Ar<strong>bei</strong>tsplätze tun. Damit soll nicht das Hohe Lied auf das freie Untern ehmerinnentum<br />
gesungen werden. Selbständige Frauen sind von der konj unkturel<br />
Ien Lage, Irrationalitäten und ökonomischen Zwängen des Marktes unmittelbar<br />
abhängig. Im Rahmen dieses wirtschaftlichen Diktats wird die Existenzsicherung<br />
von Selbständigen jedoch weitgehend von der Rationalität der eigenen Handl ungen<br />
bestimmt. Dies und die Möglichkeit der Entscheidung über Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
und Ar<strong>bei</strong>tsinhalte sollte nicht unterschätzt werden. Das gilt insbesondere<br />
für die Frauen, die nicht die Berufsbiographien haben, für die die Regelungen<br />
geschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse gemacht sind. Für diese Frauen ist es ein Vorteil,<br />
wenn sie selbst entscheiden können, ob sie sich sozialversicherungspflichtige<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplätze einrichten oder nicht. Für Frauen, die 15 Jahre lang ihre<br />
Kinder großgezogen haben, ist es <strong>bei</strong>spielsweise fast immer günstiger, sich privat<br />
zu versichern als in die Rentenversicherung einzuzahlen. Der Begriff ungesc<br />
hützter Ar<strong>bei</strong>tsplätze ist relativ. Er bemißt sich an sogenannten geschützten<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen, nicht aber an den weitergehenden Sicherungsmöglichkeiten<br />
und Entscheidungsspielräumen von Selbständigen. Die Ziele, die Frauen mit<br />
der Selbständigkeit verfolgen, müssen angesichts des miserablen Ar<strong>bei</strong>tsplatzangebots<br />
mit zu wenigen und zudem monotonen, minderbezahlten, weisungsabhängigen<br />
und dequalifizierten Tätigkeiten nicht weiter begründet werden. Mit den<br />
eigenen Betrieben wollen die Frauen sich Ar<strong>bei</strong>tsplätze schaffen, die nicht nur
- 90 -<br />
quantitativ, sondern auch qualitativ eine Alternative zu diesem Ar<strong>bei</strong>tsplatzangebot<br />
sind. Das Fragezeichen hinter der Uberschrift signalisiert also mehr: den<br />
Zweifel nämlich, ob wir es <strong>bei</strong> der Forderung nach geschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen<br />
bewenden lassen sollten. Das hieße nämlich, die Fragen nach den Ar<strong>bei</strong>tsinhalten,<br />
den Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen und der betrieblichen Herrschaft außen<br />
vo r zu lassen.<br />
LITERATUR<br />
Haas, L./Krieger, G.: Dokumentation - Qualifizierungskurs zur beruflichen Selbständigkeit<br />
von Frauen. Frankfurt 1986 (Nachdruck 1987)<br />
Haas, Lu: Gründerinnenjahre. Zur Ausgrenzung von Frauen aus der Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
und ihren Folgen für die Gründung von Frauenbetrieben. In: BBJ-Consu<br />
lt, Info Nr. 8. Berlin 1986<br />
Dies.: Zwischen Größenwahn und Kleinmut. Vortrag auf der Fachkonferenz II -<br />
Frauen machen sich selbständig. Dokumentation: Der Senator für Jugend<br />
und Familie - Die Frauenbeauftragte - Berlin 1987<br />
Ren trop, Norman: Der Erfolgsberater . Bonn 1982<br />
Ders.: Tips zur Unternehmensgründung. Bonn 1984
- 91 -<br />
Mirjana Mor"kvä',ic<br />
AUSL]\NDISCHE FRAUEN: SELBST]\NDIGKEIT -<br />
PRIVILEG ALS UBERLEBENSSTRA TEGIE 1<br />
Selbständige Ausländer stellen weniger als 1 % aller Beschäftigten in der Bundesrepublik<br />
dar: etwas über 100.000 gegenüber drei Millionen deutschen Männern,<br />
ca. 30.000 gegenüber mehr als einer Million deutschen Frauen (Statistisches<br />
Bundesamt 1983). Da so wenig Ausländer selbständig sind (übrigens, viel<br />
weniger als in anderen europäischen Ländern) und angesichts der v • . en Voraussetzungen,<br />
die sie dafür erfüllen müssen, erscheint wirtschaftliche Selbständigkeit<br />
als ein Privileg, das nur wenigen zugänglich ist. Wenn man noch davon<br />
ausgeht, daß ein großer Teil der Ausländerinnen und Ausländer von ungeschützten<br />
Ar<strong>bei</strong>ts- und/oder Aufenthaltsverhältnissen betroffen ist, mag ein Bericht<br />
über Selbständige als ungeschützte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse unter Ausländerinnen<br />
peripher erscheinen, weil diese winzige Gruppe der "Privilegierten" kaum für<br />
die große Mehrheit repräsentativ sein könnte.<br />
In meinen Ausführungen werde ich zuerst in einem Vergleich zu den deutschen<br />
Frauen, bezogen auf den Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und zur Selbständigkeit,<br />
die ungeschützte Lage der Ausländerinnen insgesamt vorstellen. Danach<br />
werde ich mich gezi elt mit der Problematik selbständiger Ausländerinnen und"<br />
Ausländer (eine "privilegierte Minderheit?") auseinandersetzen, um die Wahl<br />
di eser Gruppe in unserem Kontext zu begründen. Auf der Basis einiger Ergebnisse<br />
unserer Studie über Flickschneidereien 2 in West-Berlin und aus anderen<br />
Ar<strong>bei</strong>ten werden einige Vorschläge gemacht, um zur Zeit existierende und gepl<br />
ante Maßnahmen, Beratungs- und Weiterbildungseinrichtungen für selbständige<br />
Frauen auch für Ausländerinnen zugänglich und attraktiv zu machen.<br />
1. Ausländerinnen und Deutsche: wer darf selbständig werden?<br />
Die ausländischen Frauen haben viel gemeinsam mit den deutschen Frauen,<br />
wenn es um die geschlechtsspezifische Diskriminierung in dieser Gesellschaft<br />
geht. Ich begrüße es, daß sie innerhalb dieser Tagung nicht als eine völlig getrennte<br />
Zielgruppe angesprochen wurden, wie es üblich ist. Trotzdem, es ist
- 92 -<br />
wichtig, die erheblichen Unterschiede nicht aus der Sicht zu verlieren, wenn<br />
man von ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen und vom Zugang zu Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
und Sel bständigkeit spricht: als rechtliche Grundlage ihrer Existenz gilt für die<br />
deutschen Frauen die Verfassung, für die Ausländerinnen das Ausländergesetz,<br />
das die Aufenthaltserlaubnis und Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis regelt. Angesichts dieser<br />
rechtlichen Grundlage kann man die Ausländer und Ausländerinnen in drei<br />
Gruppen teilen:<br />
- diejenigen mit Aufenthalts- und Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis,<br />
- diejenigen, die nur die Aufenthaltserlaubnis besitzen, und<br />
- Ausländer/innen, die sich nur kurzfristig, als "Touristen", in der BRD aufhalte<br />
n oder illegal hier leben und ar<strong>bei</strong>ten.<br />
Es ist klar, daß die dritte Gruppe am wenigsten geschützt und am stärksten<br />
verunsichert ist. Sie hat keinen legalen Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Da der<br />
Aufenthalt in der BR D rechtlich nicht gesichert ist, sind die Zugehörigen dieser<br />
Gruppe als zukünftige Selbständige nur marginal und könnten unberücksichtigt<br />
bleiben. Für unseren Vergleich mit den Deutschen ist aber zu betonen, daß<br />
sich kaum jemand unter ihnen in der Lage dieser Ausländer/innen befindet.<br />
Die zweite Gruppe ist im Grunde genommen auch nicht mit den Deutschen<br />
vergleichbar: zu dieser Gruppe gehören die Ausländer und besonders die Ausländerinnen,<br />
die als Familienangehörige nach Deutschland eingereist sind und<br />
keinen (oder noch keinen) legalen Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt haben. Ihr
- 93 -<br />
Lediglich die erste Kategorie der Ausländer/innen ist in gewissem Maße<br />
mit den Deutschen vergleichbar. Auch hier sind aber wesentliche Unterschiede<br />
zu betonen:<br />
- Auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt haben die Deutschen Priorität und einige Ausländer<br />
Vorrang vor anderen.<br />
- Nicht alle Erwerbstätigkeiten sind Ausländern zugänglich. Die selbständige<br />
Erwerbstätigkeit ist im Grunde genommen nur den Ausländern mit der Aufenthaltsberechtigung<br />
gestattet. Nur in seltenen Fällen werden "Ausnahmebewi<br />
lligungen" auch erteilt, wenn diese Voraussetzung nicht besteht.<br />
- Im Falle der Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit, d.h. wenn die materielle Existenz nicht mehr<br />
gesichert ist, gerät selbst der Aufenthalt der Ausländer in Gefahr. Gewiß,<br />
ni cht alle von der Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit betroffenen Ausländer werden ausgewiesen,<br />
aber durch die Tatsache, daß diese Möglichkeit besteht, fühlen sich alle<br />
bedroht und verunsichert.<br />
Die selbständige Erwerbstätigkeit kommt ohnehin nur für einen Teil dieser<br />
dri,tten Gruppe in Frage: für die Frauen, denen rechtlich eine selbständige Tätigkeit<br />
zugänglich ist. Zur Zeit ist diese Quelle potentieller selbständiger ausländischer<br />
Frauen noch ziemlich klein, aber sie wird in der Zukunft immer größer<br />
werden: mehr und mehr Ausländer erfüllen die rechtlichen Voraussetzungen,<br />
für sich selbst Jobs zu schaffen.<br />
2. Selbständige Ausländerinnen: eine "privilegierte Minderheitl'?<br />
Wir haben bereits festgestellt, daß es sich um eine Minderheit handelt, die<br />
auch verhältnismäßig "privilegiert" ist. Warum aber von einer privilegierten<br />
Minderheit sprechen, wenn schon andere ausländische Frauen unter viel prekäreren<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen leiden oder sogar überhaupt keine Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
ausüben dürfen? Die selbständigen Ausländer stellen gewiß eine Minderheit dar,<br />
aber diese Minderheit ist im Wachsen begriffen. In anderen Ländern wie den<br />
US A und Frankreich ist festgestellt worden, daß die Einwanderer nach einer<br />
gewissen Zeit zur Selbständigkeit tendieren (Light 1972, Waldinger 1986, Simon<br />
1985, Schorr 1985). In der BRD hat dieser Trend bis jetzt wenig Aufmerksamkeit<br />
gewonnen, und dies hat wahrscheinlich damit zu tun, daß hier dieser Trend<br />
viel schwächer ausgeprägt ist angesichts der rechtlichen Barrieren zur Selbständigkeit,<br />
die für die Ausländer in der BRD viel größer sind als in Frankreich
- 94 -<br />
oder in den USA. Neuere Berichte und Forschungen machen deutlich, daß die<br />
Ausländer nicht nur als abhängige Ar<strong>bei</strong>tnehmer, sondern auch als Selbständige<br />
tätig sind und damit als Ar<strong>bei</strong>tgeber auftreten (Bericht zur Ausländerbeschäftigu<br />
ng 1986, Sen 1986, Blaschke/Ersötz 1986, Autorengemeinschaft 1983). Die<br />
amtlichen Daten dafür fehlen noch, und es ist zu bedauern, daß auch die neueste<br />
Repräsentativuntersuchung von 1985 (1986) wie die früheren (1981 und<br />
1973) kaum Daten über sel bständige Ausländer bietet. Selbständigkeit ist nur<br />
als "Zukunftsplan" erwähnt, wo<strong>bei</strong> etwa 8% Ausländer (5% unter Frauen) planen,<br />
sich selbständig niederzulassen.<br />
Trotz einer Verbesserung der rechtlichen Situation der Ausländer seit<br />
1980 (nur noch ein Viertel von ihnen besitzt eine befristete Aufenthaltserlaubnis),<br />
verfügt nur ein kleiner Anteil der Ausländer über eine Aufenthaltsberechtigung.<br />
Nach den Angaben der Repräsentativuntersuchung von 1985 ist der Anteil<br />
der Ausländer, die eine Aufenthaltsberechtigung haben, seit 1980 zehnfach<br />
gestiegen (von 2,3% auf 23,3%). Nach Angaben des Bundesministeriums für Ar<strong>bei</strong>t<br />
von 1985 besaßen nur 10,9% der Ausländer eine Aufenthaltsberechtigung<br />
und ca. 40% eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Ob aber 10% oder knapp<br />
ein Viertel, diese Zahlen sind niedrig angesichts der Tatsache, daß viel mehr<br />
Ausländer die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung<br />
erfüllen. Vermutlich haben Ausländer oft keine genaue Kenntnis ihrer rechtlichen<br />
Situation und nehmen ihre Rechte nicht in Anspruch.<br />
Da sich die Anzahl der Ausländer, die eine Aufenthaltsberechtigung besitzen,<br />
ebenso wie die Anzahl derer, die in der Lage sind, sie zu erlangen, erheblich<br />
erhöht hat, ist zu erwarten, daß in Zukunft mehr Ausländer ihre Chance<br />
als Sel bständige nutzen werden. Hinzu kommt auch die Tatsache, daß mehr und<br />
mehr Ausländer dazu tendieren, sich in der Bundesrepublik niederzulassen. Aufgrund<br />
ihrer rechtlich besser abgesicherten Situation sind sie eher bereit, das<br />
Risiko, das mit einer selbständigen Tätigkeit verbunden ist, in Kauf zu nehmen.<br />
Der Anwerbestop der westlichen Aufnahmeländer 1974 hat die Niederlassung<br />
der Ausländer in diesen Ländern verstärkt: die ehemals nur auf Zeit angeworbenen<br />
Ar<strong>bei</strong>ter bleiben. Für einige bedeutet es gleichzeitig eine Stabilisierung<br />
ihres Aufenthaltes, eine rechtliche Sicherung. Viele aber sind von der<br />
Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit betroffen oder bedroht, als Folge der wirtschaftlichen Krise<br />
und der industriellen .Restrukturierung. Hinzu kamen, auch mit der Absicht zu<br />
bleiben, weitere Gruppen der ausländischen Bevölkerung: Familienangehörige,
- 95 -<br />
Flüchtlinge, Asylsuchende und illegale Einwanderer, die keinen oder nur begrenzten<br />
Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt haben.<br />
Diese verunsicherten Gruppen stellen ein großes ungeschütztes A : <strong>bei</strong>tskräftepotential<br />
dar. Sel bständigkeit ist für einige Ausländer die einzige Chance<br />
zum sozialen Aufstieg und Ausweg aus unbefriedigenden Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnissen.<br />
Für andere wiederum ist die Sel bständigkeit die einzige Alternative zur<br />
Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit, d.h. die einzige Möglichkeit zum Verbleib am Ar<strong>bei</strong>tsmarkt,<br />
vielfach die Voraussetzung für einen weiteren Aufenthalt in der BRD. Bezogen<br />
auf die Möglichkeiten derjenigen, die keinen Zugang zum Ar<strong>bei</strong>tsmarkt haben,<br />
erscheint tatsächlich die Selbständigkeit als ein Privileg. In Wirklichkeit ist es<br />
für die Mehrheit, besonders für die Frauen, nur eine Uberlebensstrategie.<br />
Die Gruppen ohne Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis bilden zudem ein leicht verfügbares<br />
Ar<strong>bei</strong>tskräftepotential für diese neuen Betriebe und das wichtigste Element<br />
der sog. ethnischen Ressourcen. Empirische Befunde aus den USA (Light 1974,<br />
1985 , 1986, Waldinger 1986) belegen, daß Mitglieder ethnischer Minderheiten,<br />
di e gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt sind,<br />
um so eher zu Betriebsgründungen neigen, wenn sie Zugang zu ethnischen Ressourcen<br />
haben. Anders gewendet, Mitglieder ethnischer Minderheiten mit begrenztem<br />
Zugang zum formalen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt (z.B. wegen Sprachproblemen oder<br />
fehlenden formalen Qualifikationen), insbesondere zu den ihren Fähigkeiten<br />
entsprechenden Ar<strong>bei</strong>tsplätzen, werden sich wahrscheinlich für die Selbständigkeit<br />
entscheiden, vorausgesetzt, sie haben durch informel le Netzwerke Zugriff<br />
auf billige verwandtschaftliche oder landsmannschaftliche Ar<strong>bei</strong>tskräfte und<br />
Zugang zu anderen für ihre Gruppe spezifischen Ressourcen (Solidarität, besondere<br />
Kenntnisse usw.).<br />
3. Selbständige .in Flickschneidere.ien<br />
Flickschneiderei ist ein handwerksähnlicher Bereich, der, wie das noch existierende<br />
Bekleidungsgewerbe in einigen Großstädten anderer Länder eine von<br />
wenigen Zugangsmöglichkeiten zur Selbständigkeit der Ausländer darstellt. Bislang<br />
haben die mehr sichtbaren Bereiche wie Gaststätten und Lebensmittelgeschäft<br />
die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Forscher gewonnen. Im<br />
deutschen Kontext der sehr begrenzten Zugangsmöglichkeiten zu ökonomischer<br />
Selbständigkeit für Ausländer stellt die Flickschneiderei einen interessanten
-<br />
- 96 -<br />
Fall dar: dank einem außerordentlich günstigen Zusammenhang von Bedingungen<br />
ist dieser Bereich zu einem Absorptionsfeld für die von der Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit im<br />
Bekleidungsgewerbe betroffenen Ausländer geworden. Zum einen wurde durch<br />
die Restrukturierung und Schließung der Betriebe in Bekleidungsindustrie und<br />
-handwerk ein großes qualifiziertes Ar<strong>bei</strong>tskräftepotential "freigesetzt". Im<br />
Gegensatz zu Industrie und Handwerk, wo wegen der desolaten Wirtschaftslage<br />
der Berliner Bekleidungsindustrie oder aufgrund der formalen Hürden im Handwerk<br />
eine Niederlassung als Selbständige kaum in Frage kam, bot der handwerksähnliche<br />
Bereich mit seinen geringeren Barrieren einen relativ leichten<br />
Zugang zur Selbständigkeit. Die Meisterprüfung ist nicht erforderlich, und<br />
schon die nur unbefristete Aufenthaltserlaubnis gnügt, um eine "Ausnahmebewilligung"<br />
zur Eröffnung einer Flickschneiderei zu bekommen. Einrichtung und<br />
Eröffnung eines solchen Betriebes erfordern nur mäßigen Kapitalbedarf: die<br />
Gewerberäume stehen zu noch relativ günstigen Preisen zur Verfügung, und die<br />
Ausstattung wi rd meist von den ehemaligen Inhabern übernommen. Zu diesen<br />
leichten Zugangsmöglchkeiten kommt auch eine sehr günstige Nachfrage; die<br />
neuen Selbständigen kamen im richtigen Moment. Sie konnten über eigene Qualifikationen<br />
verfügen, aber auch auf die ihrer Familienangehörigen, nämlich<br />
Frauen, und ihrer Landsleute zur ückgreifen.<br />
In vielen Städten der BRD ist die Flickschneiderei deswegen zu einer ökonomischen<br />
Nische für die Ausländer geworden. In Berlin ist die Zahl der Flickschneidereien<br />
von 12 (1966) auf 492 (1985) gestiegen; 60% der Inhaber sind<br />
Ausländer. Sie ist damit einer der wenigen Bereiche, in denen Ausländer gegenüber<br />
Deutschen deutlich überwiegen. Wir konnten in Berlin einen sehr großen<br />
Anteil an Frauen nachweisen: unter deutschen Inhabern 82% und unter ausländischen<br />
36,7%. Dieser Anteil entspricht etwa dem der Ausländerinnen unter den<br />
abhängig beschäftigten Ausländern und weist darauf hin, daß di e Selbständigkeit<br />
unter bestimmten Bedingungen den ausländischen Frauen wie den Männern<br />
zugänglich ist. Da die Mehrzahl der Frauen im Gegensatz zu den Männern nicht<br />
über einen Berufsausbildungsabschluß verfügt und eher häuslich oder betrieblich<br />
angelernt ist, wie unsere Fel dforschung nachweist, ist dieser Anteil der ausländischen<br />
Frauen unter Flickschneidern bemerkenswert. Die Jugoslawinnen kamen<br />
meistens nach Deutschland als Ar<strong>bei</strong>terinnen. Sie wurden für verschiedene Industrien,<br />
darunter auch die Bekleidungsindustrie, angeworben. Die Türkinnen, die<br />
wi r als Inhaberinnen interviewt haben, kamen meistens als Familienangehörige.<br />
Während unter den Jugoslawinnen einige qualifizierte Schneiderinnen seit Jah-
- 97 -<br />
ren ihre Anderungsschneidereien eröffnet hatten, haben andere erst als ungelernte<br />
und angelernte Ar<strong>bei</strong>terinnen im Bekleidungsgewerbe gear<strong>bei</strong>tet (manche<br />
auch erst in anderen Industrien). In den Betrieben, die sie leiten, ar<strong>bei</strong>ten diese<br />
Frauen meistens allein. Im Gegensatz zu Männern, die über registrierte Angestellte<br />
oder mithelfende Familienangehörige verfügen (heute weniger als früher),<br />
haben die Frauen keine festangestellten Mitar<strong>bei</strong>ter, berichten aber über<br />
gelegentliche Aushilfe durch weibliche Verwandte oder Bekannte.<br />
Als Grund für die Selbständigkeit in den Anderungsschneidereien erwähnt<br />
die Mehrzahl der Frauen die Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes. Bei zwei<br />
Frauen dient das Unternehmen vorrangig materiellen Interessen ihres Ehemannes:<br />
in einem Fall hat er selbst keine Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis, im anderen soll über die<br />
Flickschneiderei das Startkapital für seinen geplanten Baubetrieb angesammelt<br />
werden; in diesem Falle ist der Mann als Inhaber registriert, die Frau hat nur<br />
eine befristete Aufenthalts- und Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis und ist nicht als "Mitar<strong>bei</strong>terin"<br />
gemeldet, obwohl sie die einzige ist, die die Ar<strong>bei</strong>t leistet. Daß die Frauen<br />
als unsichtbare Ar<strong>bei</strong>tskräfte dem "gemeinsamen" Zweck di enen, häufig, weil<br />
sie keine Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis besitzen, haben wir auch in anderen Fällen beobachtet<br />
(Morokvasic 1987).<br />
4. Diskussion und Vorschläge<br />
Ob die ausländischen Frauen auch als unabhängige Selbständige ar<strong>bei</strong>ten können<br />
und nicht überwiegend als mithelfende Familienangehörige, hängt auch davon<br />
ab, ob die verschiedenen Maßnahmen sie und ihre Besonderheiten unter der<br />
Zielgruppe "Frauen" oder Zielgruppe "Ausländer" nicht verschwinden lassen.<br />
Ihre Probleme sind nur unzureichend selbst durch Maßnahmen zu lösen, die<br />
Frauen als Zielgruppe haben. Es muß wahrgenommen werden, daß sie auch gegen<br />
andere Hindernisse stoßen, die mit ihrem Ausländerstatus zu tun haben, die<br />
aber nicht unüberwindbar sind. Bislang haben existierende Beratungsstellen und<br />
Weiterbildungseinrichtungen kaum Erfahrung mit den ausl ändischen Frauen gesammelt.<br />
Das ist nicht überraschend: erstens, bislang waren Selbständige auch<br />
unter deutschen Frauen auf einen engeren Kreis begrenzt, zweitens erfüllen,<br />
wi e wir bereits gesehen haben, relativ wenige Ausländerinnen die rechtlichen<br />
Voraussetzungen für eine selbständige Erwerbstätigkeit, und dadurch kommen<br />
sie nicht di rekt als Ansprechpartnerinnen in Frage.
- 98 -<br />
Wenn man von Forderungen, bezogen auf Selbständigkeit der Ausländerinlen<br />
spricht, muß man zwischen zwei Zielgruppen als potentielle Ansprechpart-<br />
1erinnen unters heiden und die Forderungen entsprechend gliedern:<br />
Die erste und die größte Zielgruppe stellen die Ausländerinnen dar, die noch<br />
keine Aufenthaltsberechtigung besitzen. Um di e Ausländerinnen aus dieser<br />
Gruppe mehr einzubeziehen, wäre es sinnvoll, eine Aufklärungsar<strong>bei</strong>t zu mach<br />
en, um interessierte Frauen, die noch keine Aufenthaltsberechtigung besitzen,<br />
aber die Voraussetzungen da für erfüllen, zu beraten. Diese Aufklärungsar<strong>bei</strong>t<br />
würde die Beratungsstellen nicht belasten, denn es geht um kurze<br />
und einfache Auskünfte. Da in einigen Bereichen SeI bständigkeit auch<br />
ohne Aufenthaltsberechtigung gestattet ist, würde der Kreis der interessierten<br />
Ausländerinnen noch erweitert, wenn ihnen diese Auskunft zugänglich<br />
wäre. Auch die ausländischen Frauen, die noch keine Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis haben,<br />
aber für die die Wartezeit abgelaufen ist, könnten daran interessiert sein,<br />
sich selbständig zu machen; viele von ihnen ar<strong>bei</strong>ten zur Zeit aber schwarz.<br />
Die zweite Zielgruppe der Ausländerinnen, die eine Aufenthaltsberechtigung<br />
haben, sind öfter mit ähnlichen Problemen wie die deutschen Frauen konfrontiert,<br />
aber nicht nur damit. Ihnen fehlt oft die Auskunft über existierende<br />
Möglichkeiten (die sowieso gering sind). Aber auch, wenn sie diese Auskunft<br />
haben, mag es sein, daß sie sie nicht in Anspruch nehmen, weil sie denken,<br />
"es wäre nicht für sie". Wegen ihrer sozio-kulturell-politischen Herkunft sind<br />
sie weniger darauf vorbereitet, Selbsthilfeinitiativen zu starten oder sich<br />
beraten bzw. betreuen zu lassen. Da sie nicht aus einem "welfare state"<br />
kom men, erwarten sie auch nicht, daß sie möglicherweise irgendwie unterst<br />
ützt werden könnten. Es mag auch sein, daß sie fürchten, auf eine in der<br />
Öffentlichkeit sehr verbreitete Vorstellung über di e Ausländerinnen zu stoßen:<br />
ungebildet, fast Analphabetinnen, nicht erwerbstätig, noch fremd und<br />
unerfahren in der modernen industriellen Gesellschaft, stumme isolierte Opfer<br />
ihrer Traditionen usw. Diese Vorstellung entspricht nicht der Realität:<br />
mehr als die Hälfte der Ausländerinnen ist erwerbstätig und hat schon mehrjährige<br />
Erfahrungen in der industriellen Welt; viele sind als Ar<strong>bei</strong>terinnen<br />
nach Deutschland gekommen. Um di e existierenden und in Zukunft geplanten<br />
Proj ekte und Einrichtungen auch den Ausländerinnen zugänglich zu machen,<br />
wäre ein wichtiger Schritt, sie besser kennenzulernen und dadurch sich von<br />
den falschen Vorstellungen zu befreien. Beratungs- und Weiterbildungsangebote<br />
sind dann für die ausländischen Frauen besonders hilfreich, wenn sie
- 99 -<br />
von den vorhandenen Qualifikationen oder Fähigkeiten ausgehen, die <strong>bei</strong> der<br />
Gründung eines Betriebes wichtig sein können, auch wenn sie nicht immer<br />
formal nachweisbar sind. Die Frauen, die wir als Sel bständige kennen, haben<br />
ihre Betriebe all eine, ohne irgendeine Hilfe gegründet und leiten sie ohne<br />
direkt dafür in Deutschland erworbene Kenntnisse. Das Startkapital haben<br />
sie innerhalb des familiären Netzwerks gesammelt; einige machen ihre eigene<br />
Buchhaltung, einige zahlen jemanden dafür, sowie auch <strong>bei</strong> der Steuerberatung.<br />
Die Erfahrungen, die sel bständige ausländische Frauen in der BR D gemacht<br />
haben, die Besonderheiten und die Probleme, die mit ihrem Status als<br />
Ausländerin scheinbar verbunden sind, könnten für alle Frauen aufschlußreich<br />
sein und könnten zu Veränderungsvorschlägen führen, die für alle Frauen von<br />
Interesse wären.<br />
ANMERKUNGEN<br />
Dieses Papier bezieht sich teil weise auf meine mehrjährige Forschung über<br />
ausländische Frauen in der BR D und Frankreich (Morokvasic 1980 und 1987)<br />
und auf eine gemeinsame Studie, die ich mit Hedwig Rudolph in Berlin<br />
durchgeführt habe. Meine Ar<strong>bei</strong>t in Berlin wurde durch ein Alexander-von<br />
Humboldt-Stipendium 1984/85 unterstützt. Ich danke der Stiftung und der<br />
Technischen Universität Berlin für die Unterstütz ung sowie der Handwerkskammer<br />
Berlin für die Zugangsmöglichkeit zu den Daten.<br />
2 Die Mehrheit der in der Öffentlichkeit bekannten Anderungsschneidereien<br />
sind in Wirklichkeit Flickschneidereien. Genehmigungen zu ihrer Eröffnung<br />
si nd an wenige Voraussetzungen gebunden. Die von der Handwerkskammer<br />
zugelassenen Leistungen sind enger definiert als <strong>bei</strong> Anderungsschneidereien.<br />
LITERATUR<br />
Beauftragte der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Ar<strong>bei</strong>tnehmer<br />
und ihrer Familienangehörigen: Bericht zur Ausländerbeschäftigung.<br />
In: Mitteilungen, September 1986<br />
Blaschke, J./Ersöz, A.: The Turkish Economy in West Berlin. In: International<br />
Small Business Journal. Spring 1986<br />
Bundesminister für Ar<strong>bei</strong>t und Sozialordnung: Situation der ausländischen Ar<strong>bei</strong>tnehmer<br />
und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland.<br />
Repräsentativuntersuchung '85. Forschungsbericht 133<br />
Sen, Faruk: Was leisten Ausländer für die deutsche Wirtschaft? In: Das Parlament<br />
36 (1986) 3
- 100 -<br />
Light, H. Ivan: Immigrant entrepreneurs in America: Koreans in Los Angeles.<br />
In: Glazer, N. (ed.): Glamor at the Gates. San Francisco 1985<br />
ders.: Ethnic Entreprise in America. Berkeley, Los Angeles, London 1972<br />
ders.: Ethnicity and Business Entreprise. In: Stolarik, M./Murray, F. (eds.):<br />
Making it in America. London and Toronto 1986<br />
Morokvasic, Mirjana: Yugoslav Women in France, FR Germany and Sweden.<br />
Study report, mimeo, CNRS-FNSP. Paris 1980<br />
di es.: Emigration und Danach: Jugoslawische Frauen in Westeuropa. Frankfurt/Main<br />
1987<br />
Morokvasic, M./Phizacklea, A./Rudolph, H.: Small Firms and Minority Groups:<br />
Contradictory Trends in the French, German and British Clothing Industries.<br />
In: International Sociology 1 (1986) 4<br />
Simon, Gi/des: L'espace des travailleurs tunisiens en France. Doctoral thesis,<br />
Ed. G. Simon. Poitiers 1979<br />
Sta tistisches Bundesamt: Struktur daten über Ausländer in der Bundesrepublik<br />
Deutschland. Ausgabe 1983<br />
Wal dinger , Roger: The Occupational and Economic Integration of the new Immigrants.<br />
In: Law and Contemporary Problems 45 (1983) 2<br />
Wal dinger, Roger: Through the E ye of a Needle. Immigrants and Entreprise in<br />
New York's Garment Trade. New York 1986
- 101 -<br />
III.<br />
TELE-HEIMARBEIT<br />
Zur Einführung:<br />
Hedwig Rudolph<br />
HEIM - HEIMLICH - UNHEIMLICH: TELE-HEIMARBEIT<br />
1. Modernisierungstendenzen im Spiegel von Ar<strong>bei</strong>tsmarkttheorie und<br />
-statistik<br />
Als vor etwa einem Jahrzehnt in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion<br />
die Vorstellung eines einheitlichen Ar<strong>bei</strong>tsmarktes zu den Akten gelegt<br />
und die Tatsache gespaltener Ar<strong>bei</strong>tsmärkte zur Kenntnis genommen wurde,<br />
bedeutete dies keinen praktischen Fortschritt für die Frauen als hauptsächliche<br />
"Opfer" dieses Phänomens. Die veränderte theoretische Perspektive verdeutlichte,<br />
daß die besondere Krisenbetroffenheit von Frauen in den Selektionskrite·<br />
rien der Betriebe begründet sind, die im Kontext ihrer Rationalisierungsstrategien<br />
Entscheidungen über Einstell ungen und Entlassungen zunehmend an hand<br />
askriptiver Merkmale trafen wie z.B. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter<br />
(Sengenberger 1978). Immerhin war damit einer Argumentation der Boden<br />
entzogen, die den Frauen selbst und ihren angeblich bornierten Ausbildungsund<br />
Beschäftigungswünschen die Schuld an ihren ungünstigen Erwerbsar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
anlastete.
- 102 -<br />
Seit Beginn der 80er Jahre weisen dagegen die Statistiken unübersehbar<br />
aus, daß Frauen am Ar<strong>bei</strong>tsmarkt Boden gewinnen. Der größte Teil des Beschäftigungszuwachses<br />
im Jahrzehnt 1975-1985 ging zu ihren Gunsten (Krebsbach-Gnath<br />
1983). Freilich erweist sich spätestens auf den zweiten Blick, daß<br />
auch hier Quantität nicht umstandslos in Qualität umschlägt: <strong>bei</strong> einem großen<br />
Teil der neu geschaffenen Erwerbsmöglichkeiten für Frauen handelt es sich<br />
nicht um unbefristete Vollzeitstellen; vielmehr nimmt der Anteil der Ar<strong>bei</strong>tsangebote<br />
zu, <strong>bei</strong> denen bezüg lich eines oder gar mehrerer Merkmale Abstriche<br />
von den Vorteilen und dem Schutz sog. Normalar<strong>bei</strong>tsplätze hinzunehmen sind.<br />
Die Herausbildung grauer bis grau-schwarzer Ar<strong>bei</strong>tsmärkte ist bezüglich ihres<br />
Umfanges und Wachstumstempos schwer zu überblicken, geschweige denn zu<br />
kontrollieren. Das gilt vorzugsweise auch für die Beschäftigungsform, die im<br />
Zentrum dieser Ausführungen und der nachfolgenden vier Beiträge steht: die<br />
Tele-Heimar<strong>bei</strong>t.<br />
2. Tele-Heimar<strong>bei</strong>t: alte Logik in neuem Gewand<br />
Die Unschärfen beginnen bereits <strong>bei</strong> der begrifflichen Abgrenzung: unter diesem<br />
Etikett wird die gesamte Bandbreite von Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen, von der Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
am heimischen Computer, der mit Standleitung an einen Betrieb<br />
angeschlossen ist, bis hin zur häuslichen <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tung z.B. auf Disketten<br />
zusammengefaßt. Insofern ist der anstehende Ausbau eines integrierten schmalbandigen<br />
Digitalen Netzes (IS DN) durch die Bundespost - vorgesehen bis 1988 -<br />
nur begrenzt relevant für die Frage nach Entwicklungstendenzen. Das wesentliche<br />
Merkmal, nämlich die örtliche Trennung individueller Ar<strong>bei</strong>tsplätze vom<br />
Betrieb, kann auf unterschiedlichen technischen Niveaus realisiert werden. Die<br />
Ausbreitung dieser Ar<strong>bei</strong>tsform, so auch die in der Literatur mehrfach formulierte<br />
These, bricht sich nicht primär an technischen Engpässen, sondern am<br />
einzelbetrieblichen Kalkül, welche Wettbewerbsvorteile als Nachfrager nach<br />
Ar<strong>bei</strong>tskräften und/oder als Anbieter von Gütern bzw. Dienstleistungen durch<br />
eine Auslagerung realisierbar sind.<br />
Spä testens an dieser Stelle scheint auf, daß nicht nur der Name, sondern<br />
auch die Logik dieser Ar<strong>bei</strong>tsform der traditionellen Heimar<strong>bei</strong>t entlehnt sind,<br />
sozusagen die Modernisierung einer alten Problemlösung. Erinnern wir uns: Als<br />
mit dem Vordringen der "neuen" Industrien Elektrotechnik und Chemie im letz-
- 103 -<br />
ten Drittel des 19. Jahrhunderts die deutsche Bekleidungsindustrie <strong>bei</strong> den Löhnen<br />
nicht mehr mithalten konnte, wenn sie nicht riskieren wollte, auf den<br />
wi chtigen und expandierenden Exportmärkten preismäßig außer Konkurrenz zu<br />
li egen, engagierte sie verstärkt Ar<strong>bei</strong>tskräfte kostengünstig in Heimar<strong>bei</strong>t<br />
(Krengel 1978). Sie konnte <strong>bei</strong> der Anwerbung auf die wachsende Zahl von<br />
Frauen zurückgreifen, die ihren Männern, Ar<strong>bei</strong>tern in der Metall- und Elektroin<br />
dustrie, vom Land gefolgt waren. Insbesondere in Berlin fanden diese Frauen,<br />
sobald Kinder zu versorgen waren, keine Beschäftigungsmöglichkeit außer als<br />
Heimar<strong>bei</strong>terinnen; ihr "Zuverdienst" war aber zur Sicherung des Familienunterhalts<br />
unabdingbar. Ihre Alternativlosigkeit machte die Heimar<strong>bei</strong>terinnen nahezu<br />
schutzlos gegenüber Ausbeutung, so daß sel bst durch (seltene) Streiks erfochtene<br />
Absicherungen hinterher von den Fabrikanten wieder aufgehoben werden<br />
konnten (Beier 1983). Die die Produktion organisierenden Zwischenmeister -<br />
eine weitere Abfederung der Konfektionäre gegen Marktrisiken - hatten die<br />
Ar<strong>bei</strong>tsvorgänge so parzelliert, daß auch und gerade fachlich nicht geschulte<br />
Frauen eingesetzt werden konnten. Der Rückgriff auf ein ausbeutbares, weil<br />
weder rechtlich noch tarifvertraglich angemessen geschütztes Ar<strong>bei</strong>tskräftepotential<br />
sicherte über Jahrzehnte das Überleben des deutschen Bekleidungsgewerbes<br />
trotz verschärfter internationaler Konkurrenz.<br />
3. Tele-Heimar<strong>bei</strong>t auf dem Vormarsch?<br />
Beinhaltete die traditionelle Heimar<strong>bei</strong>t als Strategie ein Ausweichen vor technischen<br />
und ar<strong>bei</strong>tsorganisatorischen Veränderungen, solange bi llige und willige<br />
Frauenar<strong>bei</strong>t verfügbar war, so nutzt Tele-Heimar<strong>bei</strong>t zwar neue Technik und<br />
Ar<strong>bei</strong>tsorganisationen, aber die Tradition der Ausbeutung ungeschützter Arbe<br />
itskräfte bleibt erhalten - auch hier überwiegend (noch) Frauen.<br />
Die wichtigsten bekannten Einsatzfelder von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t sind in der<br />
BR 0 bislang:<br />
- <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tung, z.B. in der Druckindustrie (meist Frauen),<br />
- Programmierung (überwiegend Männer),<br />
- Übersetzungen (Frauen und Männer),<br />
- Außendienst im Vertrieb (Männer).<br />
Die Argumente für den Ausbau dieser modernen Ar<strong>bei</strong>tsform klingen hehr.<br />
Sie reichen von der Berücksichtigung einiger in ihrer Mobilität eingeschränkter
- 104 -<br />
Ar<strong>bei</strong>tskräftegruppen - insbesondere Familienfrauen, Behinderte und Strafgefangene<br />
- über ressourcenschonende Beschäftigungsexpansion (Reduzi erung von<br />
Kosten und Zeit für Berufsverkehr) bis hin zur Förderung strukturschwacher<br />
Regionen. Zu vermuten steht jedoch, daß ein in der Sozialgeschichte durchgängi<br />
g belegter Gemeinplatz auch hier zutrifft, daß nämlich die Interessen der<br />
Ar<strong>bei</strong>tspla tzanbieter keineswegs deckungsgleich sind mit jenen der Ar<strong>bei</strong>tskraftanbieter<br />
(Hausen 1978). Die Kompromißlinie, die bezüglich der Rahmenbedingungen<br />
von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t realisiert wird, ist Ausdruck der relativen<br />
Machtpositionen. Wie die Praxis ausschaut, und welche Aushandlungsprozesse<br />
dem zugrunde liegen, darüber gibt es in der BRD bislang erst relativ dünne und<br />
unsystematisch gewonnene Befunde.<br />
Noch im Jah re 1982 erstatteten sowohl eine Untersuchung de Bundesministeriums<br />
für Forschung und Technologie (BMFT) als auch die Enquete-Kommission<br />
"Neue Informations- und Kommunikationstechniken" des Deutschen Bundestages<br />
Fehlmeldung in Sachen Tele-Heimar<strong>bei</strong>t. Selbst 1985 wurde die Zahl ent':'<br />
sprechender Ar<strong>bei</strong>tsplätze auf nicht mehr als 200 geschätzt. Aber allein für<br />
Tele-Programmierung wurden im gleichen Jahr bereits 172 Ar<strong>bei</strong>tskräfte ermittelt,<br />
die für 17 Unternehmen (hauptsächlich kleine und mittl ere Softwarehäuser)<br />
beschäftigt waren. Ca. 40 Prozent dieser Plätze waren in Nachbarschaftsbüros<br />
und speziell für Behinderte eingerichtet (Kappus 1986). Die Schätzungen über<br />
den tatsächlichen Bestand allein in dieser Branche liegen <strong>bei</strong> 500 bis 1.000.<br />
Wesentlich für die spärliche empirische Kenntnis von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t sind<br />
das häufig vertraglich vereinbarte Informationsverbot gegenüber Dritten, aber<br />
auch die große Bandbreite möglicher Rechtsformen. In anderen europäischen<br />
Ländern und in Japan ist der Ausbau von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t ebenfalls noch im<br />
Anfangsstadium. Die britische F. International Ltd. ist mit etwa 600 Beschäftigten<br />
die weltweit größte Firma, die Software in Heimar<strong>bei</strong>t entwickelt. Die<br />
weitgehende dezentralisierte Organisation wird als positives Modell angesehen.<br />
Für England insgesamt belegt jedoch eine Studie im Auftrag der nationalen<br />
Gleichstell ungsstelle (EOC) über ausgelagerte Ar<strong>bei</strong>tsplät,ze von weiblichem<br />
Computerfach- und Bedienungspersonal hohe Kosten- und Produktivitätsvorteile<br />
für die Betriebe, denen auf seiten der Frauen nur materielle und soziale Nachteile<br />
gegenüberstanden, insbesondere die Kinderbetreuung - das ausschlaggebende<br />
Motiv für die Wahl dieser Ar<strong>bei</strong>tsform - erwies sich als weitaus problema<br />
tischer denn erwartet (Morgan 1985).
- 105 -<br />
Die umfänglichsten Erfahrungen liegen erwartungsgemäß aus den USA vor.<br />
Während die Volkszählungsdaten von 1980 dort etwa 180.000 Heimar<strong>bei</strong>ter auswi<br />
esen, wurde Ende 1984 die Zahl der elektronischen Fernar<strong>bei</strong>ter auf 7 Mio.<br />
geschätzt; etwa 500 Firmen sollen "Tele-commuting"-Ar<strong>bei</strong>tsplätze eingerichtet<br />
haben. Prognosen rechnen damit, daß dies bis 1990 für 20 Prozent der<br />
Erwerbstätigen die Ar<strong>bei</strong>tsrealität sein wird und bis zur Jahrhundertwende gar<br />
für 40 Prozent (Beck 1985 ).<br />
4. Facetten der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
Deutsche und ausländische Erfahrungen stimmen darin überein, daß das Qualifikationsniveau<br />
ein wichtiges Differenzierungskriterium <strong>bei</strong> Tele-Heimar<strong>bei</strong>t ist,<br />
wo<strong>bei</strong> die Chancen zur befriedigenden Gestaltung der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen regel<br />
mäßig mit der Qualifikation steigen (vgl. Goldmann/Richter, Schuster und<br />
Diseher in diesem Band). Nicht umstandslos können Heimar<strong>bei</strong>tskräfte allerdings<br />
damit rechnen, daß ihre Fähigkeiten finanziell angemessen honoriert werden.<br />
Häufig genug nutzen Betriebe ihre Vorqualifikationen, etwa die Kenntnis betriebsspezifischer<br />
Ar<strong>bei</strong>tsabläufe zum Nulltarif. Die Praxis, eher standardisierte<br />
Teilaufgaben auszulagern - auch <strong>bei</strong> anspruchsvollen Ar<strong>bei</strong>ten -, wirkt sich<br />
zudem tendenziell dequalifizierend für die Tele-Heimar<strong>bei</strong>tskräfte aus.<br />
Als kritischer Faktor für die Verteilung der Vor- und Nachteile erweist<br />
sich der rechtliche Status der Tele-Heimar<strong>bei</strong>ter/innen. Von den in den USA<br />
hauptsächlich realisierten Alternativen - Werkvertrag oder selbständiges Unternehmen<br />
- ist letztere hinsichtlich der Verdienstmöglichkeiten die weitaus attraktivere,<br />
die erstgenannte aber die mit Abstand häufigere; die Auf teilung ist<br />
in Großbritannien vergleichbar. Im baden-württembergischen Modellversuch mit<br />
dezentralen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen hatten zwar alle beteiligten Frauen den Status von<br />
abhängig Erwerbstätigen (Außenar<strong>bei</strong>tnehmerinnen), aber als Normallösungen<br />
überwiegen in der Bundesrepublik Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse auf der Basis des Heimar<strong>bei</strong>tsgesetzes<br />
oder die freiwillig-unfreiwillige Existenz als Selbständige bzw.<br />
freie Mitar<strong>bei</strong>terin (Dobberthien 1988; vgl. Klug in diesem Band). Nur auf den<br />
ersten Blick spiegelt dieser Befund irrationale Entscheidungsmuster <strong>bei</strong>, den<br />
Frauen. Tatsächlich ist es der gleiche Grund, der ihnen Heimar<strong>bei</strong>t nahelegt,<br />
der sie auch von einer Karriere als Unternehmerin abhält: die Zuständigkeit für<br />
Haushalt und Kinder. Das Ubergewicht dieser ungünstigen Vertragsformen ver-
- 106 -<br />
dankt sich zudem nicht nur den Strategien der Betriebsleitung, sondern kann<br />
auch den Interessen der meist männlichen betrieblichen Kernbelegschaft an der<br />
Sicherung ihrer Privilegien geschuldet sein (vgl. Goldmann/Richter in diesem<br />
Ban d).<br />
Die vertragliche Festlegung der Ar<strong>bei</strong>tszeit ist - das weisen alle Länderberichte<br />
aus - der diffuseste Punkt, und zwar sowohl bezüglich des Umfangs als<br />
auch der Verortung im Tages- oder Nachtablauf. Abgesehen von den "wirklichen"<br />
Unternehmer/innen, die meist auch mit mehreren Kunden Geschäftsbeziehungen<br />
haben, optieren die Tele-Heimar<strong>bei</strong>terinnen überwiegend für Teilzeitar<strong>bei</strong>t.<br />
In der Praxis können sie sich jedoch selten auf feste Ar<strong>bei</strong>tszeiten und<br />
ein kalkulierbares Ar<strong>bei</strong>tsvolumen einrichten, sondern müssen sich, den Schwankungen<br />
der betrieblichen Nachfrage entsprechend, verfügbar halten. Ein Anspruch<br />
auf einen Mindestumfang von Aufträgen ist nie vereinbart, so daß das<br />
Auslastungsrisiko völlig von den Betrieben abgewälzt ist. Die Priorität für<br />
Familienaufgaben, die meist zu dieser Ar<strong>bei</strong>tsform motivierte, erweist sich unter<br />
diesen Bedingungen als schwerlich durchhaltbar •<br />
Das betriebliche Interesse an einer perfekten und zügigen Auftragsabwicklung<br />
ist trotz Auslagerung geWährleistet. Ganz davon abgesehen, daß Terminüberschreitungen<br />
oder kurzfristige Ablehnung von Ar<strong>bei</strong>ten die Weiterbeschäftigung<br />
gefährden, sind Kontrollen teilweise in die technische Ausstattung eingebaut<br />
(Morgan 1985). Wesentlicher aber ist, daß di e Frauen selbst die Leistungsstandards<br />
internalisiert haben: wegen fehlender Rückkoppelung über ihre<br />
realisierte Leistung forcieren sie ihre Produktivität überdurchschnittlich stark<br />
(Wawrzinek/Fröschle 1985, S. 42).<br />
Die teclmische Ausstattung der Tele-Heimar<strong>bei</strong>tsplätze ist für Gestalrungsmöglichkeiten<br />
der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen durch die Frauen selbst wichtig,<br />
aber die Vermutung, es sei der "technische Fortschritt", der die Verbreitung<br />
dieser Ar<strong>bei</strong>tsform beschleunige oder gar erzwinge, ist nicht haltbar: selbst in<br />
den USA waren drei von vier Tele-Heimar<strong>bei</strong>tsplätzen noch Mitte der 80er Jahre<br />
mit durchaus konventioneller Technik ausgestattet (Christensen 1986). Die<br />
Lokalisierung des Ar<strong>bei</strong>tsplatzes zeigt eine große Variationsbreite, wo<strong>bei</strong> die<br />
Beschränkung auf eine Nische in der Küche ebenso selten ist wie ein eigenes<br />
Ar<strong>bei</strong>tszimmer. Zu diesem Punkt sind allerdings grundlegende Unterschiede zwischen<br />
weiblichen und männlichen Tele-Heimar<strong>bei</strong>tern feststellbar, die - <strong>bei</strong><br />
gleichem Qualifikationsniveau - eindeutig langfristigere, professionelle Orien-
- 107 -<br />
tierungen der Männer erkennen lasse (vgl. Goldmann/Richter und Discher in<br />
diesem Band).<br />
Die finanziellen Risiken einer guten technischen Ausstattung, die die<br />
Frauen oft scheuen, ließen sich auch begrenzen, wenn Tele-Heimar<strong>bei</strong>t anders<br />
als in Privatwohnungen organisiert wäre. Alternative Formen, etwa in Satellitenbüros,<br />
die jeweils einem Betrieb zuar<strong>bei</strong>ten, oder in Nachbarschaftsbüros,<br />
die mehrere Betriebe zu ihren Kunden 'zählen, sind in der BRD bislang erst in<br />
Modell versuchen erprobt.<br />
Alle Länderberichte stimmen darin überein, daß Frauen in Tele-Heimar<strong>bei</strong>t<br />
überwiegend sog. "Zweitverdienerinnen" sind. Trotz Familie und den dadurch im<br />
wesentlichen ihnen zugeschriebenen Aufgaben wollen oder müssen sie erwerbstätig<br />
sein. Die Einschränkung ihrer zeitlichen Verfügbarkeit und örtlichen Mobilität<br />
bezahlen sie mit Abstrichen am Einkommen. Untersuchungen in Großbritannien<br />
und den USA belegen, daß die Stundenlöhne von Tele-Heimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
weit unter denen vergleichbarer betrieblicher Beschäftigten liegen (Morgan<br />
1985; Christensen 1986). Bahl-Benker (1985, S. 87) vermutet, daß Männer <strong>bei</strong><br />
elektronischer Heimar<strong>bei</strong>t "zumindest hinsichtlich der Ar<strong>bei</strong>tsqualität und Entlohnung<br />
bessere Bedingungen" aushandeln können als Frauen. In ländlichen Regionen<br />
nutzen Betriebe <strong>bei</strong> der Vereinbarung der finanziellen Bedingungen die<br />
Alternativlosigkeit der Frauen aus, denen oft ohnehin Informationen über das<br />
relevante Lohnniveau fehlen. Teilweise nehmen die Frauen die Einkommensdiskriminierung<br />
aber auch hin, weil die männerorientierte Norm der lebenslangen<br />
Vollzeiterwerbsar<strong>bei</strong>t - gegenüber der sie "defizitär" erscheinen - sich auch in<br />
ihren Köpfen eingenistet hat (vgl. Goldmann/Richter in diesem Band).<br />
Die Erwartung, Tele-Heimar<strong>bei</strong>t lasse sich einfach und reibungslos mit<br />
Kinderbetreuung verknüpfen, ist für fast alle Frauen das wesentliche Motiv für<br />
die Wahl dieser Ar<strong>bei</strong>tsform. Auch Männer entwickeln Präferenzen für einen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplatz zuhause nicht immer freiwillig, sondern oft unter dem Druck der<br />
Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit. Für sie ist dann aber der Schritt zum Sei bstverständnis als<br />
Unternehmer offenbar einfacher (vgl. Goldmann/Richter in diesem Band). Die<br />
Realität setzt der Einlösung des Wunsches der Frauen nach optimaler Kinderversorgung<br />
meist harsche Grenzen: Im Zweifelsfall sind die zeitlichen Forderungen<br />
der Erwerbsar<strong>bei</strong>t sanktionsmächtiger. Da die berufliche Ar<strong>bei</strong>t nicht<br />
parallel zur Beschäftigung mit den Kindern zu leisten ist, werden die Ar<strong>bei</strong>tstage<br />
extrem lang - ähnlich wie <strong>bei</strong> "normal" lohnar<strong>bei</strong>tenden Familienfrauen.
- 108 -<br />
Allerdings erweist sich - entgegen der ursprünglichen Planung - Tele<br />
Heimar<strong>bei</strong>t nicht nur als Ubergangslösung. In den USA, wo schon längere Erfahrungen<br />
vorliegen, hat inzwischen nur eine von vier tele-heimar<strong>bei</strong>tenden Frauen<br />
Kinder im betreuungspflichtigen Vorschulalter; jede zweite hat überhaupt keine<br />
Kinder mehr zu versorgen. Offenbar ist ein Wechsel zurück in ein betriebliches<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis schwierig (Christensen 1986, S. 5).<br />
Auch Vermutungen, dank Tele-Heimar<strong>bei</strong>t lasse sich die familiäre AufgabenteHung<br />
zugunsten der Frauen aufbrechen, erweisen sich als unrealistisch.<br />
Ein wichtiges Moment für eine stärkere Beteiligung des männlichen Partners an<br />
der Hausar<strong>bei</strong>t scheint die finanzielle Notwendigkeit für die Berufstätigkeit der<br />
Frau zu sein (Wawrzinek/Fröschle 1985, S. 51). In den USA bezog sich die Veränderung<br />
im Verhalten der Männer <strong>bei</strong> Tele-Heimar<strong>bei</strong>t ihrer Ehefrauen hauptsächlich<br />
auf eine verstärkte Beschäftigung mit den Kindern; ähnlich wie im<br />
Durchschnitt der amerikanischen Bevölkerung hilft nur etwa jeder zweite Mann<br />
<strong>bei</strong> der Hausar<strong>bei</strong>t.<br />
Ungeachtet der skizzierten, überwiegend belastenden Facetten der Tele<br />
Heimar<strong>bei</strong>t, fällt die Bilanz der Frauen im Hinblick auf Ar<strong>bei</strong>tszufriedenheit<br />
überraschend positiv aus. Dies gilt nicht nur für die (relativ kleine) Gruppe<br />
derer, die diese Ar<strong>bei</strong>tsform bewußt wählten, um aufwendige Verkehrszeiten<br />
einzusparen, sondern wird auch von denjenigen bestätigt, die ansonsten nicht<br />
erwerbstätig sein könten. Nach dem Motto, daß di ese bezahlte Ar<strong>bei</strong>t immer<br />
noch besser sei als gar keine, arrangieren sich die Frauen auch mit der sozialen<br />
Isolation und den unkalkulierbaren Zeitanforderungen, zumal sie auf Dauer<br />
ni cht in Unzufriedenheit mit der eigenen Situation leben können.<br />
5. Strategien gegen eine Privatisierung des Politischen<br />
Welche Empfehl ungen für politische Schritte wären dieser Konstellation angemessen,<br />
in der die Interessen der Betriebe an einer Entlastung von der Bürde<br />
traditioneller Lohnar<strong>bei</strong>tsverhältnisse keineswegs deckungsgleich sind mit den<br />
Bedürfnissen einer wachsenden Zahl von FamiIienfrauen nach wohnungsbezogener<br />
Erwerbsar<strong>bei</strong>t? Offensichtlich wäre ein Verbot von Tele-Heimar<strong>bei</strong>t keine<br />
angemessene Lösung. Was not tut, ist demgegenüber ein Bündel von Regelungen<br />
und Maßnahmen, insbesondere bezogen auf den rechtlichen Status von Tele<br />
Heimar<strong>bei</strong>tern (vgI . Klug in diesem Band). Zusätzlich wäre die Bereitstellung
- 109 -<br />
von Marktinformationen und guten, preiswerten Kinderbetreuungseinrichtungen<br />
zu fordern, um der Schutzlosigkeit dieser Beschäftigtengruppen abzuhelfen.<br />
Am Beispiel der Tele-Heimar<strong>bei</strong>t scheint auf, daß die Einführung neuer<br />
Technologien mehr Veränderungen mit sich bringt als der Austausch von Maschinerie<br />
und - in diesem Fall speziell - die Verlagerung des Ar<strong>bei</strong>tsplatzes. Vielmehr<br />
werden - teils bereits im Vorfeld, teils begleitend - viele Dimensionen der<br />
Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensbedingungen berührt. Entsprechend griffe der Anspruch<br />
nach sozialer Gestaltung zu kurz, würde er sich allein auf die Technik beschränken.<br />
Die Rückverlagerung der Erwerbsar<strong>bei</strong>t in di e Privatwohnung<br />
schafft keineswegs die Integration von Ar<strong>bei</strong>t und Leben, bedeutet keine Renaissance<br />
der "Produktion des ganzen Hauses". Die insbesondere die Frauen<br />
beschränkende und belastende Trennung in Männerwelt/Frauenwelt ist nicht<br />
durch vordergründige Annäherung an eine (scheinbare) historische Idylle zu<br />
überbrücken. Erforderlich ist eine Neuverteilung von Haushalts- und Familienar<strong>bei</strong>t.<br />
Erst wenn die Verbindung von Familienaufgaben mit Erwerbsar<strong>bei</strong>t kein<br />
Frauenproblem mehr ist, bestehen Chancen zur Ablösung geschlechtsspezifischer<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmarktspaltungen. Unter diesen Voraussetzungen wird aber Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
überhaupt anders strukturiert sein - auch für Männer.<br />
Unter derzeitigen Bedingungen dagegen wird erkennbar, wie schwierig im<br />
Prozeß der "Modernisierung" des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes - noch dazu unter dem Vorzeichen<br />
der Wir tschaftskrise - Solidarität zu wecken ist: zwischen Stammbelegschaft<br />
und Tele-Heimar<strong>bei</strong>ter/innen, aber auch innerhalb di eser Gruppe zwischen<br />
mehr und weniger Qualifizierten, zwischen Frauen und Männern.<br />
LITERATUR<br />
Bah l-Benker, Angelika: Chips - Wegbereiter einer neuen Armut! In: Vorgänge<br />
1185, S. 84-96<br />
Beck, Thorsten: Elektronische Fernar<strong>bei</strong>t und Ar<strong>bei</strong>tsrecht. In: WSI-Mitteilungen,<br />
38 J g. 9/ 1985, S. 550-558<br />
ßeier, Rosmarie: Frauenar<strong>bei</strong>t und Frauenalltag im deutschen Kaiserreich.<br />
Frankfurt/New York 1983<br />
Christensen, Kathleen: Impacts of computer home-based work on women and<br />
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Dobberthien, Marliese: Teleheimar<strong>bei</strong>t, elektronische Heimar<strong>bei</strong>t - Gefahr oder<br />
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- 110 -<br />
Hausen, Karin: Technischer Fortschritt und Frauenar<strong>bei</strong>t im 19. Jahrhundert.<br />
Zur Sozialgeschichte der Nähmaschine. In: Geschichte und Gesellschaft<br />
81978) 4, S. 148-169<br />
Kappus, Matthias: Teleprogrammierung: Organisataionsformen und ar<strong>bei</strong>tsvertragliche<br />
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31 -36<br />
Krebsbach-Gnath, Camilla u.a.: Frauenbeschäftigung und neue Technologien.<br />
München. Studie des Battelle-Instituts im Auftrag des Bundesministers für<br />
Forschung und Technologie. Bonn 1983<br />
Krengel, Jochen: Die Ar<strong>bei</strong>terschaft der Berliner Bekleidungsindustrie. Versuch<br />
einer sozialstatistischen Analyse (1870-1914). In: Pohl, Hans (Hg.): Forschungen<br />
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Morgan, V.M.: Die neue Heimar<strong>bei</strong>terin - Ausgewählte Ergebnisse einer empirischen<br />
Untersuchung in Großbritannien. In: Angestellten-Magazin (1985) 5<br />
Sengenberger, Werner (Hg.): Der gespaltene Ar<strong>bei</strong>tsmarkt. Probleme der Ar<strong>bei</strong>tsmarktsegmentation.<br />
Frankfurt/ New York 1978<br />
Ulber, Jürgen: Hei mar<strong>bei</strong>t, neue Technologien und betriebliche Interessenvertretung.<br />
In: Ar<strong>bei</strong>tsrecht im Betrieb (1985) 2<br />
Wawrzinek, S./Fröschle, H.-P.: Schaffung dezentraler Ar<strong>bei</strong>tsplätze unter Einsatz<br />
von Teletex. Zwischenbericht. Fraunhofer Institut für Ar<strong>bei</strong>tswissenschaft<br />
und Organisation. Stuttgart, Mai 1985
- 111 -<br />
Monika Goldmann/Gudrun Richter<br />
TELEHEIMARBEIT ALS 'NEUE SELBST}\NDIGKEIT' ODER<br />
'VEREINBARKEITSMODELL'<br />
- Zur Auslagerung von Fach- und Gebrauchsübersetzungen -<br />
Die Untersuchung der Auslagerung einfach qualifizierter Tätigkeiten hat gezeigt,<br />
daß hier ein neuer Bereich ungeschützter Frauenbeschäftigung im Entstehen<br />
ist. Teleheimar<strong>bei</strong>t bietet den betreffenden Frauen - je individuell - di e<br />
meist einzige Möglichkeit zur Lösung des Problems der Vereinbarkeit von Berufs-<br />
und Familienar<strong>bei</strong>t. Dafür sind sie bereit, den Preis mangelnder sozialund<br />
ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher Absicherung und eine schlecht kalkulierbare Auftragsund<br />
Einkommenslage zu akzeptieren. 1<br />
Folgt man den Hypothesen von Zukunftsforschern, so ist Teleheimar<strong>bei</strong>t in<br />
einfach qualifizierten Ar<strong>bei</strong>tsbereichen allerdings ein zeitlich befristetes Problem,<br />
da es sich um standardisierbare Teiltätigkeiten handelt, die mit einer<br />
weiteren Entwicklung der IuK-Technologien ohnehin in Zukunft wegfallen (vgl.<br />
Goldmann/Richter 19&6). Untersuchungen zu Teleheimar<strong>bei</strong>t sollten sich deshalb<br />
dem wahrscheinlicheren Fall, nämlich der Auslagerung qualifizierter Tätigkeiten,<br />
zuwenden und fragen, ob sich hier nicht tatsächlich positive Perspektiven<br />
für Ar<strong>bei</strong>t'nehmer und Ar<strong>bei</strong>tnehmerinnen eröffnen. In qualifizierten Ar<strong>bei</strong>tsbereichen<br />
- so die Vermutung - ließen sich durch eine Ar<strong>bei</strong>t in der Privatwohnung<br />
Berufsar<strong>bei</strong>t und persönliche Interessen in optimaler Weise miteinander<br />
verbinden. Die anerkanntermaßen hohen Qualifikationen gäben den Betreffenden<br />
genügend Handlungsmacht auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt, um ihre Vorstellungen von<br />
Ar<strong>bei</strong>t und Leben <strong>bei</strong> ihren Ar<strong>bei</strong>ts- bzw. Auftraggebern durchzusetzen und ein<br />
gutes Einkommen zu erzielen. Gerade auch qualifizierte Frauen hätten <strong>bei</strong> dieser<br />
anspruchsvollen computergestützten Heimar<strong>bei</strong>t ideale<br />
einen attraktiven Beruf mit Familienaufgaben zu vereinbaren.<br />
Bedingungen, um<br />
Wir stellen diesen hoffnungsvollen Perspektiven die Realität der heute<br />
praktizierten Auslagerung von qualifizierter Ar<strong>bei</strong>t am Beispiel der computerunterstützten<br />
Heimar<strong>bei</strong>t von Ubersetzern/innen gegenüber. 2 Fach- und Gebrauchsübersetzung<br />
für international tätige Konzerne, Behörden und Organisationen<br />
ist ein Ar<strong>bei</strong>tsfeld, das Männern und Frauen offensteht. Deshalb lassen<br />
sich hier sowohl hinsichtlich der von Betrieben praktizierten Auslagerungsstra-
- 112 -<br />
tegien als auch im Hinblick auf die Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebenssituation der zu Hause<br />
tätigen Ubersetzer und Ubersetzerinnen besonders deutlich geschlechtsspezifische<br />
Unterschiede herausar<strong>bei</strong>ten.<br />
Das immer enger werdende Geflecht internationaler Beziehungen auf den<br />
Gebieten von Politik, Wirtschaft, Tourismus, Kultur etc. hat den Bedarf an Gebrauchsübersetzungen<br />
im letzten Jahrzehnt erheblich ansteigen lassen. Das<br />
Spektrum des Ubersetzungsbedarfs streut breit von Rechts-, Finanz- und HandeIsdokumenten<br />
über Forschungsberichte bis hin zu technischen Handbüchern,<br />
Produktions- und Gebrauchsanweisungen etc. Die Anforderungen an derartige<br />
Ubersetzungen betonen weniger Geschliffenheit und Eleganz des sprachlichen<br />
Ausdrucks, sondern sie legen primär Wert auf eine exakte und in sich konsistente<br />
Verwendung von Terminologie, um einen möglichst hohen Gebrauchswert<br />
von Informationen für den Benutzer zu garantieren.<br />
Die Vervielfachung des Ubersetzungsvolumens zusammen mit der Anforderung<br />
konsistenter Terminologie sind die Hauptgründe dafür, daß intensiv an<br />
Verfahren zur computergestützten Ubersetzung gear<strong>bei</strong>tet wird. Weitgehend<br />
genutzt werden heute insbesondere von Großbetrieben bereits die Möglichkeiten<br />
der elektronischen <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tung, was eine erhebliche Beschleunigung<br />
des gesamten Ar<strong>bei</strong>tsprozesses <strong>bei</strong>m Ubersetzen bedeutet. Zum einen reduziert<br />
sich der Zeitaufwand der Ubersetzer/innen für die häufig mehrfachen Uberar<strong>bei</strong>tungsschritte,<br />
die sie nun am Bildschirm vornehmen können; zum anderen<br />
ermöglicht die <strong>Text</strong>erfassung mit Gestaltungsvorgabe auf Diskette durch die<br />
Ubersetzer/innen eine sofortige Korrektur des Ar<strong>bei</strong>tsergebnisses am Bildschirm<br />
durch die Auftragsabteilung, wodurch betriebliche Zweiterfassung und Korrektur<br />
entfallen und die übersetzten <strong>Text</strong>e direkt als Druckvorlagen verwendbar<br />
sind. Daneben werden Terminologie- und Faktendatenbanken aufgebaut und verschiedene<br />
Verfahren zur computergestützten Sprachenübersetzung eingesetzt.<br />
Ubersetzungscomputer, die eine überwiegend maschinelle Ubersetzung ermöglichen,<br />
befinden sich jedoch noch weitgehend in der Entwicklungsphase.<br />
Die Computerunterstützung der Ubersetzungsar<strong>bei</strong>t in den Betrieben erhöht<br />
einerseits die Ubersetzungsleistung erheblich, erfordert aber andererseits<br />
hohe Investitionen in die Anlagen. Dies wirft unter betriebswirtschaftlichem<br />
Kal kül die Frage nach deren Auslastung auf. Ubersetzungsar<strong>bei</strong>ten fallen nicht<br />
mehr gleichmäßig, sondern eher diskontinuierlich an, was Uberlegungen zur Vergabe<br />
dieser Ar<strong>bei</strong>ten an Kräfte außerhalb des Betriebes nahelegt.
- 113 -<br />
1. Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebenssituation der zuhause tätigen Ubersetzer/innen<br />
Ubereinstimmend lassen sich <strong>bei</strong> den von uns einbezogenen Betrieben mehrere,<br />
parallele Strategien feststellen, die in zwei Fällen zu einer Halbierung der betrieblichen<br />
Ubersetzungsar<strong>bei</strong>tspläne und in einem Fall zu einem vollständigen<br />
Abbau der Ubersetzungsabteilung - ausgenommen der Chefübersetzerin - führten:<br />
Zum einen werden sogenannte Uberkapazitäten an freiberufliche Mitar<strong>bei</strong>ter<br />
linnen oder Ubersetzungsbüros vergeben. Daneben findet ein schleichender<br />
Personalabbau statt, indem keine Neueinstell ungen bzw. Besetzungen frei werdender<br />
Stellen vorgenommen werden. Von solchen personalpolitischen Entscheidungen<br />
sind zunächst vor allem Mütter betroffen, die weder im Betrieb einen<br />
Teilzeitar<strong>bei</strong>tsplatz erhalten noch nach einer "Kinderpause" wieder in den Betrieb<br />
zurückkehren können. Darüber hinaus wird von seiten der Betriebe ein<br />
starker Druck auf die festangestellten Ubersetzer/innen ausgeübt, sich selbständig<br />
zu machen. Da den externen Ubersetzer/innen keine Auslastung ihrer Kapazitäten<br />
garantiert wird, müssen sie sich durch Akquisitionstätigkeit <strong>bei</strong> anderen<br />
Betrieben absichern. Dadurch entsteht eine Sogwirkung, die auch andere Betriebe<br />
zur Auslagerung von Aufträgen nach außen motiviert und zu einer Verkleinerung<br />
von deren Ubersetzungsabteilung führt. Bei der Vergabe von Aufträgen<br />
nach außen habel! sich in Abhängigkeit vom Geschlecht und der privaten<br />
Situation der Auftragnehmer/innen sehr unterschiedliche Praktiken herausgebildet:<br />
(a ) Ein kleiner Teil der Ubersetzungsar<strong>bei</strong>ten wird an ehemalige Mitar<strong>bei</strong>terinnen<br />
der Ubersetzungsabteilung vergeben, die nach der Geburt ihres ersten<br />
oder zweiten Kindes ihre Berufstätigkeit im Betrieb aufgegeben haben. Da in<br />
den Betrieben keine Möglichkeit zu einer Halbtagsbeschäftigung angeboten<br />
wi rd, nehmen Ubersetzerinnen mit Kindern gern solche Aufträge an, da sie so<br />
den Kontakt zu ihrem Beruf halten können. Die Vergabe von Ar<strong>bei</strong>ten an sogenannte<br />
"Hausfrauenübersetzerinnen" war in vielen Betrieben schon immer üblich,<br />
änderte sich jedoch insofern, als mittlerweile nur noch Aufträge an Frauen<br />
vergeben werden, die mit einer <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tungsanlage ausgestattet sind<br />
und damit Manuskripte auf Diskette vorlegen können, die nach einer Korrektur<br />
am Bildschirmterminal im Betrieb direkt zur Druckerei gehen können.<br />
Frauen, für die das Ubersetzen zu Hause also eine Vereinbarkeitsmöglichkeit<br />
von Berufs- und Familienar<strong>bei</strong>t darstellt, müssen Abstriche an ihren arbe<br />
itsinhaltlichen Ansprüchen hinnehmen. Sie ar<strong>bei</strong>ten meist nur für einen Auf-
- 114- -<br />
traggeber und erhalten in der Regel die weniger attraktiven, zum Teil auch<br />
ar<strong>bei</strong>tsintensiveren Aufträge. Ihre eingeschränkte zeitliche Verfügbarkeit und<br />
ihre einfache technische Ausstattung beeinträchtigen ihre Konkurrenzfähigkeit<br />
im Vergleich mit den vielen sich etablierenden Ubersetzungsbüros. Teure Anlagen<br />
mit hoher Speicherkapazität, die ihnen eine eigene Terminologiesicherung<br />
erlauben würden, schaffen sich die "Hausfrauenübersetzerinnen" nicht an, da<br />
sie sich <strong>bei</strong> einer durchschnittlichen täglichen Ar<strong>bei</strong>tszeit von vier bis sechs<br />
Stunden nicht amortisieren würden.<br />
Für die Betriebe bilden diese Hausfrauenübersetzerinnen, die meistens ein<br />
abgeschlossenes Hochschulstudium vorweisen können und hochqualifiziert sind,<br />
di e unterste Stufe in der Hierarchie der von ihnen mit Aufträgen bedachten<br />
Ubersetzer linnen. Vielfach bieten sie ihnen außer Ubersetzungsar<strong>bei</strong>ten auch<br />
einfache <strong>Text</strong>erfassungsar<strong>bei</strong>ten von Fremdsprachentexten an, was die Frauen<br />
mangels Ubersetzungsaufträgen häufig annehmen. Die Möglichkeit einer Rückkehr<br />
in den Betrieb nach der Familienpause ist angesichts des Trends zur Auslagerung<br />
von Ubersetzungstätigkeiten für alle Frauen nicht wahrscheinlich.<br />
Berufliche Perspektiven können sie nur entwickeln, wenn sie sich mit teuren<br />
Anlagen ausstatten und gezielte Zusatzqualifikationen erwerben.<br />
(b) Der weitaus größere Teil der Ubersetzungsaufträge wird an ehemalige<br />
betriebliche Mitar<strong>bei</strong>ter!innen vergeben, die von seiten der Betriebe in die<br />
Sel bständigkeit gedrängt wurden. Der Zwang zur Sel bständigkeit betrifft im<br />
Ubersetzungsberuf Frauen und Männer gleichermaßen. Auffällig ist allerdings,<br />
daß sich die Darstellungen, die männliche Ubersetzer von ihrem Wechsel in die<br />
Sel bständigkeit geben, als glatte Erfolgsbilanzen lesen, während Frauen diesen<br />
Weg als sehr viel dornenreicher schildern und ihre Situation als Freiberufliche<br />
auch nach längerer außerbetrieblicher Tätigkeit als weniger konsolidiert und<br />
durchaus prekär einschätzen.<br />
Mehrere Männer erhielten <strong>bei</strong> ihrem Ausscheiden aus dem Betrieb einen<br />
Werkvertrag mit einer Auftragsgarantie, die ihnen einen regelmäßigen Ar<strong>bei</strong>tsumsatz<br />
sicherte. Frauen bekamen meist nur eine mündliche Zusicherung, daß sie<br />
auch als Selbständige weiter mit Aufträgen versorgt würden.<br />
Alle Ubersetzer/innen, die sich selbständig machten, waren gezwungen,<br />
hohe Investitionen für ihre Geräteausstattung zu tätigen (zwischen 4-0.000 und<br />
150.000 DM), da diese - im Gegensatz zur Praxis der Druckindustrie - in keinem<br />
Fall vom Auftragsbetrieb gestellt wurde. Die PCs, die zum Teil hohe Speicherkapazitäten<br />
haben, mußten mit dem betrieblichen Computersystem kompati-
- 115 -<br />
bel sein und wurden in mehreren Fällen auch <strong>bei</strong> den Auftraggebern (sofern es<br />
sich um Computerhersteller handelte) gekauft. Frauen, die gezwungen waren,<br />
sich selbständig zu machen, waren <strong>bei</strong>m Kauf ihrer gerätetechnischen Ausstattung<br />
meist sehr viel zurückhaltender als Männer, da sie vor hohen Schulden<br />
zurückschreckten und zunächst einmal ihre Auftragslage stabilisieren wo llten.<br />
Alle befragten Männer beurteilen ihren Schritt in die Sel bständigkeit als<br />
gel ungene Weiterentwicklung ihrer Karriere, die auch aufgrund ihrer Berufsbiographie<br />
als folgerichtig erschien. Auch wenn sie gezwungen waren, sich selbständig<br />
zu machen, geben sie als Begründung für ihre Motive überwiegend ihren<br />
Wunsch nach mehr Flexibilität, die Aussicht nach einem höheren Einkommen<br />
und nach einem selbstorganisierten, selbstgestalteten Leben an . Sie vermitteln<br />
schon durch die Größe und Ausstattung ihrer Ar<strong>bei</strong>tszimmer den Eindruck gut<br />
situierter professioneller Sel bständig.keit. Die Frauen betrachten ihre freiberufliche<br />
Tätigkeit dagegen häufig eher als Übergangslösung oder als Notlösung und<br />
kö nnen sich nur schwer entschließen, <strong>bei</strong> der Investition wie auch <strong>bei</strong> der Betriebsführung<br />
betriebswirtschaftliche Kriterien anzulegen und sich als "neue"<br />
Sel bständige zu begreifen.<br />
Bei der Investitionszurückhaltung der Frauen im Gegensatz zur Risikofr<br />
eude der Männer spielt ein weiterer Faktor eine Rolle. Männer freunden sich<br />
mit einer hochtechnisierten Ausstattung sehr schnell an, da di e Terminologiespeicher<br />
ihnen die Begriffssuche erleichtern und sie damit eine schnelle Übersetzungsleistung<br />
erreichen können. Ein Übersetzungsprodukt, das dann nur einen<br />
spezialisierten beschränkten Wortschatz in einer anderen Sprache enthält,<br />
bringt damit einen relativ guten Ertrag. Weibliche Übersetzer tun sich mit den<br />
Einschränkungen, die eine Standardisierung in bezug auf di e Sprache bringt,<br />
häufig äußerst schwer. Ihr Sprachbezug, ihr personenbezogenes Übersetzen und<br />
ihr Bedürfnis, mit einem vielfältig eingesetzten Wortschatz einen anspruchsvollen<br />
<strong>Text</strong> zu produzieren, zielt auf eine Übersetzungsqualität, die auf dem<br />
Markt immer weniger gefordert wird. Bewußt oder häufiger eher unbewußt nehmen<br />
Frauen Einkommenseinbußen in Kauf, indem sie di e Sprachqualität vor di e<br />
Schnelligkei t setzen.<br />
(c) Im Prozeß der Auslagerung findet anscheinend ein Prozeß der Urnbewertung<br />
der benötigten Qualifikation statt. Übersetzen galt bisher als fremdsprachliche<br />
Kompetenz, di e in Ausbildung/Studi um erworben wi rd und zur praktischen<br />
Anwendung im Betrieb einer Zusatzqualifikation im jeweiligen Fachgebi<br />
et bedarf. Bei der Vergabe von Aufträgen nach außen scheint jedoch zuneh-
- 116 -<br />
me nd weniger die Sprachkompetenz als vielmehr die technische Kompetenz eine<br />
Rol le zu spielen.<br />
Die Vergabe von Aufträgen erfolgt heute sehr häufig an "Quereinsteiger",<br />
meist Männer mit Informatik- oder Technikstudi um, die ihre Übersetzungsfähigkeiten<br />
<strong>bei</strong> längeren Auslandsaufenthalten erworben haben. Die technischen<br />
Fachabteilungen, die einen gewissen Einfluß auf die Auftragsvergabe haben,<br />
sehen in technisch-fachlich ausgebildeten Übersetzern adäquate Gesprächspartner,<br />
die wissen, worum es in technischen <strong>Text</strong>en geht und denen spezielle Informationen<br />
und Detailkenntnisse einfach und schnell zu vermitteln sind. Einer<br />
sprachlich ausgebildeten Übersetzer/in muß - ob sie im Betrieb beschäftigt oder<br />
freiberuflich tätig ist - von der Fachabteilung der technische Hintergrund und<br />
Inhalt eines zu übersetzenden <strong>Text</strong>es vermittelt werden, soll sie eine fachlich<br />
richtige Übersetzung liefern. Das Hineindenken in technische Zusammenhänge,<br />
eine möglichst präzise Erfassung des Gegenstandes und dessen sprachliche Formulierung<br />
sind ihr kreativer Anteil an der Ar<strong>bei</strong>t. Im Zuge der Umbewertung<br />
ni mmt der Wert der sprachlichen Leistung ab, und der Wert der technischen<br />
Leistung steigt an.<br />
Unsere Interviews haben uns den Eindruck vermittelt, daß diese Umbewertung<br />
von Übersetzungsleistungen zu einer geschlechtsspezifischen Trennungslinie<br />
wird, die Frauen eher die niedrig bewerteten Aufgaben zuweist, während<br />
Männer eher die höher bewerteten Aufgaben erhalten. Die Definitionsmacht<br />
liegt in diesem Fal l eindeutig <strong>bei</strong> den männlichen Kollegen in den Fachabteilungen.<br />
2. Fazit<br />
Die Substitution betrieblicher Ar<strong>bei</strong>tsplätze durch Teleheimar<strong>bei</strong>tsplätze erfolgt<br />
im Zusammenhang mit technischen und organisatorischen Umstrukturierungsprozessen,<br />
wo<strong>bei</strong> Konkurrenz- und Rentabilitätsdenken eine Hauptrolle spielen. Die<br />
technische Dimension allein ist da<strong>bei</strong> keineswegs das entscheidende Kriterium<br />
für Betriebe, Ar<strong>bei</strong>tstätigkeiten in die Privatwohnungen auszulagern. Bei allen<br />
von uns untersuchten empirisch vorfindbaren Formen von Teleheimar<strong>bei</strong>t waren<br />
vielmehr zwei zentrale Aspekte für die Auslagerung entscheidend: erstens ein<br />
hoher Flexibilisierungsbedarf der Betriebe durch wechselndes Auftragsvolumen<br />
und extrem verkürzte Lieferzeiten sowie zweitens die Möglichkeit, sich Ko-
- 117 -<br />
sten- und Flexibilitätsvorteile über den Einsatz von Subunternehmen bzw.<br />
"selbständigen" Teleheimar<strong>bei</strong>ter/innen zu sichern. Besonders brisant ist da<strong>bei</strong><br />
die Art und Weise, wie Betriebe die Tatsache geschlechtsspezifischer Ar<strong>bei</strong>tsteilung<br />
und di e Bedingungen des weiblichen Lebenszusammenhangs nutzen.<br />
Es zeigt sich, daß sich hinter dem Begriff "Teleheimar<strong>bei</strong>t" ganz unterschiedliche<br />
Ar<strong>bei</strong>ts- und Vertragsbedingungen verbergen. Deren Gestaltung ist<br />
insbesondere davon abhängig, ob die volle tägliche Ar<strong>bei</strong>tszeit für Berufsar<strong>bei</strong>t<br />
zur Verfügung steht oder ob Zeiten für Kinderbetreuung und Familienaufgaben<br />
einzukalkulieren sind. Ein existenzsicherndes Einkommen ist mit Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />
nu r mit einer Vollzeitberufstätigkeit, die häufig eine lJ.O-Stunden-Woche weit<br />
überschreitet, zu erzielen. Damit entfällt ihre Funktion als Vereinbarkeitsmodell<br />
für Mütter; sie wird als "Hauptberuf" deshalb auch nur von Männern oder<br />
von alleinstehenden Frauen bzw. von Frauen mit erwachsenen Kindern ausgeübt.<br />
Will ein Betrieb Männern die Ar<strong>bei</strong>t zuhause schmackhaft machen, um z.B.<br />
eine Abteilung zu verkleinern, kann er nicht mit dem Vereinbarkeitswunsch als<br />
Motiv rechnen. Also wird er hier ganz andere vertragliche Beziehungen herstellen<br />
müssen und eine gewisse Auftragsgarantie geben. Deshalb ist es nicht<br />
überraschend, daß Teleheimar<strong>bei</strong>t von Männern von Anfang an sowohl von seiten<br />
der Betriebe als auch von seiten der betroffenen Männer als Betriebsneugründung<br />
angesehen wird. Auch wenn sie eine sehr enge Bindung an den Betrieb<br />
haben, eine kompatible Geräteausstattung besitzen und intensive Ar<strong>bei</strong>tskontakte<br />
mit betrieblichen Mitar<strong>bei</strong>ter/innen pflegen, betrachten sich di ese<br />
Männer immer als Selbständige, niemals als Teleheimar<strong>bei</strong>ter. Dies zeigt sich<br />
auch darin, daß "Mann" selten lange alleine bleibt, da neben dem automatischen<br />
Anrufbeantworter auch die Sekretärin zum professionellen Ambiente gehört,<br />
was als unabdingbar für das Bestehen am Markt angesehen wird.<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t als Modell von Selbständigkeit ist in vielen Fällen nicht<br />
mit einem Qualifikationsverlust verbunden. Die freiberuflich Ar<strong>bei</strong>tenden können<br />
eine gewisse Vereinseitigung ihres Tätigkeitsspektrums nicht ausschließen,<br />
jedoch erfordert die Führung ihres Kleinunternehmens gleichzeitig auch zusätzliche<br />
Fähigkeiten wie Akquisition, Kontakt zu mehreren Auftraggebern etc. Die<br />
Vereinseitigung bedeutet eher eine Spezialisierung in Richtung auf Expertenturn,<br />
weniger in Richtung auf Vereinseitigung auf einfach qualifizierte und<br />
monotone Tätigkeiten.
- 118 -<br />
Frauen, die sich unter dem Druck von Betrieben zur Selbständigkeit entsc<br />
hließen, müssen vielfach trotz faktischer Voll zeit tätigkeit eine Verschlechterung<br />
ihrer Situation in Kauf nehmen. Ebenso wie sich Frauen in Betrieben Karrierehindernissen<br />
gegenübersehen, haben sie als Freiberufliche mit den Konkurrenzvorteilen<br />
männlicher Kollegen zu kämpfen. Insbesondere im technischen<br />
Bereich besitzen sie ein wesentlich geringer ausgebautes Netzwerk von Kontakte<br />
n und Auftraggebern und haben damit erheblich schlechtere Akquisitionsbedingungen<br />
als ihre männlichen Kollegen. Es gibt eine Tendenz, daß Frauen die<br />
Aufträge erhalten, die für Männer nicht lukrativ sind, oder daß sie als Unterauftragnehmerinnen<br />
von männlichen Ubersetzern fungieren mit einer deutlich<br />
ni edrigeren Bezahl ung.<br />
Uberwiegend jedoch wird Teleheimar<strong>bei</strong>t heute Frauen als Vereinbarkeitsmodell<br />
angeboten und von ihnen auch trotz aller Nachteile als akzeptable Ubergangslösung<br />
angesehen. In diesem Fall müssen die Frauen fast immer - unabhängig<br />
von ihrer Qualifikation - Abstriche an ihren ar<strong>bei</strong>tsinhaltlichen Ansprüchen<br />
hinnehmen. Dies äußert sich unter anderem darin, daß sie - verglichen mit betrieblicher<br />
Ar<strong>bei</strong>t - nur ein sehr eingeschränktes Aufgabenspektrum haben und<br />
daß mit einer starken Spezialisierung häufig enorme Anforderungen an Konzentration<br />
und Ar<strong>bei</strong>tsgeschwindigkeit gestellt werden. Ihre Ar<strong>bei</strong>t zu Hause ist<br />
darüber hinaus mit einem deutlichen Verlust an beruflich-betrieblicher Kommunikation<br />
verbunden.<br />
Die Betriebe sichern sich die Kooperation "ihrer" Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
durch geschickte Personalrekrutierung und durch die Bereitschaft, die Familienaufgaben<br />
der Frauen als Tatsache zu akzeptieren. Da dies für Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
nicht vorgesehen ist, halten die Betriebe es für selbstverständlich,<br />
daß die Frauen bereit sind, ohne Ar<strong>bei</strong>tsvertrag zu ar<strong>bei</strong>ten und<br />
Qualifikationseinbußen hinzunehmen. Zwar stellt die Leistungsentlohnung ein<br />
hartes Kontrollinstrument dar, wird jedoch als solches von informel len Bezügen<br />
überdeckt. Auch ohne daß die Auftraggeber auf Sanktionen zurückgreifen müssen,<br />
bieten die Frauen ein Höchstmaß an Sorgfalt und Ar<strong>bei</strong>tsdisziplin sowie die<br />
Bereitschaft, sich auf Betriebsbelange - insbesondere auf wechselnde Auftragslagen<br />
- einzustellen.<br />
Die Autonomie, die die Frauen durch die Ausübung von Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />
gewinnen, beschränkt sich auf das ständige Abwägen beruflicher und privater<br />
Anforderungen und auf die Entscheidung, welche Zeit im Tagesablauf für private<br />
und berufliche Aufgaben genutzt wird.
- 119 -<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t als Vereinbarkeitsmodell stellt einen Bereich ungeschützter<br />
Beschäftigung dar, <strong>bei</strong> dem eine Berufsausbildung, Ar<strong>bei</strong>tserfahrungen und die<br />
Bereitschaft zur Weiterbildung vorausgesetzt werden. Im Gegensatz zu anderen<br />
ungeschützten Beschäftigungsbereichen, wo in erster Linie Vorqualifikationen,<br />
die aus der weiblichen Sozialisation resultieren, von Bedeutung sind, nutzen<br />
Ar<strong>bei</strong>tgeber <strong>bei</strong> Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen formale Qualifikationen, die im Ausbildungs-<br />
und Beschäftigungssystem erworben sind, ohne diese besonders gratifizi<br />
eren zu müssen. Jedoch garantiert den Frauen weder ihre qualifizierte Berufsausbildung<br />
noch ihre durchgängige Erwerbstätigkeit - wenn auch in Form<br />
vo n Teleheimar<strong>bei</strong>t - einen Wiedereinstieg ins offizielle Beschäftigungssystem.<br />
Sie bleiben entgegen dem Ubergangscharakter, den sie ihrer Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />
zuschreiben, langfristig auf den Bereich der sog. sekundären Ar<strong>bei</strong>tsmärkte<br />
verwiesen.<br />
ANMERKUNGEN<br />
1 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des Projekts "Teleheimar<strong>bei</strong>t in 'typischen'<br />
Frauenar<strong>bei</strong>tsbereichen; Studie über Voraussetzungen, betriebliche<br />
Strategien und soziale Folgen der Auslagerung von informationstechnisch<br />
gestützten Büro- und Verwaltungsar<strong>bei</strong>tsplätzen, Gestaltungsmöglichkeiten<br />
und -erfordernissen" im Auftrag der Parlamentarischen Staatssekretärin für<br />
die Gleichstellung von Mann und Frau <strong>bei</strong>m Ministerpräsidenten des Landes<br />
Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf.<br />
2 Die empirische Basis der Darstellung bilden Betriebsfallstudien in Ubersetzungsabteilungen<br />
von drei Großunternehmen sowie Intensivinterviews mit 16<br />
zu Hause tätigen Ubersetzer/innen. Neben Fach- und Gebrauchsübersetzungen<br />
wurde im Rahmen des Projekts auch die Auslagerung hochqualifizierter<br />
Softwareerstellung untersucht, wo<strong>bei</strong> ähnliche geschlechtsspezifische Auswirkungen<br />
feststell bar sind. Eine ausführliche Darstellung findet sich im<br />
Projektabschlußbericht, der im Sommer 1987 erscheint.<br />
LITERATUR<br />
Goldmann, M./Richter, G.: Teleheimar<strong>bei</strong>t von Frauen. In: Frauenforschung,<br />
Informationsdienst des Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft, Ij. (1986) 1<br />
+ 2
- 120 -<br />
Irene Schuster<br />
TELEHEIMARBEIT - NEUE PERSPEKTIVEN FUR DIE ARBEIT<br />
IN FAMILIE UND BERUF?<br />
Neue Technologien machen es zunehmend möglich, die Erwerbsar<strong>bei</strong>t auch in<br />
einem größeren Ausmaß in den privaten Wohnbereich zu verlagern. Die Folgen<br />
di eser Entwicklung wurden bislang vor allem für die berufliche Ar<strong>bei</strong>t und deren<br />
Träger/innen untersucht (vgl. Goldmann/Richter in diesem Band). Wie jedoch<br />
findet Familienleben unter erschwerten Erwerbsar<strong>bei</strong>tsbedingungen statt?<br />
Welche Folgen hat die Verlagerung beruflicher Ar<strong>bei</strong>t an den Ort der Hausar<strong>bei</strong>t<br />
vor allem für die zeitliche Strukturịerung des Alltags, für Ausmaß und<br />
Qualität der Hausar<strong>bei</strong>t, für Erziehungsideale und Erziehungsweisen sowie für<br />
die Beziehungsstrukturen innerhalb einer Familie? Welche Folgen hat sie aber<br />
auch für die teleheimar<strong>bei</strong>tende Person selbst, die versuchen muß, verschiedene<br />
Ar<strong>bei</strong>tslogiken in eine Balance zu bringen? (Diese Fragen sind Teil eines Forsc<br />
hungsproj ektes des Sonderforschungsbereiches 101 der Universität München,<br />
in dessen Rahmen eine Fallstudie über Teleheimar<strong>bei</strong>t entstand. In dieser Studie<br />
wurden insgesamt 15 Personen untersucht, davon 13 weibliche und 2 männliche.<br />
Die Teleheimar<strong>bei</strong>ter/innen wurden in mehrstUndigen Interviews sehr ausführlich<br />
nach ihren Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensbedingungen befragt.)<br />
Uns geht es da<strong>bei</strong> nicht nur um die Voraussetzungen, Bedingungen und<br />
Folgen von Teleheimar<strong>bei</strong>t auf einer strukturellen Ebene, sondern auch um das<br />
Verständnis der subjektiven Bedeutung von Teleheimar<strong>bei</strong>t für die Betroffenen<br />
seI bst. Im folgenden werde ich aus den Untersuchungsergebnissen zwei Punkte<br />
herausgreifen und näher ausführen, nämlich<br />
- Rahmenbedingungen und<br />
- Folgen für die Familienar<strong>bei</strong>t, insbesondere Kinderbetreuung.<br />
1. Teieheimar<strong>bei</strong>t und ihre Rahmenbedingungen. Die Notwendigkeit einer<br />
differenzierten Betrachtung<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t ist nicht per se vor- oder nachteilig für die Lebensumstände der<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>ter linnen und deren Familien; sie kann vielmehr eine sehr unter-
- 121 -<br />
schiedliche Bedeutung erlangen, je nachdem, welche Ressourcen in welchem<br />
Umfang mobilisiert werden können. Unsere Ressourcenthese besagt, daß je nach<br />
Art und Umfang der Ressourcen, die einem Haushalt zur Verfügung stehen bzw.<br />
verfügbar gemacht werden können, die Gestaltungsräume von Familien und die<br />
Ar<strong>bei</strong>t in und für Familien gesellschaftlichen Zwängen unterliegen oder aber<br />
sich ein Stück weit von diesen lösen können. Da<strong>bei</strong> verstehen wir unter "Resso<br />
urce" ein flexibles Potential an Personen, an Zeit, Geld, Raum und Zugang<br />
bzw. Verfügbarkeit über räumliche und soziale Infrastruktur, über Wissen, körperliche,<br />
geistige und seelische Gesundheit (Pieper 1983, S. 296).<br />
Unser Forschungsinteresse erkundet, wie die Familien der Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen einsetzen. Wir erhoffen<br />
uns so Aufschlüsse über Bewältigungsstrategien und Belastbarkeit familialer<br />
Ar<strong>bei</strong>t in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen, hier die Verlagerung<br />
bisher außerhäuslicher Erwerbsar<strong>bei</strong>t in den privaten Wohnbereich. Unsere<br />
Untersuchung macht deutlich, daß nicht alle Ressourcen gleichermaßen für die<br />
Lebensumstände dieser Familien bestimmend sind: vielmehr nimmt die Verfügung<br />
über bestimmte Ressourcen eine zentrale Bedeutung ein, weil di ese wiederum<br />
erst den Zugang zu anderen eröffnen.<br />
"Wissen" in ar<strong>bei</strong>tsmarktmäßig verwertbarer Form als beruflich nutzbare<br />
Qualifikation erweist sich als eine solchermaßen grundlegende Ressource. Sie<br />
entscheidet über Zugang und Ausmaß von finanziellem Entgelt, Räumlichkeiten,<br />
Möglichkeiten der Kinderbetreuung und über die Rekrutierung zusätzlicher<br />
Ar<strong>bei</strong>tskräfte. Darum soll im folgenden an diesem Beispiel dargestellt werden,<br />
wie sich Unterschiede des beruflichen Qualifikationsniveaus in den Ar<strong>bei</strong>ts- und<br />
Lebensverhältnissen niederschlagen, wie verschieden die Möglichkeiten von<br />
Frauen werden, sich und der Familie Freiräume zu verschaffen.<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t <strong>bei</strong> <strong>Text</strong>- und Datenerfassungstätigkeiten<br />
In unserer Fallstudie werden 7 Frauen untersucht, die in ihrer Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />
ausschließlich in <strong>Text</strong>- oder Datenerfassung ar<strong>bei</strong>ten. Da<strong>bei</strong> werden abgeschlossene<br />
<strong>Text</strong>e (zumeist deutsche, . mitunter aber auch fremdsprachige <strong>Text</strong>e sowie<br />
Lexika) abgeschrieben, gespeichert und dem betrieblichen Weiterverar<strong>bei</strong>tungsprozeß<br />
überstellt. Diese Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen haben zum großen Teil eine betriebliche<br />
Ausbildung als Büroschreibkräfte, aber auch in kaufmännischen Berufsbereichen.
- 122 -<br />
Daneben kommt <strong>bei</strong> Teleheimar<strong>bei</strong>t, so unsere Fallstudie, noch ein wichtiger<br />
Punkt hinzu, der die berufliche Stellung dieser Frauen weiter verschlechtert:<br />
Die befragten <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>terinnen in Teleheimar<strong>bei</strong>t haben durchgängig<br />
den Status formal Sel bständiger, obgleich die Abhängigkeit von einem einzigen<br />
Unternehmen umfassend ist. Den Betrieben bringt diese formale Selbständigkeit<br />
eine ganze Reihe von Vorteilen (vgl. Beitrag von Goldmann und Richter in diesem<br />
Band).<br />
Die Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen mit <strong>Text</strong>erfassungstätigkeiten sind sehr restriktiven<br />
zeitlichen Vorgaben ausgesetzt. Die Aufträge kommen meist sehr kurzfristig,<br />
der zukünftige Ar<strong>bei</strong>tsumfang ist nicht vorhersehbar. Die Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
müssen jederzeit in der Lage sein, zeitlich flexibel auf die betrieblichen<br />
Vorgaben zu reagieren. Abend-, Nacht- sowie Wochenendar<strong>bei</strong>t sind deshalb <strong>bei</strong><br />
diesen Frauen eher die Regel als die Ausnahme.<br />
Die Wohnverhältnisse dieser Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen wirken beengend. Die<br />
Wohnungen sind nicht so geräumig, daß sie sich ein Ar<strong>bei</strong>tszimmer einrichten<br />
können. Der <strong>Text</strong>automat steht deshalb in der Küche, im Schlafzimmer oder im<br />
Wohnzimmer. Damit sind Störungen <strong>bei</strong>m Schreiben vorprogrammiert, weil diese<br />
räumliche Enge auch die Aktivitäten der übrigen Familienmitglieder beeinträchtigt.<br />
Darüber hinaus sind diese Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen durch die Verlagerung der<br />
Erwerbsar<strong>bei</strong>t in die eigene Wohnung noch umfassender als Hausfrauen zeitlich<br />
und örtlich auf den häuslichen Bereich festgelegt: müssen sie doch über die<br />
Ar<strong>bei</strong>t in der Familie hinaus auch ihre Schreibar<strong>bei</strong>ten in den privaten Räumen<br />
leisten. Diese isolierte Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebenssituation belastet die von uns untersuchten<br />
Frauen sehr. Sie vermissen nicht nur Kontakte und Gespräche mit Kollegen,<br />
sondern fühlen sich auch in ihren nichtberuflichen Außen beziehungen<br />
eingeengt.<br />
Neben diesen vielfältigen beruflichen Nachteilen haben die Teleheimar<br />
:leitsverhältnisse auch Auswirkungen auf die zeitliche Strukturierung des Alltags.<br />
Jede freie Minute wird von diesen Frauen genutzt, um allen Aufgabenbe<br />
-eichen und Ansprüchen gerecht zu werden. Sie erbringen immens hohe Organi<br />
;ationsleistungen <strong>bei</strong> der Bewältigung von Beruf und Familie.<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t verlangt diesen relativ niedrig qualifizierten Frauen mit<br />
rexterfassungstätigkeiten hohe Kosten ab:<br />
Sie bekommen für gleiche Leistungen weniger Entgelt und müssen sich als<br />
(j uristisch) Sel bständige individuell um ihre soziale Absicherung kümmern.
- 123 -<br />
- Sie sind von den betrieblichen Kommunikationsstrukturen ausgeschlossen;<br />
Aufstieg, und sei er noch so begrenzt, ist undenkbar.<br />
- Sie sind der eigenständigen Verfügung über ihre Zeit beraubt, indem es ihnen<br />
unmöglich ist zu planen. Der Zugriff auf ihre Ar<strong>bei</strong>tsleistung besteht<br />
"rund um die Uhr". Da<strong>bei</strong> ar<strong>bei</strong>ten sie noch nicht einmal in einem wirklichen<br />
"Ar<strong>bei</strong>t-auf-Abruf"-Verhältnis.<br />
- Sie verringern zwar die ökonomische Abhängigkeit von ihrem Ehemann, bleiben<br />
letztendlich trotzdem auf dessen Gehalt angewiesen, weil sie in der<br />
Regel nicht so viel und so regelmäßig verdienen, um notfalls sich und die<br />
Kinder eigenständig versorgen zu können.<br />
- Sie sind in der Regel alleine für Hausar<strong>bei</strong>t und Kinder zuständig, denn "sie<br />
si nd ja den ganzen Tag zu Hause". Eine gleiche Verteilung häuslicher Ar<strong>bei</strong>tslasten<br />
mit dem Partner oder auch nur eine Annäherung daran ist für<br />
heimar<strong>bei</strong>tende Frauen kaum möglich und meist gar nicht gewollt. Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />
wird oft gerade deshalb angenommen, um die Ar<strong>bei</strong>t in der Familie in<br />
vollem Umfang weiterzuführen, und trotzdem "neben<strong>bei</strong>" noch einer Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
nachgehen zu können. Damit wird aber die traditionelle geschlechtsspezifische<br />
Ar<strong>bei</strong>tsteilung nicht angetastet und im Vergleich zu Frauen mit<br />
außerhäuslicher Erwerbsar<strong>bei</strong>t noch verfestigt.<br />
- Letztendlich bleibt diesen Frauen noch weniger Zeit zur persönlichen Verfügung<br />
als anderen "Doppelbelasteten". Eigene Interessen werden weitgehend<br />
hintangestellt. Sie sind nur noch "für andere" da. Falls es doch gelingt, in<br />
Ausnahmefällen eigenen Interessen nachzugehen, ist regelmäßig der Preis<br />
der persönlichen Uberforderung und Uberanstrengung zu zahlen.<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t in hochqualifizierten Tätigkeitsbereichen<br />
Ein anderes Bild von Teleheimar<strong>bei</strong>t bieten die Ar<strong>bei</strong>tsplätze von Frauen, die<br />
eine höhere berufliche Qualifikation vorweisen können. Das sind vor allem Programmiererinnen,<br />
Übersetzerinnen, aber auch Frauen mit spezialisierten Buchhaltungstätigkeiten.<br />
Sie stehen zwar in demselben Zwiespalt wie weniger qualifizierte<br />
Frauen, ihre Berufstätigkeit mit der Kinderbetreuung und dem Haushalt<br />
vereinbaren zu müssen; auch hochqualifizierte Frauen ar<strong>bei</strong>ten in erster Linie<br />
deshalb zu Hause, weil sie betreuungsbedürftige Kinder haben. Dennoch haben<br />
sie weit mehr Möglichkeiten, Teleheimar<strong>bei</strong>t positiv zu wenden.
J<br />
- 124 -<br />
In unserer Fallstudie zeigt sich, daß die hochqualifizierten Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
- wenn auch in begrenztem Maße - Einfluß auf ihre Ar<strong>bei</strong>t nehmen<br />
können:<br />
Sie bestimmen den Ar<strong>bei</strong>tsumfang und -inhalt mit, d.h. sie können es sich<br />
leisten, Aufträge abzulehnen.<br />
Sie haben meist mehrere Auftraggeber und verringern so ihre finanzielle<br />
Abhängigkeit von den einzelnen Unternehmen.<br />
Sie haben Einfluß auf ihre Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen, d.h. sie können wählen zwischen<br />
einem betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplatz und einem Heimar<strong>bei</strong>tsplatz bzw.<br />
einer Kombination aus <strong>bei</strong>dem.<br />
- Sie können die Bear<strong>bei</strong>tungsdauer von Aufträgen und somit die zeitlichen<br />
Vorgaben mitbestimmen.<br />
Des weiteren sind hochqualifizierte Frauen so gut bezahlt, daß sie sich<br />
privat eine gute und umfassende Absicherung finanziell leisten können. Gegebenenfalls<br />
können sie sich selbst und ihren Kindern den Lebensunterhalt sichern.<br />
Zumeist haben jedoch auch diese Frauen Ehemänner, die ebenfalls gut verdienen.<br />
Diese finanziellen Verhältnisse ermöglichen es ihnen, zum einen Hausar<strong>bei</strong>t<br />
und Kinderbetreuung teilweise gegen Bezahlung an andere abzugeben, zum anderen<br />
sich einen Ar<strong>bei</strong>tsraum einzurichten, der ungestörtes und konzentriertes<br />
Ar<strong>bei</strong>ten zuläßt.<br />
Das Problem der Isolation trifft natürlich auch hochqualifizierte Frauen,<br />
nur haben sie die Mittel und Möglichkeiten, besser damit umzugehen. Der mögliche<br />
Rückgriff auf einen betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplatz und <strong>bei</strong>spielsweise eine<br />
er höhte Mobilität durch ein eigenes Auto eröffnen in schwierigen Situationen<br />
Auswege. Die Ar<strong>bei</strong>tssituation hochqualifizierter Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen unterscheidet<br />
sich kaum von der anderer weiblicher "Freiberufler" wie etwa Architekten/innen<br />
und Rechtsanwälten/innen (vgl. Schuster 1986, S. 9).<br />
Diese Gegenüberstellung von Tel eheimar<strong>bei</strong>terinnen mit verschiedenen beruflichen<br />
Qualifikationen soll deutlich machen, daß Teleheimar<strong>bei</strong>t sehr untersc<br />
hiedliche Chancen der Ausgestaltung und Vereinbarung von beruflicher und<br />
familialer Ar<strong>bei</strong>t <strong>bei</strong>nhaltet. Das Ausmaß vorhandener Ressourcen korrespondi<br />
ert mit Entlastungsmöglichkeiten, die den Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen zur Verfügu<br />
ng stehen. Sie bestimmen somit die Lebensumstände der Teleheimar<strong>bei</strong>tsfamilien<br />
entscheidend mit.<br />
Der jetzige Stand unserer Fallstudie vermittelt den Eindruck, daß sich der<br />
Zugang zu den Ressourcen oder die Nichtverfügung über sie jeweils kumuliert.
- 125 -<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen, die eine gute Ausbildung und eine höhere berufliche<br />
Position erreichen, verfügen über mehr finanzielle Mittel, haben meist mehr<br />
Platz in ihren privaten Wohnungen zur Verfügung, können sich eine gute soziale<br />
Absicherung leisten und können (und wollen) für die Kinderbetreuung noch<br />
an dere Personen und Institutionen in Anspruch nehmen. Für Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
mit einer niedrigeren beruflichen Qualifikation gilt das Umgekehrte.<br />
Ein weiterer Punkt kommt hinzu: hochqualifizierte Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
haben weit mehr als niedriger qualifizierte den Erhalt ihrer beruflichen Qualifi<br />
kation im Blickfeld. Der Grund für die Aufgabe betrieblicher Berufsar<strong>bei</strong>t ist<br />
zwar auch <strong>bei</strong> diesen Frauen der Wunsch, mehr Zeit für die Kinder zu haben;<br />
ein wichtiges Motiv für di e Aufnahme einer Teleheimar<strong>bei</strong>t ist aber, die berufliche<br />
Qualifikation zu erhalten. Damit wird versucht, Unterbrechungen der Berufsverläufe<br />
zu vermeiden und die eigene Berufsbiographie kontinuierlich zu<br />
gestalten. Bei Hochqualifizierten sind di e Chancen gut, daß diese Strategie gelingt.<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen in <strong>Text</strong>erfassungstätigkeiten dagegen müssen, so<br />
die Ergebnisse unserer Fallstudie, im Vergleich zu ihrer vorherigen betrieblichen<br />
Tätigkeit einen Verl ust ihrer beruflichen Qualifikation hinnehmen. Ihre<br />
Chancen, in den ehemaligen Berufen wieder einen betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplatz zu<br />
finden, sind eher gering einzuschätzen, selbst im Falle einer kontinuierlichen<br />
Berufsbiographie mit Hilfe der Teleheimar<strong>bei</strong>t - zumindest, wenn man dieser<br />
Einschätzung die derzeitig schlechte Ar<strong>bei</strong>tsmarktlage zugrunde legt.<br />
Die gering qual ifizierten Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen nehmen eine Dequalifizierung<br />
bewußt in Kauf, sie legen ihren persönlichen Schwerpunkt auf die Familie.<br />
Sie nehmen gerade deswegen eine Teleheimar<strong>bei</strong>t an, weil sie ihren Haushalt<br />
und ihre Kinder seI bst in einer bestimmten Form versorgen wollen. Die möglichen<br />
Alternativen für diese Frauen, berufliche und familiale Ar<strong>bei</strong>t in einer<br />
gewünschten Weise zu vereinbaren, sind so beschränkt, daß sich Teleheimar<strong>bei</strong>t<br />
oft als rettender Anker darstellt.<br />
2. Teleheimar<strong>bei</strong>t und ihre Folgen für die Ar<strong>bei</strong>t in der Familie.<br />
Das Beispiel der Kinderbetreuung<br />
Als zweiter Aspekt soll auf die Folgen von Teleheimar<strong>bei</strong>t für die Ar<strong>bei</strong>t in<br />
der Familie eingegangen werden. Da<strong>bei</strong> wird exemplarisch am Ausmaß und der<br />
Qualität der Kinderbetreuung gezeigt, wie sehr die Erwartungen an Teleheim-
- 126 -<br />
ar<strong>bei</strong>t einerseits sowie deren reale Gestalt andererseits auseinanderfallen können.<br />
Teleheimar<strong>bei</strong>t, so unsere Fallstudie, ist eine Ar<strong>bei</strong>tsform, die <strong>bei</strong>spielhaft<br />
die Probleme der Frauenar<strong>bei</strong>t verdeutlicht: denn weibliche Berufsar<strong>bei</strong>t findet<br />
immer vor dem Hintergrund familialer Ar<strong>bei</strong>t statt - sei sie aktuell abgefordert<br />
oder nur gedanklich vorweggenommen. Teleheimar<strong>bei</strong>t ist da<strong>bei</strong> ein Versuch, die<br />
Ar<strong>bei</strong>t in der Familie, insbesondere die Kinderbetreuung und die Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
in einer erträglichen Weise zu vereinbaren durch die Zusammenlegung <strong>bei</strong>der<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbereiche an denselben Ort. Die Frage, die uns interessiert, ist: Kann die<br />
familiale Ar<strong>bei</strong>t wirklich in der erwünschten Form und Qualität erbracht werden,<br />
oder wird sie im Gegenteil nicht sogar zunehmend nach den beruflichen<br />
Kriterien der Teleheimar<strong>bei</strong>t abgewickelt?<br />
Die von uns untersuchten Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen haben den Anspruch, ihre<br />
Kinder selbst dauernd und regelmäßig zu betreuen. Dies ist der ausschlaggebende<br />
Grund für die Annahme einer Teleheimar<strong>bei</strong>t. Es lassen sich jedoch Unterschiede<br />
zwischen den Hochqualifizierten und den niedriger Qualifizierten feststellen:<br />
die höher Qualifizierten orientieren sich in ihren Kinderbetreuungsmodel<br />
len eher an Lösungen, wie sie auch von Frauen in betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen<br />
gewählt werden. Sie wollen einen bestimmten Zeitabschnitt ihres<br />
Tages ausschließlich für die berufliche Ar<strong>bei</strong>t reservieren, um sie in nötiger<br />
Ruhe und Konzentration erledigen zu können, d.h., sie versuchen eher, eine<br />
Trennung zwischen Berufsar<strong>bei</strong>t und der Ar<strong>bei</strong>t in der Familie aufrecht zu erhalten.<br />
Anders <strong>bei</strong> den niedriger qualifizierten Frauen in der <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tung:<br />
Diese Frauen wollen mittags zu Hause sein, wenn ihre Kinder von der Schule<br />
kommen, si wollen deren Hausaufgaben und Spiele begleiten, sie wollen im<br />
Krankheitsfall selbst <strong>bei</strong> ihren Kindern bleiben können. Diese Frauen möchten<br />
immer für ihre Kinder "ansprechbar" und für sie "da" sein. Die Ar<strong>bei</strong>t am <strong>Text</strong>verar<strong>bei</strong>tungsgerät<br />
soll nach ihren Vorstellungen "neben<strong>bei</strong>" gemacht werden<br />
können, sie sollte in den Zeiten erledigt werden können, die nicht mit Ar<strong>bei</strong>t<br />
für die Familie ausgefüllt sind. Diese Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen erwarten, daß di e<br />
Leerzeiten der Hausar<strong>bei</strong>t und Kinderbetreuung ausreichen, um die berufliche<br />
Ar<strong>bei</strong>t am Computer zu erledigen. Diese Frauen stellen sich vor, daß für die<br />
Bear<strong>bei</strong>tung dieser unterschiedlichen Aufgaben ein Nebeneinander und Hintereinander<br />
die optimale Lösung wäre; gleichzeitig hoffen sie, so der Einsamkeit<br />
und Langeweile der Hausar<strong>bei</strong>t zu entgehen.<br />
Diese Erwartungen werden, zumindest in unserer Fallstudie, nicht erfüllt:
- 127 -<br />
der zeitliche Umfang der Teleheimar<strong>bei</strong>t kann nicht von den Frauen selbst bestimmt<br />
werden, sondern wird meist von den jeweiligen Auftragsunternehmen<br />
di ktiert. Damit dreht sich aber das ursprünglich gewünschte Verhältnis zwischen<br />
Berufsar<strong>bei</strong>t und familialer Ar<strong>bei</strong>t um: nicht der Umfang der Berufsar<strong>bei</strong>t<br />
orientiert sich an den Erfordernissen der familialen Ar<strong>bei</strong>t, sondern die Ar<strong>bei</strong>t<br />
in der Familie hat sich den Anforderungen der Berufsar<strong>bei</strong>t unterzuordnen.<br />
Die Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen unserer Fallstudie richten letztendlich Ausmaß<br />
und Qualität der Ar<strong>bei</strong>t in der Familie nach den Vorgaben der beruflichen Ar<strong>bei</strong>t<br />
aus. Für die Kinderbetreuung heißt das: die von den Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen<br />
erhoffte ständige Fürsorge für die Kinder kann von ihnen nur bedingt realisiert<br />
werden. Sie sind zwar "rund um die Uhr" physisch anwesend, jedoch keineswegs<br />
al lzeit ansprechbar. Damit sind sie für ihre Kinder zwar körperlich da, sichtbar,<br />
ihr Denken und Fühlen wird aber erheblich und über weite Strecken des<br />
Tages vom Computer absorbiert. Die Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen können ihren Kindern<br />
nur noch eingeschränkt Aufmerksamkeit zukommen lassen, oftmals beschränkt<br />
sich die Kinderbetreuung auf eine oberflächliche "Kontrolle". Ein hohes<br />
Maß an Sel bstkontrolle ist nötig, weil Teleheimar<strong>bei</strong>t den Preis hoher Nervosität<br />
und Uberbeanspruchung fordert. Mit Teleheimar<strong>bei</strong>t wird der familialen<br />
Ar<strong>bei</strong>t die Zeit- und Kostenökonomie der beruflichen Ar<strong>bei</strong>t "übergestülpt".<br />
Dieses Auseinanderfallen von Anspruch und Wirklichkeit setzt die Frauen<br />
selbst unter erhöhten Streß. Sie wollen trotz der geschilderten Schwierigkeiten<br />
an<br />
<strong>bei</strong>den Ar<strong>bei</strong>tsbereichen teilhaben. Der ständige Wechsel bzw. die gleichzeiti<br />
ge Bear<strong>bei</strong>tung von familialen und beruflichen Aufgaben verlangen den Teleheimar<strong>bei</strong>ter<br />
innen erhebliche Organisationsleistungen ab. Die Hoffnung dieser<br />
Frauen, mehr Freiräume in ihrer Verbindung von Ar<strong>bei</strong>t und Leben zu erhalten,<br />
erfüllt sich meist nicht. Dise Ar<strong>bei</strong>tssituation als Teleheimar<strong>bei</strong>terin birgt die<br />
Gefahr, zum Nachteil der Frauen auszuschlagen, die nach einer individuellen<br />
Lösung des gesellschaftlichen Problems der Vereinbarung von Beruf und Familie<br />
suchen (müssen).<br />
LITERATUR<br />
Pieper, Barbara: Subjektorientierung als Forschungsverfahren - vorgestellt am<br />
Beispiel häuslicher Ar<strong>bei</strong>t. In: Bolte, K.M./Treutner, E. (Hg.): Subjektorientierte<br />
Ar<strong>bei</strong>ts- und Berufssoziologie. Frankfurt/ New York 1983
- 128 -<br />
Schuster, Irene: Erster Erfahrungsbericht über Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen. In: Informationen<br />
für die Frau (1986) 6
- 129 -<br />
Inga Discher<br />
TRAUTES HEIM - GLUCK ALLEIN?<br />
Uber den vielfältigen Nutzen der Ansiedelung weiblicher Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
im Wohnbereich und seine kleinen Schattenseiten<br />
Die erste deutsche Studie über Auswahl, Eignung und Auswirkung von informationstechnisch<br />
gestützten Heimar<strong>bei</strong>tsplätzen - kurz Telear<strong>bei</strong>t genannt - faßte<br />
1982 die möglichen Schattenseiten in der Überschneidung der Wohnnutzung als<br />
ni cht empirisch überprüfte Vermutung zusammen:<br />
"Besondere Probleme können sich hinsichtlich des Flächenbedarfs,<br />
der Beleuchtung und des Raumklimas ergeben. Telear<strong>bei</strong>tsplätze werden<br />
definitionsgemäß in der privaten Wohnung der Erwerbstätigen<br />
in stalliert, die nicht für Ar<strong>bei</strong>ts-, sondern für Wohnzwecke konzipi<br />
ert und gebaut werden. Sofern im konkreten Fall kein zusätzlicher<br />
Raum zur Verfügung steht, wird die Einrichtung eines Telear<strong>bei</strong>tsplatzes<br />
zur Nutzungskonkurrenz im vielfach schon knappen Wohnraum<br />
führen." (Ballerstedt u.a. 1982, S. 276)<br />
Diese prognostischen Einschätzungen gehen von den angenommenen Verhaltensweisen<br />
der "Neutren" der Erwerbstätigkeiten aus. Tatsächlich jedoch<br />
zeigen Frauen und Männer höchst unterschiedliche Einstellungen, Bewertungskriterien<br />
und Problemlösungsstrategien. Gemäß ihrer geschlechtsspezifischen<br />
Rol lenzuweisung müssen die Frauen Vereinbarkeitsmodel le entwickeln, die Ar<strong>bei</strong>tsplatz<br />
im Haus, Reproduktionsfläche für den Mann und Familienaufgaben<br />
gewährleisten. In der Hierarchie von emotionaler Zuwendung bis zu effektiver<br />
Ausgestaltung und Sicherung des häuslichen Ar<strong>bei</strong>tsplatzes sind Frauen personengebunden<br />
orientiert. Das männliche "Ernährermodell" läßt die Männer andere<br />
Prioritäten setzen, der Zwang zur lebenslangen Erwerbsar<strong>bei</strong>t verlangt nach<br />
rationellen effektiven Standortbedingungen <strong>bei</strong> der Einrichtung eines häuslichen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplatzes.<br />
Historisch betrachtet, sind die bis zur industriellen Revolution im Hausverband<br />
zusammengeschlossenen Lebens- und Ar<strong>bei</strong>tsgemeinschaften mehrerer<br />
Generationen nicht zu vergleichen mit den Verlagerungstendenzen <strong>bei</strong> Telear<strong>bei</strong>t<br />
in den privaten Raum.
- 130 -<br />
1. Die "normale" Diskriminierung der Frau im Wohnbereich<br />
Die Kleinwohnung wurde der Ar<strong>bei</strong>tsplatz der Frau, dort verrichtet sie unbezahlte<br />
Haus- und Familienar<strong>bei</strong>t. Als weibliche Lieferantin eines zusätzlichen<br />
Familieneinkommens, als "Mitverdienerin", verbessert sich ihr Status nicht umstandslos:<br />
Unbezahlte Hausfrau - schlecht entlohnte Berufsfrau. Innerhalb ihres<br />
Ar<strong>bei</strong>tspla tzes Wohnung ergeben sich weitere Interessenüberschneidungen.<br />
Wohnraum ist nach der funktionellen Anordnung der Räume in Tag- und Nachtbereiche,<br />
in Repräsentationsräume und Ar<strong>bei</strong>tsstätte an den Erholungsinteressen<br />
der Männer orientiert. Die flächenmäßige Verteilung der Einzelräume, die<br />
ba uliche Trennung der Küche vom Eßplatz, dem Wohn- und dem Kinderzimmer,<br />
unterstützen die geschlechtsspezifische Ar<strong>bei</strong>tsteil ung im Haushalt, führen zur<br />
Isolation und Mehrbelastung der Frauen (Warhaftig 1979). Innerhalb der Wohnfl<br />
äche ist ein eigener Reproduktionsraum für Frauen nicht vorgesehen. Hat sie<br />
überhaupt Anspruch auf Reproduktionszeit? Familienbedürfnisse bestimmen quasi<br />
unbegrenzt den Einsatz weiblicher Ar<strong>bei</strong>tskraft, somit auch innerhäuslich<br />
fl exibler Ar<strong>bei</strong>tseinsatz auf Abruf. Der Wegzeitenaufwand innerhalb der Wohnung<br />
ist aufgrund der üblichen Raumanordnung enorm: Von der meist nach Norden<br />
ausgerichteten, zellenartigen Küche gibt es keine Direktverbindung zum<br />
Kinderzimmer und damit zu den Betreuungsaufgaben. Die Küche ist eng; sie ist<br />
auf eine Person zugeschnitten (Terlinden 1980). Der Hauptort weiblicher, auch<br />
räumlich unsichtbar gemachter Hausar<strong>bei</strong>t.<br />
Räumliche und soziale Isolation kennzeichnen nicht nur den Wohnbereich<br />
von Frauen, sie schreiben sich in der Funktionsteilung der Städte, des Landes,<br />
in der Aufteilung in Gewerbegebiete, Geschäfts- und Ar<strong>bei</strong>tsgebiete und Wohngebiete<br />
fort. Die geringe Mobilität von Frauen, gemessen am Wegzeitenaufwand<br />
(fußläufiges Frauenverhalten contra Aktivität der männlich erbrachten Autokilometer<br />
), die verkehrsbedingte "Nutzungsbenachteiligung", verweisen die Frauen<br />
an<br />
nahegelegene Einrichtungen und schnell erreichbare Ar<strong>bei</strong>tsplätze, um Familienbedürfnisse<br />
und Erwerbsar<strong>bei</strong>t zu vereinbaren. Hinzu kommen die Mängel<br />
der Infrastruktur für Frauen: starre Öffnungszeiten für Kinderbetreuungseinrichtungen,<br />
keine Erholungsangebote im Wohnumfeld, keine öffentlichen Treffpunkte.
- 131 -<br />
2. Die doppelt unsichtbare Ar<strong>bei</strong>t<br />
Nach dieser Skizze über die Diskriminierung der Frauen im Wohnbereich unter<br />
"durchschnittlichen" Verhältnissen nun ein empirischer Blick auf die Bewältigu<br />
ngsstrategien der zuhause telear<strong>bei</strong>tenden Frauen und Männer. Welche Nutzungsüberschneidungen<br />
auftreten, mit welchen Mitteln und zu wessen Lasten<br />
si e gelöst werden, welche veränderte Raumnutzung sich ergibt, wird im folgenden<br />
aufgezeigt. Basis der empirischen Auswertungen sind Intensivintervi ews mit<br />
je zehn Frauen und Männern unterschiedlicher Qualifikationen: von der einfachen<br />
Datenerfassung über Ubersetzungsar<strong>bei</strong>ten bis zu Programmier- und Systemanalysetätigkeiten<br />
(Discher/Klug 1986).<br />
Bei der Wahl des Ar<strong>bei</strong>tsortes mußten sich die Frauen an mehreren Bedingungen<br />
orientieren: es gilt, Familieninteressen - also ständige Erreichbarkeit<br />
und Ansprechbarkeit - mit der Ar<strong>bei</strong>t am Computer zu kombinieren. Die dazu<br />
erforderlichen Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen - relative Ungestörtheit, Ruhe, Konzentrationsmöglichkeiten<br />
für länger andauernde Ar<strong>bei</strong>tszeiten - ähnlich den Anforderungen<br />
an betriebliche Ar<strong>bei</strong>tsplätze - stehen im Gegensatz zu den Ansprüchen<br />
nach emotionaler Zuwendung seitens der Familienmitglieder. Ausschlaggebend<br />
für die Frauen <strong>bei</strong> der Auswahl ihres Gerätestandortes ist die Erreichbarkeit<br />
ih rer Person. Entsprechend steht der Computer überwiegend im Wohnzimmer,<br />
im Flur oder in der Küche. Verfügen die Frauen ausnahmsweise über ein eigenes<br />
Ar<strong>bei</strong>tszimmer, so liegt der Ar<strong>bei</strong>tsort meist abseits vom zentralen Wohnbereich.<br />
Die räumliche Abtrennung von Familienar<strong>bei</strong>t und Erwerbsar<strong>bei</strong>t erschwert<br />
die Vereinbarung. Der häufig erzwungene Komprorniß geht dahin, Familienaufgaben<br />
mit Priorität zu versehen, die Erwerbsar<strong>bei</strong>t dagegen auf Randzeiten<br />
(Abend-, Nacht- und Wochenen?zeiten) zu verlegen. Da das Ar<strong>bei</strong>tszimmer<br />
- soweit es existiert - immer auch eine Zweit- oder Drittfunktion etwa als<br />
Bügel- und Nähraum oder als Gästeschlafzimmer hat, wird die Geräteausstattung<br />
kaschiert: Asthetische Vorstellungen über die Ausgestaltung des Wohnbereichs<br />
vertragen sich nicht mit der Atmosphäre des "Technik-Designs". Die Gerä<br />
te werden "angeglichen", <strong>bei</strong>spielsweise zugedeckt, unkenntlich gemacht, auf<br />
Rollen gesetzt und mit dem Tisch in den Wandschrank gefahren. Vermutlich<br />
entspricht dies nicht nur einem ästhetischen Bedürfnis: So unsichtbar wie in<br />
dafür abgetrennten Räumen und Zeiten Hausar<strong>bei</strong>t verschwindet, so wird die<br />
häuslich geleistete Erwerbsar<strong>bei</strong>t verdeckt.
- 132 -<br />
Ein weiterer Grund für die "Verschleierung" ist die Abschirmung gegen die<br />
stän dige Erinnerung an Ar<strong>bei</strong>t. Im Gegensatz zu betrieblicher Ar<strong>bei</strong>t mit festgesetzten<br />
Ar<strong>bei</strong>tszeiten und Ortswechsel ist die Telear<strong>bei</strong>t zuhause prinzipiell<br />
ständig anstehende Ar<strong>bei</strong>t - abgesehen von Auftragsflauten.<br />
Entgegen der von betrieblicher Seite hervorgehobenen Kombinierbarkeit<br />
von Erwerbsar<strong>bei</strong>t und Familienar<strong>bei</strong>t im Haus erweist sich die Praxis eher als<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverdichtung, und zwar nicht nur wegen der akkordähnlich ausgestalteten<br />
Bezahlung, sondern auch aufgrund der multifunktionellen Aufgabengebiete im<br />
raschen Wechsel. Als gesonderte Wegstrecke fällt nun an, was früher auf dem<br />
Weg zu und von der Ar<strong>bei</strong>t einzukaufen und zu erledigen war. Kinder zum Kindergarten<br />
bringen oder Besorgungen machen, sind jezt zusätzliche Zeitfaktoren.<br />
Auch im Wohnbereich lassen sich Ar<strong>bei</strong>tsabläufe wie Kochen, Hausaufgaben<br />
be treuen, Kinder beaufsichtigen, Waschen etc. kaum kombinieren, sondern sind<br />
nur durch Verlagerung und Unterbrechung der. Erwerbstätigkeit zu organisieren.<br />
Die Primärorientierung der Telear<strong>bei</strong>terinnen an den Familienbedürfnissen<br />
korrespondiert mit der Erwartungshaltung der Familienmitglieder. Sie alle finden<br />
die Erwerbstätigkeit ihrer Mütter und Ehefrauen im Haus angenehm. Die<br />
Kinder nutzen die Anwesenheit der Mutter zur verstärkten Kommunikation. Die<br />
oft mühsam eingeführ ten häuslichen Aufgabenübertragungen, selbständige Ar<strong>bei</strong>tsabwicklungen<br />
lösen sich mit der ständigen Anwesenheit der Mutter mehr<br />
od er weniger schnell auf. Auch die Ehemänner gehen, wenn ihre Frauen zuhause<br />
ar<strong>bei</strong>ten, zu einer noch bescheideneren Beteiligung an Haushaltsaufgaben<br />
über. Im Ergebnis werden Geschlechtsstereotype eher verstärkt, di e geschlechtshierarchische<br />
Ar<strong>bei</strong>tsteil ung verfestigt.<br />
Bei der genaueren Überprüfung der Ar<strong>bei</strong>tsplätze werden ergonomische<br />
Mängel deutlich. Die Ausgestaltung wird unter einem kurzfristigen Kalkül entschieden.<br />
Die für Bildschirmar<strong>bei</strong>tsplätze ausgegebenen Richtlinien der Verwaltungsgenossenschaften<br />
bezüglich Stellflächen, Tischhöhe, Bestuhlung und Blendfreiheit<br />
sind selten be kannt; die darin angegebenen Mindestflächen für Bildschirmar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
werden immer unterschritten. Die Büromöbel, die eher an<br />
Sperrmüll erinnern, sind immer auf engstem Raum, unter ungünstigen Lichtverhältnissen<br />
angeordnet. Teile der Ausstattung (Stühle, Ablagefläche) werden<br />
auch an derweitig verwendet oder abgebaut, um Lauffläche herzustellen. Das<br />
heißt konkret, der Ar<strong>bei</strong>tsplatz ist nicht immer nutzbar, muß stets neu wiederhergerichtet<br />
werden.
- 133 -<br />
Sind die Computer nicht von einem Auftraggeber gestellt, sondern Eigenanschaffungen,<br />
stehen der Preis, die kurzfristige Finanzierbarkeit, im Vordergrund.<br />
Moderne Geräte, die relativ schnell mit gutem Bild und umfangreichem<br />
Programm bestmögliche Ar<strong>bei</strong>tsergebnisse erzielen, sind teuer. Die von den<br />
Frauen eingesetzten Geräte unterer bis mittlerer Preisklasse ohne größere<br />
Anbaumöglichkeiten benötigen auch von der Gerätetechnik her mehr Zeit, d.h.<br />
mehr Ar<strong>bei</strong>t für weniger Geld. Diese Planung ohne zukünftige Expansionsmöglichkeiten<br />
ist schon in der Geräteausstattung verankert. Demgegenüber setzt<br />
der Erhalt der Qualifikation Vertrautheit mit der Bedienung der neuesten Gerätetechnik<br />
und Kenntnisse der Aussteuerung entwickelter Funktionen am Gerät<br />
vo raus. Der zu erwartende negative Kreislauf - geringes Einkommen, lange<br />
Abschreibezeiten der Geräteausstattung, steigende Standards der Auftraggeber<br />
bezüglich der Qualität der Ar<strong>bei</strong>tsergebnisse, die wiederum neue Geräteausstattung<br />
erfordern, Verschuldung bzw. geringes Einkommen - macht eher Ar<strong>bei</strong>tsverdichtung<br />
<strong>bei</strong> gleicher Entlohnung als Erhalt oder Erhöhung der Qualifikation<br />
wahrscheinlich. Während es sich <strong>bei</strong> den ausgelagerten Ar<strong>bei</strong>tsaufgaben<br />
in aller Regel um Teiltätigkeiten handelt, die allerdings von relativ einfachem<br />
bis zu hohem Qualifikationsniveau reichen, verbleiben die anspruchsvolleren,<br />
umfassenderen Tätigkeiten, die auch die kollegiale Zusammenar<strong>bei</strong>t erfordern,<br />
im Betrieb. Reduzierte Teiltätigkeiten, etwa von <strong>Text</strong>erfasserinnen, zeichnen<br />
si ch durch Monotonie, Hetze und Streß aus , Belastungen, di e keine Entsprech<br />
ung in der EntlOhnung finden. Demgegenüber sind Berufsausbildung, Berufserfahrung<br />
und genaue Kenntnis der betrieblichen Abläufe Voraussetzungen <strong>bei</strong><br />
der Einstellung der Betriebe, sind Momente ihrer Rekrutierungsstrategie. Sie<br />
sind Teil der Ar<strong>bei</strong>tsgestaltung zuhause und setzen im Ar<strong>bei</strong>tsergebnis genau an<br />
der betrieblichen Produktionsverar<strong>bei</strong>tung an. Diese Kenntnisse sind nicht theoretisch<br />
zu vermitteln, weshalb sich diese Qualifikationen mit der Dauer der<br />
vom Betriebsgeschehen isoliert ar<strong>bei</strong>tenden Telear<strong>bei</strong>terinnen vernutzen. Handelt<br />
es sich <strong>bei</strong> diesem Qualifikationsverl ust um eine notwendige Folge der<br />
Erwerbsar<strong>bei</strong>t im Haus oder nur um eine frauenspezifische Orientierungslosigkeit<br />
ihrer Berufsbiographien oder um das Problem des "weißen Flecks" in der<br />
Infrastruktur und der Interessenvertretung?<br />
Wenden wir uns zur Überprüfung dieser Frage den männlichen Koll egen<br />
zu. In den gleichen Berufsfel dern (<strong>Text</strong>erfassung, Übersetzung, Programmierung)<br />
nu tzen sie privaten Wohnraum deutlich anders aus. Bei annähernd gleichen<br />
Wohnungsgrößen und gleicher Raumaufteilung ist ihnen die Reservierung eines
- 134 -<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplatzes kein Problem. Nach den Kriterien der Ungestörtheit, der besten<br />
Lichtverhältnisse, der größten räumlichen Entfernung des Ar<strong>bei</strong>tsplatzes von<br />
den Störungen der Familienmitglieder wählen sie Flächen aus, die ihren früheren<br />
betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplätzen entsprechen. Die Ubertragung der betrieblichen<br />
Organisation nach Hause bedeutet z.B., daß das Familientelefon okkupiert<br />
wird. Die Ar<strong>bei</strong>tsplätze an den Fensterseiten der Wohnzimmer, Schlafräume<br />
bzw. im eigenen Ar<strong>bei</strong>tszimmer (ohne zusätzliche Funktionen) sind bestens ausgestattet<br />
und entsprechen den Vorschriften des Ar<strong>bei</strong>tsschutzes wie auch den<br />
ergonomischen Normen. Die Büromöbelausstattung entspricht den betrieblichen<br />
Standards, die Geräteausstattung trägt dem Gesichtspunkt der technischen Ausbaufähigkeit<br />
Rechnung. Die Geräte-Asthetik ist an den Einrichtungsstil so angeglichen,<br />
wie dies Fernsehanlagen und Hi-Fi-Türme durch Wert-Besetzung<br />
sc hon bislang demonstriert haben - Männerwerte! Männliche Telear<strong>bei</strong>ter sehen<br />
ihre Tätigkeit als eine berufliche Perspektive, die ihnen flexible Ar<strong>bei</strong>tszeiten<br />
"eröffnet, hierarchische betriebliche Zwänge abbaut, insgesamt größere Unabhängigkeit<br />
ermöglicht.<br />
Im Vordergrund stehen <strong>bei</strong> ihnen mithin nicht die Kombinierbarkeit von<br />
Familienbetreuungsaufgaben und häuslicher Erwerbstätigkeit, sondern das<br />
Eigeninteresse an selbständiger Ar<strong>bei</strong>tsorganisation. Der<br />
"männliche" Tele<br />
Heimar<strong>bei</strong>tsplatz hat Wert, denn er erzeugt Familieneinkommen; er ist wichtig<br />
und demonstriert das in der unverhohlenen Zur-Schau-Stellung der Gerätetechni<br />
k. Die von den Männern festgesetzten Ar<strong>bei</strong>tszeiten werden von allen Familienmitgliedern<br />
respektiert; besonders laute Ar<strong>bei</strong>ten werden auf die Pausenzeiten<br />
der Männer gelegt.<br />
Nicht biologische Grundkonstanten, sondern die Widersprüchlichkeit <strong>bei</strong><br />
der Vereinbarung von Familien- und Erwerbstätigkeiten ist " mithin der Stein,<br />
über den frau <strong>bei</strong> Tele-Heimar<strong>bei</strong>t stolpert. Die Uberlappung der gegensätzlichen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsaufgaben lassen auch in der Planung und Organisation kaum Zielgerichtetheit<br />
zu.<br />
Alles unter einem Dach - alles bestens? Produktions- und Reproduktionsar<br />
<strong>bei</strong>t im Wohnbereich bedeuten für die dort ar<strong>bei</strong>tenden Frauen und Männer<br />
höc hst Unterschiedliches. Gemeinsam ist ihnen, daß diese Form der Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
Wohnfläche entzieht, zusätzliches Konfliktpotential schafft, Familienbedürfnisse<br />
beschneidet und reglementiert. Zu fordern ist und bleibt die Öffnung<br />
des privaten Bereichs der Wohnung nach außen, nicht die Reduzierung der Teil-<br />
"habe an der Öffentlichkeit durch innerhäusliche, ungeschützte Erwerbsar<strong>bei</strong>t,
- 135 -<br />
die zudem Möglichkeiten des sozialen und politischen Lernens verengt, eine<br />
menschliche Qualifikation.<br />
LITERATUR<br />
BaI Ierstedt, E./Dipper, M./Krebsbach-Gnath, C.: Studie über Auswahl, Eignung<br />
und Auswirkungen von informationstechnisch ausgestatteten Heimar<strong>bei</strong>tspl<br />
ätzen. Forschungsbericht (DV 82-002) des BatteIle-Instituts. Frankfurt/<br />
Main 1982<br />
Discher, I./ Klug, G.: Telear<strong>bei</strong>t - Chancen oder Risiken für die Frauenerwerbsar<br />
<strong>bei</strong>t? Untersuchung für die Bevollmächtigte der hessischen Landesregierung<br />
für Frauenangelegenheiten. Ms. Frankfurt 1986<br />
Terlinden, UIIa: Baulich-räumliche HERRschafts-Bedingungen und Veränderungen.<br />
In: Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis (1980) 4<br />
Warhaftig, Myra: Die Behinderung der Emanzipation der Frau durch die Wohnu<br />
ng. In: Bauwelt (1979) 31/32
- 136 -<br />
Gabriele C. Klug<br />
JURISTISCHE PROBLEME UND GEST AL TUNGSMÖGLICHKEITEN<br />
DER TELEARBEIT<br />
1. Flexibilisierung von Unternehmensorganisation und Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />
"Telear<strong>bei</strong>t" - dieser Begriff kann heute als Schlagwort für die aktuellen Entwickl<br />
ungen stehen, in denen sich der Prozeß ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher Deregulierung<br />
im Zusammenhang mit der Umstrukturierung der Ar<strong>bei</strong>tsorganisation vollzieht.<br />
Wegen dieses qualitativen Aspekts hat die heftig geführte Diskussion um die<br />
"Telear<strong>bei</strong>t" ihre Sprengkraft erhalten, nicht aus ihrer quantitativen Bedeutung.<br />
Die rechtliche Problematik der Telear<strong>bei</strong>t ist nicht von ihrem unternehmensorganisatorischen<br />
Hintergrund zu trennen: Einführung bzw. Ausbau von Telear<strong>bei</strong>t<br />
werden in Umsetzung unternehmerischer Rationalisierungsentscheidungen durchgesetzt:<br />
die Wirtschaft organisiert sich neu, um optimal flexibel auf im Wandel<br />
be findliche Marktverhältnisse und verschärfte Wettbewerbsbedingungen zu reagieren.<br />
Dies führt zu Unternehmens(-eigner-)entscheidungen, die ar<strong>bei</strong>tsrechtlich<br />
e Konsequenzen haben: was auf der betriebswirtschaftlichen Seite "Flexibilisi<br />
erung von Unternehmensorganisation" heißt, bedeutet in der ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen<br />
Konsequenz: Unternehmensteilung und Betriebsaufspaltung, Betriebsstillegung<br />
und Kündigung - oder "flexiblere Beschäftigungsformen". Betriebliche Realität,<br />
die Gestalt des "Sozialorts Betrieb" ändert sich, die Interessen der Beschäftigten<br />
sind betroffen - Mitbestimmungsrecht und kollektive Regelungen sollten<br />
gr eifen.<br />
Wie lückenhaft die ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Schutzregel ungen sind, zeigt sich<br />
<strong>bei</strong>spielhaft im Zusammenhang mit der Einführung neuer Technologie in den<br />
Betrieben: Erbittert müssen Gewerkschaften und Betriebsräte feststellen, daß<br />
die tradierten Instrumente des kollektiven Ar<strong>bei</strong>tsrechts versagen. Der Grund:<br />
ni cht die Entscheidungen über die Organisation der Ar<strong>bei</strong>t sind nach dem Betriebsverfassungsgesetz<br />
mitbestimmungspflichtig, sondern nur bestimmte Teilas<br />
pekte auf der Ebene der Auswirkungen solcher Entscheidungen.<br />
Auch die durch Teilung von Unternehmen bzw. Betrieben geschaffenen<br />
dezentralen Vertretungsstrukturen, die einheitlichen Unternehmerentscheidun-
- 137 -<br />
gen zersplitterte Belegschaftsvertretungen entgegensetzen, können mit den althergebrachten<br />
Mitteln des kollektiven Ar<strong>bei</strong>tsrechtes nur unzulänglich aufgefangen<br />
werden.<br />
Vor allem aber bestehen ka um Ansatzmöglichkeiten, einer Umverteilung<br />
von betrieblicher Ar<strong>bei</strong>t in außerbetriebliche Ar<strong>bei</strong>t effiziente Gegenmacht<br />
entgegenzusetzen: Die rechtliche Kontrolle ist auf den tatsächlichen Wegfall<br />
des betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tsplatzes beschränkt, ob später ein gleicher außerbetrieblicher<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplatz eingerichtet wir d, ist kaum nachprüfbar. Kollektive<br />
Handlungsmöglichkeiten nach dem Betriebsverfassungsgesetz bestehen nur dort,<br />
wo die Interessen eines wesentlichen Teils der Beschäftigten betroffen würden.<br />
So können sich unternehmer ische Auslagerungsentscheidungen weitgehend ungehi<br />
ndert vollziehen.<br />
Dies alles führt aber zu einer Anderung der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen. Das kollektive<br />
Ar<strong>bei</strong>tsrecht setzt di e Existenz funktionsfähiger, im Zweifel kampfkräftiger<br />
betrieblicher Belegschaften voraus. Es ist in der Zeit betrieblicher Zentralisation<br />
gewachsen und hat demgemäße Aktionsformen entwickelt. Das Individualar<strong>bei</strong>tsrecht<br />
geht ebenfalls von einem Ideal aus: sein Regelungsgegenstand<br />
ist das betriebliche Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnis, d.h., die möglichst lebenslange,<br />
möglichst ununterbrochene, möglichst vollzeitige weisungsgebundene betriebliche<br />
Ar<strong>bei</strong>t. Je näher diesem Ideal, desto geschützter und sozial abgefederter<br />
ist die Stellung im Konfliktfall - Schutzrechte als Aquivalent für fremdnü<br />
tzige Ar<strong>bei</strong>t und Unterwerfung unter die Weisungsbefugnis eines anderen.<br />
Die Kehrseite dieses Ideals des betrieblichen Stammar<strong>bei</strong>tnehmers ist, daß<br />
an dere Beschäftigtengruppen bewußt aus dem Geltungsbereich ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher<br />
Schutz normen ausgeschlossen bleiben: der klassische Fall sind die Heimar<strong>bei</strong>ter/innen.<br />
Allerdings wurde für diesen Beschäftigtenstatus bereits früh eine<br />
besondere rechtliche Schutzregelung gefunden, da ihre ungezügelte Ausbeutung<br />
zu staatlich nicht hinnehmbarer Gefährdun g der Reproduktion der ar<strong>bei</strong>tenden<br />
.<br />
Bevölkerung führte. Bis zum heutigen Tag ist das Ar<strong>bei</strong>tsrecht jedoch Ar<strong>bei</strong>tnehmerschutzrecht<br />
mit dem betrieblichen Normalar<strong>bei</strong>tnehmer als Orientierungspunkt<br />
geblieben, die anderen sind die "atypischen" Beschäftigungsverhältnisse,<br />
derer in erster Linie die Rechtsprechung Herr werden mußte. Sie hat<br />
si ch auf diese Aufgabe flexibel mit der Einführung des Begriffs der "ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen<br />
Person" eingestellt. Deren Standarddefinition lautet: Ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche<br />
Personen sind "Dienstleis.tende, die mangels persönlicher Abhängig-
- 138 -<br />
keit keine Ar<strong>bei</strong>tnehmer, aber wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit keine<br />
Unternehmer sind ••. " (Schaub, § 9 I 1; vgl. im einzelnen unter 2.).<br />
Unter dem allenthalben zitierten Schlagwort der "Flexibilisierng der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen"<br />
vollzieht sich heute immer stärker die Abkehr vom Idealtypus<br />
des betrieblichen Normalar<strong>bei</strong>tnehmers zu weniger in das betriebliche Kollektiv<br />
integrierten Ar<strong>bei</strong>tsformen. Diese Entwicklung betrifft heute nicht mehr nur<br />
das klassische Flexibilisierungspotential weiblicher Beschäftigter, auch wenn<br />
sie als "Zuverdienerinnen" immer noch am stärksten betroffen sind (hängt doch<br />
vom Verweis auf diesen Status die Akzeptanz solcher Beschäftigungsformen wie<br />
der durch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz legalisierten "kapazitätsorientierten<br />
variablen Ar<strong>bei</strong>tszeit - Kapovaz" und ähnlicher ungeschützter<br />
Beschäftigungsformen ab). Rechtswissenschaft und Gewerkschaften schenken<br />
dem Problem, ' wie einstens der Heimar<strong>bei</strong>t, jedoch nun mehr Aufmerksamkeit,<br />
weil die Bedrohung der gewachsenen betrieblichen Strukturen und der versc<br />
härfte Konkurrenzdruck auf die betrieblichen Beschäftigten zur Reaktion<br />
zwingen.<br />
Vom Ideal der betrieblichen Stammbelegschaft abweichende Beschäftigu<br />
ngsformen, "flexiblere" Beschäftigungsformen sind zumeist auch billigere Beschäftigungsformen.<br />
Dies folgt zum einen aus einem unmittelbaren Lohndrücker-Effekt<br />
("Schmutz konkurrenz"), zum anderen mittel bar aus der Nichtanwendbarkeit<br />
der "teuren" Gesetze über Kündigungsschutz und (betriebliche)<br />
Mitbestimmung, zum Teil Sozialversicherung. Zum dritten sind die "Nichtar<strong>bei</strong>tnehmer"<br />
im Regelfall auch nicht in die Tarifverträge einbezogen, so daß auch<br />
tarifliche Schutzregel ungen keine Anwendung finden - selbst wenn diese Personen<br />
gewerkschaftlich organisiert wären. Diese Beispiele sol len zunächst abstrakt<br />
deutlich machen, weshalb der gesetzlichen Ausgestaltung des Ar<strong>bei</strong>tsrechts<br />
als vom rechtlichen Status als Ar<strong>bei</strong>tnehmer/in abhängigem Schutzrecht<br />
eine solche Bedeutung und der Flexibilisierung der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen mit ihren<br />
Umgehungstendenzen eine solch brisante Wirkung zukommt. Auflösung der<br />
gewachsenen kollektiven Strukturen durch Individualisierung der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />
- diese Tendenz in der aktuellen Flexibilisierungsdebatte könnte die<br />
Beschäftigten wieder auf die rechtliche Ausgangssituation des 19. Jahrhunderts<br />
mit seinem Verweis auf die individuelle Vertragsgestaltungsmacht zurückwerfen.
- 139 -<br />
Und mehr als das: die Entwicklung eines "Networker-Unternehmertums" hat<br />
die Umgehung ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher Schutz vorschriften zur Folge, eine Entwicklung,<br />
die allenthalben voranschreitet (vgl . etwa Handelsblatt v. 6./7.12.1986).<br />
2. Statusspezifische Schutzdefizite<br />
"Telear<strong>bei</strong>t" ist kein Begriff, der einen bestimmten Rechtsstatus voraussetzt.<br />
Entsprechend kommt die ganze Palette vertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten<br />
für die Erbringung von Ar<strong>bei</strong>tsleistungen am Bildschirmgerät außerhalb der betrieblichen<br />
Zentrale in Frage.<br />
Vorfindbare Vertragsverhältnisse sind da<strong>bei</strong> vor allem von dem Vorurteil<br />
geprägt, daß Ar<strong>bei</strong>t zuhause identisch sein müsse mit Heimar<strong>bei</strong>t. Dem ist nicht<br />
so.<br />
Für die in Telear<strong>bei</strong>t zu erbringende Ar<strong>bei</strong>tsleistung kommen vielmehr der<br />
Rechtsstatus<br />
o als "fre!e/r Unternehmer/in - Sel bständige/r"<br />
o als "freie/r Mitar<strong>bei</strong>ter/in" im ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen Status<br />
o als nach dem Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz beschäftigte Person<br />
o als Außenar<strong>bei</strong>tnehmer/in in Betracht.<br />
Der relativ sicherste Status ist der letztgenannte: Als Außenar<strong>bei</strong>tnehmerlin<br />
wird tätig, wer in der Regel aus betrieblichen und persönlichen Gründen<br />
in eigener Wohnung oder eigener Werkstatt tätig wird, aber persönlich und<br />
sachlich der Aufsicht des Ar<strong>bei</strong>tgebers unterliegt. Auch Personen, denen aus<br />
räumlichen Gründen ein Ar<strong>bei</strong>tsplatz im Betrieb nicht zur Verfügung gestellt<br />
wird oder die mit Einwilligung des Ar<strong>bei</strong>tgebers zuhause ar<strong>bei</strong>ten, werden als<br />
Außenar<strong>bei</strong>tnehmer/in tätig. Sie sina rechtlich völlig mit den betrieblichen Ar<strong>bei</strong>tskräften<br />
gleichgestellt. Konsequenz: Tarifverträge (<strong>bei</strong> Tarifbindung), Betriebsvereinbarungen,<br />
Kündigungsschutzgesetz, Mutterschutzgesetz, sozialrechtliche<br />
Vorschriften gelten in vollem Umfang (vgl. Schaub, § 10 I 4). Zu beachten<br />
ist jedoch, daß das Sozialversicherungsrecht für Teilzeitbeschäftigte nur eingeschränkt<br />
gil t: Keine Krankenversicherungspflicht <strong>bei</strong> Beschäftigung unter 15<br />
Stunden, keine Ar<strong>bei</strong>tslosen- und Rentenversicherungspflicht <strong>bei</strong> Beschäftigung<br />
unter 19 Stunden. Was an Defiziten bleibt, liegt vor allem im außer rechtlichen:<br />
betrieblichen Qualifikations- und Aufstiegsmöglichkeiten, soziale Kontakte, die<br />
gl eichberechtigte Einbeziehung in gemeinsame betriebliche Aktivitäten fehlen
- 140 -<br />
im Regelfall. Dies wirkt sich praktisch auch hinderlich auf Gleichstellungsmaßnahmen<br />
für Frauen aus. Als konkrete Gegenmaßnahmen bieten sich an: gezielte<br />
Anbindung der Außenar<strong>bei</strong>tnehmer/innen an betriebliche Aktivitäten, besonders<br />
intensive Betreuung durch die Beschäftigtenvertretung - etwa durch Abschluß<br />
vo n Betriebsvereinbarungen, die den Belangen dieser Beschäftigten besondere<br />
Rechnung tragen. Angesichts sich wandelnder betrieblicher Realitäten erscheint<br />
es besonders notwendig, die Anbindung an betriebliche Fortbildungsmaßnahmen<br />
zu erreichen. Regelungsinstrumente können vor allem Betriebsvereinbarungen,<br />
aber auch Tarifverträge (und Firmentarifverträge) sein.<br />
Viele in Telear<strong>bei</strong>t beschäftigte Frauen sind mit Bürotätigkeiten zuhause<br />
beschäftigt. Wenn <strong>bei</strong> ihnen die für die Annahme eines Außenar<strong>bei</strong>tnehmerinnenstatus<br />
notwendigen Kriterien nicht vorliegen (fehlende Eingliederung in den<br />
Betriebsablauf), so dürfte es sich in der Regel um Büroheimar<strong>bei</strong>ten handeln,<br />
auf die die Vorschriften des Heimar<strong>bei</strong>tsgesetzes Anwendung finden. Statusbedi<br />
ngtes Hauptdefizit: Keine Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes, Kündigu<br />
ngen sind ohne soziale Rechtfertigung jederzeit unter Einhaltung der Fristen<br />
möglich. Auch <strong>bei</strong>m Verkauf von Betrieben bzw. Betriebsteilen gehen nach der<br />
Rechtsprechung die Heimar<strong>bei</strong>tsverhältnisse nicht auf den Erwerber über (BAG<br />
AP 23 zu § 613a 13GB). Die Rechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz werden<br />
nur auf solche Beschäftigte nach dem Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz angewandt, die überwiegend<br />
für diesen Betrieb tätig sind, d.h., nur sie können <strong>bei</strong>m Abschluß von<br />
Betriebsvereinbarungen berücksichtigt werden. Als nach dem Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz<br />
Beschäftigte gelten auch Personen, die im Bereich der Büroheimar<strong>bei</strong>t ein<br />
Gewerbe angemeldet haben, aber nur, wenn sie für bestimmte Auftraggeber<br />
tätig werden. Ihre Ar<strong>bei</strong>ts- und Entgeltbedingungen sind in der "Bekanntmachung<br />
einer Gleichstellung betreffend Adressenschreiben, Schreibar<strong>bei</strong>ten u.ä.<br />
Ar<strong>bei</strong>ten" und den hierzu ergangenen Entgeltvorschriften geregelt. Personen,<br />
die nach dem Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz geschützt sind, unterliegen auch der Sozial versi<br />
cherungspflicht, wie aus § 12 des Teils IV des Sozialgesetzbuches folgt. Für<br />
di e Überwachung der Lage der in Heimar<strong>bei</strong>t beschäftigten Personen ist zusätzlich<br />
eine staatliche Stelle zuständig: <strong>bei</strong> den Gewerbeaufsichtsämtern sind<br />
staatliche Entgeltprüfer beschäftigt, die die Anwendung der Rechtsvorschriften<br />
überwachen - auch dann, wenn der Betriebsrat nichts tut/nichts tun darf. Faktische<br />
Defizite liegen hier wie <strong>bei</strong> den übrigen außerhalb der Betriebe beschäftigten<br />
Personen in der fehlenden Integration in den Betrieb, Gegenmaßnahmen
- 141 -<br />
sind wie <strong>bei</strong> Außenar<strong>bei</strong>tnehmer/inne/n möglich - mit der Maßgabe, daß zur<br />
Uberwindung der eingeschränkten betriebsverfassungsrechtlichen Handlungsmögli<br />
chkeiten tarifvertragliches Handeln noch stärker gefragt wäre.<br />
Von ihrer rechtlichen Lage her fast ungeschützt werden als "freie Mitar<strong>bei</strong>ter/innen"<br />
beschäftigte Personen tätig. Bei ihnen kommt es darauf an, ob sie<br />
aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit und sozialen Schutzbedürftigkeit<br />
de n Status als ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen genießen. Wirtschaftliche Abhängi<br />
gkeit wird dann angenommen, wenn die Ar<strong>bei</strong>ts- oder Werksleistung für Rechnung<br />
von anderen erfolgt, die dafür das Unternehmerrisiko tragen und die<br />
Dienstnehmer von den Dienstgebern nach Vergütungshöhe, Art und Dauer der<br />
Tätigkeit abhängig sind. Soziale Schutzbedürftigkeit ist dann gegeben, wenn<br />
das Maß der Abhängigkeit nach der Verkehrsanschauung einen solchen Grad<br />
er reicht, wie er im allgemeinen nur in einem Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis vorkommt und<br />
die geleisteten Dienste ihrer soziologischen Typik nach denen eines Ar<strong>bei</strong>tnehmers<br />
vergleichbar sind (so Schaub, § 9 I 1). Auf ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen<br />
ist Ar<strong>bei</strong>tsrecht grundSätzlich nicht anwendbar, es sei denn, der Zweckgehalt<br />
der einzelnen Schutzvorschriften rechtfertigte dies angesichts der sozialen<br />
Schutzbedürftigkeit. Für nicht gerechtfertigt halten die Rechtsprechung und<br />
di e herrschende Lehre eine analoge Anwendung ar<strong>bei</strong>tsrechtlicher Schutzbesti<br />
mmungen hinsichtlich der Rechte <strong>bei</strong> Betriebsü],ergang, hinsichtlich des Kündi<br />
gungsschutzgesetzes sowie des Mutterschutzgesetzes "im allgemeinen" (vgJ .<br />
<strong>bei</strong> Schaub, §§ 9 II 1, 2; 167 Ir 4; 118 I 4). Freie Mitar<strong>bei</strong>ter/ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliehe<br />
Personen gehören auch nicht zu dem von §§ 5, 6 Betriebsverfassungsgesetz<br />
genannten vom Betriebsrat zu vertretenden Personenkreis. Auch das Sozi<br />
alversicherungsrecht ist auf ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen nicht anwendbar.<br />
Konsequenz: dieser bereits rechtlich kaum geschützte Status wird durch die<br />
außerhalb des betrieblichen Kollektivs erbrachte Ar<strong>bei</strong>tsleistung noch versc<br />
härft. Als Instrumente für eine Gegenstrategie zur Vereinheitlichung von<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen und Schutz kommen für diese Personengruppe praktisch<br />
ausschließlich die gewerkschaftliche Vertretung und Tarifabschlüsse in Betracht:<br />
die Reform des Tarifvertragsgesetzes vor mehr als einer Dekade mit<br />
der Einführung des § 12 a zielte genau hierauf. Trotzdem: Tarifabschlüsse für<br />
fr eie Mitar<strong>bei</strong>ter blieben vereinzelte Ausnahmen im Bereich der Medien. Natürlich<br />
können - theoretisch - auch einzel vertragliche Besserstellungen ausgehandelt<br />
werden.
- 142 -<br />
Keine Anwendung finden Ar<strong>bei</strong>ts- und Sozialrecht <strong>bei</strong> den "freien Unternehmern";<br />
für sie gilt nur Zivilvertragsrecht.<br />
3. Perspektiven<br />
Wegen der Gefährdungen für den ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Schutz durch Telear<strong>bei</strong>t<br />
wurde schon früh die Forderung nach dem Verbot von Telear<strong>bei</strong>t, später nach<br />
ihrer spezialgesetzlichen Regelung laut. In die Diskussion wurden auch konkrete<br />
Gesetzesvorschläge eingebracht. Keine dieser Initiativen hat sich jedoch<br />
durchsetzen können. Die Diskussion hat historische Parallelen, die auch die<br />
Grenzen dieser rechtspolitischen Ansätze zeigen und auf die hier vorab kurz<br />
eingegangen werden soll.<br />
Der Vergleich mit der Entwicklung des Heimar<strong>bei</strong>tsrechts liegt nahe: Der<br />
ungezügelten Ausbeutung der Heimar<strong>bei</strong>ter/innen setzten verschiedene Kräfte,<br />
von Gewerkschaften bis hin zu konservativen Fabrikherrn, die Forderung nach<br />
dem Verbot der Heimar<strong>bei</strong>t entgegen - eine spontane Reaktion derjenigen, die<br />
aus unterschiedlichen Motiven die Etablierung des kollektiven, "zentralisierten"<br />
betrieblichen Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnisses fördern und schützen wollten.<br />
Praktisch ließ sich ein Verbot der Heimar<strong>bei</strong>t aber nicht durchsetzen - ihre historisch<br />
gewachsenen Strukturen, die Nachfrage und ihre Verankerung im Wirtschaftssystem<br />
waren zu stark. Allerdings führten die Bemühungen zu einem<br />
Verbot der Heimar<strong>bei</strong>t für bestimmte Beschäftigtengruppen (z.B. Schwangere)<br />
und in bestimmten Sektoren, die als besonders ungeeignet galten - nicht etwa,<br />
weil die Gefährdung der in Heimar<strong>bei</strong>t beschäftigten Personen so stark gewesen<br />
wäre; auslösende Momente lagen vielmehr in gesundheitspolitischen Erwägu<br />
ngen zum Schutz der Verbraucher vor Seuchen und in bevölkerungspolitischen<br />
Zielen. Um das Hausar<strong>bei</strong>tsgesetz von 1911 als erste gesetzliche Schutzregelung<br />
für die Heimar<strong>bei</strong>t durchsetzen zu können, bedurfte es jedoch weiterer Verschärfung<br />
der Konkurrenz zwischen betrieblichen und außerbetrieblichen Ar<strong>bei</strong>tskräften.<br />
Dies führte zu einer gesetzlichen Konstruktion, die schließlich<br />
vom Vorrang tariflicher - theoretisch also gemeinsamer - Regelungen für die<br />
betrieblich und außerbetrieblich Beschäftigten ausgeht (vgl. zur Geschichte der<br />
Heimar<strong>bei</strong>t im einzelnen: Gaebel 1913, S. 92 ff.; Schwiedland 1899, S. 33 ff.<br />
und 135 ff.; Maus/Schmidt 1976, Einleitung Rn. 4 ff.). Angesichts der relativ
- 143 -<br />
stabilen Beschäftigungsverhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg hat bisher jedoch<br />
nie ein so starker Druck bestanden, durch das konkurrenzregelnde Instrument<br />
des Tarifvertrags eine Angleichung der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen der in Heimar<strong>bei</strong>t<br />
beschäftigten Personen zu erzwingen. Ein aufgeschlossener Gesetzgeber<br />
kam Anfang der 70er Jahre dem Bedürfnis nach Einbeziehung der Heimar<strong>bei</strong>ter/innen<br />
in Betriebsverfassungs- und Tarifvertragsgesetz und nach der Einbeziehung<br />
kaufmännischer Tätigkeiten (jedenfalls prinzipiell) nach. Die Frage<br />
nach tariflichen Handl ungsmöglichkeiten stellt sich verschärft erst unter den<br />
Bedingungen der zunehmenden Individualisierung bzw. Flexibilisierung der Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />
in immer mehr Tätigkeitsbereichen <strong>bei</strong> gleichzeitiger Deregulierung:<br />
erst jetzt nämlich betrifft sie auch die Kerngruppen der Gewerkschaften.<br />
In der gegenwärtigen Diskussion um die Telear<strong>bei</strong>t erscheint es angesichts<br />
dieser historischen Entwicklung und angesichts der aktuellen Tendenzen<br />
zur Auflösung des Normalar<strong>bei</strong>tsverhältnisses für immer mehr Beschäftigtengr<br />
uppen wenig sinnvoll, die Forderung nach einer spezialgesetzlichen Regelung<br />
der Telear<strong>bei</strong>t zu erheben, i.S. ' der Regelung einer weiteren Sondergruppe. Das<br />
Grundproblem aller, die von solchen Regel ungen abweichende Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />
haben, bleibt: für die Anwendung des Ar<strong>bei</strong>tsrechts kommt es weiter auf<br />
die Zugehörigkeit zu einem besti mmten rechtlichen Status an. Damit werden<br />
Umgehungsstrategien vereinfacht, die an den Besonderheiten des jeweiligen<br />
Rechtsverhältnisses anknüpfen, anstatt die immer deutlicher in Erscheinung<br />
tretenden Gemeinsamkeiten abhängiger fremdnütziger Ar<strong>bei</strong>t in den Mittelpunkt<br />
der Strategie zu stellen.<br />
In die gleiche Richtung weist die Entwicklung der Rechtsfigur der ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen<br />
Person. Die mit der Novellierung des Tarifvertragsgesetzes<br />
1974 eingeführte Vorschrift des § 12a TVG ermöglicht die Einbeziehung gewisser<br />
freier Mitar<strong>bei</strong>ter/inne/ n als ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen in die Regelungskompetenz<br />
der Gewerkschaften und damit vereinheitlichende tarifvertragliche<br />
Regel ungen auch für ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche Personen.<br />
Noch ein weiteres Argument spricht für die tarifvertragliche Erfassung<br />
der deregulierten und abweichenden Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen: Der Tarifvertrag ist<br />
ein flexibleres und damit sozialen und technischen Entwicklungen rascher zugängliches<br />
Instrument als das Gesetz. Und: Tarifverträge sind ein zu erkämpfendes<br />
gewerkschaftliches Instrument, das eine gewerkschaftliche Diskussion
- 144 -<br />
und Willensbildung voraussetzt, eine Handlungschance für Gewerkschaften,<br />
statt Forderung an den Gesetzgeber. Im Bereich der Telear<strong>bei</strong>t hieße das, tarifvertragliche<br />
Schaffung einheitlicher Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen für diejenigen, die<br />
in den Betrieben oder außerhalb an informations- und kommunikationstechnisch<br />
gestützten Ar<strong>bei</strong>tsplätzen tätig sind und grundsätzlich die Einbeziehung von<br />
Heimar<strong>bei</strong>ter/inne/n und anderen "atypisch" Beschäftigten in die Tarifverträge.<br />
Allerdings gelten Tarifverträge nur zwischen den · jeweils tarif gebundenen<br />
Verbandsmitgliedern, sie können also zur regional und branchenmäßig untersc<br />
hiedlichen Ausgestaltung gleicher Tätigkeiten führen. Der Verweis auf tarifvertragliche<br />
Regelungsmöglichkeiten könnte daher die ungeschützte Ar<strong>bei</strong>t auf<br />
Beschäftigte außerhalb der Gewerkschaften und auf Ar<strong>bei</strong>tgeber außer halb der<br />
Ar<strong>bei</strong>tgeberverbände verlagern. Dies sind allerdings keine unl ösbaren Probleme.<br />
Darüber hinaus zeigt sich aber immer deutlicher, daß die Doktrin vom betrieblichen<br />
Normalar<strong>bei</strong>tnehmer als Schutzsubjekt des Ar<strong>bei</strong>tsrechts nicht mehr<br />
fo rtzuführen ist. Die Entscheidungen des Bundesar<strong>bei</strong>tsgerichts zur Abgrenzung<br />
des Ar<strong>bei</strong>tnehmers vom Status der freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen sind Legion, die<br />
jur istische Debatte um die ar<strong>bei</strong>tsrechtliche Einordnung von Franchise-, Hande<br />
lsvertreter-, Subunternehmer verträgen nimmt zu. Alle diese Diskussionen laufen<br />
darauf hinaus, die Rechtsfigur der ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen Person fortzuentwi<br />
ckeln, um wenigstens krasseste Unbilligkeiten in der Ungleichbehandlung <strong>bei</strong><br />
gl eichwertiger Ar<strong>bei</strong>t abzubauen. Die Gestaltungsfreiheit (des wirtschaftlich<br />
stärkeren Vertragspartners) wird bereits heute durch die Rechtsprechung eingesc<br />
hränkt. Sie verweist auf den Vorrang des Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisses, wenn die Beschäftigung<br />
in der typischen Abhängigkeit erfolgt (vgl . z.B. LAG Düsseldorf<br />
EzA Nr. 18 zu § 61 1 BGB "Ar<strong>bei</strong>tnehmerbegriff"; BAG AP Nr. 12, 42, 26 zu §<br />
61 1 BGB "Abhängigkeit").<br />
Anknüpfungspunkt für die Schutznormen des Ar<strong>bei</strong>tsrechts muß di e sozioökonomische<br />
Lage werden. Allein eine solche Betrachtungsweise vermag den<br />
real existierenden vielfältigen und geänderten, sich ständig entwickelnden "flexi<br />
bilisierten" Strukturen der Ar<strong>bei</strong>tsorganisation und ihrer Wir kung auf die Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen<br />
gerecht zu werden.<br />
Die Diskussion um di e "Tel ear<strong>bei</strong>t" zeigt, daß gerade erwerbstätige Frauen<br />
eine besondere Rolle einnehmen; sie hatten noch nie gleichberechtigt teil an<br />
der geschützten Ar<strong>bei</strong>t. Ihre Bedeutung für vorausschauende, konkurrenzregulierende<br />
Gewerkschaftspolitik steigt, denn heute können es sich Frauen nicht
- 145 -<br />
mehr leisten, sich auf die "Versorgungsinstitution Ehe" zurückzuziehen, die gibt<br />
es nämlich inzwischen auch rechtlich nicht mehr.<br />
LITERATUR<br />
Gaebel, Käthe: Die Heimar<strong>bei</strong>t, das jüngste Problem des Ar<strong>bei</strong>terschutzes. Jena<br />
1913<br />
Die moderne Informationstechnik ermöglicht dezentrale Ar<strong>bei</strong>tsformen. Handelsblatt<br />
v. 6./7.12.1986<br />
Maus, W./Schmidt, K.: Heimar<strong>bei</strong>tsgesetz. 3. Aufl. München 1976<br />
Schaub, Günther: Handbuch des Ar<strong>bei</strong>tsrechts. 5. Aufl. München 1983<br />
Schwiedland, Eugen: Ziele und Wege einer Heimar<strong>bei</strong>tsgesetzgebung. Wien 1899
- 147 -<br />
IV. TRADITIONELLE FRAUENBERUFE<br />
Zur Oberleitung:<br />
Urs ula Rabe-Kleberg<br />
Traditionelle Frauenberufe - traditionell unsicher<br />
Zunächst mag es überraschen, daß in der Reihe der Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, die als<br />
unsicher und sogar als ungeschützt gelten, auch die traditionellen Frauenberufe<br />
auftauchen - zudem noch mit der negativen Kennzeichnung, daß diese den<br />
Frauen, die sie erlernen und ausüben, schon immer keine adäquate berufliche<br />
und existentielle Sicherheit haben bieten können. Neu ist diese Kritik an den<br />
Bedingungen von Frauenberufen in sozialen, erziehenden und pflegenden Berufen<br />
nicht, nur war sie rund ein Jahrzehnt lang verstummt. An ihre Stelle war<br />
di e Hoffnung getreten, mit der Expansion des Wohlfahrtsstaates würde der<br />
quantitative Ausbau des Berufsfeldes in Angriff genommen, weiterhin werde<br />
mit der Hierarchisierung der Ausbildung und der Professionalisierung des Berufs<br />
verständnisses eine qualitative Verbesserung der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen verbu<br />
nden sein und nicht zuletzt mit dem Anwachsen der Zahl männlicher Berufsträger<br />
müsse dann die gesellschaftliche Wertschätzung des Spektrums traditionel<br />
ler Frauenberufe anwachsen.<br />
Heute befinden wir uns am Ende dieser Phase, und wir müssen uns fragen,<br />
ob die Hoffnungen getragen haben, d.h., ob einerseits die Einpassung der tradi-
- 148 -<br />
tionellen Frauenberufe in die Normalität von Erwerbsar<strong>bei</strong>t gelungen ist, und<br />
ob andererseits die Ausdifferenzierung von Wissen, Kompetenz und beruflichem<br />
Handeln nach dem professionellen Modell vorwärtsgetrieben werden konnte. Von<br />
diesen <strong>bei</strong>den Entwickl ungen wäre unter anderem auch eine zunehmende Absicherung<br />
der Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse in Frauenberufen zu erwarten gewesen, eine<br />
Sicherheit , die sich nicht nur auf adäquate Bezahlung und stetige Vertragsverhältnisse<br />
bezieht, sondern auch die Schwelle erhöht gegenüber von außen defini<br />
erten, willkürlichen und wechselnden Anforderungen an die Qualifikationen,<br />
das Handlungsfel d und seine Bedingungen.<br />
In den drei folgenden Beiträgen dieses Abschnittes setzen sich die Autorinnen<br />
mit diesen Fragestellungen in jeweils unterschiedlicher Weise auseinander.<br />
Helga Krüger fragt da<strong>bei</strong> vor allem nach der Funktion des Staates als Ausbilder<br />
und Ar<strong>bei</strong>tgeber von Frauen in traditionellen Frauenberufen. Es muß ja<br />
davon ausgegangen werden, daß Frauen in mehrfacher Hinsicht von der Definitionsmacht<br />
des Staates gegenüber ihrer Ar<strong>bei</strong>t - sei sie privat oder als Erwerbsar<strong>bei</strong>t<br />
erbracht - abhängig sind. Chrlsta Wulfers zeigt mit ihrem Bericht<br />
über die Ar<strong>bei</strong>t der Hauspflegerin, daß am Ende der Expansion des Wohlfahrtsstaates<br />
ein neuer Beruf für Frauen entstehen kann, in dem alle Probleme des<br />
Verhältnisses von bezahlter und unbezahlter Ar<strong>bei</strong>t reproduziert werden und '<br />
mit dem der Unterstellung besonderer weiblicher Fähigkeiten, die keiner beruflichen<br />
Qualifikation bedürfen, weitere Nahrung gegeben wird. In <strong>bei</strong>den Aufsätzen<br />
wird davon ausgegangen, daß die besondere Ar<strong>bei</strong>tsmarktsituation von<br />
Frauen diese dazu nötigt, auch unter miesen Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen den Anforderungen<br />
gerecht zu werden, die soziale und pflegende, erziehende und betreuende<br />
Tätigkeiten verlangen. Dies gilt in besonderer Weise für ausländische Frauen,<br />
Emigrantinnen, die nicht nur aufgrund ihres Geschlechtes, sondern zudem<br />
auch aufgrund ihrer Herkunft EinscHränkungen hinnehmen müssen. Zugleich aber<br />
gelten sie im Vergleich mit einheimischen Frauen als die "weiblicheren", also<br />
als solche, die ein wie immer definiertes weibliches Ar<strong>bei</strong>tsvermögen besonders<br />
umstandslos produzieren können - und deshalb auch dafür besonders<br />
schlecht oder gar nicht bezahlt werden können.<br />
Oie drei Beiträge weisen darauf hin, daß durch die aktuelle Entwicklung<br />
die Phase der 70er und 80er Jahre, in der sich auch für Frauen im Bereich sozialer<br />
Dienstleistungen große Chancen in Ausbildung und Beruf boten, leider als<br />
eine historische Ausnahme zu betrachten sein wird. Diese Erkenntnis nötigt uns<br />
zu fragen, welche strukturellen Momente es sind, die Frauenberufe zu unsiche-
- 149 -<br />
ren machen. Im folgenden will ich auf ein Grundproblem von Frauenar<strong>bei</strong>t eingehen,<br />
das sich auf die Verhältnisse in den Frauenberufen auswirkt und in den<br />
verschiedenen Erscheinungsformen auftritt.<br />
Während die Ungeschütztheit weiblicher Erwerbsverhältnisse entweder aus<br />
konjunkturzyklischen oder krisenhaften Veränderungen auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt,<br />
deren Opfer zuerst Frauen sind, oder aus der privaten, phasenweise wiederkehrenden<br />
Uberbelastung von Frauen verstanden wird, soll hier ein zusätzliches<br />
Moment zur Erklärung struktureller Unsicherheit der Erwerbstätigkeit von<br />
Frauen vorgestellt werden. Dieses wird in der Besonderheit des Verhältnisses<br />
vo n Ar<strong>bei</strong>tsanforderungen und Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen zu suchen sein. Dies Besondere<br />
kann gut an traditionellen Frauenberufen im Bereich sozialer, erziehender<br />
und pflegender Ar<strong>bei</strong>t ausgemacht werden, gilt aber in ähnlicher Form auch für<br />
Berufe im Verkauf, Büro und Bankgeschäft, soweit sie von Frauen ausgeübt<br />
werden. Der zentrale Begriff, mit dem dieses Verhältnis von Anforderungen an<br />
di e Ar<strong>bei</strong>t und den Bedingungen ? unter denen sie zu erbringen sind, verstanden<br />
wi rd, ist derjenige, der Eignung. Da<strong>bei</strong> geht es nicht, wie z.B. <strong>bei</strong> einer Eignungsprüfung,<br />
um die Erfassung der beruflichen Qualifikation einer einzelnen<br />
Person für eine fest umrissene Tätigkeit, sondern um die gesellschaftliche Unterstellung,<br />
daß ein ganzes Spektrum von Tätigkeiten für das eine Geschlecht,<br />
das weibliche, geeignet sei , oder anders herum, daß (nur) Frauen für bestimmte<br />
Tä tigkeiten geeignet seien. Eine solche allgemeine Aussage und ' geziel te Zuschreibung<br />
von Eigenschaften an das Geschlecht, hier für bestimmte in der<br />
Gesellschaft anfallende Ar<strong>bei</strong>ten geeignet zu sein, geht erst einmal nicht über<br />
die soziologische Erkenntnis hinaus, daß Ar<strong>bei</strong>t in allen Gesellschaften nach<br />
Kriterien wie Klasse, Rasse, Alter und Geschlecht verteilt werde. Es muß aber<br />
gleichzeitig deutlich gemacht werden, wieso diese besondere Eignung von Frauen<br />
für bestimmte Berufe, nicht auch zu einer besonderen Wertschätzung dieser<br />
Berufe und der sie ausübenden Frauen führt. Frauenberufe finden sich in bezug<br />
auf das gesellschaftliche Prestige und die materielle Entlohnung nämlich eher<br />
am<br />
unteren Ende der Skala. Zu erklären ist also, warum sich die positive Bestimmung<br />
der "Eignung" in ihren Folgen für diejenigen, die angeblich so geeignet<br />
sind, negativ auswirkt.<br />
Eine erste Erklärung wäre, daß die Begrifflichkeit zynisch, entweder zur<br />
Ver deckung von Machtausübung oder projektiv zur Vermeidung von Interessenkomplikationen<br />
benutzt wird. Solche Verwendung des Begriffs in bezug auf den<br />
Einsatz weiblicher Ar<strong>bei</strong>tskraft ist aus der Geschichte und bis in die jüngste
- 150 -<br />
Zeit bekannt. Bereits 1874 wehrt sich Hedwig Dohm gegen Argumente, daß sich<br />
Frauen - wenn überhaupt - nur für bestimmte Erwerbsar<strong>bei</strong>ten eigneten:<br />
"Ich hoffe,· beweisen zu können, daß zwei Grundprinzipien <strong>bei</strong> der<br />
Ar<strong>bei</strong>tsteilung zwischen Mann und Frau klar und scharf hervortreten.<br />
Die geistige Ar<strong>bei</strong>t und die einträgliche Ar<strong>bei</strong>t für die Männer, die<br />
mechanische und di e schlecht bezahlte Ar<strong>bei</strong>t für die Frauen; ich<br />
glaube, beweisen zu können, daß der maßgebende Gesichtspunkt für<br />
die Theilung der Ar<strong>bei</strong>t nicht das Recht der Frau, sondern der Vortheil<br />
der Mäner ist, und daß der Kampf gegen die Berufsar<strong>bei</strong>t der<br />
Frau erst beginnt, wo ihr Tagelohn aufhört, nach Groschen zu zählen<br />
( .•.) geringgeschätzte und halbbezahlte Ar<strong>bei</strong>t ist Sclaverei in milderer<br />
Form, und das ist die allgemeine Lage der Frauen auf all , den<br />
Gebieten, die wir freie Ar<strong>bei</strong>t nennen" (zit.nach Brinker-Gabler<br />
1979, 124, 131)<br />
Weiter führt sie auf, daß <strong>bei</strong> groben, anstrengenden Ar<strong>bei</strong>ten nie gegen<br />
die Erwerbsar<strong>bei</strong>t der Frauen wegen deren zarten Konstitution, wegen Ungeschicklichkeit<br />
oder Unschicklichkeit gesprochen werde. Vielmehr gehe es einzig<br />
und allein darum, Konkurrenz mit den Männern um die attraktiven Ar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
zu verhindern. Daß das Eignungsargument insbesondere dazu dient, Ar<strong>bei</strong>tsplätze,<br />
die den Frauen von den Männern "übrig gelassen" werden', diesen wiederum<br />
schmackhaft zu machen und damit die nachgeordnete Ar<strong>bei</strong>tsmarktpositi<br />
on von Frauen ideologisch zu legitimieren, wird besonders dort deutlich, wo<br />
sich bestimmte Ar<strong>bei</strong>tsplätze, z.B. in der Industrie, von früheren Männer- zu<br />
aktuellen Frauenar<strong>bei</strong>tsplätzen entwickelt haben. Auch in diesen Fällen ist das<br />
Eignungsargument in der Regel nachgeschoben worden.<br />
Sind wir nun mißtrauisch geworden gegenüber den verborgenen Diskriminierungsmöglichkeiten,<br />
die mit der Zuschreibung von "Eignung" verknüpft sind,<br />
so irritiert, daß historisch das Eignungsargument auch von Frauen verwendet<br />
wurde. Die bürgerliche Frauenbewegung hat dies propagiert, um eine Schutzzone<br />
auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt frei von Männerkonkurrenz zu installieren, in der sich<br />
die heute als "traditionell" bezeichneten sozialen, pflegenden und erziehenden<br />
Frauenberufe entwickeln konnten. Mit dem Einsatz des Begriffs "Eignung" wird<br />
also sowohl die vertikale Segmentatlon der Berufe und Berufspositionen legitimiert<br />
- mit dem Ergebnis der Zuordnung von Frauen auf unteren Positionen<br />
ohne Aufstiegsmöglichkeit und in schlecht bezahlten und vertraglich unsicheren<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen - wie auch die horizontale Aufteilung von Berufen vergl<br />
eichbarer Qualifikation auf Männer und Frauen.<br />
Konnten wir den Einsatz des Eignungsbegriffs als Legitimation für die<br />
vertikale und hierarchische Zuordnung von Männern und Frauen im Berufssystem<br />
als eindeutig interessengeleitetes Vorurteil verwerfen, so wird es <strong>bei</strong> der
- 151 -<br />
Vorstellung von der besonderen Eignung, die Frauen für "typisch weibliche"<br />
Berufe mitbringen und von den besonderen Fähigkeiten, die sie realisieren,<br />
schwierig, diese als rein ideologische zurückzuweisen. Diese Schwierigkeiten<br />
gründen sich zum einen auf real vorzufindenden unterschiedlichen Kompetenzmodellen<br />
und Handlungspräferenzen <strong>bei</strong> Männern und Frauen, Produkte der historischen<br />
Entwicklung des Geschlechterverhältnisses und der überlieferten<br />
Ar<strong>bei</strong>tsteilung zwischen Männern und Frauen. Die Tradition der Zuordnung reproduktiver<br />
Tätigkeiten auf die Frauen hat die Ausprägung eines Ar<strong>bei</strong>tsvermögens<br />
begünstigt, das den Einsatz der ganzen Person, mit Körper, Geist und<br />
Gefühl verlangt. Selbst wenn die Entstehungsbedingungen für dieses spezifische<br />
Ar<strong>bei</strong>tsvermögen heute weniger in dem Wesen oder gar der "Natur" der Frauen<br />
gesucht werden als vielmehr in seiner konkreten Entwicklung in der weiblichen<br />
Sozialisation nachgezeichnet wird, so ist mit dieser Einsicht doch nicht verhindert,<br />
daß erstens aUen Frauen als Geschlechtswesen unterschiedslos die Produ<br />
ktion und Potenz eines solchen besonderen Ar<strong>bei</strong>tsvermögens unterstellt wird<br />
und daß zweitens ihnen abverlangt wird, dieses Ar<strong>bei</strong>tsvermögen so zuzurichten,<br />
und damit zu instrumentalisieren, daß es auch unter den Bedingungen<br />
von Erwerbsar<strong>bei</strong>t effektiv werden kann.<br />
So wird z.B. in allen Berufen mit Kundenkontakt, unabhängig vom Sortiment<br />
der zu verkaufenden Waren oder Dienstleistungen, auf die Freundlichkeit<br />
bis hin zum Sexappeal der Frauen gesetzt. Handlungsmuster des Zuhörens und<br />
Beratens, aber auch des Umsorgens und Versorgens sind allgemein menschliche<br />
und in ihrer Ausprägung durch die weibliche Sozialisation bestimmt. Je individuell<br />
wurden sie als Teil der persönlichen Kompetenz hauptsächlich außerhalb<br />
der Prozesse beruflicher Qualifikation erworben, müssen nun aber ?u Ar<strong>bei</strong>tstugenden<br />
so umgeformt werden, daß sie sich letztlich umsatzsteigernd auswirken.<br />
In den sozialen und pflegenden Berufen ist das Verhältnis zwischen persönlichen<br />
Fähigkeiten und eindeutig zu definierenden sachlich-fachlichen Anteilen<br />
besonders spannungsvoll. Die oberflächliche Ahnlichkeit der beruflichen Tätigkeiten<br />
von Erzieherinnen und Sozialar<strong>bei</strong>terinnen, von Krankenschwestern oder<br />
Hauswirtschafterinnen mit den privat erbrachten Reproduktionsar<strong>bei</strong>ten von<br />
I .<br />
Frauen als Mütter und Hausfrauen hat zu dem "notorischen Mißverständnis geführt,<br />
für diese Tätigkeiten reiche eine gel ungene weibliche Sozialisation als<br />
berufliche Qualifikation. Da<strong>bei</strong> wird nicht beachtet, welche Veränderungen sich<br />
<strong>bei</strong> der teils schmerzlichen Umformung eines weiblichen Verhaltensrepertoires<br />
ergeben, das unter und für private Verhältnisse erworben wurde, wenn dieses in
- 152 -<br />
beruflicher Form zu präsentieren ist. Das Verhältnis zu den Menschen, mit denen<br />
Frauen beruflich in Kontakt kommen, ist durch Ungleichheit und Abhängigkeit<br />
geprägt und grundsätzlich nicht - wie im privaten Bereich - rrsiber.<br />
Krankenschwestern z.B. haben nicht mit Krankheit als schicksalhaftem singulärem<br />
Erlebnis <strong>bei</strong> einer nahest ehen den Person zu tun, sondern sind auf Dauer<br />
mit dem Leiden wechselnder Patienten konfrontiert.<br />
Diese Hinweise sollen dazu dienen, die Annahme zu erschüttern, die wesentlichen<br />
und hinreichenden Voraussetzungen für die Erledigung "hausar<strong>bei</strong>tsnaher",<br />
"typisch-weiblicher" Ar<strong>bei</strong>ten lägen in den persönlichen Fähigkeiten,<br />
gebündelt im Begriff des "weiblichen Ar<strong>bei</strong>tsvermögens". Ausbildung und Umformung<br />
dieses Fähigkeitsspektrums gehören zu dem beruflichen Selbstverständnis<br />
und zu den konkreten Anforderungen des Ar<strong>bei</strong>tsplatzes. Diese können nicht<br />
unhinterfragt vorausgesetzt und eingesetzt werden, ohne gleichzeitig als teilberufliche<br />
Qualifikation zu gelten und als "nicht meßbar" abgetan zu werden.<br />
Erst die Verleugnung dieses Zusammenhangs hat es ermöglicht, weibliche Ar<strong>bei</strong>t<br />
als "unbezahlbar" darzustellen.<br />
Die Geschichte der sozialen und pflegenden Berufe ist durchzogen von<br />
zwei Argumentations- und Konfliktlinien, die sich mehrfach kreuzen:<br />
- Erstens wird gefragt, ob für diese Tätigkeiten überhaupt " eine Ausbildung<br />
notwendig ist, ob diese - falls sie stattfindet - mit einem formalen Zertifikat<br />
abgeschlossen werden solle und auf welcher Ebene der sozialen Hierarchie<br />
und welchem Niveau wissenschaftlicher Erkenntnis Ausbildung und Beruf<br />
angesiedelt sein sollen.<br />
- Zweitens wird "Beruf" im Bereich der sozialen Ar<strong>bei</strong>t lange Zeit idealistisch<br />
als qualifizierte, gesellschaftlich notwendig, aber nicht gegen Geld erbrachter<br />
Dienst verstanden und Fragen per existentiellen Sicherung der sozialen<br />
Ar<strong>bei</strong>t erbringenden Frauen verschämt zurückgestellt.<br />
Diese <strong>bei</strong>den Linien weisen auf Schwachstellen der Beruflichkeit und der<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse hin. Bis heute finden wir in Frauenberufen einen relativ<br />
hohen Anteil nicht spezifisch oder auch gar nicht beruflich qualifizierter Frauen<br />
unter den Erwerbstätigen, und andererseits beruflich oder durch Lebenserfahrung<br />
qualifizierte Frauen, die gleiche oder vergleichbare Aufgaben unbezahlt<br />
ausüben. Es wird deutlich, daß sich die Reichweit'e der Begriffe wie Ausbilqung<br />
und Qualifikation, Beruf und Erwerb in Frauenberufen von denen anderer<br />
Berufe unterscheiden und daß sich dies für den Charakter der Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
negativ auswirkt.
- 153 -<br />
Die Ausprägung des weiblichen Ar<strong>bei</strong>tsvermögens und seine unter den Bedi<br />
ngungen von Erwerbsar<strong>bei</strong>t geforderte Ausprägung hat aber auch noch Einfluß<br />
auf weitere Strukturmomente traditioneller Frauenberufe, insbesondere auf die<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbeziehungen. Die spezifischen Qualitäten des weiblichen Ar<strong>bei</strong>tsvermögens<br />
werden nämlich in doppelter Weise g'ebraucht - ja ausgebeutet: einerseits,<br />
wie wir gesehen haben, zur Erledigung der Ar<strong>bei</strong>t selbst, andererseits zur Erledigung<br />
der Ar<strong>bei</strong>t unter den spezifischen Bedingungen. Es fällt nämlich auf,<br />
daß ganzheitliches, Körper, Geist und Gefühl gleichzeitig und zusammen aktivierendes<br />
Handeln vor allem dort verlangt wird, wo die Bedingungen dafür besonders<br />
ungünstig sind. So sehen sich Frauen in den sozialen Berufen zum Beispiel<br />
in ein starres System verregelter Handlungsvorschriften und bürokratischer<br />
Kontrollen eingebunden, das die angestrebte Einheit von Denken, Fühlen<br />
und Tun eher behindert "als befördert. Gerade weH mit dem Einsatz des weiblichen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsvermögens quasi naturhaft gerechnet werden kann, muß scheinbar<br />
nicht auf förderliche Handlungsbedingungen geachtet werden!<br />
Die scheinbare Nähe der weiblichen beruflichen Ar<strong>bei</strong>tsgegenstände,<br />
-typen und -formen sowie der Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse zur privaten Reprodu<br />
ktionsar<strong>bei</strong>t, zu Hausar<strong>bei</strong>t, sowie die dafür benötigten Qualifikationen lassen<br />
(teils auch für die Frauen selbst) Frauenberufsar<strong>bei</strong>t als unvollständig, nicht<br />
gegen Privatheit abgrenzbar und mit ihr austauschbar erscheinen. Dies gilt<br />
auch für den gesellschaftlichen Status der Ar<strong>bei</strong>ten. Gerade soziale und pflegende,<br />
aber auch eine Reihe von Dienstleistungsberufen stehen unter dem<br />
Druck, ihre Ar<strong>bei</strong>tsplätze gegen die Ausweitung der Hausar<strong>bei</strong>t durch Reprivatisierung,<br />
gegen die Ausweitung des traditionellen Engagements von Laien in<br />
ihren Amtern und gegenüber Selbsthilfegruppen zu sichern bzw. neu zu definieren,<br />
die verberuflichte Helferar<strong>bei</strong>t aus den überkommenen Institutionen und<br />
gesicherten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen lösen wollen.<br />
Gerade die "Lebendigkeit" der Ar<strong>bei</strong>tsgegenstände, Kommunikation wie<br />
Körperpflege als Ar<strong>bei</strong>tsprozeß und die enge der Handlungsspielräume in den<br />
Frauenberufen bestimmen den Charakter der Ar<strong>bei</strong>t. Der besondere Charakter<br />
dieser Ar<strong>bei</strong>ten und der Fähigkeiten, die dafür gebraucht werden, ist aber<br />
ni cht irgendwelchen Traditionselementen geschuldet, was der Begriff "traditionelle<br />
Frauenberufe" unter Umständen nahelegt, sondern hat seine doppelte<br />
Funktion für die Garantierung weiblicher Leistungen auf einem äußerst geringen<br />
professionellen Niveau und unter für die Frauen extrem unsicheren Verhältnissen.
- 154 -<br />
Helga Krüger<br />
DER STAAT ALS ARBEITGEBER. LABILISIERUNG UND<br />
STABILISIERUNG IN PERSONENBEZOGENEN SOZIALEN<br />
DIENSTLEISTUNGEN<br />
1. Ausgangssituation<br />
Die aktuelle Krise des Sozialstaates führt Ar<strong>bei</strong>tskräften in personenbezogenen<br />
sozialen Diensten wieder einmal bedrohlich vor Augen, was ihnen mit Blick auf<br />
die zyklischen Ar<strong>bei</strong>tsmarktkonjunkturen ihrer Tätigkeiten schon bewußt war:<br />
berufsförmig organisierte Ar<strong>bei</strong>t wie z.B. Krankenpflege, Kindererziehung, die<br />
Schule unterstützende Hortar<strong>bei</strong>t, Ar<strong>bei</strong>t mit Jugendlichen, Drogenabhängigen<br />
und psychisch Kranken wird jeweils in der Krise an die Familie delegiert, was<br />
dann als "Dienstleistungsexternalisierung" (Berger/Offe 1980) etikettiert wird.<br />
In Phasen des Aufschwungs als staatlich organisierte oder finanzierte Dienstleistungen<br />
für die Familie ausgebaut, boten diese Ar<strong>bei</strong>tssegmente auch Frauen<br />
durchaus qualifizierte und einflußreiche Berufspositionen. Dennoch haben gerade<br />
diese Segmente berufsförmiger Ar<strong>bei</strong>t nicht so viel Stabilität erlangt, daß<br />
sie Frauen auch in Krisenzeiten existentiell sichern konnten. In Phasen des<br />
Überschusses an Ar<strong>bei</strong>tskräften und der Einschränkung öffentlicher Gelder für<br />
soziale Fragen werden diese Tätigkeiten wieder in die Familie zurückverIagert,<br />
wo die Frauen dann ganz gebraucht werden. Ein Großteil der beruflich Qualifizierten<br />
wird ar<strong>bei</strong>tslos. Viele von ihnen organisieren stadtteil bezogene Initiativen,<br />
um Frauen aus der Isolation und Abgeschnittenheit von gesellschaftlicher<br />
Ar<strong>bei</strong>t herauszuführen. Andere planen und realisieren Projekte zur Re-Qualifizierung<br />
von Frauen. Qualifizierte, aber erwerbslose Frauen machen mit ihrer<br />
unbezahlten oder billig erbrachten Dienstleistung in Sel bsthilfegruppen den qualifizierten<br />
Frauen mit Ar<strong>bei</strong>tsplatz in den sozialen Diensten Konkurrenz.<br />
Zeichnet man die Entwicklung der Berufe nicht nur quantitativ, sondern<br />
qualitativ nach, so zeigen sich deutliche Verschiebungen im Anforderungsprofil<br />
in eben solcher konj unkturellen Abhängigkeit: wie am Beruf der Kinderpflegerin<br />
(Müller 1956) oder der Erzieherin (v. Derschau 1972, Rabe-Kleberg 1981, Ostner<br />
1984) nachzuzeichnen, steigen mit dem Ausbau berufsförmig organisierter<br />
sozialer Dienstleistungen auch das Qualifikationsniveau und die Ansprüche der
- 155 -<br />
einstellenden Institutionen. In Phasen der Krise dagegen werden die gleichen<br />
Qualifikationen aber wieder als Jede-Frau-Fähigkeiten diskriminiert und deklassiert.<br />
Die wechsel volle Geschichte der einzelnen Berufsfelder in den sozialen<br />
Diensten wird oftmals als reine Frauenproblematik gesehen, ohne die strukturellen<br />
Momente für die Labilisierung zu sehen. Eine solche Betrachtung ist<br />
ebenso schief wie die aktuelle Diskussion um di e Grundsicherung, <strong>bei</strong> der die<br />
Geschlechtsspezifik der Ar<strong>bei</strong>tsteilung ebenso außer acht gelassen wird wie die<br />
Frage nach der Qualifikation für die reproduktiven Ar<strong>bei</strong>ten, die nach diesem<br />
Konzept außer halb der Berufsform als Laienar<strong>bei</strong>t erbracht werden sollen. Qualifikations-<br />
und Handlungsträger sind ebensowenig geschlechtsneutral wie die<br />
Adressaten in den sich mehrenden Appellen zur Selbsthilfe in der Sozialpolitik.<br />
Ich möchte im folgenden der Frage nach den strukturellen Hintergründen nachgehen,<br />
die dazu führen, daß gerade in qualifizierten Frauenberufen des sozialen<br />
Dienstleistungsbereichs die aktuellen Programme greifen, daß di ese wie Verschiebebahnhöfe<br />
wirken und Frauen auf Abstellgleise bzw. Nebengleise drängen,<br />
in denen ihre Qualifikationen - unbezahlt - voll zum Tragen kommen, und über<br />
die sie dann tatsächlich gezwungen werden, den Anschluß an bezahlte Ar<strong>bei</strong>t<br />
über Selbstinitiativen aufzubauen. Dazu greife ich zunächst auf berufssoziologische<br />
Kategorien zur Einordnung beruflicher Ar<strong>bei</strong>t zurück und wende mich<br />
dann dem Besonderen dieser Berufsfelder , konkretisiert am Beispiel der Erzieher/innen,<br />
zu.<br />
2. Der Beruf der Erzieher/innen - keine sichere Position zwischen<br />
"Ar<strong>bei</strong>t" und "Profession"<br />
Heinz Hartmanns schon etwas älterer Versuch, die Abgrenzungen von Ar<strong>bei</strong>t,<br />
Beruf und Profession berufssoziologisch zu konkretisieren, versteht sich als<br />
"Anleitung für die Beobachtung und Beurteilung eines gegebenen Tätigkeitsfeldes"<br />
(Hartmann 1968, 204). Ich ziehe ihn deshalb heran, weil er im Gegensatz<br />
zu anderen berufssoziologischen Ansätzen versucht, die gleitenden Linien zwischen<br />
Ar<strong>bei</strong>t, Beruf und Profession als realitätsadäquates und gesellschaftlichen<br />
Wandel einbeziehendes Paradigma herauszuar<strong>bei</strong>ten. Er charakterisiert<br />
diese drei Fel der gesellschaftlicher Tätigkeit über die Dimension "Wissen" und<br />
"soziale Orientierung". Während er der Ar<strong>bei</strong>t ein punktuell-einfaches, alltägli-
- 156 -<br />
ches Erfahrungswissen zuweist, dem Beruf eine Systematisierung des Wissens<br />
durch die Kombination einzelner Wissensstoffe und der Profession schließlich<br />
die Annäherung des Wissens an systematische Forschungszusammenhänge, beschreibt<br />
er die Differenzen zwischen Ar<strong>bei</strong>t, Beruf und Profession auf der Dimension<br />
der sozialen Orientierung wie folgt: Auf der Ebene der einfachen Ar<strong>bei</strong>tsverrichtungen<br />
herrscht ein relativ eingeschränktes Sozialbewußtsein vor;<br />
im System beruflicher Ar<strong>bei</strong>t hingegen geraten größere Sozialräume ins Blickfeld,<br />
d.h. die Berufsrolleninhaber orientieren sich in ihren beruflichen Handlungsvollzügen<br />
weniger an individueller Bedürfnisbefriedigung als an ihrer Rolle<br />
in größeren Wirtschaftszusammenhängen (Branche, Wirtschaftszweig, Volkswirtschaft);<br />
die "Professionals" schließlich richten sich in der Organisierung und<br />
Erledigung ihrer Aufgaben verstärkt nach gesellschaftlichen Bedürfnisseo, verlassen<br />
die Ebene der Individualisierungen, folgen gesamtgesellschaftlichen<br />
Orientierungen und schließen sich zu Interessengemeinschaften zusammen (Standesorganisationen).<br />
Dies - nach Hartmann - als grobe Unterscheidung, die nicht<br />
darüber hinwegtäuschen soll, daß im Rahmen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse<br />
sowohl Verberuflichung als auch Entberuflichung bestimmter Tätigkeitsfelder<br />
stattfinden, sowohl Professionalisierung als auch De-Professionalisierung<br />
mit entsprechenden Verschiebungen durch Wissensanforderungen und<br />
soziale Orientierung z.B. durch Technisierung der Ar<strong>bei</strong>tsorganisationen.<br />
Das heutige Berufsfeld der Erzieherinnen ließe sich nach diesen Kategorien<br />
relativ einfach einordnen: Es liegt auf der Dimension des Wissens oberhalb<br />
der einfachen Ar<strong>bei</strong>t - Erfahrungswissen reicht nicht aus -, gehört aber nicht<br />
zur Profession, z.B. der Psychologie. Oder doch? V.a. die Diskussion um di e<br />
Vorschulerziehung und der Ausbau des Wissens über frühkindliche Förderung<br />
haben zu einer deutlichen Ausrichtung des Berufsbildes der Erzieherinnen an<br />
Forschungserkenntnissen geführt. Vom ' Stand des Wissens her scheint die Antwort<br />
klar: die Merkmale einer Profession liegen vor. Aber gesellschaftlich ist<br />
sie nicht oder anders entschieden: die Ar<strong>bei</strong>t wird überwiegend von Erzieherinnen<br />
mit einer vierjährigen Fachschulausbildung für Sozialpädagogik und einem<br />
entsprechenden Zertifikat erledigt. Sie ist als Beruf auf mittlerer Qualifikationsstufe<br />
organisiert.<br />
Schauen wir noch einmal fragend zurück auf die Grenzziehung zwischen<br />
Ar<strong>bei</strong>t und Beruf. Auch hier wird es schwierig. Erfahrungswissen scheint nicht<br />
Zu genügen - und doch werden Kinder, die keinen Kindergartenplatz erhalten,<br />
von der Mutter zuhause erzogen, allerdings auch hier überwiegend unter Anlei-
- 157 -<br />
tung von Fachzeitschriften und Fernsehsendungen, die ein erhebliches Wissen in<br />
die Familie transportiert haben. Und wo ordnen wir Tagesmütter ein, wo die<br />
Gem eindeschwester mit ihrer Jugendgruppe?<br />
Betrachten wir die Dimension der sozialen Orientierung, so werden die<br />
Unterscheidungen noch fragwürdiger: Schon die Ar<strong>bei</strong>t in der Famiie ist weniger<br />
an individuellen Bedürfnissen als an den vermuteten Bedürfnissen der Kinder<br />
und deren gesel lschaftlicher Zukunft ausgerichtet. Die Orientierungen im<br />
Kindergarten ordnen sich deutlich gesamtgesellschaftlichen Normen zu, sind als<br />
Erziehungsaufgaben gesamtgesellschaftlichen Mustern verpflichtet. Sie di enen<br />
de n nach Hartmann nur den Professionen zugeschriebenen Orientierungen an<br />
Anpassung, gesamtgesellschaftlicher Ziel verwirklichung, Integration und Bewahrung<br />
kultureller Muster. Mit anderen Worten: Die sorgfältigen Unterscheidungen<br />
von Hartmann, die er mit dem Ziel verbunden hat, zu "einer Differenzierung<br />
unserer Urteilsfähigkeit gegenüber wichtigen Eigenschaften gegebener Tätigkeitsfelder"<br />
(S. 207) <strong>bei</strong>zutragen, helfen im Bereich sozialer Dienste nicht weiter.<br />
Woran liegt das? Sicherlich zunächst daran, daß dieses Schema sich an den<br />
Entwicklungen des männlichen Berufssystems orientiert, an Berufen in Wirtschaft<br />
und Handel , Professionen in Wissenschaft und Management, in der Jurisprudenz<br />
und Medizin. Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die erheblich zur<br />
Segmentierung von Berufsfeldgrenzen und Zuweisung von Ar<strong>bei</strong>tskräfte-Nachfragern<br />
nach Qualifikation und Allokation auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt <strong>bei</strong>tragen,<br />
werden in dem Schema nicht beachtet. Die Rechnung ist aber ohne den "Wirt",<br />
die einstellenden Instanzen, gemacht, die auch im männlichen Berufssystem mitgestalten,<br />
welches Qualifikationsniveau für welches Geld eingekauft wird und<br />
die versuchen, durch innerbetriebliche Ar<strong>bei</strong>tsteil ung komplexe Ar<strong>bei</strong>tsvollzüge<br />
in Teilar<strong>bei</strong>ten zu zerlegen, die von ungelernten, d.h. billigen Ar<strong>bei</strong>tskräften<br />
erledigt werden können (Bravermann 1977).<br />
Diese Prinzipien greifen auch in der Organisation sozialer Dienste, stoßen<br />
hier aber bald an ihre unteren Grenzen. Ein Ausdruck dieser Tendenz ist die<br />
Aufspaltung der Betreuungsleistungen für Kinder nach Alter oder zu behandelnden<br />
Symptomen und der Versuch, die dann jeweils anfallenden Ar<strong>bei</strong>tsvollzüge<br />
auf unterschiedliche Qualifikationsniveaus zu verteilen. Bei der Abspaltung<br />
zwischen Pflege und pädagogischer Betreuung, <strong>bei</strong> der Gründung von Sondereinrichtungen<br />
für Problemkinder oder Behinderte und von Vorschulgruppen im Kindergarten,<br />
vor allem aber <strong>bei</strong> der hierarchischen Ar<strong>bei</strong>tsteilung zwischen Gruppenleiterin<br />
und Zweitkraft wird der Personenbezug der erzieherischen Dienst-
- 158 -<br />
leistung sichtbar und stößt an gesellschaftlich anerkannte, geradezu "natürliche"<br />
Grenzen für die noch mögliche Teilung der Ar<strong>bei</strong>t.<br />
Das Besondere an personengebundenen sozialen Diensten liegt aber in diesen<br />
Rationalisierungsgrenzen: Sind Ar<strong>bei</strong>tsvollzüge nicht weiter teilbar und die<br />
Kassen zu, so bedeutet Rationalisierung der vollständige Wegfall der Dienstleistung<br />
insgesamt, ohne daß befürchtet werden müßte, daß diese Einbuße nicht<br />
privat "irgendwie" ersetzt würde (Ostner 1986). Und dies wiederum ist möglich,<br />
weil es ein weiteres Besonderes in den sozialen Diensten gibt, das leicht übersehen<br />
wird: die Tatsache nämlich, daß der Ar<strong>bei</strong>tgeber, sei er in staatlicher,<br />
sei er in privater Trägerschaft, zugleich gestalterische Macht in der Definition<br />
sozialer Orientierungen hat, als politischer und kultureller "Opinionleader" nor:<br />
mativ und faktisch daran mitwirkt, welche Ar<strong>bei</strong>t als sozial notwendig gilt und<br />
zugleich über Zahl und Qualität der Ar<strong>bei</strong>tsplätze bestimmt sowie über Ausbildung<br />
und Qualifikation derjenigen, die sich um Ar<strong>bei</strong>tsplätze in den sozialen<br />
Diensten bemühen (Rabe-Kleberg 1987). Während es im Unterschied hierzu dem<br />
Kampf zwischen Ar<strong>bei</strong>tnehmern und Staat zu verdanken ist, daß im dualen Berufsbildungssystem<br />
Qualifikationen vermittelt werden, die den Ar<strong>bei</strong>tnehmer vor<br />
der unmittelbaren Einbindung in Ar<strong>bei</strong>tgeberinteressen schützen, ist dieses<br />
Prinzip für die sozialen Dienste weder erkämpft noch durchgesetzt worden.<br />
Ausbildung und Beschäftigung liegen seit ihrer Entstehung in der Hand der gleichen<br />
staatlichen und privaten Träger und sind damit wechselnden Einflüssen<br />
und kurzfristigen Interessen vor allem staatlicher Administration ausgesetzt. So<br />
läßt der Staat als Ar<strong>bei</strong>tgeber soziale Dienstleistungen wegfallen, wenn<br />
- der gesellschaftliche Konsens über die Notwendigkeit ins Wanken gerät oder<br />
umdefiniert wird;<br />
- die Erledigung der Ar<strong>bei</strong>tsaufgabe privat organisierbar ist, oder wenn<br />
- Personengruppen zur Verfügung stehen, die die Aufgabe auch privat übernehmen.<br />
Hier nun kommt "die Frau" und das, was um sie herum an Aufgabenzuweisungen<br />
und Zuschreibungen aufgebaut ist, ins Spiel. Die Strukturanalyse<br />
überlagert sich mit der Frauenfrage, ist nicht unabhängig von der Frauenbewegung<br />
und heutigen Emanzipationsbemühungen von Frauen zu denken, fängt diese<br />
ein. Die Ambivalenzen der Frauen gegenüber diesen Strukturbedingungen erleichtern<br />
es, Strukturentwicklungen hinter der Frauenfrage zu verstecken. Die<br />
"unheilige Allianz" von Strukturentwicklungen im staatlichen Interesse und<br />
Frauensel bstdefinition im Kampf mit gesellschaftlich-staatlichen Verwertungsin-
- 159 -<br />
teressen wollen wir ein Stück weiter verfolgen, um die Amalgamierung so weit<br />
wie möglich aufzulösen, unsere eigenen weiblichen Anteile an der Verschiebepraxis<br />
zu begreifen, zugleich aber die staatlich-strukturelle Seite aus unseren<br />
Handlungsentwürfen nicht auszuklammern.<br />
3. StruktureHe Labilisierungen als Ergebnis gesellschaftlicher<br />
Zuschreibungen und Machtpositionen<br />
3.1 Zuständi.gkejtszuschreibungen an das weibliche Geschlecht:<br />
Ein gesellschaftlicher Konsens ohne die Frauen?<br />
Im Rahmen der Professionalisierungsdebatte der 70er Jahre wurde von seiten<br />
vieler Universitäts kollegen und der wenigen Kolleginnen auch beklagt, daß di e<br />
personenbezogenen sozialen Dienstleistungen jenseits der Bürokratie zu den<br />
Frauenberufen zählen (Pfaffenberger 1967). Eines der Ziele der Standesorganisationen<br />
bestand darin, diese Uberlagerung der Berufsrolle mit der Geschlechtszugehörigkeit<br />
der Berufspositionsinhaber über Professionalisierungs-Bemühungen<br />
aufzulösen, durch öffentliche Diskussionen über die Anbindung von Erziehung<br />
an<br />
Forschungsentwicklungen dem Ver.dacht entgegenzutreten, es handele sich<br />
hier um dem einen Geschlecht angeborene Fähigkeiten, durch Formalisierung<br />
der Zugänge und letztlich auch durch die Umdefinition der Kindergärtnerin in<br />
"den Erzieher", Ausbildung und Berufspraxis auch für männliche Bewerber "attraktiver"<br />
zu machen. Grundannahme war, daß der Makel der Zweitrangigkeit<br />
allein daraus resultiere, daß das Berufsfeld als Frauenberuf gelte. Uber die<br />
weit verbreitete Vorschuldiskussion und das Interesse von Wirtschaft und staatlicher<br />
Führung an der Ausschöpfung der Begabungsreserven auch unterer sozialer<br />
Schichten durch frühzeitige Förderung in Kindergärten, ist dieser Schritt -<br />
zeitgebunden - gel ungen, um wiederum - zeitgebunden - in den aktuellen Appel<br />
len an Selbsthilfe, Selbstorganisation und "Entbürokratisierung" der Erziehung<br />
außer Kraft gesetzt zu werden. Diese Appelle nun setzen wieder auf die<br />
Frauen und auf deren "natürliche" Zuständigkeit für dieses Aufgabenfeld in der<br />
privaten Familie. Hat die Professionalisierungs-Debatte den falschen Weg eingeschlagen?<br />
In der Tat ist die Verknüpfung der Erziehungsaufgabe mit der Frauenrolle<br />
nicht allein durch die Standardisierung der Zugangsvoraussetzungen und tarifrechtlichen<br />
Absicherung der zu zahlenden Löhne auf der Basis existenzsichern-
- 160 -<br />
der Tarifpolitik außer Kraft zu setzen, da diese auf einem zentralen Grundmuster<br />
in der gesellschaftlichen Ar<strong>bei</strong>tsteilung zwischen den Geschlechtern basiert.<br />
Dieses ist engstens mit der patriarchalischen und zugleich kapitalistischen<br />
Organisation gesellschaftlicher Ar<strong>bei</strong>t in unserer Gesellschaft verbunden:<br />
So hängt die Entstehung und Ausweitung personenbezogener sozialer Dienstleistungen<br />
engstens mit den geschichtlich wirksamen Machtverhältnissen im vergangenen<br />
Jahrhundert zusammen. Wesentliche Voraussetz ung sind neben der<br />
strukturellen gesellschaftlichen Entwicklung v.a. die ideologischen Begleitumstände:<br />
die in den damals neu entstehenden Erziehungswissenschaften, der Soziologie,<br />
aber auch von Kirche und Staat gemeinsam begründete wesensmäßige<br />
Zuordnung der Frau zu produktionssichernden reproduktiven Aufgaben. Die Polarisierung<br />
der Geschlechter verknüpft die Kinder- und Familienversorgung mit<br />
dem "Wesen" der Frau", die Berufsar<strong>bei</strong>t außerhalb des Hauses mit dem "Wesen"<br />
des Mannes. Die Geschlechterbeziehung zwischen Mann und Frau wurde als<br />
komplementäre Verbindung zweier wesensmäßiger Polaritäten verstanden mit<br />
quasi natürlichem Uber- und Unterordnungsverhältnis (Hausen 1978).<br />
Die Professionalisierungsbemühungen ebenso wie die Hartmannsehen Unterscheidungen<br />
von Ar<strong>bei</strong>t, Beruf und Profession anhand sozialer Orientierungen ,<br />
I . -(fl<br />
scheitern an dem Tatbestand, daß di ese an unserem Berufsfeld nicht partikulae<br />
Orientierungen der Berufstätigen sind, sondern gesellschaftliche ZUschreibungen,<br />
für Frauen verbunden mit materiellen Abhängigkeiten, für Staat und Wirtschaftsorganisation<br />
mit materiellen Vorteilen. Sämtliche Berufsfelder, die nicht<br />
als unternehmerische Dienstleistungen organisiert sind, sondern als staatliche<br />
oder kirchliche Dienstleistungen "am Nächsten", bleiben in einem Flair, das seine<br />
inhaltliche Begründung aus den den Frauen wesensmäßig zugeschriebenen<br />
Eigenschaften der Emotionalität, Einfühlsamkeit, Opferbereitschaft, Zuwendung<br />
er hält. Was aber jeder Frau als Wesenskonstante <strong>bei</strong>gemessen wird, ist nicht<br />
vom Bildungsstand abhängig, sondern an jedem Ort des Einsatzes und auf jeder<br />
Stufe der Vorqualifikation <strong>bei</strong> Frauen vorhanden, so die sehr viel grundlegendere<br />
Botschaft, an der Versuche der Qualifikationsfestschreibung immer wieder<br />
scheitern. Werden diese Fähigkeiten zum "eigentlichen" Beitrag der Frauen in<br />
der gesellschaftlichen Organisation des Lebens hochstilisiert, so bleiben sie an<br />
jedem Ort und unentgeltlich leistbar. Die anzustrebende Lösung ist denn auch<br />
nicht im Kampf um Auf- oder Abwertung dieser Fähigkeiten zu sehen, sondern<br />
in der Einsicht, daß die soziale Ar<strong>bei</strong>t ebenso wie die Familienar<strong>bei</strong>t eine Ar<strong>bei</strong>t<br />
für <strong>bei</strong>de Geschlechter ist. Vorstellungen vom Wesen der Frau sind in der
J<br />
- 161 -<br />
Zuschreibung sozialer Aufgaben an sie und nur an sie geronnen. Aber diese<br />
Aufgaben sind nicht nur weibliche Felder, sondern Felder gesellschaftlicher<br />
Verantwortung und Aufgaben. Die Frauenbewegung fängt und bindet sich selbst,<br />
wenn sie ihre Kritik an der Berufsar<strong>bei</strong>t als Kritik am "Wesen des Mannes"<br />
orientiert, nicht an der gesellschaftlich-strukturellen Organisation der Ar<strong>bei</strong>t.<br />
Daß es sich hier allerdings nicht nur um immaterielle Uberzeugungsar<strong>bei</strong>t<br />
handelt, zeigt ein Blick auf staatliche Machtinstrumente. Als zentral scheinen<br />
mir zum einen das zwar heiß umkämpfte, aber nie aufgegebene "Subsidiaritäts<br />
Prinzip" zum einen und die Kompetenzbündelung der Berufsausbildung in staatlicher<br />
Hand zum anderen.<br />
3.2 Das Subsidiaritäts-Prinzip - ein Instrument zur ständigen Labilisierung<br />
für personenbezogene soziale Dienstleistungen<br />
Sowohl Kirchen als auch Staat gehen davon aus, daß ihr sozialer Handlungsbedarf<br />
erst dann einsetzt, wenn die Familie die ihr zugeschriebenen Aufgaben<br />
nicht befriedigend lösen kann. Dieses Prinzip, als Subsidiaritäts-Prinzip die<br />
Nachrangigkeiten des Staates zu den privaten Trägern und zur Familie regelnd,<br />
legt für die im Rahmen der Reproduktionsaufgaben entstandenen verschiedenen<br />
Einsatzorte eine spezifische Hierarchisierung fest: staatliche monetäre und<br />
praktische Subventionen greifen erst dann, wenn die Belastbarkeitsgrenze der<br />
Familie oder die Bereitschaft freier Träger, diese zu entlasten, ausgeschöpft<br />
si nd. Der aktuellen Krise des Sozialstaates mit der in ihr intendierten Rückverlagerung<br />
bereits etablierter öffentlicher Dienstleistungen in die Privatheit der<br />
Familie stehen familiale Veränderungen entgegen, abzulesen an den hohen<br />
Scheidungsraten. Diese erscheinen aber ebenso beeinflußbar wie die Berufsfelder<br />
personenbezogener sozialer Dienstleistungen selber, werden die Belastbarkeitsgrenzen<br />
der Familien doch an der Bereitschaft der Frauen festgemacht,<br />
für diese Aufgaben selbst einzustehen und "einsichtig" die Berufsar<strong>bei</strong>t zu unterbrechen.<br />
Als Barriere erscheint die zunehmende berufliche Orientierung der<br />
Frauen, da diese den Konkurrenzdruck auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt erhöhen, Berufsfrauen<br />
sich gleichzeitig familiären Aufgaben entziehen und durch den Druck<br />
auf ihre Partner bezüglich gleichberechtigter Zuständigkeit für familiale Aufgaben<br />
das Familienleben zu gefährden scheinen. Gestützt -auf das Subsidiaritäts-Prinzip<br />
mit der Primärzuständigkeit der Familie und hier der Frauen wird<br />
die Erledigung der reproduktiven Aufgaben immer wieder zur Frauenfrage gemacht:<br />
Erneut liegt der Schwarze Peter <strong>bei</strong> den Frauen, diesmal als materieller
- 162 -<br />
und moralischer Druck. Erst wenn die Frauen versagen, kommt Hilfe! Es liegt<br />
also ein Makel auf der die sozialen Dienstleistungen annehmenden Frau, nämlich<br />
der, ihren Pflichten nicht nachgekommen zu sein. Staatliche und andere<br />
öffentliche soziale Dienstleistungen sind aber nicht Hilfe <strong>bei</strong> Versagen, sondern<br />
eine Form der Wahrnehmung gesellschaftlich notwendiger Ar<strong>bei</strong>t.<br />
Hier nun liegt ein Argumentationsmuster vor, für das Frauen besonders<br />
empfänglich sind: Hilfeleistungen sollten nicht alle staatlich organisiert sein,<br />
sie sollten den personalen Kontext nicht außer acht lassen, auf wechselseitiger<br />
Beziehung basieren und keine Warenform haben. Und dennoch verbergen diese<br />
Definitionen die dahinter liegenden gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse. Die<br />
verstärkte Bereitschaft, in Selbstorganisation zu übernehmen, was in der "Krise<br />
staatlich nicht mehr finanziert werden kann oder auch nicht erbracht werden<br />
sollte, setzt ein Gleichgewicht in der Finanzierung und im Zuständigkeitsverständnis<br />
von Männern und Frauen, Staat, Kirche und Familie für private<br />
und außer häusliche Ar<strong>bei</strong>ten voraus, von der wir weit entfernt sind. Gesamtgesellschaftliche<br />
Analysen und kritische Betrachtungen der neuaufgelegten Subsidiarität<br />
im Rahmen der Grundsicherungsdebatte sollten deshalb diesen Gesichtspunkt<br />
prinzipiell nicht außer acht lassen, wenn wir nicht stillschweigend<br />
die Nachrangigkeit weiblicher Ar<strong>bei</strong>t, die Unterordnung der Frau unter den"r f<br />
Mann und die Dequalifizierung reproduktiver Ar<strong>bei</strong>ten im gesellschaftlichen<br />
Lebenszusammenhang unterstützen wollen.<br />
3.3 Ausbildung/Qualifikation/Wissen: eine Sicherung der Ar<strong>bei</strong>tskraftanbieter<br />
in der Hand der Ar<strong>bei</strong>tskraftverwerter?<br />
Die Verteilungen der Positionen im Berufssystem geschehen primär über die<br />
formalen Abschlüsse, über das Berufsbildungssystem, das seine Absolventen mit<br />
Zertifikaten auf den Ar<strong>bei</strong>tsmarkt entläßt. Die Formalisierung des Wissens über<br />
anerkannte Ausbildungsgänge, nicht das <strong>bei</strong>m Einzelnen vorhandene Wissen an<br />
sich, ist ein entscheidender Schritt für den Erhalt von Marktpositionen - und<br />
ein gewisser Schutz gegen untertarifliche Einstellung und Bezahlung. Was ein<br />
Beruf ist, ist auch eine Machtfrage, wie sich am gestuften Berufsbildungssystem<br />
als gesellschaftlichem Kompromiß zwischen Standes- und Gewerkschaftsinteressen<br />
einerseits, den ar<strong>bei</strong>tskräfterekrutierenden und einstellenden<br />
Instanzen andererseits ablesen läßt. Für den Einzelnen ist nicht sein Wissen<br />
Macht, sondern sein Zertifikat. Einstellende Instanzen orientieren sich an Zertifikaten,<br />
im öffentlichen Dienst sehr gut abzulesen an den Laufbahnverordnun-
- 163 -<br />
gen. Was ungelernte Ar<strong>bei</strong>t, Beruf oder Profession ist, drückt sich nicht zuletzt<br />
in diesen Zertifikaten aus.<br />
Hier nun kommt negativ zum Tragen, was wir oben schon herausgear<strong>bei</strong>tet<br />
hatten, daß im Unterschied zum dualen Berufsbildungssystem di e Ausbildung für<br />
personenbezogene soziale Dienstleistungen lange Zeit in der Hand derselben<br />
privaten Träger blieb, die auch die einstellenden Instanzen waren und mit der<br />
Verstaatlichung der Ausbildung seI bst die Koinzidenz von Ausbildungsinstanz<br />
und Einstellungsinstanz nicht aufgehoben wurde. Wir haben es in diesem Bereich<br />
mit einem vollzeitschulischen Berufsbildungssystem zu tun, dessen Eingangsvoraussetzungen<br />
seit seiner Entstehung im Fluß geblieben sind, ebenso wie<br />
die Eingangsvoraussetzungen für bestimmte Ar<strong>bei</strong>tsfelder •<br />
Schauen wir auf die Curricula und die inhaltliche Ausrichtung der Ausbildung,<br />
so verdeutlicht sich ein Zweites: die Doppelorientierung der Inhalte zum<br />
einen an allgemeinen Grundfähigkeiten, die man von Frauen in der Gesellschaft<br />
erwartet, und an der beruflichen Qualifizierung zum anderen. V.a. an der Kinderpflegerinnen-Ausbildung<br />
ist diese Doppelstrategie, die erst in den oberen<br />
Stufen des Qualifikationssystems für personenbezogene soziale Dienstleistungen<br />
aufgegeben wird, besonders deutlich abzulesen (Hempe-Wankel 1981). Diese<br />
Doppelorientierung schlägt immer wieder zur Seite der "Hausfrauen- und Mutterrollenperspektive"<br />
aus, wenn der Ar<strong>bei</strong>tsmarkt eng begrenzt wird. Dann ergi<br />
bt sich der Sinn der Ausbildung aus ihrer allgemeinen Grundqualifikation - als<br />
Trost für die Schülerinnen angesichts restriktiver Ar<strong>bei</strong>tsmarktbedingungen,<br />
aber auch als Vorbereitung auf die qualifizierte Ubernahme personenbezogener<br />
sozialer Dienste im familialen Kontext. Die vermittelten Inhalte legitimierten<br />
sich in der Ausbildung also schon darüber, daß das so Erlernte ebensowohl für<br />
den privaten Bereich als auch für die berufliche Ar<strong>bei</strong>t gut zu nutzen sei und<br />
sich im Bild von der traditionellen Frau gut verbinden lasse - als "Können" mit<br />
konjunktur abhängigem Marktwert, das nie umsonst erworbe!} wurde. So ist es in<br />
der Tat auch, wie sich z.B. an der Fähigkeit und Initiative so Ausgebildeter<br />
auf dem informellen Sektor des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes, in Selbsthilfegruppen und<br />
selbstaufgebauten Einsatzfeldern belegen läßt. Sie bereichern die Persönlichkeit,<br />
sichern ihr aber keine vom Mann oder - wie früher - von Ordensverbänden<br />
privaten Trägern unabhängige Existenz.<br />
Aber auch hier sind wir gespalten: So deutet sich z.B. in Mütterzentren<br />
oder nachbarschaftlichen Initiativen die Tendenz an, Frauen in Kurzlehrgängen<br />
so weit zu qualifizieren, daß sie beruflich Ausgebildete in sozialen Diensten
- 164 -<br />
voll ersetzen können. Um es zu unterstreichen: Es geht nicht darum, Frauen,<br />
die nicht über entsprechende Formalqualifikationen verfügen, aus Selbsthilfeinitiativen<br />
auszugrenzen. Wohl aber muß es darum gehen, die erreichten Berufspositionen<br />
zu sichern, d.h. Ausbildungsgänge in Selbstinitiativen weitgehend an<br />
die Formalstruktur anzupassen und hierüber Sicherungen gegenüber erneuten<br />
Auflösungstendenzen qualifizierter Ausbildungswege in der aktuellen Krise aufzubauen.<br />
Aber ist dieses Wissen überhaupt formalisierbar, vom Berufsrolleninhaber<br />
und seiner Person trennbar? Eine vierte strukturelle LabiIlsierungsschneise<br />
tut sich auf.<br />
3.4 Die GanzheitHchkeit der Ar<strong>bei</strong>t, ein Frauenprivileg?<br />
Der inhaltlich problematischste Punkt bezüglich einer VerberuflIchung personenbezogener<br />
sozialer Dienstleistungen liegt sicherlich in ar<strong>bei</strong>tsinhaltIichen<br />
Formalisierungsbarrieren. Die Bindung sozialpädagogischen Wissens an Erfahrungen<br />
ist stets in der Diskussion gegenwärtig geblieben, immer wieder problematisi<br />
ert in der Phase der Professionalisierungsdiskussion der 70er Jahre. Mit einsetzender<br />
gesellschaftlicher Wertschätzung und Bedeutung der Sozialisation von<br />
Kindern neben und außerhalb der Schule hat eine Systematisierung des Wissens<br />
stattgefunden, die über die berufliche Ausbildung weit hinaus bis in die UnIversität<br />
hinein verlängert wurde, abzulesen an der Etablierung der Fachdisziplin<br />
Sozialpädagogik/Sozialar<strong>bei</strong>t. Parallel dazu wuchs in den AusbiIdungsstätten der<br />
Versuch, über WIssenspakete unterschiedlicher Art Handl ungswissen systematisch<br />
zu vermitteln, die Erfahrung abzuwerten, die Persönlichkeit des Erziehers<br />
hinter Fachwissen zu verbergen. Diese Entwicklung ist nicht nur gestoppt, sondern<br />
seit einiger Zeit rückläufig. Die Rückbesinnung auf ganzheitliche Konzepte<br />
von Zusammenleben mit Kindern gerät aber gleich wieder in den Sog der<br />
Laiisierung der sozialpädagogischen Ar<strong>bei</strong>t. Die richtige Kritik an der "Verwissenschaftlichung"<br />
der Erziehung und der Erzieherausbildung verbindet sich so<br />
wIeder mit LabiIlsierungsmomenten.<br />
Doch auch in dieser Kritik werden jene strukturellen Seiten verschleiert<br />
und zugleich etwas Wesentliches angesprochen. In einer Reihe von Untersuchungen<br />
und Aufsätzen ist die notwendige Ganzheitlichkeit personenbezogener<br />
sozialer Dienstleistungen immer wieder unterstrichen und hervorgehoben worden<br />
(z.B. Beck-Gernsheim/Ostner 1978, Krüger/Rabe-Kleberg/v. Derschau 1981,<br />
1983, Ostner 1984). Es zeigt sich in ar<strong>bei</strong>tsinhaltlichen Analysen, daß viele der<br />
durch die weibliche Sozialisation entwickelten Fähigkeiten als "stille" Reserve
- 165 -<br />
oder unbezahlte Ar<strong>bei</strong>t in die Erledigung der Ar<strong>bei</strong>tsaufgaben hineinfließen.<br />
Während Zinnecker (1973) noch Barrieren der Professionalisierung in der "typisch<br />
weiblichen" Zuwendung zu den Kindern, im weiblichen Einfühlungsvermögen<br />
und einer der Professionalisierung entgegenlaufenden Orientierung an der<br />
Person sah - und hiermit im Trend der damaligen Verantwortlichmachung des<br />
weiblichen Geschlechts für nicht durchsetzbare Professionalisierungen lag -,<br />
zeigen genauere Analysen des Ar<strong>bei</strong>tsinhaltes, daß soziale Situationen in der<br />
Tat die ganze Person, Einfühlungsvermögen und die Orientierung am Gegenüber,<br />
nicht am instrumentellen Wissen verlangen, jedoch unabhängig davon, ob<br />
von männlichen oder weiblichen Erziehern, ob zuhause oder im Beruf. Unleugbar<br />
ist aber auch, daß Frauen tatsächlich aufgrund ihrer Sozialisation zu diesen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsleistungen fähiger sind als Männer.<br />
Auch hier müssen wir umdenken: Nicht die Frauen sind Professionalisierungsbarrieren,<br />
sondern das männliche Professionalisierungsmuster ist schief,<br />
unterstützt es doch die Ausklammerung der Erfahrungs- und Gefühlsseite aus<br />
einem ganzheitlichen Sozialisationsprozeß. In der Tat sind <strong>bei</strong> Männer häufig<br />
aufgrund ihrer Sozialisation hier extreme Defizite zu beklagen, die über eine<br />
auf Persönlichkeitsbildung, Fähigkeitsentwicklung und Kompetenz gleichermaßen<br />
bezogene Ausbildung weiterentwickelt werden müßte. Daß Männer hierzu<br />
fähig sind, zeigen die Beispiele der "neuen Väter" und Fähigkeitsentwicklungen<br />
<strong>bei</strong> männlichen "Krankenschwestern", dem männlichen Pflegepersonal (Ostner<br />
/ Krutwa-Schott 1981).<br />
Und dennoch ist dieses der sensibelste und ernstzunehmende Labilisierungsbereich,<br />
der gegen Formalisierungen des Wissens zu sprechen scheint. M.E. jedoch<br />
ist aus diesen ar<strong>bei</strong>tsinhaltlichen Anforderungen heraus v.a. di e bestehende<br />
Ausbildung kritisch zu betrachten: nicht ihre Abschaffung zu betreiben, Sondern<br />
ihre inhaltliche Umgestaltung (Rabe-Kleberg/Krüger/v. Derschau 1986).<br />
Erziehungsprozesse kommen heute ohne wissenschaftliche Kenntnisse nicht aus,<br />
die durchaus gegen den Strom traditioneller Wissensvermittl ung und isolierter<br />
Kindergartenerziehung gerichtet sind. Der Rückverweis dieser Qualifikation an<br />
di e Alltagserfahrung jedoch bedeutet einen historischen Rückschritt, der angesichts<br />
der zunehmenden Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen nicht<br />
angemessen ist.
- 166 -<br />
Ich fasse zusammen:<br />
Nehmen wi r die für die Bestimmung von Tätigkeiten als Beruf entwickelten<br />
Kriterien der Berufs-Soziologie ernst, so ist festzustellen, daß sie von gesellschaftlichen<br />
Machtverhältnissen nicht zu trennen ist. Diese drücken sich aus in:<br />
- der Zuweisung der Aufgaben auf die Geschlechter,<br />
- der primären Zuständigkeit der Familie für die Erledigung sozialer Aufgaben,<br />
der Schaffung eines Sonderausbildungssystems, mit der Doppelorientierung<br />
der Inhalte auf Beruf und Familie,<br />
- der Rückbindung des Wissens und der Qualifikation an di ejenigen Facetten<br />
der Person, die als typisch weiblich gelten.<br />
Durch die Amalgamierung der Rolle der Frau und ihrer "Wesensbestimmung"<br />
mit dieser Art von beruflicher Tätigkeit und der Doppelfunktion des Staates als<br />
Ausbilder und Ar<strong>bei</strong>tgeber hat sich der Ort der Ar<strong>bei</strong>t, das Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis,<br />
ni cht stabilisieren können. Auf der Basis des Subsidiaritäts-Prinzips kann es<br />
wi llkürlich immer wieder in die Familie und in die weibliche Ehe-Abhängigkeit<br />
zurückgeschoben werden.<br />
Unter diesen Bedingungen erscheint der um 1970 relevante Diskurs um die<br />
Professionalisierung und die Ansätze zur Verbesserung der Ausbildungs- und<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen von Erzieherinnen, den Zugang für Männer zu öffnen und<br />
den Wissenserwerb soweit zu systematisieren, daß di e Geschlechtsspezifik zurücktreten<br />
konnte als historische Ausnahme. Fortgesetzt hat sich diese E;:ntwickl<br />
ung in einer neuen Auffassung der Frau als gleichberechtigter Partnerin<br />
im beruflichen Kontext und in einer Aufwertung reproduktiver Aufgaben als<br />
notwendiger Ergänzung zur familialen Existenz als normatives Konstrukt, nicht<br />
als Realität. Die aktuelle Ar<strong>bei</strong>tsmarktkrise, die wachsenden familialen Belastungen,<br />
die immer wieder erneut diskutierte Einsicht der Personengebundenheit<br />
sozialer Dienstleistungen und die Suche der Frauen nach außerhäuslichen<br />
Tätigkeiten - zumindestens in Nachbarschafts- und Stadtteilinitiativen - zeigen<br />
die strukturellen Schwächen dieser Entwicklung. Die bisher gefundenen Lösungen<br />
sind für das Wirtschaftssystem ebenso wie für den Staat die beste Form<br />
des Umgangs mit der Krise, nicht aber mit den Frauen und nicht mit den sozialen<br />
Problemen! Aber der historische Prozeß hat Spuren im Bewußtsein der<br />
Frauen hinterlassen!
- 167 -<br />
LITERATUR<br />
Beck-Gernsheim, E./Ostner, I.: Frauen verändern - Berufe nicht? In: Soziale<br />
Welt 29/1978, S. 257-287<br />
Berger, J./Offe, C.: Die Entwick1ungsdynamik des Dienstleistungssektors. In:<br />
Leviathan 1/1980, S. 41-75<br />
Braverman, H.: Die Ar<strong>bei</strong>t im modernen Produktionsprozeß. Frankfurt a.M./New<br />
York 1977<br />
Hausen, K.: Die Polarisierung der "Geschlechtscharaktere" - Eine Spiegelung<br />
der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Rosenbaum, H.<br />
Oirsg.): Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur • Frankfurt 1978, S.<br />
161-194<br />
Hartmann, H.: Der Beruf. In: Soziale Welt 19/1968, S. 197-212<br />
Hempel-Wankerl, Ch.: Fächeraufblähung und Desintegration - eine notwendige<br />
Folge der Venyissenschaftlichung? In: Krüger, H./Rabe-Kleberg, U./Derschau,<br />
D.v.'1984, S. 78-85<br />
Krüger, H.: Mädchen in Frauenberufen: Gegen den Prozeß der Bekehrung der<br />
Frauen zu "niederen Diensten". In: Rabe-Kleberg, U./Krüger, H./Derschau,<br />
D.v. 1986, S. 103-1 18<br />
Krüger, H./Rabe-Kleberg, U./Derschau, D.v. (Hrsg.): Qualifikation für Erzieherar<strong>bei</strong>t.<br />
München 1981, 2. Aufl. 1984<br />
Fassenberger, R.: BildungspoIitische Aspekte der sozialpädagogisch-sozialen<br />
Berufsausbildung. In: Politische Psychologie, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1987<br />
Rabe-Kleberg, U./Krüger, H./Derschau, D.v. (Hrsg.): Qualifikationen für Erzieherar<strong>bei</strong>t,<br />
Bd. 2, 1983; Bd. 3, 1986<br />
Rabe-Kleberg, U.: Frauenberufe - Zur Segmentierung der Berufswelt. Bielefeld<br />
1987<br />
Ostner, I.: Welches "Ar<strong>bei</strong>tsvermögen" braucht die Kindergartenar<strong>bei</strong>t? In: Krüger/Rabe-Kleberg/v.<br />
Derschau 1984, S. 296-313<br />
Ostner, I./ Krutwa-Schott, A.: Krankenpflege - ein Frauenberuf? Frankfurt<br />
a.M./New York 1981<br />
Zinnecker, J.: Die Ar<strong>bei</strong>t von Lehrerinnen in der Schule. In: Lüdtke, H. (Hrsg.):<br />
Erzieher ohne Status? Heidelberg 1973
- 168 -<br />
Christa Wulfers<br />
" DAS KANN MAN SICH NICHT BEZAHLEN LASSEN."<br />
DIE HAUSPFLEGERIN: EIN NEUER BERUF, EINE AL TE TRADITION<br />
Vor nahezu 10 Jahren hat der Gesetzgeber durch das Krankenversicherungs<br />
Kosten-Dämpfungsgesetz die häusliche Krankenpflege in den Leistungskatalog<br />
der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen. Mit dieser Leistung sollte<br />
nicht nur eine kostengünstige Alternative zur Krankenhausbehandl ung geschaffen,<br />
sondern gleichzeitig den Wünschen der Bürger nach einer verbesserten<br />
medizinischen und pflegerischen Versorgung im häuslichen Bereich entsprochen<br />
werden. Seither erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder in ihrer Familie<br />
neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch Krankenpflegepersonen<br />
anstelle einer sonst erforderlichen Krankenhausbehandlung. Dazu eine<br />
Stellungnahme des "Roten Kreuzes" als einem der Wohlfahrtsverbände, di e<br />
häusliche Krankenpflege, auch Hauspflege genannt, anbieten:<br />
"Hauspflege ist die vorübergehende Betreuung von Familien und Einzelpersonen<br />
in ihrer Häuslichkeit durch eine Pflegeperson. Voraussetzung<br />
ist ein durch Krankheit, Behinderung oder andere Gründe verursachter<br />
Notstand, der weder durch Angehörige, Nachbarn noch durch<br />
eine Haushaltshilfe zu beheben ist. Die Haus- und Familienpflege<br />
kann dann in Anspruch genommen werden:<br />
- um einen Krankenhausaufenthalt zu verkürzen oder zu vermeiden<br />
- um die Familie <strong>bei</strong> Abwesenheit der Mutter weiter zu versorgen<br />
- zur Versorgung erkrankter Kinder von berufstätigen alleinerziehenden<br />
Müttern und Vätern<br />
- zur Entlastung <strong>bei</strong> der Pflege Behinderter oder chronisch Kranker<br />
- zur Betreuung von Familien, die in sozialer Notlage sind<br />
- zur Versorgung alter Menschen." (DAK-Magazin 1/87)<br />
Die rechtlichen Bestimmungen über die Gewährung von häuslicher Krankenpflege/Hauspflege<br />
sind in der Reichsversicherungsordnung (R VO) der Krankenkassen<br />
festgelegt. Dort heißt es:<br />
"Versicherte erhalten in ihrem Haushalt oder ihrer Familie neben der<br />
ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch Krankenpflegepersonen<br />
mft einer staatlichen Erlaubnis oder durch andere zur Krankenpflege<br />
geeignete Personen, wenn Krankenhauspflege geboten,<br />
aber nicht ausführbar ist, oder Krankenhauspflege dadurch nicht erforderlich<br />
wird. Die Satzung kann bestimmen, daß häusliche Krankenpflege<br />
auch dann gewährt wird, wenn diese zur Sicherung der ärztlichen<br />
Behandlung erforderlich ist. Häusliche Krankenpflege wird soweit<br />
gewährt, als eine im Haushalt lebende Person den Kranken nicht<br />
pflegen kann." (§ 182 RVO)
- 169 -<br />
Daz u wird in einem Rundschreiben der Spitzenverbände der Krankenkassen<br />
ausgeführt:<br />
"Häusliche Krankenpflege kann nur im Zusammenhang mit ambulanter<br />
ärztlicher Behandlung und nur nach kassen- oder vertragsärztlicher<br />
Verordnung erbracht werden. Sie muß - ebenso wie die begleitende<br />
ärztliche Behandlung - auf Heilung, Besserung, Linderung oder Verhütung<br />
einer Verschlimmerung der Krankheitsbeschwerden gerichtet<br />
sein. Daraus folgt, daß pflegerische Maßnahmen für sich allein nicht<br />
Gegenstand der häuslichen Krankenpflege sein können. Versicherte<br />
erhalten häusliche Krankenpflege, wenn<br />
- Krankenhauspflege geboten, aber nicht durchführbar ist oder<br />
- Krankenhauspflege dadurch nicht erforderlich wird oder<br />
- Krankenhauspflege dadurch abgekürzt werden kann.<br />
Dies entspricht dem Wirtschaftskeitsanspruch des § 182 RVO."<br />
Der Inhalt der Leistung wird folgendermaßen festgelegt: Die häusliche<br />
Krankenpflege teilt sich auf in Behandl ungs- und Grundpflege. Zur Behandlungspflege<br />
gehören ausschließlich medizinische Hilfeleistungen, sie umfassen<br />
insbesondere Injektionen, Verbandwechsel, Katheterisierung, Einläufe, Spülungen,<br />
Einreibungen, Dekubituspflege. Gegenstand der Grundpflege sind vor allem<br />
pflegerische Maßnahmen. Hierzu gehören insbesondere Betten und Lagern, Körperpflege,<br />
Hilfen im hygienischen Bereich, Körpertemperaturmessen, Tag- und<br />
Nachtwachen. Hauswirtschaftliche Ar<strong>bei</strong>ten, die üblicherweise Gegenstand der<br />
Haushaltshilfe sind, zählen grundsätzlich nicht zur häuslichen Krankenpflege<br />
(Rundschreiben der Spitzenverbände). Die Kosten für die häusliche Krankenpflege<br />
übernehmen die Krankenkassen, das Sozialamt - unter bestimmten Voraussetzungen<br />
- oder die Hilfesuchenden sel bst.<br />
Wer leistet nun die häusliche Krankenpflege? Die Zentrale für private<br />
Fürsorge in Bremen hat im Jahre 1977 Pflegekräfte vermittelt, die über 76.000<br />
Pflegestunden geleistet haben. In dem Jahr hatte der Verband einen Stamm von<br />
176 Frauen unter Vertrag, die Berufsausbildungen als Krankenschwester oder<br />
-pflegerin, Schwesternhelferin, Kinderkranken- und Altenpflegerin hatten oder<br />
in örtlichen Kursen zur Hauspflegerin qualifiziert worden waren. Seitdem stiegen<br />
die Zahlen der als Hauspflegerinnen ar<strong>bei</strong>tenden Frauen auch in anderen<br />
Verbänden und anderen Bundesländern. Genaue Zahlen waren aber nicht hezu<br />
er mitteln.<br />
Die Situation von Frauen in solchen Berufen, die erst nach dem Ende der<br />
Expansion des Wohlfahrtsstaates und damit am Ende der Professionalisierung<br />
sozialer und pflegender Tätigkeiten entstanden sind, galt das Interesse eines<br />
Forschungsprojektes (mit Studenten) an der Universität Bremen. Da<strong>bei</strong> ging es<br />
uns vor allem darum herauszufinden, unter welchen Bedingungen und mit wel-
- 170 -<br />
cher Motivation Frauen in solchen neuen Berufen ar<strong>bei</strong>ten, die auf der weiblichen<br />
Bereitschaft und Fähigkeit zu sozialen und pflegenden Tätigkeiten basieren,<br />
gleichzeitig aber die schlechten Ar<strong>bei</strong>tsmarktbedingungen der Frauen dafür<br />
nutzen, diese Leistungen möglichst billig zu erhalten. Wir haben mit Vertretern<br />
der Hauspflege vermittelnden Verbände gesprochen, vor allem aber mit den<br />
Frauen sel bst. Wir wollten herausfinden, warum sie diese Tätigkeiten verrichten,<br />
unter welchen Bedingungen sie ar<strong>bei</strong>ten und mit welchen Motiven sie sich<br />
für diese Ar<strong>bei</strong>t entschieden haben. Im folgenden möchte ich anhand von Auszügen<br />
aus diesen Gesprächen den Beruf der Hauspflegerin darstellen.<br />
1. " da muß man schon ein blßchen Engagement bringen."<br />
Beruflicher Werdegang und Motivation für die Tätigkeit<br />
Eine schon seit zehn Jahren in dem Bereich ar<strong>bei</strong>tende Frau z.B. kam über eine<br />
Freundin zur Hauspflege. Beide gemeinsam absolvierten einen Schwesternhelferinnen-Kursus<br />
in einem der schon angeführten Verbände. Dieser Kursus teilt<br />
sich auf in vier Wochen theoretischer Ausbildung und ein zwei wöchiges Praktikum<br />
in einem Krankenhaus. Danach konnte sie in einem in Bremen ansässigen<br />
Verband sofort tätig werden.<br />
"Ja, anfangs hatte ich eigentlich gar keine Meinung, weil ich überhaupt<br />
mit Krankenpflege nichts zu tun hatte. Ich hatte immer gedacht,<br />
ich werde das wohl auch nie schaffen. Aber man schafft es ja<br />
wirklich."<br />
Eine andere Frau ist examinierte Krankenschwester, war dann auch sechs<br />
Jahre im Krankenhaus tätig, danach hat sie ein halbes Jahr in einer Bücherei<br />
gejobt, dann über zwei Jahre an einer Sonderschule und einem Heim für geistig<br />
behinderte Kinder und Jugendliche gear<strong>bei</strong>tet. Zwischendurch war sie kurz in<br />
einer Arztpraxis tätig, bevor sie sich für den Bereich der Hauspflege entschied.<br />
"Und dann wollte ich eigentlich eine Umschulung machen zu einer<br />
Beschäftigungstherapeutin. Daraus ist aber nichts geworden. Und<br />
dann habe ich einen Lehrgang gemacht zur Haus- und Familienpflegerin,<br />
so eine Art Zusatzausbildung. Und dann habe ich hier <strong>bei</strong>m Verband<br />
das Praktikum gemacht, und das gefiel mir eigentlich ganz gut.<br />
Und seitdem bin ich da<strong>bei</strong>."<br />
Der berufliche Werdegang dieser Krankenschwester ist allerdings nicht<br />
ganz typisch für den Bereich der häuslichen Krankenpflege. Häufig sind es verheiratete<br />
Frauen mit fast erwachsenen Kindern oder auch alleinerziehende<br />
Mütter.
- 171 -<br />
"Also, warum ich das mache: Ich habe drei Kinder, zwei noch schulpflichtige<br />
und eines wird jetzt 18. Und nach meiner Scheidung bot<br />
sich das einfach an, weil das eine sehr gute Teilzeitar<strong>bei</strong>t ist. Ich<br />
sitze nicht zu Hause als Sozialempfängerin und kann mich trotz meiner<br />
Ar<strong>bei</strong>t noch um mein Kind kümmern. Nach meiner Heirat kamen<br />
di e <strong>bei</strong>den Kinder. Und als die groß genug waren, um in den Kinderga<br />
rten zu gehen bzw. sie dann in die Schule gekommen sind, die <strong>bei</strong>den,<br />
da wollte ich nicht mehr zu Hause sitzen, und da bin ich eben<br />
in die Hauspflege wieder reingegangen."<br />
Über die Motivation wird von dieser Mutter angeführt, daß die Ar<strong>bei</strong>t in<br />
der Hauspflege eine sehr gute Teilzeitar<strong>bei</strong>t sei, die sich mit Haushalt und Kinder<br />
versorgung gut vereinbaren lasse, zudem die typische isolierte Lebenssituation<br />
entschärfe:<br />
"Das ist ein Zubrot praktisch. Das ist jetzt, daß ich zu Hause nicht<br />
rumglucke und mir die Decke auf den Kopf fällt und ich nur über<br />
Kinder und Küche reden kann, sondern daß ich auch mit Menschen zu<br />
tun habe."<br />
Es ist zum einen diese typisch weibliche Einbindung in familiäre Verpflichtungen,<br />
die die Frauen zu billigen Ar<strong>bei</strong>tskräften macht. Es ist aber auch<br />
- und das ist hier ausschlaggebend - das Engagement der Frauen, in Not nd<br />
Krankheit zu helfen. Und dies bekommen die Kostenträger umsonst!<br />
"Sicher, ich brauche Gel d zum Leben. Aber wenn ich ar<strong>bei</strong>ten würde,<br />
um ordentlich Geld zu verdienen - da nn würde ich auch etwas anderes<br />
finden. Da muß man schon ein bißchen Engagement bringen."<br />
Ahnlich sieht es eine andere Pflegerin, die seit 10 Jahren im Bereich der<br />
Krankenpflege ar<strong>bei</strong>tet. Bei ihr steht, wie <strong>bei</strong> ihrer Kollegin, die Bezahlung als<br />
Motivation der Ar<strong>bei</strong>t. ebenfalls nicht im Vordergrund, sondern:<br />
"Ja, ich mache es, nur um den Menschen zu helfen. Ich meine, ich<br />
habe es auch bezahlt gekriegt. Aber vor allen Dingen ist es eine Aufgabe.<br />
Wenn man die am Anfang macht, wie soll ich das sagen - befriedigt<br />
einen, man findet das unheimlich toll, daß man jemandem<br />
helfen kann. Ja, das ist unwahrscheinlich, eine unwahrscheinlich tolle<br />
Sache, auch heute noch empfinde ich das genauso, daß man gebraucht<br />
wird. Und das ist ja wichtig."<br />
Eine weitere Kollegin drückt es sogar so aus, daß sie "nie etwas anderes<br />
beruflich machen möchte," da es "einen wirklich zufrieden macht und auch befriedigt,<br />
wenn man weiß: Mensch, heute hast Du wirklich einen Menschen<br />
gl ücklich gemacht."<br />
Sieht es nach den bisher zitierten Außerungen so aus, als handele es sich<br />
nur um eine Tätigkeit, die von Frauen ausgeübt wird, di e anderweitig materiell<br />
abgesichert sind, so täuscht dieser Eindruck. Wir trafen auch Frauen, die versuchen,<br />
mit der geringen Bezahlung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten:<br />
"Ich habe im Durchschnitt mindestens 800,- DM im Monat, und da<br />
kann ich von leben. Hinzu kommt, daß ich nicht so eine hohe Miete
- 172 -<br />
zahlen muß und auch nicht so unheimlich viel Klamotten habe. Das<br />
spielt alles mit. Sonst wäre es nicht möglich. Und daß ich eben alIeine<br />
bin und nur für mich alleine sorgen muß. Mit Kindern ginge das<br />
auch nicht."<br />
Für eine Reihe - vor allem älterer - Hauspflegerinnen ist noch ein anderer<br />
Grund ausschlaggebend für ihre Tätigkeit, die Absicherung im Alter durch eine<br />
Rente. Frauen, die bisher hauptsächlich in Aushilfsjobs tätig waren oder ar<strong>bei</strong>tslos<br />
gewesen sind, leben mit der Perspektive, daß sie später von einer sehr<br />
geringen Rente ihr Leben bestreiten müßten oder eben vom Sozialamt abhängig<br />
wären. Hinzu kommt, daß gerade die Hauspflegerinnen sehr häufig mit alten,<br />
kranken Menschen zu tun haben und das Problem der geringen Rente <strong>bei</strong> diesen<br />
Menschen häufig sehr direkt und unmittelbar erfahren.<br />
2. Ich bin festangestellt mit Steuerkarte und Rentenversicherung,<br />
wie sich das gehört."<br />
Vertragliche Regelung von Ar<strong>bei</strong>tszeit und Entlohnung<br />
Die meisten Einsatzzentralen für die Vermittlung von Hauspflegerinnen sind<br />
Wohlfahrtsinstitutionen, die von ihrer Satzung her keine Uberschüsse erwirtschaften<br />
dürfen. Die Krankenkassen zahlen je Patient 19,50 DM pro Stunde.<br />
Diese Summe wird laut Einsatzzentralen für Verwaltung und Bezahlung der<br />
Hauspflegerinnen voll ausgeschöpft. Die Hauspflegerinnen sind in den meisten<br />
Fällen, bis auf einige Aushilfskräfte, <strong>bei</strong> den verschiedenen Wohlfahrtsverbänden<br />
auf Basis von Stundenverträgen angestellt.<br />
Die Sozialversicherung und der Urlaubsanspruch sind zwar Inhalt des Vertrages:<br />
"Das ist ein richtiger Dienstar<strong>bei</strong>tsvertrag, aber nicht über eine bestimmte<br />
Stundenzahl. Das ist je nachdem, was anliegt. Also ich habe<br />
mindestens immer 3 Stunden. Es können aber auch mal 1+ Stunden, 5<br />
Stunden sein. Ich habe auch schon 7 Stunden gehabt am Tag. Und wir<br />
werden ja nach Stunden bezahlt, sind aber versichert. Sonst hätte<br />
ich das auch nicht gemacht. Das wäre mir sonst zu unsicher."<br />
"Ich habe 21 Tage Urlaub und bekomme auch Weihnachtsgeld, und<br />
auch Fortzahlung im Krankheitsfall und solche Sachen .•• ",<br />
aber über die Anzahl der zu ar<strong>bei</strong>tenden Stunden und das zu verdienende Gel d<br />
herrscht am Anfang eines Monats meist noch Unklarheit.<br />
"Nein, Stundengarantien kann man mir nicht geben. Sie haben in dem<br />
Moment eine Stundengarantie, wenn Sie eine Dauerpflege haben.<br />
Dann wissen Sie ganz genau, diesen Monat ar<strong>bei</strong>te ich dann und<br />
dann. Aber wenn Sie jetzt keine Dauerpflege haben, dann ist das ja
- 173 -<br />
den.<br />
immer verschieden. Und <strong>bei</strong> dem einen kriegen Sie nur zwei Stunden<br />
und <strong>bei</strong> dem anderen müssen Sie vielleicht jetzt eine Kollegin vertrete<br />
n, da sind Sie jetzt nur drei Tage von den ganzen Stunden, die da<br />
gewesen sind. Dann können Sie auch nochmal haben, daß Sie zwischen<br />
den Pflegefällen drei Tage zu Hause sitzen. Von daher, eine<br />
Stundengarantie kann man nicht kriegen."<br />
Die gear<strong>bei</strong>teten Stunden müssen über Stundenzettel nachgewiesen wer-<br />
"Wir haben für jeden Patienten so einen StundenzetteI . Und der Patient<br />
muß dann zum Monatsende oder wenn die Pflege ausläuft, gegenzeichnen.<br />
Entweder der Patient oder der Angehörige oder die<br />
Nachbarin. Ich habe es auch schon mal gehabt <strong>bei</strong> einer blinden Patientin,<br />
die war mit sämtlichen Nachbarn verkracht und keiner war<br />
da, der da unterschreiben konnte. Die kriegten die Rechnung auch<br />
privat, und dann habe ich den gar nicht unterschreiben lassen."<br />
Die Höhe des Stundenlohnes ist von Einsatzzentrale zu Einsatzzentrale<br />
etwas unterschiedlich. Der niedrigste Brutto-Stundenlohn lag <strong>bei</strong> 9,50 DM für<br />
Krankenpflegerinnen, die einen 4wöchigen theoretischen Unterricht und ein<br />
2wöchiges Praktikum im Krankenhaus absolviert haben. Examinierte Krankenschwestern<br />
bekommen einen Brutto-Stundenlohn von 11,50 DM - 11 ,65 DM. Je<br />
nach Steuerklasse und der Höhe des Brutto-Lohnes bleibt dann ein Nettolohn<br />
von ca. 7,-- DM bis höchstens 10,-- DM für Krankenschwestern.<br />
Die meisten Hauspflegerinnen haben pro Tag mehrere Patienten zu pflegen.<br />
Für jeden Patienten sind unterschiedlich viele Stunden von der Krankenkasse<br />
bewilligt worden. Die maximale Höhe der bewilligten Stunden pro Patient/in<br />
liegt <strong>bei</strong> etwa vier Stunden pro Tag. In seltenen Fällen wird eine Ausnahme<br />
von dieser Regelung getroffen, z.B. <strong>bei</strong> sehr schwerwiegenden Krankhei<br />
tsfällen.<br />
"Wenn einer vier Stunden kriegt, der ist wirklich ganz toll bedient •<br />
.. . Dann werden diese vier Stunden aufgeteilt. Da fahre ich ja auch<br />
dreimal hin: morgens, mittags und abends. Also morgens bin ich 1<br />
1/2 Stunden und mittags eine Stunde und abends nochmal 1 1/2 Stunden<br />
da. Ich bin vier Stunden am Tag da."<br />
Problematisch wird es für die Hauspflegerin aber dann, wenn sie 2-3 Patienten<br />
hat, zu denen sie mehrmals am Tag fahren muß. Daraus ergibt sich oft<br />
ein sehr langer Ar<strong>bei</strong>tstag. Häufig muß die Pflegerin den Patienten <strong>bei</strong>m Aufstehen,<br />
Waschen und Anziehen behilflich sein, d.h., daß sie sehr früh aufbrechen<br />
muß, damit sie den Wünschen all der zu betreuenden Patienten auch gerecht<br />
werden kann. Sie hat zwischendurch immer mal einige Zeit frei, die aber<br />
selten als Freizeit empfunden wird. Die tägliche Ar<strong>bei</strong>tszeit ist zwar durch die<br />
von der Krankenkasse bewilligten Stunden festgelegt, durch die ständige Hin<br />
.und-Her-Fahrerei ergibt sich aber eine wesentlich längere Ar<strong>bei</strong>tszeit, die
- 174 -<br />
nicht bezahlt wird und den effektiven Stundenlohn stark senkt. Solche unbezahlten<br />
Uberstunden können auch dann entstehen, wenn Probleme mit Angehörigen<br />
auftreten, aber auch, um diese einmal zu entlasten. Eine Hauspflegerin<br />
erzählt, daß sie manchmal länger <strong>bei</strong>m Patienten bleibt.<br />
" • •• damit dann die Tochter nachmittags zu ihrem Bekannten fahren<br />
kann, damit die auch mal rauskommt. Das ist sowieso sehr wichtig,<br />
daß die Familienangehörigen mal rauskommen, daß die mal etwas<br />
anderes sehen. Und wenn es nur ist, daß man mal sagt: Na gut, bleibe<br />
ich mal eine Stunde länger oder eine halbe Stunde länger, dann<br />
kannst Du <strong>bei</strong>m Einkaufen auch mal vorm Schaufenster stehen bleiben."<br />
Diese unbezahlten freiwilligen Uberstunden werden allerdings selten als<br />
solche angesehen.<br />
"Da kann ich ja kein Gel d für nehmen, wenn ich irgendjemandem mal<br />
eine Freundlichkeit anbiete. Das kann man sich nicht bezahlen lassen,<br />
das muß nicht sein."<br />
3. "Hauspflege ist tausendprozentig Improvisation - und um den Rest führen<br />
wir Krieg mit den Arzten und Krankenkassen."<br />
Alleinverantwortung und Aufgabenzuweisung von außen<br />
"Wenn wir eine Pflege bekommen, dann bekommen wir den Namen<br />
und die Anschrift von dem Patienten, ungefähr die Krankheit, so was<br />
bekannt ist, und die Zahl der Stunden, die wir da abzuleisten haben.<br />
Dan n sucht man sich den Stadtplan raus, sucht die Straße raus, fährt<br />
los, stellt sich hin und klingelt. Dann muß man schon flexibel sein.<br />
Am Anfang ist mir das nicht leicht gefallen. Habe ich immer gedacht:<br />
Oh Gott, was kommt da auf Dich zu? Mittlerweile finde ich<br />
das interessant, da viele neue Menschen kennenzulernen, die Haushalte.<br />
Ja, und dann muß man eben erfragen, so gut wie möglich, was<br />
liegt an, was ist zu tun? Man muß die Augen offenhalten und sehen,<br />
wa s das Wichtigste ist."<br />
Diese Hauspflegerin beschreibt auf bildhafte Weise, womit sie und die<br />
meisten ihrer Kolleginnen <strong>bei</strong>m Beginn eines Einsatzes konfrontiert werden.<br />
Eine konkrete Aufgabenzuweisung und Ar<strong>bei</strong>tsplatzbeschreibung gibt es nicht,<br />
da jede/r Patient/in individuell betreut und behandelt werden muß. Häufig gehen<br />
die Hauspflegerinnen einen Tag, bevor der Einsatz beginnt, <strong>bei</strong>m Patienten<br />
zuhause vor<strong>bei</strong> und überprüfen vorab, was gemacht werden muß und wie die<br />
Häuslichkeiten eingerichtet sind. Es kann vorkommen, daß noch verschiedene<br />
medizinische Hilfen wie z.B. Krankenbett, Nachtstuhl etc. besorgt werden müssen.
- 175 -<br />
Laut Einsatzzentrale und Krankenkasse dürfen die Hauspflegerinnen keine<br />
größeren Hausar<strong>bei</strong>ten verrichten, da di ese in den Aufgabenbereich der Familienangehörigen<br />
fallen oder eben von Haushaltshilfen oder Nachbarschaftshelferinnen<br />
des zuständigen Dienstleistungszentrums übernommen werden. Dennoch<br />
läßt sich häufig diese Richtlinie, daß Hauspflegerinnen nicht für's Putzen zuständig<br />
sind, nicht einhalten.<br />
"Nein, man kann das nicht so festlegen - ein Problem ist für viele so<br />
Putzen. Wie weit dürfen wir da gehen, was dürfen wir da machen<br />
oder sollen wir da machen. Das kann man auch nicht so festlegen.<br />
Bei dem einen macht man eben mehr, <strong>bei</strong> dem anderen weniger. Das<br />
kommt auf die Situation an. Ich achte hauptsächlich darauf, daß ich<br />
es demjenigen, den ich zu betreuen habe, so gemütlich wie möglich<br />
mache."<br />
Die Problematik der nicht festlegbaren oder auch einhaltbaren Ar<strong>bei</strong>tsaufgaben<br />
hat für die Hauspflegerinnen sehr unterschiedliche Bedeutung. Einerseits<br />
empfinden viele es als positiv, daß sie dadurch relativ selbständig ar<strong>bei</strong>ten können:<br />
"Ich kann ganz frei entscheiden, wie ich mir die Ar<strong>bei</strong>t einteile. Und<br />
auch die Zeit mit den Patienten absprechen, wie es am besten mit<br />
den anderen Pflegen paßt. Und das finde ich eigentlich unheimlich<br />
toll an der Ar<strong>bei</strong>t, weil ich selbständig ar<strong>bei</strong>ten kann. Daß ich mir<br />
die Sachen einteilen kann und auch zu den einzelnen meistens einen<br />
sehr guten Kontakt bekomme. Das ist als Krankenschwester im Krankenhaus<br />
nicht möglich."<br />
Andererseits sehen viele aber auch die große Alleinverantwortung als Problem<br />
und für sie belastend an:<br />
"U nd es ist auch nicht immer leichte Ar<strong>bei</strong>t. Also körperlich nicht<br />
immer leicht, und dann auch so psychisch. Man steht da mit seinen<br />
Problemen allein. Wenn man im Krankenhaus ar<strong>bei</strong>tet, hat man immer<br />
gl eich eine Kollegin da<strong>bei</strong>, mit der man sich irgendwie austauschen<br />
kann. Und dort ist man wirklIch auf sich selbst gestellt. Man muß<br />
alles erstmal selbst verar<strong>bei</strong>ten. Und wenn man mal ein Gespräch<br />
oder so braucht, ist keiner da."<br />
Die physische Anstrengung z.B. <strong>bei</strong>m Umbetten des Patienten, ist sicherlich<br />
nicht das einzige Beispiel für die Belastung der Hauspflegerin. Die damit<br />
zusammenhängende Frage, ob sie dieser Belastung auch standhalten kann, führt<br />
die Pflegerin häufig an körperliche und psychische Grenzen.<br />
"Im Krankenhaus sind es immer 2 Krankenschwestern, die das machen.<br />
Entweder eine Lernschwester oder eine examinierte Schwester.<br />
Und ich bin immer alleine. Ich muß das versuchen, allein zu meistern.<br />
Und ich mache das auch. Man schafft das auch, weil man das auch<br />
will ."<br />
Es gibt für Hauspflegerinnen verschiedene Möglichkeiten, sich in Problemsituationen<br />
mit l\rzten oder der Einsatzzentrale abzusprechen. Es ist zwar ein<br />
ruhigeres Gefühl zu wissen, daß die Möglichkeit der Absprache in der Ar<strong>bei</strong>t
- 176 -<br />
besteht, doch die Erfahrungen der Pflegerinnen zeigen, daß die Arzte sehr unterschiedlich<br />
auf die Hauspflege reagieren.<br />
"Die jungen Arzte vor allen Dingen, die sind da sehr aufgeschlossen.<br />
Da kann man wirklich auch gut mit reden und sich Ratschläge holen.<br />
Aber <strong>bei</strong> den alten, da ist das noch nicht so gut durchgedrungen von<br />
Hauspflege und Hausbesuchen. Das fängt jetzt erst ganz langsam wieder<br />
an, daß die jungen Arzte das tatsächlich wieder machen, die<br />
Hausbesuche."<br />
Wenn die Situation in der Pflege dann wirklich an die Grenzen der Alleinverantwortung<br />
gerät und für die Hauspflegerin nicht mehr tragbar ist, kann sie<br />
die Verantwortung an den Arzt abgeben. Häufig warten die Frauen aber sehr<br />
lange, bevor sie diesen Schritt unternehmen.<br />
4. " ••• da gibt man ein Stück Seele her."<br />
Psychische Belastungen im Beruf der Hauspflegerin<br />
Als ein sehr wichtiges Moment im Beruf der Hauspflegerin ist die psychische<br />
Belastung in der Ar<strong>bei</strong>t und die schwierige Trennung von Ar<strong>bei</strong>t und Freizeit<br />
an zusehen. Keine der interviewten Frauen konnte diese Trennung für sich ganz<br />
klar ziehen. Bei allen Gesprächen nahm das Thema der psychischen Belastung<br />
einen sehr großen Raum ein. Immer wieder wurde von den Hauspflegerinnen die<br />
Verbindung und Verknüpfung zum Privatleben angeführt und dieses auch häufig<br />
als großes Problem erlebt.<br />
"Da konnte ich nicht einfach weggehen und die Tür hinter mir zumachen<br />
und sagen: so, die sind da und ich bin hier. Man grübelt automatisch<br />
darüber, man denkt nach: wie könnte man das vielleicht noch<br />
besser machen, die Gedanken sind immer noch <strong>bei</strong> dieser Patientin.<br />
Auch wenn man zuhause ist oder Wochenenddienst hat oder keinen<br />
Dienst hat, dann denkt man immer: Ich würde ja dann am liebsten<br />
hinfahren und gucken, was sie überhaupt macht."<br />
Ganz besonders schwierig empfinden die Hauspflegerinnen die psychische<br />
Belastung <strong>bei</strong> dem sogenannten "Endpflegen" von Menschen, die aus dem Krankenhaus<br />
nach Hause entlassen werden, um sich dort in gewohnter Atmosphäre<br />
auf das Sterben vorzubereiten.<br />
"Ja, wenn man eine Endpflege hat, das ist eine ganz besondere Situation,<br />
weil man von vornherein weiß: wenn diese Pflegestelle zu<br />
Ende ist, dann ist der Mensch auch nicht mehr da. ••• Und dann muß<br />
man sich ganz neu einstellen auf den Menschen, wie geht der mit<br />
seinem eigenen Schicksal um? Wie gehen die Angehörigen damit um?<br />
Wie gehe ich damit um? Endpflege bedeutet eben auch immer ein<br />
Stück Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Ja, Endpflege, das<br />
ist Individualpflege. Ja, da gibt man ein ganz besonders großes Stück
- 177 -<br />
Seele her. Da muß man sich öffnen, seelisch sich seI ber auch öffnen,<br />
und man muß sich ja dann auch wieder mit Leben und Tod auseinandersetzen,<br />
sich sel ber auch. Daß man dann auch schon so mal zum<br />
Nachdenken kommt und über seinen eigenen Tod auch mal nachdenkt."<br />
Eine andere Pflegerin hat durch die lange individuelle Pflege einer<br />
schwerkranken Patientin eine persönliche Beziehung aufgebaut und empfindet<br />
den Tod dieser Patientin dann als sehr schweren Verlust. Als Verar<strong>bei</strong>tungsmöglichkeiten<br />
zeigen die Pflegerinnen sehr unterschiedliche Ansätze auf. Sehr<br />
stark werden diese Belastungen in die eigene Familie hineingetragen.<br />
"Wenn man jetzt - wie ich das schon gehabt habe - so drei oder vier<br />
Endpflegen hintereinander hat, also das muß dann zuhause meine<br />
eigene Familie auffangen. ( ... ) Man muß wirklich eine intakte Familie<br />
und Partnerschaft haben, sonst wird man verrückt, sonst muß man<br />
sich irgendwie etwas suchen, wo man sich mal auslassen kann."<br />
Insgesamt fühlen sich die meisten Hauspflegerinnen alleingelassen mit diesen<br />
Belastungen in ihrem Beruf.<br />
5. Ausblick<br />
In die Ausbildung der Krankenpfleger/innen ist seit 1986 ein Hauspflegepraktikum<br />
eingebaut worden. Angesichts der Versuche, Kosten für pflegende Dienstleistungen<br />
im Krankenhaus und Altenheim zu reduzieren und statt dessen di e<br />
billigere Hauspflege auszubauen, kann davon ausgegangen werden, daß in Zukunft<br />
immer mehr beruflich entsprechend qualifizierte Kräfte in die Hauspflege<br />
strömen, weil sie in den Institutionen keinen Ar<strong>bei</strong>tsplatz finden. Eine solche<br />
Entwicklung wird auch durch die zunehmende Kritik an den Großinstitutionen<br />
und ihren Leistungen getragen. Zu fordern und einzulösen bleibt, daß die besseren<br />
Leistungen der Frauen in der häslichen Pflege durch angemessene Ar<strong>bei</strong>tsund<br />
Lohnbedingungen abgegolten werden müßten.
- 178 -<br />
Maria-Eleonora Karsten<br />
MIGRANTINNEN. TRADITIONELLE FRAUENARBEIT IN<br />
UNGESCHUTZTEN UND ILLEGALEN VERH}\L TNISSEN<br />
Vorbemerkung<br />
Die Situation von Migrantinnen auf dem bundesrepublikanischen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
kann nicht ohne weiteres mit der ohnehin prekären Erwerbssituation einheimischer<br />
Frauen gleichgesetzt werden. Migrantinnen finden ein besonders für sie<br />
entwickeltes Regel werk der Lebensorganisation vor. Die derzeitige Ausländerund<br />
Asylpolitik sowie das Ausländer- und Asylrecht produzieren die Ausbreitung<br />
unsicherer Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse insbesondere für Migrantinnen. Dieser Prozeß<br />
treibt Frauen an die Grenze der oder in die Illegalität. Migrantinnenar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
in der Grauzone des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes nehmen zu. Die grundlegende<br />
Verunsicherung der Lebensbedingungen im Einwanderungsland wird für<br />
jene ausländischen Frauen, die schon in ihren Bleiberechten eine durchgreifende<br />
Unsicherheit der Lebens- und Zukunftsperspektive erfahren, verschärft. Für<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmigrantinnen, Kontinent-Flüchtlinge, Asylantinnen und Aussiedlerinnen<br />
ist deswegen zu fordern, daß ihre prekären Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse auch als<br />
Resultat von Ausländer- und Asylpolitik erkannt und in ihren bedrohlichen sozialen<br />
Folgen für die Frauen problematisiert werden. Ihre Einbeziehung in di e<br />
sozialen Sicherungs- und Versorgungssysteme sowie die Eröffnung von Berufsausbildungs-,<br />
Bil dungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Migrantinnen müssen<br />
konzeptionell und praktisch so entwickelt werden, daß sie aus dem dilemmatischen<br />
Verhältnis von Ar<strong>bei</strong>tsmarkt-, Ausländer- und Asylpolitik legitime<br />
Auswege zeigen.<br />
Der Formulierung einer solchen Forderung liegt eine Einsicht in die grundsätzlichen<br />
Probleme ausländischer Frauen, Migrantinnen, in ihrem Verhältnis<br />
zum bundesrepublikanischen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und mit den Bedi ngungen des Migrationslebens<br />
zugrunde. Nur einzelne Aspekte dieser Problematik sind empirisch<br />
überprüft, weil Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse von Migrantinnen zum großen Teil dadurch<br />
gekennzeichnet werden können, daß sie nicht nur unsicher, sondern auch unsichtbar<br />
sind oder geheim gehalten werden (müssen). Sie tauchen dadurch weder<br />
in der Öffentlichkeit noch in offiziellen Statistiken und Untersuchungen auf.
- 179 -<br />
1. Ausländische Frauen, Migrantinnen: Zur Klärung des Begriffs<br />
Wenn von "ausländischen Frauen" oder "Migrantinnen" in erziehungswissenschaftlicher<br />
oder soziologischer Literatur die Rede ist, so sind damit vornehmlich<br />
Frauen aus den Hauptanwerbeländern, also die sog. Ar<strong>bei</strong>tsmigrantinnen<br />
gemeint: Italienerinnen, Spanierinnen, Griechinnen, Jugoslawinnen, Frauen aus<br />
der Türkei und Portugal (Repräsentativuntersuchung 1985). Erst die neuere Diskussion<br />
um die Asylproblematik (EKD 1986, Spaich 1982) hat zu einer breiten<br />
Kenntnisnahme der Tatsache geführt, daß Frauen als Aussiedlerinnen, Flüchtlinge<br />
aus Polen, Ungarn oder Rumänien, als Asylbewerberinnen aus afrikanischen<br />
oder asiatischen Staaten in der Bundesrepublik leben und ar<strong>bei</strong>ten.<br />
Durch die vorrangige Betrachtung und wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmigrantinnen zugewendet wird, erscheinen diese anderen Frauen als<br />
nicht zugehörig zur Gruppe der Migrantinnen. Die Frauen werden so nach dem<br />
ihnen zugeschriebenen unterschiedlichen staatsbürgerlichen und politischen Status:<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmigrantin, Flüchtling, Asylbewerberin aufgespalten und die Assoziation<br />
hervorgetrieben, auch ihre Lebens- und Ar<strong>bei</strong>tssituation gestalte sich notwendig<br />
unterschiedlich.<br />
Gegenüber dieser Betrachtungskonvention wird hier davon ausgegangen,<br />
daß es im Hinblick auf ungesicherte und unsichtbare Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse sinnvoll<br />
ist, alle Ausländerinnen als Migrantinnen in die Analyse einzubeziehen und<br />
erst in der Dimension der für sie geltenden aufenthalts- und ar<strong>bei</strong>tsrechtlihen<br />
Regelungsvorgaben sowie in der Dimension politisch-rechtlicher Praxis im sozlaladministrativen<br />
Umgang des Einwanderungslandes mit den jeweiligen Migrantinnengruppen<br />
zu differenzieren.<br />
Die Perspektive richtet sich hier also auf alle Migrantinnen in ungesicherten,<br />
unsichtbaren und ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen. Da<strong>bei</strong> geht es darum,<br />
nachzufragen, aus welchen Gründen erfahrungsgemäß viele Migrantinnen in solchen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen tätig sind. Daß sie in ungeschützten und unsichtbaren<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen tätig . sind, wird vorausgesetzt. Die Nachfrage nach dem<br />
"Warum" ist die Frage nach den Produktionsbedingungen unsicherer Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse,<br />
die insbesondere für Migrantinnen zur Geltung kommen.
- 180 -:<br />
2. Die Produktion von unsicheren Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen für Migrantinnen<br />
Auf der Basis ar<strong>bei</strong>tsmarkt- und berufssoziologischer Analysen zur Erwerbstätigkeit<br />
von Frauen sowie der empirischen Untersuchungen zur Situation von<br />
Migrantinnen kann von folgenden Befunden ausgegangen werden: Migrantinnen<br />
sind auch in regulären, sozial versicherten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen besonderen<br />
branchenspezifischen Ar<strong>bei</strong>tslosigkeitsrisiken ausgesetzt (Friedemann/Pfau<br />
1985). In Abhängigkeit von entsprechenden Konjunkturen sind sie vorrangig<br />
"Freisetzungen" aus regulären Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnissen ausgesetzt. Dies<br />
wird in einer Repräsentativuntersuchung des Bundesministeriums für Ar<strong>bei</strong>t und<br />
Soziales durch den Befund bestärkt, daß als Grund für Nicht-Erwerbstätigkeit<br />
von den befragten ausländischen Frauen am häufig-sten die "vergebliche Suche<br />
nach einer Ar<strong>bei</strong>tsstelle" genannt wird (1986, Tab. 324, S. 525).<br />
Migrantinnen sehen sich aufgrund von Haus- und Familienar<strong>bei</strong>t an der<br />
Aufnahmne regulärer Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse gehindert, obwohl dazu <strong>bei</strong><br />
ihnen ein deutlich artikulierter Wunsch besteht (Repräsentativuntersuchung<br />
1986, S. 525).<br />
Migrantinnen verfügen als nachgereiste Familienangehörige nicht ohne weiteres<br />
über eigene Ar<strong>bei</strong>ts- und Aufenthaltsrechte. Damit erbringen sie die eigenständigen<br />
Vorbedingungen für die Aufnahme eines regulären, gesicherten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisses<br />
nicht (Karsten 1986).<br />
Dagegen liegen keine abgesicherten Befunde darüber vor, in welchem<br />
quantitativen Umfang Migrantinnen unsichtbar ar<strong>bei</strong>ten; unter welchen qualitativen<br />
Bedingungen diese ungesicherte Ar<strong>bei</strong>t sich gestaltet und welche psychischen,<br />
physischen und sozialen Folgen sich für die Frauen im einzelnen daraus<br />
ergeben.<br />
Dies ist für ein Verständnis deshalb negativ, weil insbesondere aus dem<br />
Kontext sozialpädagogischer Ar<strong>bei</strong>t mit ausländischen Frauen Kenntnisse vorliegen,<br />
daß Migrantinnen sogar mehrere unsichere Ar<strong>bei</strong>tsstellen gleichzeitig,<br />
nacheinander oder wiederkehrend einnehmen. Aufgrund dieses allgemeinen Wissens<br />
muß davon ausgegangen werden, daß Unsicherheit und Unsichtbarkeit für<br />
vi ele Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse von Migrantinnen geradezu systematisch produziert<br />
werden. Hier<strong>bei</strong> ist zwischen zwei Bedingungskomplexen zu unterscheiden, erstens<br />
den krisenbedingten Faktoren und zweitens einem ausländerpolitisch-ausländerrechtlichen<br />
Faktorenbündel .
- 181 -<br />
Erstens: Die Krise und Neuformierung des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes führt für alle<br />
weiblichen Ar<strong>bei</strong>tnehmer zu besonderen Zugangs- und Verbleibeschwierigkeiten,<br />
zu einer überproportionalen Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit und zu einem erhöhten Ar<strong>bei</strong>tslosigkeitsrisiko.<br />
Für Migrantinnen wirken sich die Regeln des Ausländervorrangs<br />
verschärfend auf die schon angesprochene Ar<strong>bei</strong>tslosigkeitsentwicklung<br />
aus. Denn aufgrund dieses Ausländervorrangs wird Migrantinnen der Zugang<br />
zum regulären Ar<strong>bei</strong>tsmarkt zusätzlich verwehrt. Bei Interesse an Gelderwerb<br />
stehen somit vorrangig Tätigkeiten im Geringverdienerbereich, in Stunden-<br />
oder Teilzeittätigkeit, in Saisonar<strong>bei</strong>t, ohne Sozialversicherung und Ar<strong>bei</strong>tslosenversicherung<br />
zur "Auswahl".<br />
Die Entwicklung von Frauenar<strong>bei</strong>tsplätzen zur Teilzeit-, flexiblen Stunden-<br />
oder geringentlohnten Ar<strong>bei</strong>t im gewerblichen Sektor, im Dienstleistungssektor<br />
und auch im Bereich der "neuen Selbständigen" trifft <strong>bei</strong> Migrantinnen<br />
damit zusammen, daß sie von ihrer Berufsausbildung oder vorherigen Tätigkeit<br />
her verbreitet zu jenen Ar<strong>bei</strong>tsfeldern passen, die derzeit aus dem Kernar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
ausgegliedert werden. Denn dies sind ja gerade solche, für die im wesentlichen<br />
"Jederfrau-Kompetenzen" und keine beruflichen Spezialqualifikationen<br />
benötigt werden.<br />
Jederfrau-Kompetenzen sind da<strong>bei</strong> vorrangig z.B. im Reinigungsgewerbe,<br />
<strong>bei</strong> Verkaufstätigkeiten sowie in sozialen oder sozial-nahen pflegerischen Berufen<br />
gefragt. Insbesondere das Ausländerinnen - als angeblich besonders traditionelle<br />
Frauen - unterstellte Kompetenzmodell für soziale Berufe speist sich<br />
aus einer Vorstellung, daß es die in diesen Berufen eingelassenen hausar<strong>bei</strong>tsund<br />
familienar<strong>bei</strong>tsnahen Fähigkeiten seien, die von ausländischen Frauen ausgebildet<br />
werden sollten, und zwar in der besonderen Konstellation der "geborenen<br />
Expertin". Elemente dieses Kompetenzmodells sind die Expertisierung der<br />
im biographischen Migrationsprozeß erworbenen weiblichen Erfahrungen, die<br />
Uberhöhung von weiblichen Alltagserfahrungen, z.B. in der türkischen Frauensolidargemeinschaft,<br />
zur spezifischen Qualifikation sowie das authentische Erleben<br />
von Mehrfachdiskriminierungen als Frau und Migrantin und weibliche<br />
Angehörige einer Minorität. Allgemeine weibliche Lebenserfahrung, wie immer<br />
si e hergestellt oder erworben wurde, gilt als uneinholbare Basis und nichtlernbare<br />
Voraussetzung für Migrantinnenar<strong>bei</strong>t in sozialen und pflegerischen Berufen<br />
(Karsten 1986, Hebenstreit 1986).<br />
Unterstellte oder tatsächliche Jederfrau-Kompetenzen und die Erwartung,<br />
daß Migrantinnen geringere Ansprüche an Entlohnung sowie die Bedingungen
- 182 -<br />
der Ar<strong>bei</strong>t stellen, führen dazu, daß unsichere Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse ausländischen<br />
Frauen angedient und von diesen auch angenommen werden. Als weitere<br />
Gründe dafür, daß sich Migrantinnen auf unsichere und unsichtbare Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse<br />
einlassen, können notwendiger "Zuerwerb" zum FamiIieneinkommen,<br />
Zwang zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts <strong>bei</strong> famllialen Schwierigkeiten<br />
oder Trennungen sowie die Ausbreitung von Arm ut insbesondere <strong>bei</strong> Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit<br />
oder Ar<strong>bei</strong>tslosigkeitserwartung anderer Familienangehöriger angenommen<br />
werden (Karsten 1987). Die allgemeine Entwickl ung von Frauenar<strong>bei</strong>ten<br />
erfährt so eine migrantinnenspezifische Zurichtung in die Unsicherheit und<br />
Unsichtbarkeit.<br />
Zweitens: Die Produktion von unsicheren Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen wird für<br />
Migrantinnen durch Bedingungen, die durch Ausländerpolitik im allgemeinen<br />
und Ausländerrecht im besonderen gesetzt werden, verstärkt. Die derzeit gültige<br />
Rechtslage sieht einen Verweisungszusammenhang von Aufenthalts- und Ar<strong>bei</strong>tserlaubnisregel<br />
ungen vor. Nur die Frauen also, die im Verlaufe ihres Migrationsprozesses<br />
als Ar<strong>bei</strong>tsmigrantin oder nachreisende Familienangehörige eigene<br />
Aufenthalts- und Ar<strong>bei</strong>tsrechte erworben haben, haben überhaupt die Möglichkeit,<br />
legale Erwerbsar<strong>bei</strong>t aufzunehmen oder anzustreben. Nur sie stehen<br />
dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und der Ar<strong>bei</strong>tsvermittlung offen und uneingeschränkt zur<br />
Verfügung. Die Frauen, deren Aufenthalt in der Bundesrepublik zwar legitim,<br />
aber nicht durch eigenständige Rechte gesichert ist, sind auf Erwerbsar<strong>bei</strong>t im<br />
ungesicherten Status angewiesen, weil ihnen der Zugang zu Ar<strong>bei</strong>tsmarkt und<br />
Ar<strong>bei</strong>tsvermittl ung verstellt ist. Zu dieser Gruppe Frauen gehören<br />
nachgereiste Familien-Frauen im auferlegten Wartezeitraum bis zu zwei<br />
oder mehr Jahren,<br />
- Asylbewerberinnen, die derzeit mit zwei Jahren Ar<strong>bei</strong>tsverbot belegt sind<br />
(in der Diskussion ist die Erweiterung dieses Zeitraums auf fünf Jahre),<br />
- Aussiedlerinnen im Asylanerkennungsverfahren und nicht gemeldete sog.<br />
"Ostblockflüchtlinge" oder "Aussiedlerinnen",<br />
- Migranten, Flüchtlinge oder Aussiedler im Status der Duldung; für sie ist die<br />
Erteilung der Ar<strong>bei</strong>tserlaubnis von administrativer Entscheidungswillkür abhängig,<br />
- eigens für ungesicherte Ar<strong>bei</strong>t "eingeschleusten Frauen" z.B. im Bereich der<br />
Prostitution.<br />
Verordnete Nkhtar<strong>bei</strong>t, Nichttätigkeit, nicht-monetäre SozialhiIfen und<br />
erzwungenes Warten treiben diese Frauen schnell in unsichere Erwerbsar<strong>bei</strong>ts-
- 1&3 -<br />
verhältnisse, die prinzipiell nicht zulässig sind und deswegen angesichts potentieller<br />
Folgewirkungen für den Aufenthalt resp. die Entfernung aus dem Bundesgebiet<br />
durch Abschiebung unsichtbar gehalten und verschwiegen werden<br />
müssen.<br />
Mit den Rechtsregeln korrespondieren politische Meinungen, die in Migrantinnen<br />
eine zusätzliche Belastung des Ar<strong>bei</strong>tsmarktes sehen. Im Gegensatz<br />
hierzu wird mit Ostflüchtlingen und Aussiedlerinnen tendenziell freundlicher<br />
umgegangen. Für alle anderen Migrantinnen müssen noch restriktivere Regelungen<br />
für ihre Zulassung zum Leben in der Bundesrepublik erwartet werden, je<br />
prekärer sich die Lage auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt gestaltet und sich Arm ut zunehmend<br />
ausweitet.<br />
3. Ungesicherte Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse und Illegalität<br />
Nicht jedes unsichere und unsichtbare Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis von Migrantinnen ist<br />
zugleich illegal. Gleichwohl gilt es zu berücksichtigen, daß di e Grenzen zur Illegalität<br />
fließend sind und wesentlich von der Verwaltungsinterpretation der<br />
Rechtsvorgaben abhängen. Diese sind regional- und institutionenspezifisch sehr<br />
unterschiedlich. Im Prinzip steht jede nicht in die Ar<strong>bei</strong>tserlaubnisverordnung<br />
passende Erwerbstätigkeit in Gefahr, als illegal zu gelten. Illegalität aber ist<br />
im Verständnis ungeteilter Rechtsstaatlichkeit ein Verstoß gegen Aufenthaltsbestimmungen.<br />
Dieser kann als Zuwiderhandlung gegen die Belange der Bundesrepublik<br />
(AusiG § 10) gesehen werden und restriktives Handeln der Ausländerbürokratien<br />
herausfordern. Wer also illegal ar<strong>bei</strong>tet, obwohl diese Illegalität<br />
durch die Lebenssituation und die Regelungsvorgaben mit produziert wird, begi<br />
bt sich in die Gefahr, ausgewiesen zu werden.<br />
Zu der Unsicherheit des geldlichen Erwerbs, zu den besonderen Belastungen<br />
durch - weitgehend unkontrollierte - schlechte Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen und zu<br />
der Mehrfachbelastung durch mehrere Ar<strong>bei</strong>tsstellen tritt die Unsicherheit vor<br />
dem Ausländergesetz, solange es sich um Erwerbsar<strong>bei</strong>t im grauen Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />
auf der ständig gegenwärtigen Grenze zur Illegalität handelt.<br />
Unsicherheit, Unsichtbarkeit und potentielle Illegalität sind als Dimensionen<br />
der Lebens- und Ar<strong>bei</strong>tssituation von Migrantinnen differenzierter zu erforschen.<br />
Sowohl hinsichtlich der Quantität, der Qualität als auch der sozialen<br />
Folgen sind derzeit allenfalls hypothetische Annäherungen möglich. Angesichts
- 184 -<br />
der Lebensbedingungen von Migrantinnen und den in ihnen eingelassenen Produ<br />
ktionsformen ungesicherter, unsichtbarer Erwerbsar<strong>bei</strong>tsverhältnisse ist unmittelbar<br />
einsichtig, daß es sich da<strong>bei</strong> ebenso um ein Dunkelfeld der Ar<strong>bei</strong>tsmarkt-<br />
und Berufsforschung handelt wie um ein dunkles Feld im Verhältnis der<br />
Bundesrepublik zu den in ihrem Territorium lebenden Migrantinnen/Einwanderinnen.<br />
LITERATUR<br />
Der Bundesminister für Ar<strong>bei</strong>t und Sozialordnung (Hrsg.): Situation der ausländischen<br />
Ar<strong>bei</strong>tnehmer und ihrer Familienangehörigen in der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Sozialforschung Bd. 133, Forschungsinstitut der Friedrich<br />
Ebert-Stiftung. Bonn 1986 - zit. als Repräsentativuntersuchung 1986<br />
EKD: Flüchtlinge und Asylsuchende in unserem Land, EKD-<strong>Text</strong>e Nr. 16. Hannover<br />
1986 - zit. als EKD 1986<br />
Friedemann, P'/Pfau, B.: Frauenar<strong>bei</strong>t in der Krise - Frauenar<strong>bei</strong>t trotz Krise?<br />
In: Leviathan 13 (1985), 2, S. 155-186<br />
Hebenstreit, Sabine: Frauenräume und weibliche Identität. Berlin 1986<br />
Karsten, Maria-Eleonora: Ausländische Frauen in Frauenberufen oder Frauen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplätzen - Sichtweisen, Vorannahmen, Analysen. In: IFG-Frauenforschung<br />
1, 2, 1986, S. 113-134<br />
Karsten, Maria-Eleonora: Die arme - inländische und ausländische - Krisenfamilie<br />
ist die Familie der Sozialar<strong>bei</strong>t. In: Karsten, M.E./Otto, H.U.: Die sozialpädagogische<br />
Ordnung der Familie. Familie, Familienpolitik und Sozialar<br />
<strong>bei</strong>t. Bielefeld 1987<br />
Spaich, Horst (Hrsg.): Asyl <strong>bei</strong> den Deutschen. Reinbek 1982
- 185 -<br />
V. PROSTITUTION<br />
Zur Einführung:<br />
Helga Manthey<br />
BERUHRUNGS}\NGSTE ODER: DER SCHÖNE SCHEIN DER INTIMIT}\T .<br />
Die Prostitution gilt gemeinhin als das "älteste Gewerbe" der Welt. Wie unscharf<br />
sich Alltagssprache hier wieder einmal geriert, macht der Bundesfinanzhof<br />
in einer Begründung deutlich, warum Ausübende dieses Gewerbes als Gewerbetreibende<br />
nicht besteuert werden dürfen, denn "die gewerbsmäßige Unzucht"<br />
- gemeint ist die Prostitution - ist kein Gewerbe, sondern das "Zerrbild<br />
eines Gewerbes". Einkommenssteuer als freiberuflich Tätige dürfen Prostitutierte<br />
auch nicht bezahlen, denn die "gewerbsmäßige Unzucht" - ebenfalls<br />
0-Ton Bundesfinanzhof - "falle aus dem Rahmen dessen, was das Einkommenssteuergesetz<br />
unter selbständiger Berufstätigkeit verstanden wissen wolle."<br />
Die Glücklichen - drängt sich spontan der Gedanke auf. Doch vorschnell<br />
reagiert, denn sel bstverständlich findet sich für diese scheinbar komplizierten<br />
Fälle eine fiskalische Lösung. Da Prostituierte ihre Leistungen zwar privat,<br />
aber aus wirtschaftlichen Gründen erbringen, dürfen nun auch sie Einkommenssteuer<br />
bezahlen (Burgsmüller 1983).<br />
Diese bigotte Wortakrobatik ist nur ein Beispiel aus der Vielzahl von Absurditäten,<br />
die das Feld der Prostitution kennzeichnen. Sie ist Ausdruck eines
- 186 -<br />
strukturellen Problems, das die Prostitution als den prägnantesten Typus eines<br />
ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisses auszeichnet, sie aber gleichzeitig auch von<br />
den anderen Typen ungeschützter Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse unterscheidet: Das älteste<br />
Gewerbe der Welt ist nämlich kein Beruf. Die genannte - nun steuerpflichtige -<br />
Prostitutierte dürfen zwar Steuern bezahlen, kann aber keine Berufsaufwendungen<br />
absetzen.<br />
Obwohl Prostitution al le Merkmale der Beruflichkeit des Ar<strong>bei</strong>tens aufweist<br />
1 , gilt sie als sittenwidriges Handeln. Prostituierte haben damit weder<br />
zivil- noch strafrechtliche Möglichkeiten, gegen solche Kunden (F reier) vorzugehen,<br />
die die Bezahlung in Anspruch genommener Leistungen verweigern oder<br />
ihre Vorstellungen als nicht erfüllt ansehen und Nachforderungen stellen. Umgekehrt<br />
können sie selbst aber jederzeit wegen "Erregung öffentlichen Argernisses"<br />
und "grobanstößige(n) und belästigende(n) Handlungen" belangt werden.<br />
1. Illegitimität als Berufsmerkmal<br />
Die Ausübung dieses - sagen wir - illegitimen Berufes (Stallberg o.J., S. 1) ist<br />
mit Diskriminierung, Kriminalisierung und Ausbeutung verbunden (vgl . Dieckhoff/Schwarz/Zimmermann<br />
in diesem Band). Die Schwierigkeiten beruhen nicht<br />
nur darauf, daß der Tätigkeit jeder Rechtsschutz verweigert wird, sie sind<br />
auch darin zu sehen, daß Prostituierte keinerlei Ansprüche auf Sozialversicherungsleistungen<br />
haben. Da sie auch hier als "versicherungstechnische Grenzfälle"<br />
gelten, sind sie zumeist weder kranken- noch rentenversichert.<br />
Die Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen sind weiter geprägt durch ein hohes Maß an staatlicher<br />
Kontrolle und Registrierung, di e in den einzelnen Bundesländern sehr<br />
unterschiedlich gehandhabt werden - ein Faktor, der das gemeinschaftliche<br />
Vorgehen der Prostituierten dagegen erschwert. Den Gesundheitsämtern obliegt<br />
das Recht, die Einhaltung der Routineuntersuchungen auf Geschlechtskrankheiten<br />
zu kontrollieren. Ist diese Untersuchung in Berlin <strong>bei</strong>spielsweise freiwillig,<br />
müssen sich andernorts Prostituierte von der Polizei zwangsvorführen lassen,<br />
wenn sie den Untersuchungen nicht nachkommen. Gab es jüngst in Frankfurt<br />
erhebliche Unruhe, als bekannt wurde, daß die Gesundheitskontrolle dem Ordnungsamt<br />
übertragen werden solle und damit der Ordnungsbehörde ein Zugriff<br />
auf die Daten der <strong>bei</strong>m Gesundheitsamt registrierten Prostituierten möglich
- 187 -<br />
wäre, müssen sich in Stuttgart Prostituierte gleich von der Polizei registrieren<br />
lassen.<br />
Auch das Abdrängen der Prostituierten in Sperrgebiete und - soweit sie<br />
sich nicht daran halten - in die Illegalität - ist in diesem Zusammenhang zu<br />
nennen. Sie werden damit ghettoisiert, einem verschärften Konkurrenzkampf<br />
ausgesetzt und in die Arme von Bordellbesitzern und Zuhältern getrieben.<br />
Das wohl nachhaltigste Belastungsmoment, das mit dieser Berufsausübung<br />
verbunden ist, liegt in den Folgen ihrer Stigmatisierung, welche die besondere<br />
Gewaltförmigkeit dieses Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisses legitimiert und verstärkt. Prostituierte<br />
sind der gesellschaftlichen Verachtung ausgesetzt. Für sie gilt nicht der<br />
mindeste Respekt vor Menschenwürde: Sie können angestarrt, angemacht, erniedrigt<br />
und gedemütigt werden; sie sind ständig der Gefahr lebensbedrohender Aggressionen<br />
ausgesetzt (vgl . "Huren wehren sich gemeinsam" in diesem Band).<br />
Von den psychischen Auswirkungen dieser alltäglichen Erfahrungen ganz zu<br />
schweigen, resultiert daraus auch eine für wohl kaum einen Beruf vergleichbare<br />
Umgehensweise: die Berufsausübung muß geheimgehalten und verleugnet werden.<br />
Prostituierte sind so zu einem Doppelleben gezwungen und ständig von der<br />
Angst vor Entdeckung und ihren Folgen begleitet.<br />
Obwohl Prostituierten außerhalb des Milieus die Beruflichkeit ihrer Ar<strong>bei</strong>t<br />
abgesprochen wird, ist das Milieu durch ökonomische Gesetzmäßigkeiten<br />
bestimmt, die die Marktförmigkeit des Angebots und Professionalisierung verlangen.<br />
Das breite Berufsspektrum reicht u.a. vom Straßen- und Autostrich über<br />
Bars, Salons, Appartements, Sexshops bis zu Peep-Shows und Eros-Center (vgl.<br />
"Huren wehren sich gemeinsam" in diesem Band).<br />
Der Zugang - in deri selteneren Fällen unfreiwillig 2 - erfordert qualifikatorische<br />
Kenntnisse, die je nach Berufsfeld unterschiedlich sind. Die Qualifikation<br />
umfaßt da<strong>bei</strong> keineswegs nur die verschiedenen Interaktionsformen der<br />
sexuellen Dienstleistung, die zum Teil wie <strong>bei</strong> den Sado-Maso-Praktiken hochspezialisierte<br />
Kenntnisse verlangen. Die emotionale und psychische Stabilisierung<br />
der Freier, eine häufig unterschätzte Dimension der beruflichen Anforderungen,<br />
verlangt neben kommunikativen und therapeutischen Kompetenzen vor<br />
allem das Beherrschen schauspielerischer und inszenatorischer Fähigkeiten,<br />
damit den gewünschten Selbstdarstellungsritualen der Freier ein perfekter Rahmen<br />
geboten werden kann. Da die Ar<strong>bei</strong>tsleistung dem Kosten-Nutzen-Kalkül<br />
unterliegt, ist ein wesentlicher Bestandteil der Professionalisierung die Fähigkeit,<br />
Wünsche und Bedürfnisse der Kunden in kürzester Zeit zu erfassen und
- 188 -<br />
mit dem minimalsten eigenen Aufwand adäquat zu erfüllen (Giesen/Schumann<br />
1980, S. 52/53). Der Qualifikationserwerb kann als reine Anlerntätigkeit aber<br />
auch in einer der Lehre vergleichbaren Ausbildungssituation erfolgen (Hydra<br />
Nachtexpress 1985/86; Stallberg o.J., S. 12).<br />
Neben den qualifikatorischen Vorausetzungen spielt für die Wahl des Berufsfeldes<br />
die Affinität zur Art der Prostitution eine Rolle. Die einen bevorzugen<br />
Appartements, weil diese "Privatheit", Komfort, Qualität der Freier und<br />
"ganzheitliche" Betreuung zulassen. Die anderen schätzen den Strich, denn er<br />
garantiert freie Zeiteinteilung, Kommunikation mit Kolleginnen und erlaubt<br />
darüber hinaus Ar<strong>bei</strong>tstechniken, die es nicht erfordern, die Geliebte ,von Kopf<br />
bis Fuß zu spielen (Hydra Nachtexpress 1981).<br />
Zwar ist ein Wechsel zwischen einzelnen Berufssparten ohne größere Zusatzqualifikationen<br />
möglich, jedoch entscheidet di e schulische und außerhalb<br />
der Prostitution erworbene berufliche Ausbildung darüber, ob eher die oberen<br />
oder niederen Ränge der Prostitutionshierarchie zur Wahl offenstehen. Die Untersuchungen<br />
von Giesen/Schumann (1980) und Röhr (1972) zeigen, daß das Ausbildungsniveau<br />
der Frauen über dem Durchscnitt der weiblichen Gesamtbevölkerung<br />
liegt.<br />
Der Status in (jer Prostitutionshierarchie, die Höhe des Einkommens und<br />
der Grad der Abhängigkeit, die von erfolgreichem Unternehmerinnentum bis zur<br />
Versklavung reicht, bestimmen entscheidend über die Qualität von Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
und -produkt. Die Ausländerinnen rangieren da<strong>bei</strong> "ganz unten" (vgl .<br />
Simon in diesem Band). Auf engstem Raum zusammengepfercht, eingesperrt,<br />
"Eigentum" ihrer Chefs und den Wünschen der Freier auf Gedeih und Verderb<br />
ausgeliefert. Hier noch ein Interesse an der Qualität der Ar<strong>bei</strong>t zu vermuten,<br />
wäre blanker Zynismus. AhnIich scheint die Abfertigung der Freier in etlichen<br />
Bordellen und Sexshops eher dem Prinzip der Akkordar<strong>bei</strong>t mit Stücklohnvergütung<br />
zu entsprechen. Auch hier ist nicht nur eine tendenzielle, sondern eine<br />
totale Gleichgültigkeit gegenüber der Qualität des Ar<strong>bei</strong>tsproduktes vorprogrammiert<br />
(Aziz 1981). Anders die Situation von Call-Girls, deren privilegierte<br />
Arbeltsbedingungen eine zeitintensive Betreuung der Freier zulassen und die<br />
sich aufgrund ihres hohen Einkommens auf wenige Freier beschränken, auch<br />
zeitweilig aus dem Beruf zurückziehen können. Sie zählen zu der Berufsgruppe,<br />
die es sich - wie noch zu zeigen sein wird - am ehesten leistet, eigene Bedürfnisse<br />
<strong>bei</strong> der Ar<strong>bei</strong>t zu befriedigen (Biermann 1982; Hydra Nachtexpress 1985).
- 189 -<br />
Die beruflichen Bedingungen unterliegen gesellschaftlichen Veränderungseinflüssen.<br />
Der mit der Liberalisierung der Sexualität verbundene Wandel gesellschaftlicher<br />
Sexualnormen, auch die Schaffung neuer Bedürfnisse durch die<br />
Flut pornographischer Angebote auf dem Markt beeinflussen die Qualifikationsanforderungen.<br />
Gängige Sexualformen werden entprofessionalisiert, härtere und<br />
spezialisiertere Praktiken setzen sich durch. Die Nachfrage hält unvermindert<br />
an (Stall berg o.J.; Nehemias 1986; Elisabeth 1986). Berufsgruppen und TätigkeitsfeIder<br />
differenzieren sich aus, wie die in jüngster Vergangenheit entstandenen<br />
Peep-Shows verdeutlichen. Aber auch die Kinder- und J ugendlichenprostitution<br />
sowie - neuerdings - die Nachfrage nach "Exotinnen" weiten sich aus,<br />
Ergebnis des Prostitutionstourismus. Konzentrationsprozesse räumlicher Art,<br />
gefördert durch Sperrbezirksverordnungen und Versuche, private Anbieterinnen<br />
durch Werbungsverbote vom Markt zu vertreiben, verschärfen Abhängigkeit,<br />
Kontrolle und Konkurrenz. Konzentrationsprozesse betrieblicher Art finden ihren<br />
Ausdruck in solch lyrischen Schöpfungen wie "Palais d' Amour" oder situationsadäquater<br />
"Eros-Center" benannt, Großbetriebe, die sich durch extreme<br />
Normierung und Standardisierung der Ar<strong>bei</strong>t auszeichnen und mit der Einschränkung<br />
des individuellen Spielraums auch die Kontrolle perfektionieren. Gravierende<br />
Einbrüche rufen Krankheiten wie AIDS hervor, zumal Infizierung, Registrierung<br />
und Berufsverbote drohen. Einkommensverluste, verursacht durch ausbleibende<br />
Freier, verschärfen erneut die Konkurrenz, und der Berufswechsel<br />
stellt sich mit anderer Dringlichkeit.<br />
Außerhalb des Milieus zählen die hier akkumulierten Berufserfahrungen<br />
und erworbenen Qualifikationen nichts. Sie müssen sogar vertuscht und kaschiert<br />
werden, um Diskriminierungen zu entgehen. Da es sich <strong>bei</strong> der Prostitution<br />
um einen Beruf handelt, der allein schon durch seine Altersbegrenzung und<br />
besonderen Belastungsmomente früher oder später zum Wechsel zwingt, liegt<br />
<strong>bei</strong> einem Verlassen des Milieus in der Verleugnung noch eine zusätzliche Brisanz,<br />
denn sie schlägt sich als Dequalifizierung nieder. Auf die vorhandenen<br />
Qualifikationen kann nicht rekurriert werden, so daß eine Lücke im Lebenslauf<br />
entsteht, die legitimatorisch gefüllt werden muß. Diese Schwierigkeit ist nur<br />
eine von vielen, die den Wechsel <strong>bei</strong> Ausstieg aus dem Milieu belasten (vgl.<br />
Dieckhoff/ Schwarz/ Zimmermann in diesem Band). Die Frauen müssen ein neues<br />
soziales Bezugssystem aufbauen, sind der Diskriminierung durch Amter sowie<br />
der Verfolgung durch Zuhälter ausgesetzt und gezwungen, ihre Berufsvergangenheit<br />
auf dem Hintergrund eines Wertesystems zu verar<strong>bei</strong>ten, das diese stig-
- 190 -<br />
matisiert. Die Probleme, die sie hier zu bewältigen haben, prägen unbewußt<br />
oder bewußt ihre Perspektive bereits während der Berufsausübung und schlagen<br />
sich in kurzfristigem Denken nieder.<br />
Die Merkmale der Illegitimität dieses Berufes verschärfen so nicht nur die<br />
beruflichen Bedingungen innerhalb des Milieus, die Illegitimität ist überhaupt<br />
erst Basis für die Schaffung eines Milieus. Nur durch Ausgrenzung der Prostitution<br />
in dieses Subsystem ist es möglich, den Verkauf von Sexualität zu gewährleisten<br />
und ihn gleichzeitig zu ignorieren. Die Prostitutierten bezahlen dafür<br />
mit einer Abspaltung von Teilen ihrer Lebenserfahrung, mit einem Berufshintergrund,<br />
der sich als berufliche Identität nicht stabilisieren kann und einer inneren<br />
Zerrissenheit durch widersprüchliche Wertesysteme.<br />
2. Provokation als Berufslast<br />
Was bringt die Prostitution in diese Zwitterstellung von Sanktionierung einerseits<br />
und Duldung andererseits? Da die Ungeschütztheit dieses Berufes ursächlich<br />
mit der Verweigerung seiner Anerkennung zusammenhängt, stellt sich die<br />
Frage: was hieße es denn, Prostitution als Beruf zu akzeptieren?<br />
Es hieße anzuerkennen, daß Sex ualität käuflich ist.<br />
Es hieße, Sexualität von der Liebe zu entschleiern.<br />
Es hieße, Sexualität der scheinbaren Exklusivität privater Beziehungen zu entreißen.<br />
Nüchtern betrachtet ist in einer Gesellschaft, in der der Mensch seine<br />
Ar<strong>bei</strong>tskraft als Ware auf den Markt trägt und neben seinem Körper und Verstand<br />
vielfach auch seine Seele verkauft, die Aufregung unverständlich, die<br />
ausgerechnet di e "Verwertung" der Sexualität auslöst. Aber Nüchternheit ist<br />
nicht angebracht, wenn es um di e Intimität der Beziehung zwischen den Geschlechtern,<br />
um die Symbiose von körperlicher und emotionaler Zuwendung, von<br />
Liebe und Sexualität geht. Wir klammern uns beharrlich an die Existenz eines<br />
Raums, jenseits allen ökonomischen Kalküls und bar aller Herrschaftsbeziehungen<br />
zwischen den Geschlechtern und weigern uns, zur Kenntnis zu nehmen, daß<br />
dieser Glaube Ideologie ist, die ihre Wurzeln in einer Gesellschaft hat, die neben<br />
ihrer patriarchalischen Tradition ja erst für die ökonomische Durchdringung<br />
al ler Verhältnisse, selbst der scheinbar privatesten, gesorgt hat. Der neuerdi ngs<br />
in den USA juristisch erlaubte Verkauf der eigenen Gebärfähigkeit ist hierfür
- 191 -<br />
nur ein - zweifellos prägnantes - Beispiel. Die Vermarktung von Sexualität entstammt<br />
der gleichen Gesellschaft wie ein Beziehungs(Ehe)modell, das Sexualität<br />
an die Intimität von Gefühlen bindet.<br />
Solange wir unsere eigene Prägung durch die widersprüchliche Komplementarität<br />
dieses Verhältnisses vor allem an den wunden Punkten ausblenden<br />
können, tangieren uns seine Auswirkungen nicht. Es wäre auch schlicht unbequem,<br />
gegen die Vielzahl von Männern, womöglich di e eigenen, vorzugehen, auf<br />
die die Vermarktung von Sexualität zugeschnitten ist und die, indem sie davon<br />
profitieren, ununterbrochen die Gültigkeit des Beziehungsmodells, <strong>bei</strong> aller<br />
. emotionalen Abhängigkeit von diesem, in Frage stellen. So definieren wir lieber<br />
den Stein des Anstoßes um, grenzen die Prostitutierten aus und sanktionieren<br />
sie noch zusätzlich dafür, daß sie uns durch ihre Ausgrenzung an unsere Verdrängung<br />
erinnern.<br />
Nun wäre dieses Verhalten von seiten der Männer ja noch verständlich,<br />
denn schließlich liegt das Funktionieren dieses widersprüchlichen Konstrukts ja<br />
in ihrem - wenn auch mehr als problematischen - Interesse. Zudem bedroht die<br />
Prostituierte sie durch ihr polygames Verhalten, das gegen das Herrschaftsinteresse<br />
des Mannes über die Sexualität und damit Fortpflanzung und Lust der<br />
Frau verstößt. Sie bedroht sie weiter durch ihre Kenntnis und damit Beherrschung<br />
und Beurteilung männlicher Sexualität und ihre ökonomische Eigenständigkeit,<br />
von der ironischerweise auch noch eine Kaste meist männlicher Zuhälter<br />
parasitär profitiert.<br />
Aber die Frauen, was bringt sie dazu, eine Aufteilung ihres Geschlechts<br />
in gute und schlechte Frauen mitzuvollziehen? Sie scheuen den Schmerz des<br />
Abschieds von einem Beziehungsmodell, an dessen Gültigkeit sie glauben, von<br />
dem sie durchaus auch profitieren und dessen Grundlagen sie - wie die Hausar<strong>bei</strong>tsdiskussion<br />
zeigt - immer wieder durch ihre Ar<strong>bei</strong>t herstellten. Gleichzeitig<br />
fürchten sie das Herausfallen aus gesel lschaftlich legitimierten Mustern, denn<br />
die Prostituierte ist ihnen ja abschreckendes Beispiel dafür, was Frauen <strong>bei</strong><br />
Abweichung passiert. Darüber hinaus bedroht die Prostituierte auch sie durch<br />
ihr polygames Verhalten, denn sie erschüttert ihren Glauben an die Einheit von<br />
Sex ualität und Liebe als weiblicher "Naturnotwendigkeit" und zwingt ihnen<br />
gleichzeitig die Ambivalenz auf, in der Erschütterung auch den Reiz einer von<br />
Liebe entlasteten Sexualität zu empfinden. Sie bedroht sie weiter, weil ihr<br />
Objektcharakter widerspiegelt, daß potentiell alle Frauen Objekte sind und pro-
- 192 -<br />
voziert sie durch ein Lösungsmodell, das der Devise folgt: wenn schon Objekt,<br />
dann so teuer wie möglich.<br />
Prostituierte verkörpern so zwar eine Provokation, können diese aber<br />
selbst kaum produktiv für alternative Lebensansätze nutzen. Die Gewaltförmigkeit<br />
der Verhältnisse sowie die Spaltung und Zerrissenheit, die ihnen ihre widersprüchliche<br />
Situation aufzwingt, bricht ihre Offensivität und läßt sie gesellschaftliche<br />
Normen reproduzieren.<br />
Deutlich wird dies, wenn sie ihre Sehnsüchte von Stütze und Halt durch<br />
einen Mann auf den Zuhälter projizieren und so das parasitäre und vielfach<br />
gewalttätige Verhältnis in ein Liebesverhältnis umdefinieren, von dem sie dann<br />
abhängig sind (Aziz 1981, S. 175 ff.). Auch wenn sie ihre Verachtung Männern<br />
gegenüber ausdrücken, di e sich Sexualität kaufen, übernehmen sie selbst die<br />
gesellschaftliche Diskriminierung ihrer eigenen Tätigkeit. Eklatant schlägt sich<br />
dieses Verhalten aber in einer strikten Trennung von Lust und Ar<strong>bei</strong>t nieder.<br />
Ist das Vortäuschen von Lust Teil der Ar<strong>bei</strong>t, wird das Empfinden von Lust <strong>bei</strong><br />
der Ar<strong>bei</strong>t als "Betriebsunfall", als mangelnde professionelle Beherrschung der<br />
Ar<strong>bei</strong>t interpretiert: "Danach geht's mir schlecht. Tagelang geht's mir schlecht"<br />
(Giesen/Schumann 1980, S. 65). Lust ist mit Liebe verbunden und kann nur <strong>bei</strong><br />
einem geliebten Menschen empfunden werden. Daß viele Freier die reine Verkaufssituation<br />
schwer ertragen und Liebesrituale verlangen, selbst wenn sie<br />
nichts empfindlicher träfe als tatsächliche Liebesgefühle, geben die Frauen als<br />
stark belastenden Teil ihrer Ar<strong>bei</strong>t an. Die Spaltung, die sie hier vollziehen,<br />
verlangt von ihnen, aus dem Ar<strong>bei</strong>tsbereich alle Gefühle herauszuhalten, die<br />
mit dem "privaten" Erleben von Sexualität verbunden sind, während es aber<br />
gleichzeitig die berufliche Qualifikation erhöht, wenn diese perfekt vorgespielt<br />
werden können, eine Leistung, die vorrangig in den höheren Sparten der Prostitution<br />
eingefordert wird.<br />
Da sie die Fesselung von lustvoller Sexualität an Liebe für sich übernehmen,<br />
sind sie gezwungen, sich alle lustvollen Momente ihres Berufes zu versagen.<br />
Nur wenige Prostitutierte gestehen sich zu, daß Prostitution keineswegs<br />
nur Last, sondern auch Lust bedeutet (Hydra Nachtexpress 1985). Hier spiegelt<br />
sich wider, daß Prostituierte zu ihrem Beruf kaum stehen können, aber auch,<br />
daß Frauen sich generell schwertun, ihr Recht auf Lust zu behaupten.<br />
Die Frage der Lust an der Prostitution, die sich im übrigen nur für die<br />
privilegierten Bereiche der Prostitution stellt, trifft auf den Nerv aller versteckten<br />
Lust an dem Thema. Spaß und Lust an der Prostitution, das schockt
- 193 -<br />
und macht Angst. Es fällt leichter, sich mit Prostituierten zu identifizieren,<br />
wenn sie als Opfer gesehen werden können. Aber so viele Schattenseiten dieser<br />
Beruf auch zeigt, er hat eben nicht nur diese. Zu seinen positiven Merkmalen<br />
gehören die relativ freie Zeiteinteilung, die Chance eines guten Verdienstes,<br />
der Spaß am Sex schlechthin, das Testen der eigenen Anziehungskraft, di e<br />
Selbstbestätigung und - die Macht über die Sexualität von Männern (Biermann<br />
1982; Hydra Nachtexpress 1985; Roggenkamp 1986).<br />
3. Berufs"normalität" als Subversion<br />
Was hieße es nun abschließend, für eine Anerkennung von Prostitution als Beruf<br />
zu streiten? Prostitution findet - daran besteht kein Zweifel - in einer beruflichen<br />
Form statt; gerade in der Verweigerung dieser Realität liegt ja die<br />
Voraussetzung für die Diskriminierung von Prostituierten. Helga Bilitewski und<br />
Regine Döl! (in diesem Band) weisen zu Recht darauf hin, daß Prostituierte nur<br />
als Verkörperung ihres Berufes angesprochen und letztlich für die Existenz von<br />
Prostitution verantwortlich gemacht werden. Nicht, daß hier von jeder Verantwortung<br />
für individuelles, auch berufliches Tun freigesprochen werden sollte,<br />
aber diesen Maßstab an alle Berufe angelegt: welche Berufsgruppe könnte denn<br />
hier ihre Hände in Unschuld waschen? In einer durch Herrschaftsformen geprägten<br />
Gesellschaft gehört es auch zu den Strukturmerkmalen von Berufen, an der<br />
Durchsetzung und Legitimierung dieser Formen beteiligt zu sein. Dies schließt<br />
aber doch nicht aus - obwohl und weil eingebunden in diese Funktionsweise -<br />
gleichzeitig für eine Veränderung dieser Formen zu kämpfen.<br />
Prostitution in der Grauzone zu belassen, schafft Prostitution nicht ab, es<br />
verlagert nur die Verantwortlichkeit auf die Prostituierten, die mit einer ganz<br />
spezifischen Art von Ungeschütztheit dafür bezahlen müssen. (Kollektives) Handeln<br />
wird so eher verhindert, denn an der fehlenden beruflichen Anerkennung<br />
der Ar<strong>bei</strong>t bricht sich die Motivation, für eine Veränderung der beruflichen<br />
Bedingungen zu kämpfen, ist keine Basis für eine (berufsständische) Interessenvertretung<br />
vorhanden. Öffentliches Auftreten wird zu einem unwägbaren Risiko<br />
, bedeutet es doch die Aufgabe des Doppellebens und das Aushalten der damit<br />
verbundenen Folgen (zur Geschichte der Organisierung von Prostituierten<br />
vgl. Bilitewski/ Döll in diesem Band).
- 194 -<br />
Prostitution den Grauzonencharakter zu nehmen und so geschützter zu<br />
machen (vgl . die detaillierten Forderungen von "Huren wehren sich gemeinsam"<br />
in diesem Band), erweitert aber nicht nur den Handlungsspielraum von Prostituierten.<br />
Prostitution anzuerkennen, heißt vor allem auch, sich dem eigenen Verdrängungsinteresse<br />
zu stellen. Prostitution ist kein isoliertes Phänomen einer<br />
Gruppe, sondern ein gesamtgesellschaftliches, in dessen vielfältige und nicht<br />
nur sexuelle Formen wir eingebunden sind und die wir hilflos, abgestumpft, billigend<br />
und berechnend in Kauf nehmen, ständig neue Fluchträume schaffend.<br />
Das Sich-Stellen der - auch eigenen - Realität scheint die Voraussetzung<br />
für das Erkennen notwendiger - auch eigener - Veränderung. Vielleicht erhöht<br />
die Akzeptanz des eigenen Verstrickt-Seins die Toleranz für das der anderen<br />
und läßt es überflüssig werden, in der ständigen Verlagerng von Verantwortung<br />
auf andere auch von der eigenen abzulenken. Vielleicht kann nur so die kollektive<br />
Basis geschaffen werden, die eine Gesellschaft entstehen läßt, in der eine<br />
von jeder Zwangsbindung befreite Vereinigung von Lust und Liebe möglich ist,<br />
dann aber - über das Geschlechterverhältnis hinausgedacht - als allgemeine<br />
Lebensqualität.<br />
ANMERKUNGEN<br />
Beck/ Brater (1978) bestimmen Berufe durch folgende Merkmale:<br />
- Strukturmuster gesellschaftlicher Praxis,<br />
- Bauelemente betrieblicher Ar<strong>bei</strong>tsteil ung,<br />
- Angebotsformen am Ar<strong>bei</strong>tsmarkt,<br />
- Orientierungspunkte individuell-biographischer Erziehungs- und Erfahrungsprozesse,<br />
- Formen der Zuteilung und Legitimation sozial ungleicher Chancen.<br />
Bei einem weiteren Merkmal: Beruf als Zielpunkt institutionalisierter Ausbildungsprozesse,<br />
weicht die Prostitution ab. Zwar ist sie Ziel punkt von Ausbil<br />
dungsprozessen, nicht aber von solchen institutioneller Art.<br />
2 Die Aussage bezieht sich nicht auf Ausländerinnen, zur Zeit vor allem aus<br />
asiatischen und afrikanischen Ländern. Hier läßt sich eher eine Zunahme des<br />
Menschenhandels beobachten. Vgl. Tourismus, Prostitution, Entwicklung 1983<br />
und Ohse 1984.<br />
LITERATUR<br />
Aziz, Germaine: Geschlossene Häuser. Lebensgeschichte einer Prostituierten.<br />
Frankfurt 1981
- 195 -<br />
Beck, U./Brater, M.: Zur Kritik der Beruflichkeit des Ar<strong>bei</strong>tens, in: Technologie<br />
und Politik 1978 (0), S. 60.<br />
Biermann, Pieke: "Wir sind Frauen wie andere auch!" Prostituierte und ihre<br />
Kämpfe. Reinbek <strong>bei</strong> Hamburg 1982<br />
Burgsmüller, Claudia: Prostitution und Recht. 3. Teil. In: Hydra Nachtexpress, 4<br />
(1983) Frühjahr<br />
Elisabeth: Wie Tiere. In: EMMA (1986) 9<br />
Giesen, R.-M./Schumann, G.: An der Front des Patriarchats. Bensheim 1980<br />
Hydra Nachtexpress: Strich kontra Appartement, 2 (981) 2<br />
dies.: Prostitution: Lust oder Last, 6 (985) Frühjahr/Sommer<br />
dies.: Sado-Maso, 6 (1985/86) Winter<br />
Nehemias, Anna: Die Freier. In: EMMA (986) 9<br />
Ohse, Ul1a: Forced Prostitution and Traffic in Women in West-Germany. Edinburgh<br />
1984 (Human Rights Group)<br />
Röhr, Dorothea: Prostitution. Eine empirische Untersuchung über abweichendes<br />
Sexualverhalten und soziale Diskriminierung. Frankfurt am Main 1972<br />
Roggenkamp, Viola: Endstation Straße. In: ZEIT magazin (986) 49<br />
Segeth, Uwe-Vol ker: Kinder, die sich verkaufen. Eine Analyse der Prostitution<br />
von weiblichen Minderjährigen. Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1980<br />
Stall berg, Friedrich W.: Soziales Umfeld und Persönlichkeit weiblicher Prostituierter.<br />
Zur Analyse einer vernachlässigten Randgruppe. Manuskript 0.0.,<br />
o.J.<br />
Zentrum für Entwicklungsbezogene Bildung (Hrsg.): Tourismus, Prostitution,<br />
Entwicklung. Dokumente. Köln 1983
- 196 -<br />
Erika Dieckhoff<br />
Helga Schwarz<br />
Ursula Zimmermann<br />
DER ZWANG ZUR ABWEICHUNG - PROSTITUTION UND RECHT<br />
Das Leben als Prostituierte birgt Risiken und Problem lagen, die individuell<br />
nicht zu bewältigen sind. Verantwortlich dafür ist nicht die Tätigkeit an sich,<br />
sondern ihre Prägung durch die sich wechselseitig verstärkenden Momente:<br />
Stigmatisierung, Rechtlosigkeit, Kontrolle, Unterdrückung und Ausbeutung.<br />
Wieweit gesetzliche Grundlagen diese Rahmenbedingungen definieren und<br />
so die Ungeschütztheit der Ar<strong>bei</strong>t festschreiben, macht der folgende Überblick<br />
deutlich. Prostitution ist in der BR D - außer für Ausländerinnen - nicht verboten.<br />
Das Strafrecht bietet allerdings Möglichkeiten, Prostitution stellenweise so<br />
zu unterbinden, daß es einem Berufsverbot gleichkommt. Der Gesetzgeber zementiert<br />
aber über die Sittenwidrigkeit des Vertrages zwischen Prostituierter<br />
und Freier nicht nur die moralische Achtung der Prostituierten; er verweigert<br />
ihr gleichzeitig auch das Recht auf Bezahlung und damit Anerkennung ihrer<br />
Ar<strong>bei</strong>t. Sie bleibt so von allen Formen der beruflichen Absicherung ausgeschlossen.<br />
Andererseits nimmt er aber die Tätigkeit als "sittenwidriges Handeln" zur<br />
Kenntnis, verpflichtet die Prostituierte zum Erbringen der vereinbarten und<br />
bezahlten Leistung, legt dafür Orte, sogenannte Sperrbezirke, fest und formuliert<br />
Kontrollaufgaben für staatliche Instanzen wie Gesundheitsbehörde und<br />
Polizei. Wie damit der Ausbeutung und Unterdrückung von Prostituierten Tür<br />
und Tor geöffnet, sie teilweise sogar legalisiert werden, läßt sich am Beispiel<br />
der Hamburger Situation aufzeigen. Prostitution soll - so scheint es - ein ' Risikoberuf<br />
bleiben. Nur so erklärt sich, daß die prekäre Balance von Duldung<br />
einerseits und Abschreckung andererseits erhalten bleibt.
- 197 -<br />
1. "Unsittlichkeit des Vertrages"<br />
Der Prostituierten wird der Rechtsschutz für ihre Dienstleistungen durch §<br />
138 Abs. 1 BGB verwehrt: "Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten<br />
verstößt, ist nichtig." Der Vertrag zwischen Prostituierter und Freier verstößt<br />
nach allgemeiner Rechtsprechung gegen die guten Sitten und ist daher nichtig.<br />
Bei der Definition von "unsittlich" wird auf das Reichsgericht zurückgegriffen,<br />
wonach das Rechtsgeschäft dem "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden"<br />
widersprechen muß.<br />
Prostituierte haben daher nicht die Möglichkeit, mit Hllfe staatlicher Institutionen<br />
die Bezahlung ihrer Dienstleistungen einzufordern. Sie ar<strong>bei</strong>ten deshalb<br />
in der Regel nur gegen Vor kasse. Rückzahlungsansprüche der Freier scheitern<br />
am § 817 BGB. Während ein Freier, der eine Prostituierte um den vereinbarten<br />
Lohn prellt, sich nicht strafbar macht, kann die Prostituierte durchaus<br />
wegen Betruges verurteilt werden, wenn sie ihrerseits die vereinbarte und bezahlte<br />
Leistung verweigert. Die Sittenwidrigkeit besteht nämlich auf ihrer Seite<br />
darin, die Interessen der Allgemeinheit zu verletzen und nicht die des Geschäftspartners.<br />
Es kommt sogar vor, daß die Polizei mit dem Freier zur Prosti<br />
tutierten geht und fragt, ob sie nicht nachbessern wolle. Die Prostituierte<br />
muß, dann z.B. durch den gefüllten Präser, nachweisen, daß dei Freier zum<br />
Samenerguß gekommen ist.<br />
2. Ausschluß aus dem System der Sozialversicherung <strong>bei</strong> gleichzeitiger<br />
Steuerpflicht<br />
Die patriarchalen Gesetzgeber haben, indem sie Prostitution als faktisches Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis<br />
bestreiten, dafür gesorgt, daß Prostituierte aus dem System der<br />
Sozialversicherung ausgeschlossen sind, obwohl sie gleichzeitig als steuerpflichtig<br />
eingestuft werden. Die Besteuerung erfolgt nach § 2 Abs. 2 Nr. 7, 223 EStG<br />
(E inkünfte au; Leistungen). Prostitution ist weder ein Gewerbe, da nach der<br />
Rechtsprechung "gewerbsmäßige Unzucht" das "Zerrbild eines Gewerbes" darstellt,<br />
noch z.B. für Frauen, die in Bordellen ar<strong>bei</strong>ten, ein Dienstverhältnis, da<br />
die angebliche Sittenwidrigkeit ein Dienstverhältnis ausschließt. Während in<br />
anderen Fällen <strong>bei</strong> nichtigen Dienstverhältnissen üblicher weise ein faktisches
- 198 -<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis besteht, das selbstverständlich lohnsteuer- und versicherungspflichtig<br />
ist, lehnt dies die Rechtsprechung im Falle der Prostituierten ab. Die<br />
Begründung beruft sich, wie <strong>bei</strong> der Ablehnung des Dienstverhältnisses, auf die<br />
Sittenwidrigkeit der Beschäftigung, die keine Ansprüche aus einem faktischen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis erlaube. Dieser ar<strong>bei</strong>tsrechtliche Schutz sei - laut Bundesar<strong>bei</strong>tsgericht<br />
- mit dem verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht<br />
unvereinbar.<br />
3. Legalisierte Ausbeutung<br />
Bei den Bordellbesitzern und Pächtern erweist sich die Rechtsprechung als<br />
großzügiger. An die Stelle von Einnahmen aus strafbarer Kuppelei sind die Einnahmen<br />
aus straffreier Vermietung getreten. Zivilrechtlich sind Bordellverträge<br />
und Mietverträge mit Prostituierten wirksam.<br />
§ 180 Abs. 1 StGB drückt aus, was erlaubt ist: Das Gewähren von Wohnu<br />
ng, Unterkunft (Absteige) oder Aufenthalt (Kontakthöfe) sowie die üblicherweise<br />
damit verbundenen Nebenleistungen. Unter Hinweis auf "Nebenleistungen"<br />
finden übermäßig hohe Mieten und Ausbeutung ihre Rechtfertigung. Die Zimmermiete<br />
im Eros-Center Hamburg z.B. beträgt zur Zeit 140,- DM täglich. Die<br />
Miete wird auch dann fällig, wenn die Prostituierte, sei es aus gesundheitlichen<br />
Gründen, nicht ar<strong>bei</strong>ten kann. Für die Frau entstehen sogenannte "Blockschulden":<br />
Die durchschnittliche Zimmermiete liegt <strong>bei</strong> 110,- DM täglich. Hinzu kommen<br />
20,- DM "Trinkgeld" (Tip) für den Wirtschafter, 30,- DM für Präservtive,<br />
frische Handtücher, Bettwäsche usw. und 10,- DM für Essen. Es summieren sich<br />
so Tagesfixkosten von 170,- DM. Weiterhin besteht in den meisten Bordellen<br />
ein Getränkezwang, wo<strong>bei</strong> die Menge der konsumierten Getränke abhängig ist<br />
von der Höhe der Bezahlung durch den Freier (50,- DM Freierentgelt z.B. erfo<br />
rdern die Abnahme von 2 Getränken a 12,- DM). Diese Getränke müssen, ob<br />
der Freier sie will oder nicht, von der Frau bezahlt werden.
- 199 -<br />
4. Sperrgebiete<br />
Staatliche Kontrolle über Prostituierte wird auch durch die Pollzei ausgeübt,<br />
legitimiert durch § 85a Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Art.<br />
297 "Verbot der Prostitution".<br />
Anstands<br />
"Die Landesregierung kann zum Schutz der Jugend und des öffentlichen<br />
1. Für das ganze Gebiet einer Gemeinde bis zu fünfzigtausend Einwohnern<br />
2. Für Teile des Gebiets einer Gemeinde über zwanzigtausend Einwohner oder<br />
eines gemeindefreien Gebiets<br />
3. Unabhängig von der Zahl der Einwohner für öffentliche Straßen, Wege, Plätze,<br />
Anlagen und für sonstige Orte, die von dort aus eingesehen werden können,<br />
im ganzen Gebiet oder in Teilen des Gebiets einer Gemeinde oder eines<br />
gemeindefreien Gebiets durch Rechtsverordnung<br />
verbieten, der Prostitution nachzugehen."<br />
Sie kann das Verbot nach Satz 1 Nr. 3 auch auf bestimmte Tageszeiten<br />
beschränken.<br />
2) Die Landesregierung kann diese Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf<br />
eine oberste Landesbehörd oder höhere Verwaltungsbehörden übertragen.<br />
3) Wohnungsbeschränkungen auf bestimmte Straßen oder Häuserblocks zum<br />
Zwecke der Ausübung der Prostitution (Kasernierung) sind verboten.<br />
Beispiel Hamburg<br />
In Hamburg gelten die gesamte Innenstadt, die Stadtteile St. Georg (Nähe<br />
Hauptbahnhof) und St. Pauli, <strong>bei</strong>de traditionsreiche Prostitutionsgebiete, mit<br />
wenigen Ausnahmen als Sperrgebiet. Auch im übrigen Hamburg gelingt es, die<br />
Straßenprostitution mithilfe anderer juristischer Grundlagen (Wegerecht,<br />
Sex ualstrafrecht, Lärmbelästigung) bis auf die streng kontrollierte Süderstraße<br />
faktisch zu verhindern. Im Sperrgebiet läßt sich eine teilweise Tolerierung der<br />
Straßenprostitution beobachten, solange andere Interessen, z.B. Sanierungspolitik,<br />
nicht verletzt werden und kein öffentlicher Druck entsteht. Ansonsten muß<br />
die Prostituierte mit Ordnungsstrafen (Bußgeldern) rechnen. Mehrmalige Verstöße<br />
führen dann neben hohen finanziellen Belastungen zur Kriminalisierung der<br />
Frauen. Ihnen bleiben so nur der Ausweg in die Bordelle oder "Mädchenwohnheime"<br />
(Palais d' amour, Eros-Center) und der Rückzug auf illegale Standplätze.<br />
Die Zugriffsmöglichkeiten für Zuhälterorganisationen und Bor deli pächter erweitern<br />
sich damit und die Ausbeutung nimmt zu.<br />
In Hamburg ar<strong>bei</strong>ten ca. 5-6000 Frauen als Prostituierte. Selbst, wenn jede<br />
Frau den niedrigen Schnitt von drei Freiern pro Tag hat, die nur 50,- DM
- 200 -<br />
(einfache Nummer) zahlen, werden schon ohne Getränke 900.000,- DM am Tag<br />
umgesetzt. 18.000 Männer nehmen die Dienstleistungen in Anspruch. An diesem<br />
Zahlen<strong>bei</strong>spiel zeigt sich das Ausmaß der patriarchalen Doppelmoral.<br />
Sperrgebietsverordnungen können auch "solide" Frauen treffen, da das<br />
Herumgehen, Herumstehen und Herumfahren von Frauen allein bereits Verdacht<br />
auslöst. "Der Prostitution im Sinne des § 184-a StGB geht bereits nach, wer<br />
sich innerhalb des Sperrbezirks zum Geschlechtsverkehr gegen Geld anbietet.<br />
Ein solches Anbieten liegt schon <strong>bei</strong>m Herumstehen oder Herumgehen oder Herumfahren<br />
mit einem Auto vor" (Leitsatz der Entscheidung des Oberlandesgerichtes<br />
Hamm vom 11.4.1975).<br />
5. Kontrolle der Frau unter dem Deckmantel des Schutzes<br />
Die polizeiliche Kontrolle der Prostitution beruft sich auf die Existenz eines<br />
kriminellen Umfel des, vorrangig im Waffen- und Drogenhandel vermutet. Der<br />
Zusammenhang zwischen dem ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tsplatz aufgrund der "Unsittlichkeit"<br />
des Vertrags und der "Schutzfunktion" durch Zuhälter wird politisch<br />
aber nicht thematisiert.<br />
Die Kontrolle wirkt sich so aus, daß persönliche Daten von Prostituierten<br />
"zu ihrem Schutz" gesammelt werden. Für diese Sammlung von Daten <strong>bei</strong> der<br />
Polizei fehlt die gesetzliche Grundlage. Prostituierte könnten daher auf der<br />
Datenlöschung bestehen und sie durch den Datenschutzbeauftragten kontrollieren<br />
lassen.<br />
Zum kriminellen Umfeld enthält . das Strafgesetzbuch eine Reihe weiterer<br />
Bestimmungen. Verboten sind:<br />
Zuführung zur Prostitution<br />
Ausbeuterische Zuhälterei<br />
Dirigistische Zuhälterei<br />
§ 180 a Abs. 3<br />
§ 181 a Abs. 1 Ziff. 1<br />
§ 181 a Abs. 1 Ziff. 2<br />
Menschenhandel<br />
§ 181<br />
Kupplerische oder fördernde Zuhälterei § 181 a Abs. 2<br />
Obwohl nach der Neufassung des Sexualstrafrechts (1973) der "parasitäre<br />
Charakter" des Zuhälters keine strafrechtlichen Konsequenzen mehr hat, sondern<br />
die persönliche und wirtschaftliche Freiheit der Prostituierten, die die<br />
aktive Zuhälterei zum Ausbeutungsobjekt degradiert, geschützt werden soll,
- 201 -<br />
werden doch quasi alle Beziehungen zwischen Prostituierter und "Beschützer"<br />
als Zuhälterei definiert, was zur Rechtsunsicherheit <strong>bei</strong>trägt. Paradox erweist<br />
sich diese rechtliche Situation, wenn, wie in Baden-Württemberg gehandhabt,<br />
der Zuhälter bzw. Freund für größere "Geschenke" (z.B. Auto, Rolex, Schmuck)<br />
dem Finanzamt eine sogenannte "Schenkungssteuer" entrichten muß, für die er<br />
in den meisten Fällen sicherlich nicht persönlich aufkommt.<br />
Prostituierte sind verpflichtet, sich regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten<br />
untersuchen zu lassen und somit durch die Krankenakte automatisch registriert.<br />
Grundlage dafür ist das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,<br />
GBG vom 23.7.1953. Die einzelnen Bundesländer handhaben dieses Gesetz<br />
unterschiedlich restriktiv. Teilweise müssen sich die Frauen von der Polizei<br />
zur Zwangsuntersuchung vorführen lassen. Auch kommt es vor, daß die Gesundheitsbehörden<br />
Daten unzulässig an die Polizei weiterleiten.<br />
6. Einschränkung der Grundrechte<br />
Eine allgemeine Einschränkung der Grundrechte <strong>bei</strong> Prostituierten zeigt sich<br />
in der Verminderung ihres Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung <strong>bei</strong> Vergewaltigungsprozessen.<br />
Der BGH stellte noch 1973 (BHHMDR 1973 555) fest, daß<br />
"hinsichtlich der Schuld ein sehr erheblicher Unterschied (besteht), ob eine unbescholtene<br />
Frau oder eine Prostituierte, die sich allgemein zu unzüchtigen<br />
Handlungen hinzugeben pflegt, das Opfer eines Sittlichkeitsverbrechens wird".<br />
In besonderem Maße werden auch ausländische Prostituierte aufgrund der<br />
bestehenden Ausländergesetze zum Objekt der Ausbeutung für Zuhälter und<br />
Menschenhändler. Jeder Versuch von Ausländerinnen, sich mit Hilfe staatlicher<br />
Instanzen gegen Gewalt zu wehren, kann ihre Abschiebung zur Folge haben, da<br />
Prostitution als Grund für die sofortige Ausweisung gilt.<br />
7. Verbot der Werbung für Prostitution<br />
Zum Schluß möchten wir noch auf das "Verbot der Werbung für Prostitution" als<br />
weiteren rechtlichen Aspekt hinweisen und erläutern, warum hier eine Verschlechterung<br />
der Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen für Prostituierte stattfindet.<br />
.
- 202 -<br />
Laut OWiG § 120, 2 ist die Werbung für Prostitution ordnungswidrig, denn<br />
"ordnungswidrig handelt, wer durch Verbreiten von Schriften, Ton- oder Bildträgern,<br />
Abbildungen oder Darstellungen Gelegenheit anbietet, ankündigt, anpreist<br />
oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt". Auch dieses Verbot legen<br />
die einzelnen Bundesländer unterschiedlich aus. So konnten in Stuttgart Frauen,<br />
die Haus- oder Hotelbesuche machten oder in Apartments ar<strong>bei</strong>teten, solange<br />
ihre Dienstleistungen relativ genau definieren (z.B. s+m, Domina, Sklavin, englisch/<br />
griechisch usw.), bis ein Staatsanwalt daran Anstoß nahm. Dieser untersagte<br />
den Stuttgarter Tageszeitungen, derartige Anzeigen anzunehmen. Den<br />
. Frauen blieb nur noch, mit beschränktem Wortschatz zu werben. Der Staatsanwalt<br />
gab zwar an, mit diesen Maßnahmen Bordelle und Clubs schädigen zu wollen,<br />
traf aber tatsächlich die Frauen, die relativ selbstbestimmt im weniger<br />
kontrollierten Prostitutionsbereich ar<strong>bei</strong>teten. Denn: Ehe ein Freier mehrere<br />
Tel efonate führt, um die genaue Beschreibung der Dienstleistung einzuholen,<br />
geht er lieber gleich in einen stadtbekannten Puff, von dem er das Angebot<br />
kennt.<br />
Festzuhalten bleibt abschließend, daß es nach wie vor die Prostituierte<br />
ist, die die Verantwortung für die Existenz von Prostitution zugeschoben bekommt.<br />
Nur sie wird reglementiert, überwacht und diszipliniert. Zwar finden im<br />
Strafrecht Kontrollversuche ihren Niederschlag, die das Umfeld und die Organisation<br />
von Prostitution betreffen, der Kontrolldruck ist aber meist gering, denn<br />
die "Begleitkriminalität" bedarf der nachweislichen Vergehen, die im allgemeinen<br />
über das ungesetzliche Handeln an Prostituierten hinausreichen (Stallberg<br />
o.J.). Die Freier können sich ungehindert bewegen, sie werden höchstens in<br />
Unruhe versetzt, wenn sie - wie in der Vergangenheit geschehen - in das<br />
Schußfeld radikaler Frauenaktionen geraten und ihre Namen öffentlich plakatiert<br />
wiederfinden.<br />
LITERATUR<br />
Stall berg, Friedrich W. : Prostitution und Staat - Zur Kontrolle "gewerbsmäßiger<br />
Unzucht" in der Bundesrepublik. Manuskript, 0.0., o.J.
- 203 -<br />
Huren wehren sich gemeinsam (HWG)<br />
ARBEITSPLA TZ: PROSTITUTION<br />
Die Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen als Prostituierte hängen sehr stark vom Ar<strong>bei</strong>tsplatz<br />
ab und weisen eine große Bandbreite auf von der Straßenprostitution bis hin<br />
zum Callgirl. Im folgenden werden die häufigsten Formen von Ar<strong>bei</strong>tsplätzen<br />
skizziert und da<strong>bei</strong> verdeutlicht, wie stark sie sich bezüglich persönlicher Sicherheit,<br />
Eigenständigkeit, aber auch Verdienstmöglichkeiten unterscheiden.<br />
Empirischer Hintergrund dafür wie auch für die Einschätzung der neueren Entwicklung<br />
ist die Situation in Frankfurt.<br />
1. Straßenprostitution<br />
Bei der Straßenprostitution spricht der Kunde die Prostituierte auf der Straße<br />
an.<br />
Preis und Wünsche des Kunden handeln <strong>bei</strong>de an Ort und Stelle aus und<br />
vollziehen die sexuelle Handlung in einer Absteige oder an einem einsamen<br />
Pla tz. Für den Freier ist das eine billige Art der Prostitution, denn angefangen<br />
wird mit 40,- DM. Diese Art der Prostitution üben viele Fixerinnen aus.<br />
Wenn das Angebot an Frauen hoch ist bzw. die ausgewiesenen Toleranzzonen<br />
klein sind, haben Prostituierte oft "ihren" Stammplatz, entweder erkämpft<br />
von den Konkurrentinnen oder gekauft von einem Zuhälter. In Berlin kann solch<br />
ein Standplatz bis zu 12.000,- DM Grundgebühr sowie monatliche Miete um<br />
5.000,- DM kosten.<br />
Bisher war der Straßenstrich eine relativ autonome Form der Prostitution<br />
in Frankfurt, denn solange eine Frau keinen Zuhälter hatte, konnte sie Ar<strong>bei</strong>tszeiten<br />
und -bedingungen weitgehend selbst bestimmen, orientiert an der Nachfrage.<br />
Sie war nicht dazu gezwungen, jeden Freier anzunehmen und bestimmte<br />
die sexuellen Dienstleistungen sowie den Preis dafür selbst, abgesehen von<br />
einem Grundpreis, an den sich alle mehr oder weniger hielten. Auf der anderen<br />
Seite <strong>bei</strong>nhaltet der Straßenstrich ein hohes Gesundheitsrisiko sowie viele Gefahren<br />
für die Gesundheit. Die Prostituierte ist dem Freier ausgeliefert, sobald<br />
sie mit ihm irgendwohin gegangen ist, und es gibt für sie kaum eine Möglich-
- 204- -<br />
kelt, aus einer unmittel baren Gefahrensituation zu entkommen oder Hilfe zu<br />
erhalten. Da sie <strong>bei</strong> jedem Wetter auf der Straße steht, sind natürlich auch<br />
Risiken für die Gesundheit gegeben. Blasenentzündungen, Unterleibskrankheiten<br />
durch Erkältung, Grippe und Infektionskrankheiten sind an der Tagesordnung.<br />
Gefährdung durch Geschlechtskrankheiten oder HIV sind dagegen - außer <strong>bei</strong><br />
Fixerinnen - seltener, denn wer als Straßenprostituierte auf sich hält, ar<strong>bei</strong>tet<br />
nur mit Schutz.<br />
2. Kfz-Prostitution<br />
Die Kfz-Prostitution ist der Straßenprostitution in Bedingungen und Autonomie<br />
ähnlich. Die Prostituierte fährt <strong>bei</strong>m Autostrich nach dem Aushandeln des Preises<br />
Zu einem nahen Parkplatz oder an einen anderen Ort, wo sie die sexuelle<br />
Handlung vollzieht.<br />
Die Prostituierte ist <strong>bei</strong> dieser Form der Prostitution besonders in Gefahr,<br />
weil sie dem Freier in seinem PKW völlig ausgeliefert ist. In Frankfurt<br />
ar<strong>bei</strong>ten unseres Wissens wenig Frauen in dieser Art von Prostitution; wir vermuten<br />
aber, daß die Zahl wegen der kürzlich in Kraft getretenen Sperrgebietsverordnung<br />
vorübergehend zunehmen wird.<br />
Nach unseren Informationen gibt es in Frankfurt so gut wie keine Fernfahrerprostitution;<br />
auch Prostitution im eigenen PKW ist selten. Die Preise für<br />
diese Formen von Prostitution sind ähnlich wie <strong>bei</strong>m Straßenstrich.<br />
3. Lokalprostitution<br />
Lokalprostitution findet in Frankfurt ebenfalls statt; bestes Beispiel ist das<br />
berühmte Caf Express. Die Frauen halten sich in einem Lokal auf, wo sie vom<br />
Freier angesprochen werden und nach dem Aushandeln der Modalitäten mit ihm<br />
in die Absteige gehen, die entweder gleich über dem Lokal liegt oder aber in<br />
der unmittelbaren Nachbarschaft. Das Sicherheitsrisiko ist im Vergleich zur<br />
Straßen- oder Autoprostitution niedriger, da zumindest das Lokalpersonal mit<br />
aufpaßt. Uber die Preise liegen uns keine genauen Informationen vor, wir wissen<br />
aber, daß der Freier in jedem Fall auch die Absteige bezahlt.
- 205 -<br />
4. Salon prostitution<br />
Die sogenannte Salonprostitution (Clubs, Hostessenwohnungen) wird unter anderen<br />
Bedingungen ausgeübt. Die sexuellen Handlungen finden in einer Wohnung<br />
mit gemütlicher oder luxuriöser Atmosphäre statt; die Kundenwerbung läuft<br />
über Anzeigen oder Mundpropaganda; die Kontaktaufnahme erfolgt telefonisch.<br />
In Frankfurt gibt es ca. 250 solcher Salons.<br />
Viele Salons haben sich auf besondere sexuelle Praktiken spezialisiert,<br />
für die die Kunden von vornherein höhere Preise bezahlen. Im Durchschnitt liegen<br />
aber die Anfangspreise für Normalverkehr mit Schutz <strong>bei</strong> 50,- DM.<br />
Die Wohnungen werden oftmals durch sogenannte "Agenturen" angemietet,<br />
di e dann von den darin ar<strong>bei</strong>tenden Frauen Tagesmieten oder aber die Hälfte<br />
aller erzielten Einnahmen verlangen. In selteneren Fällen mietet eine Frau<br />
sei bst eine Wohnung an und ar<strong>bei</strong>tet allein oder mit ein, zwei Kolleginnen zusammen,<br />
die sich die Unkosten teilen. Hostessenwohnungen werden von den Vermietern<br />
immer höher veranschlagt als vergleichbare Wohnungen, die nicht zur<br />
Prostitution genutzt werden; daher entstehen Unkosten bis zu 4.000,- DM im<br />
Monat, manchmal sogar darüber. Anzeigenkosten sowie Telefon und Betriebsgebühren<br />
gehen immer zu Lasten der Frau. Wenn eine Frau nicht allein in einem<br />
Sal on ar<strong>bei</strong>tet, ist das Sicherheitsrisiko verhältnismäßig klein. Je mehr Frauen<br />
zusammen ar<strong>bei</strong>ten, um so kleiner das Risiko, aber auch um so höher die Unkosten<br />
(höhere Miet- und Anzeigenkosten, Telefongebühren etc.).<br />
Auch in der Salonprostitution haben sehr wenige Frauen einen klassischen<br />
Zuhälter. Trotzdem ist diese Form der Prostitution nur dann autonom in Ar<strong>bei</strong>tszeiten<br />
und -bedingungen, wenn eine Frau all eine in einer Wohnung ar<strong>bei</strong>tet.<br />
Bei mehreren Frauen ist die Ar<strong>bei</strong>tszeit durch Absprache oder Vorgabe<br />
geregelt, Ar<strong>bei</strong>tszeiten bis zu 14 Stunden pro Tag sind die Regel, 7 Stunden<br />
gelten als Teilzeit, der wöchentliche Gang zum Arzt für Geschlechtskrankheiten<br />
(GK) ist obligatorisch, und Atteste werden von den Besitzern oder Betreibern<br />
der Clubs verlangt. Durch das Zusammenar<strong>bei</strong>ten mehrerer Frauen verringert<br />
sich auch die Gefahr für die einzelne Frau. Hochgefährlich ist diese Form<br />
der Prostitution aber, wenn eine Frau allein ar<strong>bei</strong>tet, da sie dann der Freierwillkür<br />
völlig ausgeliefert ist.<br />
Das Risiko für die Gesundheit liegt in der Salonprostitution auf anderer<br />
Ebene, da meistens (trotz AIDS) noch immer ohne Schutz · gear<strong>bei</strong>tet werden
- 206 -<br />
muß (Kundenwunsch). Geschlechtskrankheiten wie Tripper sind häufiger anzutreffen<br />
als in der Straßen- oder PKW-Prostitution, und Pilze sind an der Tagesordnung.<br />
Diese Frauen müssen daher häufiger Antibiotika nehmen, was Resistenzen<br />
zur Folge hat. Die Freier übertragen die Krankheiten und sind in den<br />
meisten Fällen auch noch beleidigt, wenn Frauen sie darauf ansprechen, doch<br />
zum Arzt zu gehen und z.B. gegen Pilze etwas zu unternehmen.<br />
5. Prostitution in der Animierbar<br />
In Animierbars ar<strong>bei</strong>ten Prostituierte in der Regel auf der Basis von Trinkprozenten,<br />
d.h. es wird nicht explizit die sexuelle Leistung verkauft, sondern Getränke<br />
mit erheblichem Aufpreis, in denen die sexuelle Bedienung eingeschlossen<br />
ist. Die Frauen haben in Bars ein Pseudo-Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis, Ar<strong>bei</strong>tszeiten<br />
und -bedingungen werden vorgegeben. Meistens ist sogar vorgeschrieben, wie<br />
sich die Frauen zu kleiden haben. Die Ar<strong>bei</strong>tszeit beträgt in der Regel 12-14<br />
Stunden.<br />
Die Trinkprozente belaufen sich entweder auf ein Drittel des mit dem einzel<br />
nen Gast gemachten Umsatzes oder aber auf die Hälfte. Preise für einzelne<br />
sexuel le Handlungen werden nicht mit dem Gast besprochen, vielmehr gibt es<br />
barinterne Vorschriften, wieviel der Gast für ein bestimmtes Getränk "machen<br />
darf" und wieviel Zeit ihm dafür zur Verfügung steht, z.B. für einen Pikkolo<br />
oder sogenannten Cocktail "darf" er die Frau an der Brust anfassen sowie ein<br />
bißchen tätscheln, oberhalb der Kleidung, versteht sich. Nach zehn Minuten ist<br />
ein neuer Pikkolo fällig oder man zieht sich mit einer Flasche Sekt ins Separee<br />
oder in ein Zimmer zurück. Ein Pikkolo oder Cocktail kostet zwischen zwanig<br />
und fünfzig Mark (Anfangspreis).<br />
Die gesundheitlichen Risiken liegen ähnlich wie in der Salonprostitution,<br />
sind aber oft auch ausgedehnt auf Blasen-, Nieren- und Unterleibsleiden, da oft<br />
nur Tangahöschen oder Badeanzüge als Ar<strong>bei</strong>tskleidung zugelassen sind und man<br />
sich trotz relativ hoher Innentemperaturen leicht Erkältungen zuzieht.<br />
Animierbars, sei bst mit Zimmerbetrieb, haben für die Frauen das geringste<br />
Sicherheitsrisiko, weil immer jemand da ist, der auf die Frauen achtet und<br />
auch kontrolliert, wenn eine Frau zu lange mit dem Gast auf dem Zimmer<br />
bleibt. Trotzdem kann es vorkommen, daß eine Frau angegriffen wird.
- 207 -<br />
6. Bordelle<br />
Bordelle sind in Frankfurt offiziell nicht vorhanden, sondern werden "Dirnenwohnheime"<br />
genannt. Das bedeutet, daß jede Frau, die in einem solchen Wohnheim<br />
ar<strong>bei</strong>tet, sich polizeilich dort anzumelden hat, ob das nun ihr ständiges<br />
Domizil ist oder nicht.<br />
Die Frauen in den "Wohnheimen" haben Tagesmieten zu bezahlen, die pro<br />
Zimmer und Tag in Frankfurt 180,- DM und mehr betragen, sieben Tage die<br />
Woche, wohlgemerkt. Diese Tagesmieten werden von den sogenannten Wirtschaftern,<br />
die auch Rausschmeißer- oder Beschützerfunktion haben, für den<br />
oder die Betreiber kassiert. Kann eine Frau drei Tage nicht bezahlen, wird sie<br />
auf die Straße gesetzt und in den meisten Fällen ihr persönlicher Besitz einbehalten.<br />
Ebenso ist in der sogenannten "Kantine" eine Verzehrpflicht obligatorisch,<br />
der sogenannte "Block". Block muß man bezahlen, ob man verzehrt oder<br />
ni cht. Die Preise in den Kantinen sind meist sehr hoch, z.B. kostet ein Becher<br />
Frucht joghurt 5,- DM. Zu diesen Unkosten kommt noch das Trinkgeld für die<br />
Wirtschafter, das ebenfalls obligatorisch ist. Dafür haben aber die Frauen<br />
Alarmknöpfe auf den Zimmern, die <strong>bei</strong> Gefahr oder Meinungsverschiedenheiten<br />
mit den Kunden sofort die Wirtschafter auf den Plan rufen.<br />
Im Gegensatz zur Salon- oder Barprostitution darf der Kunde sich keinerlei<br />
Freiheiten mit der Frau herausnehmen, jede noch so kleine Handlung wird<br />
extra bezahlt, z.B. das Ausziehen des BHs. Es wird ein Grundpreis veranschlagt,<br />
der von allen Frauen zumindest offiziell eingehalten wird; im Auenblick<br />
beträgt er 40,- DM für Normalverkehr mit Schutz. Normalverkehr heißt in<br />
diesem Falle: es zieht sich keiner aus und der Kunde hat 5-10 Minuten Zeit.<br />
Da die täglichen Unkosten der einzelnen Frau bis zu 250,- DM betragen,<br />
sind Ar<strong>bei</strong>tszeiten bis zu 20 Stunden pro Tag keine Seltenheit. Wird eine Frau<br />
krank oder will sie in Urlaub fahren, muß sie trotzdem ihre Tagesmiete bezahlen,<br />
die allerdings nach drei Tagen Abwesenheit verringert wird. Trotzdem kostet<br />
Abwesenheit die Frauen Geld, das sie nach Rückkehr erst erar<strong>bei</strong>ten müssen.<br />
In den Wohnheimen kann eine Frau selbstverständlich auch ohne eigenen<br />
Zuhälter ar<strong>bei</strong>ten, trotzdem dominiert dort der "klassische" Zuhälter.<br />
Der wöchentliche Gang zum Arzt ist obligatorisch, da das Gesundheitsamt<br />
gerade die Bordelle streng überwacht. Da in den Wohnheimen sehr viel mit<br />
Schutz gear<strong>bei</strong>tet wird, ist das eigentlich überflüssig.
- 208 -<br />
7. Callgirls<br />
Eine zunehmende Form der Prostitution in Frankfurt ist das Callgirl-System.<br />
Diese Form der Prostitution ist ziemlich autonom, aber gefährlich. Ein Kunde<br />
ruft in einer sogenannten Agentur an und bestellt sich eine Frau zu einer bestimmten<br />
Adresse oder er geht selbst zu der Agentur, wo er nach Photokatalog<br />
seine "Wunschfrau" aussucht. Die Agentur ruft die Ausgewählte an und sie begibt<br />
sich an die angegebene Adresse.<br />
Bei dieser Form der Prostitution ist die einzelne Frau meist mehr gefordert,<br />
denn in der Regel werden nicht nur sexuelle Dienstleistungen gewünscht,<br />
sondern auch Gespräche. Mit der Agentur werden die Zahlungsmodalitäten ausgehandelt;<br />
derzeit kostet eine Stunde mit einem Callgirl etwa 300,- DM plus<br />
Kosten der Anfahrt. Davon erhält die Frau zwei Drittel oder die Hälfte.<br />
Der Vorteil dieser Art von Prostitution ist, daß eine Frau sie in ihrer Privatwohnung<br />
ausüben kann; sie braucht sich nicht einmal <strong>bei</strong>m Gesundheitsamt<br />
registrieren zu lassen, da selten nachgewiesen werden kann, daß eine Frau<br />
sexuelle Dienstleistungen verkauft. Viele Frauen machen dies nur nebenberuflich,<br />
nehmen ein oder zwei Termine pro Woche an, so daß sie weiter in ihr normales<br />
gesellschaftliches , Umfeld eingebunden bleiben. Callgirls gehen daher<br />
auch nicht regelmäßig zur GK-Untersuchung, um <strong>bei</strong>m Gesundheitsamt nicht<br />
aufz ufall en.<br />
Der Nachteil dieser Art Prostitution ist, daß sie hochgefährlich ist, weil<br />
die Frau nie weiß, ob sie von einer Adresse auch wieder wegkommt. Obwohl<br />
die Agentur Namen und Adresse eines Kunden so genau wie möglich überprüft,<br />
ist das Sicherheitsrisiko enorm. Trotzdem vermuten wir, daß nach Inkrafttreten<br />
der neuen Sperrgebietsverordnung . diese Form der Prostitution zunehmen<br />
wird.<br />
Zusammenfassend kann man sagen, daß Prostitution in der Bundesrepublik<br />
zwar nicht illegal, aber auch in keiner Weise geschützt ist. Selbst das Wort<br />
"Prostitution" ist kein eindeutiger Begriff. Frauen, die in der Prostitution ar<strong>bei</strong>ten,<br />
bewegen sich in einer juristischen Grauzone. Die Ar<strong>bei</strong>t der Prostitutierten<br />
ist zwar einerseits erwünscht aus den verschiedensten Gründen, sie soll<br />
aber im wesentlichen ihre gesellschaftliche Sündenbockfunktion behalten. , Wer<br />
sich sachlich mit dem gesellschaftlichen Phänomen der Prostitution auseinandersetzen<br />
will, kommt leicht in den Verdacht, selbst ein Freier oder "so eine"
- 209 -<br />
zu sein, darum findet sich auch in den Reihen der Politiker kaum einer, der für<br />
den Schutz von Prostituierten eintritt oder es gar wagt, sich für ar<strong>bei</strong>tsrechtliche<br />
Forderungen Prostituierter einzusetzen.<br />
Staatliche Lenkung und Regelung findet nur zum Vorteil der Besitzer von<br />
Etablissements statt, und die gesundheitliche Uberwachung der Frauen wird<br />
dazu benutzt, schwerwiegende Eingriffe in ihre Menschenrechte vorzunehmen.<br />
die Unverletzlichkeit der Wohnung einer Prostituierten ist nicht gewährleistet,<br />
ebensowenig wie ihre sexuelle Sel bstbestimmung oder die Freizügigkeit.<br />
Die eigentlich Betroffenen von Sperrgebietsverordnungen zum "Schutze der<br />
Jugend und des öffentlichen Anstandes", die Frauen nämlich, werden vor Erlaß<br />
einer Sperrgebietsverordnung gar nicht erst gehört, sind aber die Betroffenen<br />
der sogenannten Rechtsfolgen: " Wer der Prostitution nachgeht und da<strong>bei</strong> gegen<br />
diese Verordnung verstößt, handelt ordnungswidrig" (§ 120 Abs. 1 Nr. 1<br />
OWiG). Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu DM l.000,-<br />
geahndet werden. (Vgl. Information zur Sperrgebietsverordnung für Frankfurt<br />
am Main "Rechtsfolgen" StGB v. 1.8.1986) "Der vorgenannte Höchstbetrag der<br />
Geldbuße kann sich außerdem um den aus der verbotenen Prostitutionsausübung<br />
erzielten Gewinn erhöhen." Da<strong>bei</strong> drängen sich zu diesem Zitat folgende Fragen<br />
auf: Wie wohl verdient eine Frau 1.000,- DM Bußgeld? Oder warum soll sie ihren<br />
"Dirnenlohn" dem Staat noch obendrein als "Bußgeld" in den Rachen werfen?<br />
Im Strafgesetzbuch steht unter § 181a, daß der bestraft wird, der "einen<br />
anderen, der der Prostitution nachgeht, ausbeutet oder seines Vermögensvorteils<br />
wegen einen anderen <strong>bei</strong> der Ausübung der Prostitution überwacht,<br />
Ort, Zeit, Ausmaß oder andere Umstände der Prostitutionsausübung bestimmt<br />
•••" Ist Bußgel d infolge von willkürlich geschaffenen Verordnungen etwas anderes<br />
als Ausbeutung?<br />
Verordnungen und Reglementierungen dienen also bislang nicht zum Schutz<br />
von Prostituierten, sondern unterstreichen ihre allgemeine Ausbeutbarkeit. Daraus<br />
resultiert die erste unserer Forderungen überhaupt: Abschaffung aller<br />
Sperrgebiete!! !
- 210 -<br />
F O R D E R U N G E N<br />
(der Prostituierten vom 1. Deutschen Hurenkongreß in Berlin,<br />
Oktober 1986)<br />
1. Gleichberechtigung für Prostituierte.<br />
2. Anpassung der Moralvorstellungen an die gesellschaftliche Realität, d.h.<br />
Uberprüfung des rechtlichen Begriffs der Sittenwidrigkeit und gewerblichen<br />
"Unzucht" im Zusammenhang mit Prostitution.<br />
3. Aufhebung des Verbots gegen die Werbung für die Prostitution.<br />
Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.<br />
5. Anerkennung der Prostitution als Dienstleistung.<br />
6. Abschaffung der Diskriminierung von Prostituierten <strong>bei</strong> Verfahren wegen<br />
Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung.<br />
7. Aufnahme in die gesetzliche Krankenversicherung.<br />
8. Aufhebung jeglicher Registrierung, Reglementierung, Kontrolle und Speicherung<br />
in Dateien der Polizei, des Landes- und Bundeskriminalamtes, der<br />
Gesundheitsbehörden.<br />
9. Wir lehnen es grundsätzlich ab, daß Prostituierte wegen ihrer Tätigkeit<br />
er kennungsdienstlich behandelt werden.<br />
10. Abschaffung der Sperrgebietsverordnung.<br />
11. Sofortige Einstellung aller Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen<br />
verbotener Prostitution und Verstoß gegen di e Sperrgebietsverordnung.<br />
12. Keine Zusammenar<strong>bei</strong>t zwischen Gesundheitsamt und Polizei.<br />
13. Einhaltung der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Person durch die<br />
Polizei.<br />
14. a) Abschaffung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,<br />
weil es nur zu Lasten der Prostituierten praktiziert wird.<br />
b) Schaffung von frei willigen und kostenlosen Untersuchungs-, Beratungsund<br />
Behandl ungsmöglichkeiten.<br />
c) Abschaffung der Pflicht-Bockscheine (Kontroll karten).<br />
15. Aufhebung der Landesverordnungen, in denen keine freie Arztwahl besteht.<br />
16. Aufhebung der Nachweispflicht <strong>bei</strong> Beendigung der Prostitutionstätigkeit.<br />
17. Kostenlose, anonyme und frei willige HTL V-III-Tests auch für Prostituierte.<br />
18. Staatliche Maßnahmen zur Aufklärung über sichere Sexualpraktiken besonders<br />
für Männer.<br />
19. Staatliche Fördermaßnahmen für Frauen, die aussteigen wollen (z.B. Umschulungsfonds).<br />
20 . Keine Diskriminierung von Ex-Prostituierten im Geschäfts-, Berufs- und<br />
Privatleben.<br />
21 . Staatliche Unterstützung von Prostituierten-Sel bsthilfegruppen und finanzi<br />
elle Förderung ohne Auflagen für nationale Treffen.<br />
22 . Steuerfreiheit für Prostituierte, solange ihre Bürgerrechte beschnitten<br />
sind.<br />
4.
- 211 -<br />
Heide Simon<br />
DAS GESCH}\FT MIT DER "EXOTIK,, 1<br />
Prostitution gilt nicht als Beruf. Als Erwerbstätigkeit wird sie nur angesehen,<br />
we nn Steuern gezahlt werden sollen oder Sozialhilfe beansprucht wird. Das hat<br />
zur Folge, daß Prostituierte keine Möglichkeit haben, sich gewerkschaftlich zu<br />
organisieren, auch können sie sich unter diesem "Beruf" weder kranken- noch<br />
sozial versichern lassen. Prostitution ist in Deutschland nicht verboten; sie wird<br />
geduldet. Diese Duldung schafft Unsicherheiten und läßt wenig Motivation aufkommen,<br />
gemeinsam für bessere Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse, für mehr Rechte und bessere<br />
Ausstiegschancen zu kämpfen. Die meisten Frauen sind schon froh, daß sie<br />
ni cht unter Verbot gestellt werden: sich gegen Ungerechtigkeit, Mißstände und<br />
Dis kriminierung aufzulehnen, liegt eher jenseits ihrer Perspektive. Das sieht in<br />
ei nigen westlichen Ländern, in denen Prostitution verboten und verfolgt wird,<br />
anders aus. Ich erinnere an die Besetzung einer Kirche durch Prostituierte in<br />
London im November 1982, die Aktivitäten und Proteste der italienischen Prosti<br />
tuierten und den Hungerstreik der Pariser Frauen gegen Diskriminierung und<br />
polizeiliche Verfolgungen.<br />
Aber auch in Berlin und einigen westdeutschen Großstädten gibt es seit<br />
ein paar Jahren Zusammenschlüsse von Prostituierten, die mit Hilfe anderer<br />
Frauen allmählich beginnen, die Gesellschaft, anders als es die Medien gewöhnlich<br />
tun, auf sich aufmerksam zu machen, Forderungen zu stellen und ein eigenes<br />
Selbstverständnis zu entwickeln.<br />
Wenn sich di ese positiven Ansätze, auf die ich am Schluß des Berichts<br />
noch näher eingehen werde, weiter entwickeln und die Beratungsstellen es als<br />
eine ihrer Aufgaben sehen, die Frauen in diesen Bemühungen zu unterstützen,<br />
besteht Aussicht auf Veränderung.<br />
Die ausländischen Prostituierten in Deutschland unterliegen nicht nur<br />
schwerwiegenderen Problemen als ihre deutschen Kolleginnen, sie haben zudem<br />
sehr viel weniger Aussicht auf Verbesserung ihrer Lage: Prostitution ist für<br />
sie verboten. In § 10 Absatz 1 des Ausländergesetzes heißt es: "Ein Ausländer<br />
kann ausgewiesen werden, wenn ••• 8. er bettelt, der Erwerbsunzucht nachgeht<br />
•••<br />
9. er die öffentliche Gesundheit oder Sittlichkeit gefährdet ••• ". Allerdings
- 212 -<br />
wird in Berlin überwiegend der § 11 des Ausländergesetzes mit hinzugezogen,<br />
nach dem die oben aufgeführten Gründe nur dann zu einer Ausweisung führen,<br />
wenn sie besonders schwerwiegend sind. In der Praxis heißt das, eine ausländische<br />
Frau kann dann ausgewiesen werden, wenn zusätzlich zur Prostitution<br />
noch ein anderer Grund, z.B. illegaler Aufenthalt oder der Verstoß gegen eine<br />
Vorschrift des Aufenthaltsrechts, hinzukommt.<br />
Daß Prostitution für sie in der Bundesrepublik einschließlich Berlin verboten<br />
ist, hält Frauen aus Ghana, aus der Dominikanischen Republik, aus Polen,<br />
aus Thailand und anderen Ländern nicht ab, ausschließlich zu diesem Zweck<br />
hierherzukommen. Die Ursachen liegen in der Regel an den äußerst schlechten<br />
wirtschaftlichen Verhältnissen der Herkunftsländer , in denen zum Teil Frauen<br />
so gut wie keine Chancen haben, bezahlte Ar<strong>bei</strong>t zu finden.<br />
Ich beschränke mich in den folgenden Ausführungen auf die thailändischen<br />
2<br />
Frauen. Sie sind die z.Z. größte Gruppe ausländischer Prostituierter in Ber-<br />
!in. Bei anderen ausländischen Frauen sind die Bedingungen vergleichbar.<br />
1. Unterentwicklung und Prostitution<br />
Die thailändische Frau hat traditionel l verantwortlich für die Familie zu sorgen.<br />
Sie war und ist diejenige, die das Feld bestellt, für Nahrung und Kleidung<br />
sorgt und die Großfamilie zusammenzuhalten hat. Durch die Entwicklungsstrategie,<br />
die Thailand seit einem Vierteljahrhundert verfolgt, indem zur Anwerbung<br />
internationalen Kapitals das Land für exportfähige Agrarprodukte ausgebeutet<br />
wird und dem kleinen Bauern für den Eigenbedarf kaum noch etwas übrig<br />
bleibt, ist die Kluft im Einkommen und in den sozialen Möglichkeiten zwischen<br />
Stadt und Land unüberbrückbar groß geworden. Das wiederum schafft die Voraussetzungen<br />
für die Migration besonders der Frauen aus den ländlichen Regionen,<br />
wo<strong>bei</strong> sie jedoch aufgrund der katastrophalen Ar<strong>bei</strong>tsmarktlage keinerlei<br />
Chancen haben, in den Städten Ar<strong>bei</strong>t zu finden. So bleibt ihnen in der Regel<br />
keine andere Wahl, als durch Prostitution für den Unterhalt der Familie zu sorgen.<br />
Sie fliehen also nicht vor ihrer Familie oder dem ländlichen Milieu (80%<br />
al ler Prostituierten kommen aus ländlichen Gegenden), um der herkömmlichen<br />
Unterdrückung der Frauen zu entkommen. Ihnen ist vielmehr daran gelegen, die<br />
familiäre Einheit zu .stützen, deren ländliche Ökonomie unter zunehmendem
- 213 -<br />
Druck steht. Daraus resultiert der enorme Zuwachs an thailändischen Prostituierten<br />
auch in der Bundesrepublik. Der Sextourismus, die zweifelhaften Heiratsvermittl<br />
ungen und die in Aussicht gestellten guten Verdienstmöglichkeiten motivieren,<br />
trotz der äußerst schwierigen Umstände wie Ausnutzung durch Anwerber<br />
, Mittelsmänner und Bar- und Salonbesitzer sowie Krankheiten und Einsamkeit,<br />
den Schritt zu diesem Unternehmen.<br />
Etwa zwei Drittel der Frauen, die nach Berlin kommen, sind in Thailand<br />
schon der Prostitution nachgegangen. In letzter Zeit reisen immer mehr Frauen<br />
ein, die direkt aus den ländlichen Gebieten Nordthailands angeworben und nach<br />
Berlin gebracht worden sind, ohne daß sie Vorerfahrungen im Bereich Prostitution<br />
hatten. Die verlockenden Versprechungen, hier könne man mehrere 100 DM<br />
in einer Nacht verdienen, haben sie zu diesem Schritt bewogen, der sie allerdi<br />
ngs in Thailand bereits mindestens 5000 DM gekostet hat. Die wenigen Frauen,<br />
die völlig ahnungslos nach Berlin kamen, weil man ihnen Ar<strong>bei</strong>t im Restaurant<br />
oder Haushalt zugesagt hatte, konnten oftmals mit unserer Hilfe relativ<br />
rasch nach Thailand zurückkehren.<br />
Das Geschäft wickelt sich in der Regel so ab, daß die Frauen in Thailand<br />
über entsprechende Agenten angeworben werden. Sie bekommen Paß und Flugticket<br />
und zahlen dafür, einschließlich einer Vermittlungsgebühr, 5000 DM. Um<br />
dieses Gel d aufzubringen, müssen sie entweder einen hochverzinslichen Kredit<br />
aufnehmen oder aber ihr kleines Reisfeld oder Haus mit einer ebenso hoch verzinslichen<br />
Hypothek belasten. Oft werden auch Ersparnisse von Familienangehörigen<br />
zusammengetragen, wo<strong>bei</strong> verheimlicht wird, daß der aussichtsvolle Gelder<br />
werb in Deutschland durch Prostitution erreicht werden soll.<br />
Ein anderer Weg, der zunächst für die Frauen der leichtere zu sein<br />
scheint, ist der, daß ihnen das Hin- und Rückflugticket von Berlin aus zugeschickt<br />
wird, sie den Paß direkt am Flughafen in Bangkok ausgehändigt bekommen<br />
(dieser ist nur selten mit ihrem Namen identisch) und dann hier die Summe<br />
von 5000 DM "abar<strong>bei</strong>ten" müssen. Auch hier ist eine Vermittlungsgebühr enthalten.<br />
In Berlin-Schönefeld (DDR) werden die Frauen von Mittelsmännern in Empfang<br />
genommen und, um einer zu befürchtenden Zurückweisung durch die Berliner<br />
Polizei behörden zu entgehen, über den von disen nicht kontrollierbaren<br />
S-Bahnhof Friedrichstraße in entsprechende Etablissements gebracht.
- 214 -<br />
Die Frauen halten sich mit dem Status "Touristinnen" hier auf. Werden<br />
sie jedoch in Salons oder Bars <strong>bei</strong> Razzien der Polizei angetroffen, ist der Tatbestand<br />
der Prostitution klar. Kommt dann dazu, daß die Frauen nicht polizeilich<br />
gemeldet sind oder über die erlaubten 3 Monate des Touristenaufenthalts<br />
hinaus sich hier aufhalten, ist eine Ausweisung bzw. Aufforderung zum sofortigen<br />
Verlassen Berlins unumgänglich.<br />
Bei wiederholtem Antreffen durch die Polizei ist auch Abschiebehaft möglich.<br />
Die unterschiedlichen Verfahrensweisen von Polizeibeamten aus speziellen<br />
Zuständigkeiten (z.B. Kripo, Gewerbeaußendienst) verunsichern die Frauen zusätzlich;<br />
sie leben in ständiger Angst, von der Polizei entdeckt zu werden.<br />
2. Ar<strong>bei</strong>ts- und Lebensbedingungen in Berlin<br />
Thailänderinnen ar<strong>bei</strong>ten ausschließlich in Bars, Salons und sogenannten Apartments.<br />
Die Frauen, die das erste Mal nach Berlin kommen, sind dem Bar- oder<br />
Salonbesitzer , deren Helfer oder Helferinnen ausgeliefert. Ihnen wird in der<br />
Regel nach ihrer Ankunft das Flugticket abgenommen, in Einzelfällen auch der<br />
Reisepaß, mit dem Hinweis, <strong>bei</strong>des sei so lange Eigentum des "Chefs", bis die<br />
vorgestreckte Summe von 5000 DM abgear<strong>bei</strong>tet sei. Regelmäßig steht diesen<br />
Frauen in der Ubergangszeit kein Geld zur Verfügung. Sie leben mit mehreren<br />
Frauen zusammen in von den Salon besitzern angemieteten Wohnungen oder in<br />
den Salons selbst. Sie müssen sich zu vier bis fünf Personen ein Zimmer teilen<br />
mit oftmals nicht mehr als zwei Betten. Die Wohnungen haben Kochmöglichkeiten;<br />
die Lebensmittel werden ihnen gestellt, da Bargeld zunächst nicht zur<br />
Verfügung steht. Das bedeutet auch; daß die Frauen so gut wie nie ihre Unterkünfte<br />
verlassen. Die Unkosten für Unterkunft und Verpflegung werden den<br />
Frauen in Rechnung gestellt und ebenfalls von dem erar<strong>bei</strong>teten Geld abgezogen.<br />
Da die meisten Etablissements, in denen thailändische Frauen ar<strong>bei</strong>ten,<br />
Tag und Nacht geöffnet haben, müssen auch die Frauen stets zur Verfügung<br />
stehen. Sie bekommen äußerst wenig Schlaf; wird er nicht durch Kunden, die<br />
sofort bedient werden wollen, gestört, so ist es die Unruhe, die zwangsläufig<br />
entsteht, wenn mehrere Menschen auf engstem Raum zusammenleben. Viele
- 215 -<br />
Frauen beklagen sich zudem über ungeheizte oder nur dürftig warme Schlafräume.<br />
Die meisten Salons haben Verbindung untereinander, so daß die Frauen<br />
damit rechnen müssen, von einem Salon in den anderen abgegeben zu werden.<br />
Es kann durchaus passieren, daß eine Frau jeden Tag/Abend in einem anderen<br />
Salon ar<strong>bei</strong>ten muß. Sie verliert dadurch den Kontakt zu den anderen thailändischen<br />
Frauen, ist noch mehr der Willkür der verschiedenen Chefs ausgeliefert<br />
und verliert auch die örtliche Orientierung.<br />
Nach längerem Aufenthalt und bezahlten Schulden bemühen sich die Frauen,<br />
dort zu ar<strong>bei</strong>ten, wo sie am meisten verdienen können, ob die Salons edel<br />
sind oder nicht, spielt keine Rolle. In Kreuzberg oder Wedding läuft das Geschäft<br />
aufgrund der vielen Türken wie am Fließband. Generell verdienen die<br />
Frauen in den Billigpuffs 30-60 DM pro Freier und geben im Schnitt die Hälfte<br />
davon an die Puffbesitzer ab. Die Verdienstmöglichkeiten der Frauen verschlechtern<br />
sich allerdings zunehmend, denn trotz rückläufiger Nachfrage reisen<br />
täglich neue Frauen hier an.<br />
Thailändische Frauen, denen man unterstellt, als "Exotinnen" für "liebesdienste"<br />
besonders geeignet zu sein, passen sich vorübergehend dem Anspruch,<br />
den die Kunden daraus erheben, an. Abgesehen davon, daß sie jeden Freier<br />
nehmen müssen, verfügen sie auch nicht über die Möglichkeit, sich verbal oder<br />
körperlich gegen "Sonderwünsche" zu wehren; im Unterschied zu ihren deutschen<br />
Kolleginnen und den Frauen aus anderen europäischen Ländern, die sich<br />
den Kunden gegenüber sehr viel zurückhaltender und berechnender verhalten<br />
und sich "teurer verkaufen", stehen sie für wenig Geld fast uneingeschränkt<br />
zur Verfügung.<br />
Das macht sie sicher auch teilweise zu Konkurrentinnen der deutschen<br />
Frauen. Daher gibt es kaum Salons oder Bars, in denen deutsche Frauen mit<br />
thailändischen Frauen zusammenar<strong>bei</strong>ten, zumal immer mehr Bar- und Salonbesitzer<br />
sich diese "Eigenschaften" zunutze machen und thailändische Frauen den<br />
deutschen Frauen vorziehen. Als "Geldquelle" sind sie unproblematischer als<br />
ihre deutsche Kolleginnen, da sie sich gegen Ausbeutung und Ausnutzung weniger<br />
zur Wehr setzen.<br />
Wie die Frauen selbst ihre Ar<strong>bei</strong>t wahrnehmen, ist schwer einzuschätzen,<br />
denn sie äußern sich dazu nicht. Es kennzeichnet ihr Verhalten, sich klaglos<br />
der Situation anzupassen, sie irgendwie hinzunehmen, wenn sie sich einmal da-
- 216 -<br />
zu entschlossen haben, als Prostituierte zu ar<strong>bei</strong>ten. Anders reagieren nur die<br />
Frauen, die getäuscht und in die Prostitution gezwungen worden sind. Für sie<br />
bricht - und das auch nach außen sichtbar - eine Welt zusammen. Das Verhältnis<br />
zu ihrer Ar<strong>bei</strong>t macht sich - vordergründig gesehen - am Geld fest, das sie<br />
benötigen, um ihre Familie zu ernähren. Thailändische Frauen sind, wenn sie<br />
aus den ländlichen Gebieten Thailands kommen, religiös oft stark gebunden.<br />
Prostitution ist in Thailand verboten und ein Verstoß gegen religiöse Glaubenssätze.<br />
Die Frauen leben demnach ständig unter einem religiösen Zwang, aus<br />
de m sie sich nur befreien können, indem sie, ungeachtet ihrer eigenen Bedürfnisse,<br />
Gutes tun. Die Erfüllung der Pflicht, als Frau für die Familie zu sorgen,<br />
wird somit gleichzeitig zur Sühne für die Ubertretung der religiösen Glaubenssätze.<br />
Neben dem finanziellen Bezug kommt es in vereinzelten Fällen auch vor,<br />
daß eine Frau Bestätigung ihrer äußeren Schönheit durch Kunden erfährt; das<br />
stabilisiert aber kaum ihr Selbstbewußtsein.<br />
Wenn die Frauen auch keinen Einblick in ihr "Innenleben" gewähren,<br />
spricht doch ihr körperlicher Zustand eine deutliche Sprache. Die gesundheitliche<br />
Verfassung der thailändischen Frauen ist oftmals alarmierend. Die klimatische<br />
Umstellung, die beängstigenden und undurchschaubaren Situationen in der<br />
für sie neuen und unbekannten Umgebung und die Unterkunfts verhältnisse sind<br />
Ursachen für psychosomatische Krankheitsbilder. Die Frauen reagieren mit<br />
Schlafstörungen und Kopfschmerzen; sie leiden verstärkt unter Erkältungskrankheiten<br />
oder Magenschmerzen. Sie müssen zwangsläufig Alkohol trinken,<br />
den sie nicht gewohnt sind. Oft haben sie Hautkrankheiten (mehrfach allergischer<br />
Natur), die ihr Wohlbefinden stark beeinträchtigen. Mehr als deutsche<br />
Frauen werden sie mit Geschlechtskrankheiten infiziert, da sie sich aufgrund<br />
von Verständigungsschwierigkeiten und unter dem Druck der Chefs nicht dagegen<br />
wehren können, jeden Kunden nehmen zu müssen, oder nicht durchsetzen<br />
können, nur mit Kondom zu ar<strong>bei</strong>ten.<br />
Der Schutz vor Schwangerschaft ist ein grundsätzliches Problem. Die<br />
Frauen sind in Thailand wenig über Verhütungsmethoden aufgeklärt. Die 3-Monats-Spritze,<br />
die in Deutschland nur unter Vorbehalt abgegeben wird, in einigen<br />
an deren westlichen Ländern sogar verboten ist, wird den thailändischen Frauen<br />
in ihrer Heimat ohne die erforderlichen Informationen über Schutz dauer und die<br />
negativen gesundheitlichen Auswirkungen verabreicht. Viele thailändische Frau-
- 217 -<br />
en leiden hier unter erheblichen Unterleibsbeschwerden und sind nur unzureichend<br />
vor Schwangerschaften geschützt.<br />
3. Perspektiven<br />
Die geschilderten Mißstände, unter denen ausländische Frauen leben, wenn sie<br />
hier der Prostitution nachgehen, verdeutlichen, daß diese Ar<strong>bei</strong>t insbesondere<br />
der thailändischen Frauen keinerlei Chancen hat, eine Erwerbsmöglichkeit in<br />
einem geschützten Rahmen und mit der größtmöglichen Sicherheit für körperliche<br />
und psychische Unversehrtheit zu werden. Trotzdem streben die meisten<br />
der thailändischen Frauen einen längeren Aufenthalt an, um die entstandenen<br />
Schulden decken und auch weiterhin Geld nach Thailand schicken zu können.<br />
Daz u reicht in der Regel der 3monatige Touristenaufenthalt nicht aus. Sie bleiben<br />
ill egal hier, in der Hoffnung, von der Polizei nicht erfaßt zu werden, oder<br />
sie streben die Heirat mit einem deutschen Mann an. Letzteres wird auch als<br />
eine mögliche Zukunftsperspektive gesehen. Eine thailändische Prostituierte hat<br />
in ihrer Heimat keine Chancen, geheiratet zu werden. Mit einer Heirat hier<br />
erhoffen sich viele Frauen ein gesichertes Leben und die Möglichkeit, ihre<br />
Familien in Thailand weiterhin unterstützen zu können. Das ist in den meisten<br />
Fällen unrealistisch. Selbst wenn sie heiraten, sind die Ehemänner selten bereit,<br />
eine Familie in Thailand mitzuernähren und erlauben ihren Frauen auch<br />
nicht mehr, der Prostitution nachzugehen.<br />
Von einem besseren, angenehmeren Leben träumen Menschen, die in ihrer<br />
Tätigkeit unterdrückt und ausgebeutet werden. Bei den meisten Prostituierten<br />
kommt noch das Bewußtsein hinzu, einer von der Gesellschaft verachteten Erwerbstätigkeit,<br />
der sogenannten "gewerblichen Unzucht", nachzugehen. Für die<br />
Frauen ist es sehr schwer, entweder die Prostitution für sich zu bejahen bzw.<br />
sie als eine von vielen Möglichkeiten zur Unterhaltssicherung anzusehen oder<br />
aber den Ausstieg zu finden.<br />
So komme ich zum Schluß noch einmal auf die Initiativen von und mit Prosti<br />
tuierten zurück, in denen ich die einzige Möglichkeit sehe, eine Verbesserung<br />
für die Frauen in Gang zu bringen. Bei den ausländischen Frauen kann<br />
dies nur bedeuten, ihnen die Zeit ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik zu<br />
erleichtern. Wir versuchen dies in unserer Beratungsstelle, indem wir ihnen
- 218 -<br />
Raum schaffen, sich untereinander in einer angstfreien und geschützten Umgebung<br />
zu treffen, selbst offen sind für ihre Probleme und versuchen, ihnen zu<br />
helfen. Da<strong>bei</strong> ist wichtig für sie zu wissen, daß wir weder mit der Polizei noch<br />
mit der Ausländerbehörde zusammenar<strong>bei</strong>ten. Das gilt genauso für alle anderen<br />
Besucherinnen und Besucher unserer Beratungsstelle, insbesondere für alle Prosti<br />
tuierten.<br />
Neben unseren Pflichtaufgaben, die Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen,<br />
indem wir sehr viel Öffentlichkeits- und Aufklärungsar<strong>bei</strong>t machen, sehen wir<br />
es als eine unserer wichtigsten Aufgaben an, mit den Prostituierten, mit<br />
HYDRA (Treffpunkt und Beratung für Prostituierte) und den Initiativen in<br />
Westdeutschland, gemeinsam Grundsatzprobleme wie Diskriminierung, unzureichende<br />
soziale Voraussetzungen und Perspektiven, ungerechtfertigte Kontrollen<br />
und daraus nachfolgende Maßnahmen auch grundsätzlich anzugehen. Dazu bedarf<br />
es politischen und sozialen Engagements, das dringend <strong>bei</strong> den Prostituierten,<br />
den Sozialar<strong>bei</strong>tern in den Beratungsstellen und anderen Frauen gemeinsam<br />
entwickelt werden muß.<br />
ANMERKUNGEN<br />
Dieser Beitrag stützt sich auf Erfahrungen, die in 15jähriger Ar<strong>bei</strong>t als Sozialar<strong>bei</strong>terin<br />
in der Beratungsstelle Berlin-Charlottenburg gewonnen wurden.<br />
Die Beratungsstelle bietet allen Prostituierten Untersuchungen und Behandlung<br />
von sexuell übertragbaren Krankheiten sowie Gespräche und Hilfen<br />
an. Wir Mitar<strong>bei</strong>terinnen haben in einem längeren Prozeß von Kontrolle und<br />
Zwangsmaßnahmen gegen Prostituierte Abstand nehmen können; dadurch entwickelte<br />
sich ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis und entstanden enge<br />
Kontakte, <strong>bei</strong>des Voraussetzungen, um über die Frauen situationsgerecht zu<br />
berichten. Da wir selbst auch Zugang zu den Salons haben, können wir uns<br />
vor Ort informieren und den Frauen direkt anbieten, uns aufzusuchen.<br />
2 Die meisten thailändischen Frauen, die in Berlin der Prostitution nachgehen,<br />
kommen in die Charlottenburger Beratungsstelle. Durch die Mitar<strong>bei</strong>t<br />
eines Dolmetschers gelingt es uns zumindest ansatzweise, ihre Probleme<br />
nachzuvollziehen und ihnen zu helfen.
- 219 -<br />
Erika Dieckhoff<br />
Helga Schwarz<br />
Ursula Zim mermann<br />
AUSSTEIGEN AUS DER PROSTITUTION<br />
Das 4. Hamburger Frauenhaus hat sich zum Schwerpunkt gesetzt, Frauen zu<br />
unterstützen, die aus der Prostitution aussteigen wollen. In diesem Beitrag soll<br />
es aber nicht darum gehen, welche Unterstützungsleistungen das Frauenhaus<br />
erbringen kann, sondern der Schwerpunkt liegt darauf, die Probleme der Frauen<br />
zu skizzieren.<br />
Die Gründe, warum Frauen aus der Prostitution aussteigen wollen, sind<br />
verschieden. Manche entscheiden sich dazu, weil sie vom Zuhälter wegkommen<br />
wollen oder der Partner es möchte; andere, weil sie den Ekel nicht mehr ertragen<br />
oder Angst haben, ihre Identität zu verlieren, wenn sie in der Prostitution<br />
bleiben.<br />
Die Frauen, die das Hamburger Frauenhaus aufsuchen, verlassen das Milieu,<br />
weil sie nach langjähriger Prostitutionserfahrung (zwischen 10 und 30 Jahren)<br />
für sich keine Perspektive mehr sehen, ihnen der Schuldenberg, die sogenannten<br />
Blockschulden, über den Kopf wächst oder -<br />
HIV-positiv sind.<br />
bisher vereinzelt - sie<br />
Die meisten Frauen aber kommen nicht in erster Linie in das Frauenhaus,<br />
weil sie aufhören wollen, als Prostituierte zu ar<strong>bei</strong>ten, sondern um sich vor<br />
weiterer Mißhandl ung und Ausbeutung "ihres" Zuhälters zu schützen. Die Probleme<br />
dieser Frauen stehen im Mittelpunkt der weiteren Darstellung.<br />
Sie ar<strong>bei</strong>ten überwiegend auf dem Straßenstrich, in Eros-Centern und Bordel<br />
len, im Schnitt seit 2-5 Jahren, und ihre Ar<strong>bei</strong>tssituation ist entscheidend<br />
geprägt durch den Zuhälter und die auf seine Interessen zugeschnittenen Kiez<br />
Regeln.<br />
Kiez-Regeln, das heißt:<br />
1. Sexuelle Dienstleistungen haben Warencharakter. Angebot und Nachfrage<br />
bestimmen weitgehend den Preis. Spezielle Techniken erzielen höhere Entlohnung.<br />
2. Die Frau wird zum "Kapital" des Zuhälters; sie kann gegen eine Summe<br />
("Abstecke") an einen anderen Zuhälter verkauft werden bzw. sich selbst<br />
freikaufen.
- 220 -<br />
3. Das Ansehen der Frau richtet sich nach ihrem Verdienst und somit danach,<br />
welchen Gewinn der Zuhälter durch sie hat. Dadurch entsteht ein Konkurrenzverhältnis<br />
zwischen den Frauen.<br />
4. Gewalttätigkeit stärkt das Image des Zuhälters.<br />
5. Physische Gewalt gegen Prostituierte, wenn sie nicht im Sinne des Zuhälters<br />
funktionieren, ist alltäglich.<br />
6. Für den Fall, daß eine Frau aus der Prostitution aussteigt, wird mit physischer<br />
Gewalt gedroht. Die Drohung verstärkt sich, wenn eine Frau ihren<br />
Zuhälter anzeigt.<br />
7. Die finanziellen Mittel zur Realisierung einer längerfristigen Zukunftsplanung<br />
sind im Zugriff der Zuhälter. Versucht eine Frau eigenständig für die<br />
Zukunft zu sparen ("bunkern"), muß sie mit Sanktionen rechnen.<br />
8. Die tägliche Ar<strong>bei</strong>tsplanung wird weitgehend durch Männer (Wirtschafter/Zuhälter)<br />
gemacht; zum Teil impliziert die Ar<strong>bei</strong>t in Bordellen teuer<br />
bezahlte Versorgungsleistungen, wie sie sonst nur in Heimen vorhanden sind<br />
(z.B. Anliefern von Bettwäsche, Essen usw.).<br />
9. Sexuelle Kontakte sind nur mit dem Zuhälter oder gegen Bezahlung gestatte<br />
t.<br />
Die Probleme, die mit dem Ausstieg auf die Frauen zukommen, sind zahlreich,<br />
wo<strong>bei</strong> sich schlimmer noch als die äußeren Schwierigkeiten di e inneren<br />
auswirken. Sel bst wenn die Frauen unfreiwillig aussteigen, überkommen sie <strong>bei</strong><br />
diesem Schritt der "absolute Horror", die Unsicherheit und Angst - alles, was<br />
sie vorher nicht zulassen konnten.<br />
Im Vordergrund steht natürlich die Angst vor dem Zuhälter. Selbst, wenn<br />
eine Frau "ihren" Zuhälter nicht anzeigt, kann sie damit rechnen, von ihm verfolgt<br />
und bestraft zu werden. Ihr Bewegungsfreiraum schränkt sich damit erheblich<br />
ein. Zeigt sie den Zuhälter aber an, potenziert sich diese Bedrohung<br />
und sie muß sich zudem einem Gerichtsverfahren als Zeugin aussetzen.<br />
Die Gerichte zeigen oft kein Verständnis für das Verhalten von Prostituierten.<br />
Die Gerichtsverhandlung stellt aber auch unabhängig davon eine große<br />
psychische Belastung für die Frau dar. Es treten ähnliche Probleme auf wie <strong>bei</strong><br />
Vergewaltigungsprozessen, in denen die Frau ihre Glaubwürdigkeit und "Nicht<br />
Schuld" beweisen muß. Weniger belastend ist es, wenn die Ex-Prostituierte als<br />
Nebenklägerin auftritt, da sie dann die Unterstützung einer Rechtsanwältin hat.<br />
Da die meisten Frauen, wenn sie aussteigen, von der Sozialhilfe leben müssen,<br />
können sie Prozeßkostenhilfe für die Nebenklage (Kosten für die Anwältin) beantragen.<br />
Diese Möglichkeit ist in der letzten Zeit in Hamburg erschwert worden,<br />
da die staatlichen Instanzen die Auffassung vertreten, der Staatsanwalt<br />
nehme auch die Interessen der Frau ausreichend wahr.<br />
Entscheidend ist, daß Bezugspersonen für die Prostituierte fehlen, die sie<br />
auffangen. Familienbeziehungen oder Freundschaftsbeziehungen außerhalb des
- 221 -<br />
Prostituiertenmilieus können sie kaum aufrechthalten. Meistens scheitern sie<br />
daran, daß ihre Ar<strong>bei</strong>t dem gesellschaftlichen Wertsystem nicht entspricht ("Ich<br />
habe keine Tochter mehr"). Auch das Anknüpfen neuer Beziehungen wird besonders<br />
konfliktträchtig. Prostituierte, die ausgestiegen sind, verlieren durch den<br />
Verstoß gegen die "Kiezregeln" meist ihr gesamtes soziales Bezugsnetz im Kiez<br />
und müssen sich daher mit Isolations- und Einsamkeitsgefühlen auseinandersetzen.<br />
Sie machen weiter die Erfahrung, daß sie diskriminiert und stigmatisiert<br />
sind. ("Einmal Prostituierte, immer Prostituierte", "die will ja sowieso nicht<br />
ar<strong>bei</strong>ten", "die geht sowieso mit dem Erstbesten fremd"). Verschweigt die Exprostituierte<br />
ihre Vergangenheit, so lebt sie stets in der Angst, irgendwann<br />
erkannt zu werden (z.B. von einem Freier, der in ihrer Nachbarschaft wohnt;<br />
von einem Kunden, der in dem Laden einkaufen geht, in dem sie gerade als<br />
Verkäuferin angefangen hat •••). Verschweigt sie ihre Vergangenheit neuen Bekannten,<br />
sind die Sanktionen <strong>bei</strong> Entdeckung noch schmerzlicher: sie hat das<br />
Vertrauen mißbraucht und ist somit nicht mehr vertrauenswürdig. Spricht sie<br />
offen über ihre Vergangenheit, muß sie damit rechnen, daß dieses Wissen in<br />
anderen Bezügen gegen sie verwandt bzw. <strong>bei</strong> Konflikten herangezogen wird,<br />
um ihr die Gleichwertigkeit mit ihrem "Partner" abzusprechen ("Was hast du<br />
schon zu sagen - ohne mich wärst du längst wieder in der Gosse gelandet").<br />
Auch die Behörden begegnen der Prostituierten oft mit Mißtrauen und<br />
Vorurteilen. Falls eine Prostituierte <strong>bei</strong> der zentralen Beratungsstelle des Gesundheitsamtes<br />
in Hamburg registriert ist, muß sie sich amtlich bestätigen lassen,<br />
daß sie nicht mehr der Prostitution nachgeht, um Hilfe zum Lebensunterhalt<br />
vom Sozialamt beziehen zu können. Bei den Ämtern ist nicht mit Einfühlungsvermögen<br />
im Interesse der Frau zu rechnen. So wurde z.B. <strong>bei</strong>m Ar<strong>bei</strong>tsamt<br />
einer ehemaligen Prostituierten eine Stelle als Barfrau im "Milieu" angeboten.<br />
Andere Ar<strong>bei</strong>tgeber wollen keine ehemalige Prostituierte beschäftigen.<br />
Jede vor der Prostitution erworbene Qualifikation wird abgewertet, wenn<br />
die Frau zugibt, als Prostituierte gear<strong>bei</strong>tet zu haben. Verschweigt sie ihre<br />
Prostitutionserfahrungen, kann sie ihre Berufsunterbrechung nicht begründen<br />
und hat dadurch schlechte Chancen. Für die Frauen, die in das Frauenhaus<br />
kommen, ist die Situation noch zusätzlich erschwert, da sie neben einer fehlenden<br />
Berufsausbildung häufig keinen Schulabschluß aufweisen können. Für viele<br />
Frauen ist es zudem schwierig, nach der Erfahrung des organisierten Lebens im
- 222 -<br />
Bordell selbständig zu wirtschaften. Während ihrer Ar<strong>bei</strong>t als Prostituierte<br />
waren sie es gewohnt, Geld, das ihnen zur Verfügung stand, schnell auszugeben,<br />
da es ihnen sonst wieder weggenommen worden wäre. Durch die Versorgung<br />
im Bordell sind viele Frauen die alltägliche Lebensplanung, wie Lebensmittel<br />
einkaufen, das Geld über einen Monat einteilen usw. nicht mehr gewohnt.<br />
Nach ihrem Ausstieg sind sie nun damit konfrontiert, mit dem Existenzminimum<br />
des Sozialhilfesatzes auszukommen und es sinnvoll einzuteilen.<br />
Abschließend kommt noch als spezieller Aspekt hinzu, daß einige Frauen<br />
erhebliche Probleme mit Alkohol haben. Die Ursachen liegen zum Teil im Getränkezwang<br />
der Puffs, aber auch im Verhalten mancher Frauen, sich mit Alkohol<br />
oder anderen Drogen zu beFäuben, um ihre Ar<strong>bei</strong>t besser ertragen zu können.<br />
Viele Frauen haben durch die Ausübung ihres Berufes schwere<br />
Gesundheitsschäden.<br />
Hier zeigen Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen wie ständige Verfügbarkeit und<br />
Ar<strong>bei</strong>tsorte wie der Straßenstrich, der leichte Berufskleidung <strong>bei</strong> jedem Klima<br />
erfordert, ihre Folgen. Hier macht sich aber auch bemerkbar, daß der Ausschluß<br />
von Prostituierten aus der Sozialversicherung die Frauen aus finanziellen<br />
Gründen zwingt, gesundheitliche Schäden solange zu ignorieren, wie das<br />
möglich ist.<br />
Vor dem Hintergrund dieser Probleme ist es nicht überraschend, daß sich<br />
ein Teil der Frauen zur Rückkehr in das Milieu entschließt. Sie pendeln da<strong>bei</strong><br />
nicht selten zwischen dem Ein- und Ausstieg, denn sie halten <strong>bei</strong> jedem Wieclereinstieg<br />
die Mißhandlungen weniger lange aus.<br />
Von den Frauen, die den Ausstieg schaffen, gelingt es ganz wenigen, eine<br />
Berufsausbildung anzufangen, und allenfalls in so unsicheren Berufen wie z.B.<br />
Friseuse. Ihnen fällt es häufig schwer, die Ausbildung durchz uhalten.<br />
Der Mehrheit bleibt aufgrund der schlechten Ausbildungssituation nur die<br />
Alternative, von der Sozialhilfe zu leben oder sich mit wechselnden, meist<br />
schlechten Jobs zu begnügen. Für die Frauen, die noch Schulden aus der Prostitution<br />
abzutragen haben, verringern sich die Chancen, einen Ar<strong>bei</strong>tsplatz zu<br />
bekommen, weiter, denn drohende Lohnpfändungen motivieren keinen Ar<strong>bei</strong>tgeber<br />
zur Einstellung. Hier gilt es, im Vorfeld Verhandlungen mit den Gläubigern<br />
aufzunehmen, um sie von Lohnpfändungen abzuhalten. Gleichzeitig müssen niedrige<br />
Ratenzahlungen ausgehandelt werden, denn die Frauen verlieren die Lust,<br />
an einem Ar<strong>bei</strong>tsplatz festzuhalten, wenn das Einkommen nach Abzug der Raten<br />
die Höhe der Sozialhilfe nicht überschreitet.
- 223 -<br />
Die Frauen befinden sich so in einem Teufelskreis, den zu durchbrechen<br />
nur wenige schaffen.
- 224 -<br />
Helga Bilitewski<br />
Regina Döll<br />
(Hydra - Treffpunkt und Beratung für Prostituierte, Berlin)<br />
PROSTITUIER TE ORGANISIEREN SICH<br />
Prostitution wird häufig und nicht ganz zu Unrecht als das älteste Gewerbe<br />
der Welt bezeichnet. "Wenn wie <strong>bei</strong>m Adel oder <strong>bei</strong>m Wein das Alter den Wert<br />
einer Institution bestimmt, so kann die Prostitution jedenfalls stolz darauf sein,<br />
eine ältere Institution als die Ehe zu sein" (Bornemann 1984, S. 1134). Tatsächlich<br />
geIten jedoch für die Prostitution wesentlich andere, vornehmlich moralische<br />
Maßstäbe. Von daher ist auch der soziale Status von Prostitutierten in<br />
verschiedenen gesellschaftlichen Epochen recht unterschiedlich.<br />
"Einen Status, der vorher wie nachher nicht mehr erreicht wurde,<br />
besaßen die griechischen Hetären. Sie waren die einzigen Frauen in<br />
di eser frauenfeindlichen Gesellschaftsform, die sich Bildung aneignen<br />
und am kulturellen Leben teilhaben durften. Alle anderen Kulturen<br />
haben dann versucht, Prostitution bzw. Prostituierte zu neutralisieren,<br />
zu diskriminieren oder 'auszumerzen'" (Rückert 1985, S. 39).<br />
Von besonderer Bedeutung für die Reglementierung der Prostitution war<br />
die Verbreitung der Syphilis seit dem Ende des 15. Jahrhunderts.<br />
1. Der Widerstand gegen die Diskriminierung hat Tradition<br />
Der Widerstand gegen die Diskriminierung von Prostituierten da uert nunmehr<br />
schon über hundert Jahre. 1875 wurde in Großbritannien von bürgerlichen Frauen<br />
die "Internationale Abolitionistische Föderation" gegründet. Die Abolitionistinnen<br />
bekämpften die Reglementierung der Prostitution und die Kasernierung<br />
der Betroffenen in Bordellen. Ihre Argumente lauteten:<br />
"Zwangskasernierung, Zwangsuntersuchung und Strafandrohung stempeln<br />
einen Teil des weiblichen Geschlechts von Staats wegen zur Ware und<br />
si nd ein Eingriff in die Menschenrechte der Frau, da sie den Grundsatz<br />
von der Gleichheit vor dem Gesetz verletzen. Durch die Reglementierung<br />
wird nur die beteiligte Frau betroffen, und somit bildet<br />
si e die Basis der doppelten Moral" (Janssen-J urreit 1986, S. 16).<br />
Der<br />
erste deutsche Zweigverein der Internationalen Abolitionistischen<br />
Föderation wurde 1898 in Hamburg gegründet, und schon bald zählte Prostitu-
- 225 -<br />
tion zu den zentralen Themen der Frauenbewegung und trug wesentlich zu deren<br />
Radikalisierung <strong>bei</strong>. In den folgenden Jahren änderte sich jedoch die Haltung<br />
der Abolitionistinnen und nahm zunehmend konservative Züge an. Zwar<br />
konnten noch in einigen Punkten Verbesserungen erreicht werden, an eine<br />
gr undlegende Anderung der Situation war jedoch nicht mehr zu denken. Dies<br />
zeigte sich besonders deutlich <strong>bei</strong> Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als die<br />
Reglementierung der Prostitution erneut drastisch verschärft wurde.<br />
Auch während der Weimarer Republik blieb Prostitution ein heftig umstrittenes<br />
Thema - selbst innerhalb der Frauenbewegung. So ist es nicht verwunderlich,<br />
daß das im Oktober 1927 in Kraft getretene neue Gesetz zur Bekämpfung<br />
von Geschlechtskrankheiten lediglich einen Kompromiß darstellte.<br />
War Prostitution vorher grundsätzlich verboten und nur <strong>bei</strong> Einhaltung bestimmter<br />
polizeilicher Auflagen geduldet, so entfiel nun diese Regelung, und an<br />
deren Stelle trat die sanitäre Fürsorge des Gesundheitsamtes für die Prostituierten.<br />
Die Lage der Prostituierten änderte sich daaurch nicht grundlegend, denn<br />
auch das neue Gesetz ließ Zwangsmaßnahmen zu. Problematisch war der Umstand,<br />
daß das Gesetz keinerlei Durchführungsbestimmungen enthielt, die Ausführung<br />
somit den einzelnen Kommunen überlassen blieb. Zeichnete sich Berlin<br />
durch eine liberale Handhabung aus, so führten die meisten Kommunen die früheren<br />
Bestimmungen unter der Hand wieder ein. Diese Praxis kennzeichnet bis<br />
heute die Situation.<br />
Dem Sexualstrafrecht liegen Moralvorstellungen zugrunde, die die Naziherrschaft<br />
überlebt und weiterhin Gültigkeit behalten haben. Einen großen<br />
Raum nimmt hier<strong>bei</strong> die Prostitution ein, und die Fortdauer der Jahrhunderte<br />
alten Diskriminierung findet hier ihre Grundlage.<br />
Die Abschaffung bzw. Anderung dieser Gesetze ist daher eines der vorrangigen<br />
Ziele der Prostituiertenbewegung.<br />
In den 60er und 70er Jahren traten Prostituierte erstmals selbst für ihre<br />
Rechte ein, eine dauerhafte Organisatin entstand jedoch nicht. Dies änderte<br />
sich erst, als 1979 in Berlin Frauen aus der Frauenbewegung die Prostituierten<br />
unterstützten, sich zu organisieren und gegen ihre Diskriminierung zu kämpfen<br />
und so eine notwendige Zusammenar<strong>bei</strong>t von Frauenbewegung und Prostituierten<br />
dokumentierten.
--<br />
- 226 -<br />
"Die Masse Gesellschaft zu verändern, hieße z.Z. noch, gegen Windmühlen<br />
zu kämpfen. Der Frau aber, die der Prostitution nachgeht,<br />
den Rücken zu stärken, ihr entweder das Leben mit der Prostitution<br />
zu erleichtern, mit ihr alle Rechte zu erkämpfen, die erkämpfenswert<br />
sind, und ihr die Möglichkeit zu geben, sich ihre Situation bewußter<br />
werden zu lassen, und - sollte sie sel bst das Bedürfnis haben,<br />
aus dieser Sit uation auszubrechen, die Prostitution aufzugeben - ihr<br />
mit allen Mitteln und Möglichkeiten zu helfen, eine neue Lebensperspektive<br />
zu finden, ist eine sehr wichtige Aufgabe" (Simon 1984-, S.<br />
8).<br />
Aus diesen Uberlegungen entstand im Sommer 1980 "Hydra" als erstes<br />
autonomes Prostituiertenprojekt in Deutschland.<br />
2. Prostitution ist Ar<strong>bei</strong>t<br />
In ihrem Kampf um bessere und geschützte Ar<strong>bei</strong>tsplätze, die Anerkennung ihrer<br />
Tätigkeit als Dienstleistung und den Abbau gesellschaftlicher und rechtlicher<br />
Diskriminierung sind Prostituierte auf die Frauenbewegung angewiesen. Diese<br />
spaltet sich jedoch an der Frage, ob sie Prostituierte unterstützen kann oder<br />
will. Im Mittelpunkt der Diskussion steht hier<strong>bei</strong> nicht die Prostituierte, um<br />
deren Recht es ja schließlich geht, sondern die Prostitution an sich. Wenn Prostituierte<br />
angesprochen werden, dann nicht als Frauen, sondern als Verkörperung<br />
ihres Berufs, der patriarchalischen Institution Prostitution. Wie vordergründig<br />
Argumente dieser Art sind, zeigt sich, wenn wir an Stelle des Berufs<br />
Prostituierte den Beruf Hausfrau (Ehefrau, Mutter) setzen.<br />
"Die Argumentation, die Frauenbewegung könne Prostituierte in ihrem<br />
Kampf um Emanzipation nicht unterstützen, da Prostituierte durch<br />
ih re Tätigkeit der Frauenbewegung in den Rücken fielen, ist für uns<br />
ni cht haltbar. Prostitution beruht auf fundamentalen Grundlagen unserer<br />
Gesellschaftsordnung und kann aus dieser nicht entfernt werden,<br />
solange keine grundlegende Anderung stattgefunden hat. Prostitution<br />
ist nicht eine Krankheit innerhalb der Gesellschaft, sondern<br />
das Symptom einer kranken Gesellschaft" (H ydra Nachtexpress<br />
1986/87, S. 6).<br />
"Innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung erfüllt Prostitution<br />
eine strukturbedingte Funktion. Die Ausübung einer solchermaßen<br />
notwendigen Tätigkeit wird gemeinhin als Ar<strong>bei</strong>t bezeichnet. In diesem<br />
Sinne ist also Prostitution eine Ar<strong>bei</strong>t wie jede andere auch.<br />
Prostitution ist keine Ar<strong>bei</strong>t wie jede andere auch, insofern die sie<br />
Ausübenden starken physischen (besonders gesundheitlichen) und extremen<br />
psychischen Belastungen ausgesetzt sind. Letztere sind jedoch<br />
nicht nur auf den beruflichen Bereich beschränkt, sondern er-
- 227 -<br />
strecken sich auf grund der gesellschaftlichen Achtung auch auf das<br />
gesamte Privatleben der Prostituierten. Der Schutz der Prostituierten<br />
vor Dis kriminierung ist daher unerläßlich" (Hydra Nachtexpress<br />
1986/87, S. 6).<br />
Prostitution ist eine Ar<strong>bei</strong>t; sie wird von Frauen -ausgeübt, die diese Tätigkeit<br />
einer anderen vorziehen, aber auch von Frauen, für die Prostitution<br />
lediglich eine, oft die einzige Alternative zur Erwerbslosigkeit ist. Ein wichtiges<br />
Moment ist, daß Prostitution jeder Frau offensteht, da sie hierfür keine<br />
Ausbildung benötigt. Als wesentlicher Nachteil erweist sich jedoch die fehlende<br />
soziale Absicherung. Besonders Frauen, die längere Zeit der Prostitution nachgegangen<br />
sind, schaffen es kaum, einen anderen Beruf zu ergreifen, da ihnen<br />
aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit jede Befähigung zu einem "anständigen"<br />
Beruf abgesprochen wird. Für die Prostituierte ergeben sich somit nur die Möglichkeiten,<br />
während der Prostitution eine berufliche Aus- oder Weiterbildung zu<br />
absolvieren oder durch die Prostitution eine finanzielle Existenzgrundlage zu<br />
erwerben, die die Zukunft sichert. Beide Möglichkeiten lassen sich jedoch -<br />
insbesondere angesichts der besonderen physischen Belastungen dieses Berufs -<br />
nur in seltenen Fällen realisieren.<br />
Prostitution ist in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin -<br />
ausgenommen für Ausländerinnen - nicht verboten. Dennoch werden Prostituierte<br />
auf vielfältige Weise rechtlich und gesellschaftlich diskriminiert. Die gesellschaftliche<br />
Diskriminierung empfinden viele Prostituierte als besonders schwerwiegend,<br />
da sie sich stark auf das Privatleben auswirkt. Die meisten Prostituierten<br />
führen daher gezwungenermaßen ein Doppelleben, indem sie ihre Tätigkeit<br />
verheimlichen, um sich und ihre Familie zu schützen.<br />
Ein wesentlicher Beitrag zum Abbau der gesellschaftlichen Diskriminierung<br />
wäre die Aufhebung der rechtlichen Diskriminierung, wo<strong>bei</strong> hier nur die<br />
wichtigsten Punkte angeführt werden sollen.<br />
Prostitution gilt nach unserer Rechtsprechung als sittenwidrig. Die Prostituierte<br />
hat daher keinen rechtlichen Anspruch auf ein Entgelt für ihre Leistung.<br />
Mit der gleichen Begründung wird Prostitution nicht als Gewerbe anerkannt,<br />
wodurch sich für die Prostituierte erhebliche steuer- und versicherungsrechtliche<br />
Nachteile ergeben.<br />
Die Ausübung der Prostitution kann durch verschiedene Gesetze beschränkt<br />
oder gänzlich verboten werden. Die Bestimmungen dienen angeblich dem Schutz<br />
der Jugend und des öffentlichen Anstandes, dürften diesen Zweck aber wohl
- 228 -<br />
kaum jemals erfüllt haben. Sie bewirken jedoch die Konzentration der Prostitution<br />
auf relativ kleine Gebiete und fördern die Ausbeutung der Prostituierten<br />
du rch Bar- und Bordellbesitzer sowie Zuhälter. Sie dienen somit auch keineswegs<br />
der Bekämpfung der sogenannten Begleitkriminalität, sondern sind vielmehr<br />
eine ihrer Ursachen.<br />
Wesentliches Mittel zur Reglementierung der Prostitution ist nach wie<br />
vor das bereits erwähnte Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,<br />
das die Verpflichtung zu regelmäßigen Gesundheitskontrollen der Prostituierten<br />
enthält. Die Handhabung dieses Gesetzes dient auch heute noch der Repression<br />
gegen Prostituierte, womit die eingangs genannten Argumente der<br />
Abolitionistinnen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Da dieses Gesetz<br />
di e Verantwortung einseitig den Prostituierten zuschiebt, fördert es zugleich<br />
das in gesundheitlicher Hinsicht verantwortungslose Verhalten von Freiern.<br />
Gerade im Hinblick auf die zunehmende Ausbreitung von Aids entsteht hierdurch<br />
eine besondere Gefährdung der Prostituierten.<br />
Zur rechtlichen und sozialen Absicherung der Prostituierten sowie zum<br />
Abbau der allgemeinen gesellschaftlichen Diskriminierung fordern die Prostituiertenprojekte<br />
daher:<br />
1. Aufhebung jeglicher Registrierung, Reglementierung und Kontrolle von Prosti<br />
tuierten.<br />
2. Anerkennung der Prostitution als Dienstleistung mit allen daraus resultierenden<br />
Rechten.<br />
3. Staatliche Förderungsmaßnahmen für Frauen, die aus der Prostitution aussteigen<br />
wol len.<br />
3. Nationale und internationale Aktivitäten<br />
Um diese Forderungen zu verwirklichen und eine gesellschaftliche Veränderung<br />
zu erreichen, ist jedoch eine Solidarisierung der Betroffenen wesentliche Voraussetzung.<br />
Hier<strong>bei</strong> hat sich die Ar<strong>bei</strong>t von "Hydra" bisher als erfolgreich erwiesen.<br />
Unserem Beispiel folgend, gründeten sich weitere Prostituiertenprojekte<br />
wie z.B. "Huren wehren sich gemeinsam (H WG)" in Frankfurt und "Rotstift" in<br />
Stuttgart. Außerdem gibt es in mehreren Städten Bestrebungen zur Gründung<br />
weiterer Selbsthilfegruppen.
- 229 -<br />
1985 fand in Berlin der 1. Nationale Prostituiertenkongreß der deutschen<br />
Geschichte statt, an dem Prostituierte aus sieben Bundesländern teilnahmen<br />
und gemeinsam einen 22 Punkte umfassenden Forderungskatalog erstellten. Zur<br />
Intensivierung und Koordination der Ar<strong>bei</strong>t folgten 1986 zwei weitere nationale<br />
Kongresse in Stuttgart und Frankfurt.<br />
Auch in anderen Ländern hatten sich, zum Teil bereits in den 70er Jahren,<br />
zahlreiche Prostituiertenorganisationen gebildet, und so war es nur eine<br />
Frage der Zeit, bis sich 1985 auf dem 1. Internationalen Hurenkongreß in Amsterdam<br />
Prostituierte aus aller Welt trafen, das Internationale Komitee für die<br />
Rechte der Prostituierten (ICPR =: International Committee for Prostitutes'<br />
Rights) gründeten und die Welt-Charta fü die Rechte der Prostituierten verabschiedeten.<br />
Die nationalen und internationalen Aktivitäten machten auch andere Bevö<br />
lkerungsgruppen und politische Organisationen auf die Problematik von Prostituierten<br />
aufmerksam. So konnte die 2. Internationale Prostituiertenkonferenz<br />
mit Unterstützung des Grün-Alternativen Europäischen Bündnisses (GRAEL) im<br />
Regenbogen vom 1.-3. Oktober 1986 in den Gebäuden des Europäischen Parlaments<br />
in Brüssel stattfinden. Dieser Kongreß fand weltweite Aufmerksamkeit.<br />
Die Berichterstattung der Presse war größtenteils sachlich, informativ, und allein<br />
dies stellt schon einen Erfolg dar. Dieser Kongreß in Brüssel' war für die<br />
Prostituierten in aller Welt ein großer Schritt, um mit ihren Problemen und<br />
Forderungen ernstgenommen zu werden.<br />
Die mittlerweise 7jährige Ar<strong>bei</strong>t von "Hydra" und die anderer Projekte<br />
hat inzwischen immerhin dazu geführt, daß Stel lungnahmen der Prostituierterigruppen<br />
zumindest angehört werden, wie z.B. <strong>bei</strong> der Ausar<strong>bei</strong>tung des Anti<br />
Dis kriminierungs-Gesetzes (ADG) der Grünen. Doch ebenso wie in der Frauenbewegung<br />
und aus fast gleichlautenden Gründen sind auch <strong>bei</strong> den Grünen die<br />
Meinungen gespalten, ob die Forderungen der Prostituierten unterstützt werden<br />
sollen oder nicht. Entgegen dem ursprünglichen Entwurf des ADG, den Ergebnissen<br />
der Anhörung in Bonn im April 1986 und dem Beschluß des Kongresses<br />
vom 28./29. Juni 1986 in Frankfurt wurde der Bereich Prostitution inzwischen<br />
aus dem ADG herausgenommen, da das Thema Prostitution innerhalb der Fraktion<br />
der Grünen noch immer nicht genügend ausdiskutiert sei. Für 1987 ist ein<br />
neuer, umfassenderer Gesetzentwurf vorgesehen.
- 230 -<br />
Wir kämpfen weiterhin darum, daß unsere berechtigten Forderungen anerkannt<br />
werden und Prostituierte <strong>bei</strong> der Ausübung ihrer Tätigkeit und in ihrem<br />
Privatleben dieselben Rechte erhalten wie andere Menschen auch. Auf uns allein<br />
gestellt, ist es kaum möglich, dies zu erreichen. Eine unserer vordringlichsten<br />
Aufgaben muß es daher sein, ständig und auf allen Ebenen Uberzeugungsar<strong>bei</strong>t<br />
zu leisten und die Öffentlichkeit auf unsere Probleme aufmerksam zu<br />
machen. Inzwischen können wir stolz vermerken, daß wir immer häufiger Einladungen<br />
zu öffentlichen Versammlungen erhalten, um unsere Sichtweise zu verschiedenen<br />
Problemen darzustellen. Wir denken, daß wir auch ein Recht darauf<br />
haben, gefragt und gehört zu werden, denn wer könnte die Interessen von Prosti<br />
tuierten besser vertreten als die Prostituierten sei bst.<br />
LITERATUR<br />
Bornemann, Ernest: Lexikon der Liebe, Materialien zur Sex ual wissenschaft.<br />
Wien 1984<br />
Hydra Nachtexpress: Heilige und Hure. Winter 1986/87<br />
Janssen-J urreit, Marielouise (Hrsg.): Frauen und Sexualmoral. Frankfurt 1986<br />
Rückert, Gabi: Aufhebung der Diskriminierung von Prostitution und Kampf gegen<br />
Zuhälterei. In: Grünes Info NR W (1985) 7-8<br />
Simon, Heide: Zur besonderen Problematik von Prostituierten. Beitrag zur Ar<strong>bei</strong>tstagung<br />
"Reintegration von Frauen, die der Prostitution nachgehen",<br />
zi tiert nach Hydra Nachtexpress: Das Prostituierten-Projekt Hydra, Frühjahr<br />
1984
- 231 -<br />
VI.<br />
MEDIEN UND WISSENSCHAFT<br />
Zur Einführung:<br />
Ingeborg Stahr<br />
FREI ZU SEIN BEDARF ES WENIG •••<br />
UBER DIE FREIBERUFLICHE TATIGKEIT VON FRAUEN<br />
IN MEDIEN UND WISSENSCHAFT<br />
Die Beschäftigungsbereiche Medien und Wissenschaft wie auch die Erwachsenenbildung<br />
gelten als privilegiert. Mitar<strong>bei</strong>ter und Mitar<strong>bei</strong>terinnen in diesem<br />
Bereichen haben normalerweise ein relativ hohes Qualifikationsniveau und genießen<br />
ein entsprechendes gesellschaftliches Ansehen. Allen drei Beschäftigungsbereichen<br />
ist allerdings gemeinsam, daß die überwiegende Zahl der dort<br />
Tätigen in ungeschützten Ar<strong>bei</strong>tverhältnissen stehen. Das drückt sich aus in<br />
Zeitverträgen, relativ kurz befristeten Teilzeitar<strong>bei</strong>tsverhältnissen, Werkverträgen<br />
und Beschäftigung im Status sogenannter freier Mitar<strong>bei</strong>ter und Mitar<strong>bei</strong>terinnen.<br />
Die folgenden Beiträge von Elke Baur, Paula Schütze und Romy Wehrda<br />
sowie Luise Pusch behandeln insbesondere die Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>terin.<br />
Dies ist eine Form der Beschäftigung, wie sie im Medien- und Erwachsenenbildungsbereich<br />
bereits Tradition hat, in der Wissenschaft aber erst mit dem<br />
Einstellungsstop und den massiven Personalstrukturveränderungen im Hochschul-
- 232 -<br />
bereich in den letzten Jahren zu einem Problem geworden ist. Obwohl die Einrichtungen<br />
der Erwachsenenbildung ohne ihre freiberuflich tätigen Kursleiter/innen<br />
und Dozenten/innen nicht existieren könnten, gibt es nur wenige Untersuchungen<br />
zur Situation dieser Beschäftigtengruppe (Dieckmann u.a. 1981;<br />
Beinke, Arabin, Faulstich 1981; Stahr 1981; Dieckmann/Stahr 1982; Scherer<br />
1987); differenzierte Analysen fehlen völlig. Damit bleibt <strong>bei</strong>spielsweise ungeklärt,<br />
ob sich die Zahl der weiblichen Kursleiter in den letzten Jahren überproportional<br />
erhöht hat, oder ob hier eher ein Verdrängungswettbewerb stattfindet,<br />
der den Frauen auch noch diese kleinen Enklaven ungesicherter Erwerbsarbe<br />
it streitig macht.<br />
Ansä tze zur Strukturerfassung stoßen rasch an Grenzen: Nicht nur die<br />
Weiterbildungseinrichtungen gewähren ungern Einblick in ihre Dozenten/innen<br />
Karteien, sondern dagegen stehen auch die Art der Beschäftigungsverhältnisse,<br />
die Kurzfristigkeit, Fluktuation und der Status als Selbständige/r, der die arbe<br />
its- und sozialversicherungsrechtliche Absicherung <strong>bei</strong> den Dozenten/innen<br />
be läßt. Auch über die Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen im Medienbereich<br />
ist wenig bekannt, obwohl Ende der 70er , Anfang der 80er Jahre - besonders<br />
von Elke Baur - der Versuch unternommen wurde, die Situation der Frauen im<br />
Rundfunk und in der privaten Film- und Fernsehproduktion genauer zu erfassen<br />
(K lartext 1978; Baur 1978 und 1980).<br />
1. Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen in den Medien<br />
Die meisten freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen im Medienbereich, Funk und Film ar<strong>bei</strong>ten<br />
als Cutterin, Bildmischerin oder Tontechnikerin, typische Frauenberufe im Produ<br />
ktionsbereich. Im darstellenden Bereich sind sie als Ansagerin, Sprecherin,<br />
Moderatorin und Schauspielerin tätig, im redaktionellen Bereich als Redaktionsassistentin,<br />
Rechercheuse, Autorin, Journalistin oder Filmemacherin.<br />
Welche Bedingungen speziell Frauen als freie Journalistinnen <strong>bei</strong>m Rundfunk<br />
vorfinden, damit befassen sich die Beiträge von Elke Baur sowie Paula<br />
Schütze und Romy Wehrda. Unterschiedlich ist da<strong>bei</strong> die Perspektive, aus der<br />
die Autorinnen die Situation bel euchten. Elke Baur, selbst Redakteurin und<br />
Produzentin in einer eigenen Filmgesellschaft, beschreibt die Situation der<br />
freien Mitar<strong>bei</strong>terin im Rundfunk vor dem Hintergrund ihrer früheren Erfahrungen<br />
als Freie und Festangestellte im Rundfunk. Der Beitrag von Paula Schütze
- 233 -<br />
und Rom y Wehrda ist eindeutig aus der Sicht der Betroffenen geschrieben. Beide<br />
sind freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen <strong>bei</strong>m Hörfunk, und es spricht für sich, daß sie es<br />
vo rziehen, unter Pseudonymen zu schreiben. Deutlich wird, welcher subjektive<br />
Verdrängungsprozeß auf psychischer und materieller Wahrnehmungsebene täglich<br />
vollzogen wird, wenn die Autorinnen berichten, welche Schwierigkeiten sie<br />
<strong>bei</strong> der Erstellung des Beitrags hatten: "Erstmals waren wir gezwungen, uns<br />
wi rklich mit unserer eigenen Situation auseinanderzusetzen. Uns wurde pl ötzlich<br />
klar, daß das keine Beschäftigung auf Dauer sein kann und daß für Kinder<br />
da <strong>bei</strong> überhaupt kein Platz ist."<br />
Die subjektiven Bewältigungsstrategien, die einzelne in ungeschützten<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen entwickeln, haben offenbar viel mit der Einstellung zu den<br />
Ar<strong>bei</strong>tsinhalten und den Erwartungshaltungen an soziale Sicherheit im Beruf zu<br />
tun, wie Elke Baur dies beschreibt. Soziale Sicherung erscheint nicht so wichtig,<br />
wenn die berufliche Tätigkeit Resultat eines selbstgewählten Entscheidu<br />
ngsprozesses ist. Zwangsweise Selbständigkeit lähmt die Ar<strong>bei</strong>tsfähigkeit und<br />
produziert Leidensdruck, während die Wahrnehmung der beruflichen Situation<br />
als selbstgewählte, produktive, schöpferische Tätigkeit trotz sozialer Unsicherheit<br />
Befriedigung verleihen kann. Diese subjektiven Verar<strong>bei</strong>tungsformen geraten<br />
erst dann ins Schwanken, wenn über die objektiv vorhandene existentielle<br />
Gefährdung nichts mehr hinwegtäuschen kann. Wenn nur noch unter Zeitdruck<br />
und unter erheblichen Einschränkungen die Qualität der Ar<strong>bei</strong>t produziert werden<br />
kann, um ein Existenzminimum zu erwirtschaften, dann drängt sich auch<br />
die mangelnde soziale Sicherheit wieder in den Vordergrund.<br />
Im Status der freien Mitar<strong>bei</strong>terin gilt frau als Selbständige, die für ihre<br />
soziale Sicherung selbst sorgen muß. Dies gilt auch für diejenigen, die in relativ<br />
kontinuierlichen Ar<strong>bei</strong>tsbezügen zu bestimmten Rundfunkanstalten stehen.<br />
Der Beschäftigungsstatus der Freien <strong>bei</strong>nhaltet meist eine starke Abhängigkeit,<br />
so wohl in inhaltlich-gestalterischer wie zeitlicher, persönlicher, wirtschaftlicher<br />
und weisungsrechtlicher Hinsicht, der keine entsprechende soziale Sicherheit<br />
gegenübersteht. Freie Mitar<strong>bei</strong>ter/innen sind faktisch abhängig Beschäftigte<br />
auf Zeit, auch wenn sie vertragsrechtlich wie Unternehmerinnen behandelt<br />
werden, die ihre Produkte bzw. Dienstleistungen verkaufen und die Sozialleistungen<br />
sel ber tragen müssen.<br />
Diese Vertragsverhältnisse werden Männern und Frauen zwar in gleicher<br />
Weise zugemutet, unterschiedlich sind aber die Auswirkungen auf <strong>bei</strong>de Ge-
- 234 -<br />
schlechter. Für Frauen ergeben sich zusätzliche Probleme, die Auswirkungen<br />
auf ihre Ar<strong>bei</strong>tsmöglichkeiten haben:<br />
- Das ständige Bem ühen um Aufträge, schwankende Einkommensverhältnisse,<br />
starker Termindruck und phasenweise starke Ar<strong>bei</strong>tsbelastung sowie die Notwendigkeit<br />
regionaler Mobilität machen die Tätigkeit als freie Mitar<strong>bei</strong>terin<br />
im Medienbereich kaum mit dem weiblichen Lebenszusammenhang von Familie<br />
und Kindern vereinbar.<br />
- Freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen haben weder Anspruch auf die Lohnabhängigen während<br />
der Mutterschutzfristen gesetzlich zustehenden Leistungen (z.B. Kündigungsschutz)<br />
noch Anspruch auf Beurlaubung zur Kindererziehung.<br />
- Wer aus dem Beruf auch nur zeitweise aussteigt, kommt kaum wieder hinein<br />
- und 40-50% der Frauen geben ihre Tätigkeit der Kinder wegen auf. Es<br />
überrascht daher nicht, daß Frauen mit Familie und Kindern in diesem Beru<br />
fsbereich stark unterrepräsentiert sind.<br />
- Die Beschränkung der Frauen auf wenige Programm- und Themenbereiche<br />
verschärft die Konkurrenz unter ihnen erheblich.<br />
- Der wachsende Konkurrenzdruck unter · den Freien erhöht das Risiko außerprofessioneller<br />
Auswahlkriterien; Attraktivität und sexuelle Ansprechbarkeit<br />
von Frauen können für die Auftragsvergabe entscheidend werden.<br />
- Obwohl immer mehr Frauen in journalistische Ausbildungsgänge drängen, sind<br />
si e weiterhin in leitenden Positionen unterrepräsentiert.<br />
- Frauen werden oft auf "kleine Sachen", z.B. kleine Spielfilme und Hörfunk<strong>bei</strong>träge,<br />
festgelegt.<br />
- Die Tendenz, daß viele kleine Beiträge in immer kürzerer Zeit erbracht werden<br />
müssen, führt zu einer erheblichen Intensivierung der Ar<strong>bei</strong>t; dennoch<br />
is t dadurch oftmals nicht einmal ein Mindesteinkommen zu erzielen.<br />
- Die Regionalisierung des Rundfunks führt u.a. dazu, daß Freie mehr "soziale<br />
Ar<strong>bei</strong>t" mit Bezug auf die lokalen Bedingungen leisten müssen; Frauen werden<br />
für solche Tätigkeiten bevorzugt eingesetzt. Nachteilig daran ist, daß<br />
diese Themenbereiche oft ein "Abstellgleis" ohne Aufstiegs-<br />
Zugangsmöglichkeiten in andere Programmbereiche darstellen.<br />
und breitere<br />
Frauen erreichen im Medienbereich aus all diesen Gründen ein erheblich<br />
geringeres Durchschnittseinkommen als ihre männlichen Kollegen.<br />
Die Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>terin ist geprägt von der Notwendigkeit<br />
zum Ausbalancieren des Bedürfnisses nach journalistischer Gestaltungsfreiheit<br />
einerseits und nach sozialer Sicherheit andererseits. Dieses individuelle Austa-
- 235 -<br />
rieren verschleiert die gesellschaftliche Realität einer Tätigkeit als freie Mitar<strong>bei</strong>terin,<br />
in der diese <strong>bei</strong>den Bedürfnise offenbar nicht miteinander vereinbar<br />
sind. Die Kompensation dieses Widerspruchs wird deutlich, wenn Elke Baur in<br />
ihrem Artikel einen Perspektivenwechsel vornimmt: drängt sich zunächst der<br />
Eindruck auf, daß hier eine Frau spricht, "die es geschafft hat", die ein reines<br />
"Kreativbeamtenturn" für unvorstellbar hält und die freie journalistische Tätigkeit<br />
für das zentrale Antriebsmoment innovativ-kreativer Medienar<strong>bei</strong>t hält, so<br />
kommen im zweiten Teil ih res Beitrags eher ihre leidvollen Erfahrungen als<br />
freie Mitar<strong>bei</strong>terin zur Sprache.<br />
Auch Paula Schütze und Romy Wehrda beschränken ihren Bericht nicht<br />
nur auf die negativen Seiten ihrer Beschäftigungssituation, obwohl ihre konkrete<br />
Lage sie häufiger vor die Frage stellt, wovon sie im nächsten Monat ihren<br />
Lebensunterhalt bestreiten sollen. In einem Akt des "Trotzdem" werden am<br />
Ende ihres Artikels die Funken der Freude und des Spaßes an der Ar<strong>bei</strong>t deutlich,<br />
die innere Befriedigung, die sich aus den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten<br />
ergibt.<br />
2. Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen in der Wissenschaft<br />
Im Wissenschaftsbereich ist die Beschäftigungsstruktur etwas anders gelagert<br />
als im Medienbereich, denn wissenschaftliche Ar<strong>bei</strong>t wurde bisher - im Gegensatz<br />
zur journalistischen - überwiegend von abhängig Beschäftigten geleistet.<br />
Eine spezifische Problematik für Wissenschaftlerinnen liegt darin, daß sie die<br />
professionellen Qualifizierungsprozesse (Promotion, Habilitation) in einer Lebensphase<br />
erbringen müssen, in die üblicherweise auch Familiengründung und<br />
Kindererziehung fallen. Hinzu kommt; daß trotz hauptberuflichem Beschäftigungsverhältnis,<br />
die Stellen zeitlich oft kurz befristet und Anschlußperspektiven<br />
fraglich sind. Frauen sind überwiegend im sogenannten Mittelbau der<br />
Hochschule (der Frauenanteil im Mittelbau beträgt 17% - MEMO H, 1984, S. 16)<br />
als Hochschulassistentinnen, Wissenschaftliche Assistentinnen und Wissenschaftliche<br />
Mitar<strong>bei</strong>terinnen beschäftigt, und zwar fast ausnahmslos auf befristeten<br />
Stellen zwischen einem Vierteljahr und fünf Jahren Dauer.<br />
Seit der Novellierung des Hochschulrahrnengesetzes 1979 haben Veränderungen<br />
in der Personalstruktur der Hochschulen zu einem erheblichen Abbau<br />
von Qualifikationsstellen zugunsten Wissenschaftlicher Mitar<strong>bei</strong>terstellen mit
- 236 -<br />
reinen Dienstleistungsfunktionen geführt. Frauen sind hiervon besonders betroffen.<br />
Ihr Anteil unter den Assistenten ist überproportional gesunken und im Bereich<br />
der Wissenschaftlichen Mitar<strong>bei</strong>terinnen gestiegen (Mittelbaustudie Essen<br />
1986, S. 15-19). Die Verschiebungs- und Dequalifizierungsprozesse innerhalb des<br />
Hochschulbereichs gehen mithin insbesondere zu Lasten der Frauen. Zudem<br />
wurde die Fors
- 237 -<br />
te zu Kollegen <strong>bei</strong> Berufungen, Hilfe <strong>bei</strong> Publikationen etc.) herausgebildet, die<br />
sich fast ausschließlich zwischen und zugunsten von Männern abspielen und als<br />
das "old-boys-network" der Hochschule bezeichnet werden kann (de Jong u.a.<br />
1981). Frauen, die sich mit ihrem eigenen Wissenschafts verständnis ausdrücklich<br />
gegen die etablierte männliche Wissenschaft wenden, sind doppelt diskriminiert.<br />
Das wird an dem Beispiel von Luise Pusch besonders deutlich, einer Frau, die<br />
aufgrund ihres Ansatzes einer feministischen Linguistik aus der "scientific community"<br />
ausgeschlossen wurde.<br />
Ohne an dieser Stelle auf weitere, oft subtile Diskriminierungen von Frauen<br />
in der Wissenschaft einzugehen (hierzu siehe u.a. Memo I und II 1980 u.<br />
1984; Bock/Braszeit/Schmerl 1983; Schlüter/Kuhn 1986), ist doch anzunehmen,<br />
daß Wissenschaftlerinnen aufgrund der genannten Entwicklungen in einem erheblich<br />
größeren Umfang als ihre männlichen Kollegen dazu gezwungen sind,<br />
freiberufliche Tätigkeiten zu übernehmen. Die Palette umfaßt Lehraufträge,<br />
Werkaufträge in Drittmittelprojekten inner- und außerhalb der Hochschule, Projektaufträge<br />
oder wissenschaftliche Ar<strong>bei</strong>ten für Verlage, Presse, Rundfunk und<br />
Fernsehen, eben dort, wo wissenschaftliches "Know-how" gefragt ist.<br />
Insofern gibt es Parallelen in der Beschäftigungssituation von Wissenschaftlerinnen<br />
und Journalistinnen, die als Freiberufliche tätig sind. Beide ar<strong>bei</strong>ten<br />
in unregelmäßig intensiven Phasen; je nach Auftragslage und Nachfrage<br />
haben sie mehr oder weniger große Entscheidungsfreiheit, Angebote anzunehmen<br />
oder abzulehnen, die Ar<strong>bei</strong>t selber inhaltlich zu gestalten. Stets aber tragen<br />
sie ein erhebliches existentielles und soziales Risiko. Unterschiedlich ist<br />
jedoch die Ausgangslage: Während die Freiberuflichen inzwischen zu einem festen<br />
Bestandteil des Medienbereichs geworden sind, was nicht ohne Folgen für<br />
die Erwartungshaltung angehender Journalistinnen bleiben kann, haben im Wissensehaftsbereich<br />
die hochqualifizierten Frauen ihre Berufslaufbahn mit anderen<br />
Erwartungen angetreten und haben nicht damit gerechnet, als "freischaffende<br />
Wissenschaftlerin ohne Berufsperspektive" tätig zu sein.<br />
Wie deprimierend die Situation für \XI issenschaftlerinnen sein kann, die<br />
nicht selten ihre wissenschaftliche Karriere mit Verzicht auf Familie und Kinder<br />
soweit vorangetrieben haben, wurde mir wieder an der ablehnenden Haltung<br />
mehrerer betroffener Frauen deutlich, die ich gebeten hatte, über ihre Situation<br />
als "freie Wissenschaftlerin" zu berichten. Sie bestätigten zwar die Notwendigkeit,<br />
die Lage der "unterprivilegierten Privilegierten" sichtbar zu machen,<br />
doch auch für diese Frauen gehörte offensichtlich die notwendige Ver-
- 238 -<br />
drängung ihrer objektiven Lage zur Bewältigungs- und Uberlebensstrategie,<br />
vielleicht in der Hoffnung, es sei nur eine Ubergangssituation.<br />
In Luise Pusch fand ich schließlich eine Wissenschaftler in, die zu den inzwischen<br />
in der Bundesrepublik renommiertesten "freischaffenden W issenschaftlerinnen"<br />
gehört. In ihren autobiographischen Darstellungen wird der Prozeß<br />
deutlich, den sie vollziehen mußte, um ihre Situation für sich konstruktiv und<br />
positiv zu wenden und damit auch zur gesellschaftlichen Anerkennung ihrer<br />
Forschungen <strong>bei</strong>zutragen. Erst als sie sich von ihrem Bem ühen um eine Professur<br />
abwandte in der Erkenntnis, daß die deutsche Männeruniversität ihr den<br />
Zugang verweigerte, entstanden in ihr Impulse eigener, neuer Schaffenskraft.<br />
Einer resignativ-depressiven Phase folgte eine Phase der Suche, des Herumreisens,<br />
der Entdeckung neuer gestalterischer Fähigkeiten, eines eigenen Sprachstils,<br />
den viele lesen und verstehen können. Sie entdeckte ihr eigenes Publikum,<br />
ihre eigenen Leser linnen. Die Ar<strong>bei</strong>t, die sie nun als Freiberufliche leistet,<br />
empfindet sie nicht mehr als fremdbestimmt, sie ist lustvoll und engagiert. Dies<br />
wiegt in ihrer Wahrnehmung das soziale Risiko auf.<br />
Welche strukturellen Konsequenzen sich aus dem zunehmenden Ver drängungsprozeß<br />
von Wissenschaftler innen in freiberufliche Beschäftigungsverhältnisse<br />
ergeben und wie sich Frauen am "offiziellen" Ar<strong>bei</strong>tsmarkt behaupten und<br />
durchsetzen werden, ist noch nicht abzusehen. Eines ist jedoch deutlich erkennbar:<br />
die freiberufliche Tätigkeit als existenzsichernde Beschäftigungsmöglichkeit<br />
ist unter den derzeitigen Bedingungen mit Familie und Kindern nicht<br />
vereinbar. Die "Freiheit", die die Bezeichnung verspricht, erfordert dauernde<br />
motivationale Selbststimulierung - und dies vor dem Hintergrund des unbefriedigten<br />
Bedürfnisses nach sozialer Sicherheit!<br />
LITERATUR<br />
Aktion Klartext (Hrsg.): Frauen und Medien. Die Lage im Rundfunk. Berichte -<br />
Kritik - Fragen - Vorschläge. Bonn 1978<br />
Ar<strong>bei</strong>tskreis Wissenschaftlerinnen in NR W (Hrsg.): Memorandum und Dokumentation<br />
zur Situation von Wissenschaftlerinnen an den Hochschulen von NW<br />
und Vorschläge zu ihrer Verbesserung. Dortmund 1980. Zitiert als MEMO I<br />
Ders. (Hrsg.): Privilegiert und doch diskriminiert. Memorandum H. Dortmund<br />
1984. Zitiert als Memo Ir<br />
Baur, Elke: Frauen als Freie in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten<br />
und der privaten Filmwirtschaft. In: Aktion Klartext (Hrsg.), a.a.O., S.<br />
78-100
- 239 -<br />
Dies.: ••• und Frauen kommen vor. Eine Untersuchung über Anzahl und Positionen<br />
der Frauen in der privaten Film- und Fernsehproduktion (Schriftenreihe<br />
der Aktion Klartext e. V. Bd. 2). Baden-Baden 1980<br />
Beinke, L./ Arabin, L./Faulstich, P. (Hrsg.): Der Weiterbildungslehrer • Weil der<br />
Stadt 1981<br />
Bock, U./Braszeit, A./Schmerl, Ch. (Hrsg.): Frauen an den Universitäten. Zur<br />
Situation von Studentinnen und Hochschullehrerinnen in der männlichen<br />
Wissenschaftshierarchie. Frankfurt/New York 1983<br />
de Jong, J./Knapp, U./Metz-GÖckel, S./Schön, B./Stahr, I.: Vom Studium der<br />
Frauen zur Wissenschaft der Frauen. in: Branahl, U. (Hrsg.): Didaktik für<br />
Hochschullehrer. Notwendigkeit, Stellenwert, Beispiele. (Reihe Blickpunkt<br />
Hochschuldidaktik Bd. 65) Hamburg 1981, S. 215-235<br />
Dieckmann, B./Fischer, G./Lange, K./Reichhelm, B./Reuß, F.-H. (Hrsg.): Nebenberufliche<br />
Kursleiter in den Volkshochschulen von Berlin (West) mit einem<br />
Tabellenanhang. (TUB-Dokumentation Weiterbildung H. 2) Berlin 1981<br />
Dieckmann, B./Stahr, I. (Hrsg.): Gewerkschaften und nebenberufliche Mitar<strong>bei</strong>ter<br />
in kulturellen Einrichtungen. (TUB-Dokumentation Weiterbildung H. 10)<br />
Berlin 1983<br />
Fischer, I./Marx, P./Rosenboom, J./Schmidt, J./Schophaus, Ch./Stahr, I. (Hrsg.):<br />
Die Situation des Mittelbaus an der UGE. Zwischenbericht des Projekts<br />
Mittelbau. Essen im Dezember 1986. Zitiert als Mittelbaustudie Essen<br />
Scherer, Alfred: Freie Mitar<strong>bei</strong>ter in der Erwachsenenbildung. Frankfurt/M.<br />
u.a. 1987<br />
Schlüter, A./Kuhn, A. (Hrsg.): Lila Schwarzbuch. Zur Diskriminierung von Frauen<br />
in der Wissenschaft. Düsseldorf 1986<br />
Stahr, Ingeborg: Nebenberufliche Lehrer und Weiterbildung. Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
in der beruflichen Weiterbildung. Weinheim 1981
- 240 -<br />
Elke Baur<br />
FREIE JOURNALISTINNEN, "STILLE RESERVEARMEE" ODER<br />
DAS "SALZ IN DER SUPPE"<br />
Im Gegensatz zu Prostituierten oder Teleheimar<strong>bei</strong>terinnen ar<strong>bei</strong>ten die "freien"<br />
Frauen im Medienbereich in gesellschaftlich relativ privilegierten Berufen,<br />
die ein bestimmtes Bildungsniveau voraussetzen, trotz des' sogenannten "freien<br />
Berufszugangs" häufig eine akademische Ausbildung. Zwar gibt es in den öffentlich-rechtlichen<br />
Rundfunkanstalten <strong>bei</strong>spielsweise im Produktions- und<br />
technisch/künstlerischen Bereich "typische" Frauenberufe, im journalistischen<br />
Bereich existiert diese Trennung nicht. Allerdings bleiben bestimmte Themenbereiche,<br />
zum Beispiel die politischen Kommentare oder die Moderation politischer<br />
Magazine u.a., nach wie vor Männern vorbehalten. Gesicherte empirische<br />
Daten über Frauen als Freie oder Festangestellte in den Medienbetrieben liegen,<br />
abgesehen von wenigen, teilweise bereits veralteten Teilstudien, nicht vor.<br />
Weder private noch öffentlich-rechtliche Medienbetriebe sind gesetzlich verpflichtet,<br />
Auskunft über Anzahl, Positionen oder Funktionen von Frauen in den<br />
Medienbetrieben zu geben. Die männerdominierten Medienbetriebe verweigern<br />
mit Hinweis auf den Datenschutz bisher größtenteils erfolgreich die Herausgabe<br />
der Grunddaten, die der Betriebsleitung natürlich bekannt sind. Paradoxerweise<br />
fordern sie von den Frauen, wenn diese ihre Gleichstell ungsrechte<br />
anmahnen, zunächst einmal den Nachweis der Ungleichstellung anhand 'gesicherter<br />
empirischer Daten. Mit Sicherheit ist das Problem der Ungleichstellung<br />
mittlerweile erkannt worden, aber für die Männer scheint es nach wie vor<br />
leichter, das Problem taktisch vor sich herzuschieben, als die eigenen Berufs-,<br />
Aufstiegs- und Karrierechancen zu schmälern. Das neue hoffnungsvolle Zauberwort<br />
heißt <strong>bei</strong> einigen Sendern "Frauenförderpläne". Das mag ja prinzipiell der<br />
richtige Weg zu sein, nur wenn ein solches Programm vorsieht, daß Frauen zunächst<br />
einmal über spezielle Schulungsprogramme für Führungspositionen qualifiziert<br />
werden müssen, dann sind doch Zweifel angebracht, ob es sich nicht<br />
er neut um eine Hinhaltetaktik handelt. Die wenigen Untersuchungen zur "Lage<br />
der Frauen in den Medienbetrieben" haben nämlich allesamt gezeigt, daß Frauen,<br />
die in gleichen Positionen wie Männer ar<strong>bei</strong>ten, in der Regel höher qualifiziert<br />
sind, sonst hätten sie ihre Positionen vermutlich nicht erreicht.
- 241 -<br />
Aber zurück zu den Freien in den Medienbetrieben. Grundsätzlich sind<br />
von der "ungeschützten" Ar<strong>bei</strong>tssituation sowohl Männer als auch Frauen betroffen.<br />
Trotz aller Rufe nach höherer sozialer Sicherheit gibt es nach wie vor<br />
Freie, die frei bleiben wollen, weil dieser Weg besser mit ihrer Lebens- und<br />
Berufsauffassung übereinstimmt als eine Festanstellung. Andererseits gibt es<br />
Freie, die die freiberufliche Tätigkeit ausschließlich als Vorstufe zu einer<br />
Festanstellung sehen, da sie ein gesichertes und geregeltes Berufsleben vorziehen.<br />
Die Vielfalt der freien journalistischen Tätigkeiten und deren Kombination<br />
schafft also viele unterschiedliche und manchmaJ auch kaum zu vergleichende<br />
Situationen. Darüber hinaus erlebt jede/r Freie die eigene Lage subjektiv anders.<br />
Je stärker die Erwartungshaltung an das Berufsleben mit dem Streben<br />
nach sozialer Sicherheit verknüpft ist, desto "ungeschützter" wird die/der Freie<br />
das eigene Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis im Vergleich zu den Festangestellten empfinden.<br />
Je weniger die Freien ihre journalistische Ar<strong>bei</strong>t auf nur eine einzige Redaktion<br />
oder auf einen bestimmten Themenschwerpunkt konzentrieren, und je mehr<br />
es ihnen gelingt, programm- und medienübergreifend zu ar<strong>bei</strong>ten - was Festangestellte<br />
nur in Sonderfällen können -, desto wen!ger tragen sie ihr "ungescbütztes"<br />
Ar<strong>bei</strong>tsverhältnis als tägliches Lebens- und Leidensproblem mit sich<br />
herum. Für die "Stars" unter den Freien, die so gefragt sind, daß sie mit<br />
Höchstgagen und Honoraren mehr verdienen als die Festangestellten, stellt sich<br />
die Frage nach "geschützten" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen überhaupt nicht. Aber das<br />
trifft nur auf wenige zu. Problematisch ist die Ar<strong>bei</strong>tssituation der Freien, die<br />
trotz Qualifikation, Leistung und Erfolg mit ihrer Ar<strong>bei</strong>t ihren Lebensunterhalt<br />
nur unzureichend sichern können. Der Wunsch nach einer gesicherten Festanstellung<br />
ist ihnen nicht zu verdenken. Und schließlich gibt es Ar<strong>bei</strong>tssituationen<br />
für Freie, <strong>bei</strong> denen überhaupt nicht mehr einzusehen ist, warum sie im Vergleich<br />
mit den Festangestellten in weniger "geschützten" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen<br />
ar<strong>bei</strong>ten. Die Ar<strong>bei</strong>t mancher Freier ist innerbetrieblich so stark eingebunden,<br />
daß sie mit der Ar<strong>bei</strong>t der Festangestellten identisch ist. Die Medienbetriebe<br />
stellen aber in einigen Fällen keine Personalmittel für eine Planstelle zur Verfügung,<br />
um diese ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlichen Freien fest einzustellen.<br />
Alles in allem erfordert die freie journalistische Tätigkeit eine hohe Berufsmobilität,<br />
fachliche Qualifikation, kreatives, analytisches und nicht zuletzt<br />
leistungsorientiertes Denken und ein gewisses Maß an Durchsetzungsvermögen.<br />
Der Konkurrenzdruck unter der "stillen Reservearmee", wie die Freien oft ge-
- 242 -<br />
nannt werden, ist groß. Theoretisch wächst die Zahl der Anwärter/innen immer<br />
um die Zahl ar<strong>bei</strong>tsloser Akademiker und Akademikerinnen, die in der freien<br />
journalistischen Tätigkeit einen Ausweg aus der Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit suchen. Nur,<br />
es ist ein Trugschluß zu glauben, daß Medienbetriebe ein Heer ar<strong>bei</strong>tsloser Intellektueller<br />
auffangen könnten. Die Auftragsvergabe richtet sich nach den<br />
Mitteln, die die Medienbetriebe aus ihrem Programmetat ausgeben können oder<br />
wo llen. Hoffnungen, die freie Erwerbstätigkeit besser in Einklang mit familiären<br />
Pflichten wie Haushalt oder Kindererziehung zu bringen, als dies <strong>bei</strong> einem<br />
abhängigen Beschäftigungsverhältnis der Fall ist, erfüllen sich in der Reali tä t<br />
wegen des hohen Konkurrenzdrucks, der geforderten beruflichen Mobilität und<br />
der Leistungsanforderung nicht.<br />
Verbessert hat sich seit 1983 die sozialerechtliche Situation der Freien.<br />
Mit der Verabschiedung des Künstlersozialgesetzes durch den Gesetzgeber sind<br />
Künstler und Publizisten in der Kranken- und Rentenversicherung pflichtversichert.<br />
Vor diesem Zeitpunkt konnten sich Freie nur frei willig versichern. Sie<br />
mußten die Beiträge selbst aufbringen, was vielen nicht möglich war und im<br />
Alter häufig zu sozialen Härtefällen führte. Seit der Pflichtversicherung müssen<br />
die Versicherten nur noch für die Hälfte der Beiträge aufkommen, die andere<br />
Hälfte zahlen anteilig der Bund und die Medienunternehmen. Freie, die<br />
jedoch nur ein Minimaleinkommen erzielen, unterliegen dieser Versicherungspflicht<br />
nicht. Es gibt keine Angaben darüber, ob von dieser Regelung mehr<br />
Frauen als Männer betroffen sind. Außerdem haben einige Medienunternehmen,<br />
allen voran die Verleger/innen, Verfassungsbeschwerde gegen diese Pflichtabgabe<br />
eingereicht. Das Urteil steht noch aus. Ein Pensionsanspruch besteht für die<br />
Freien der öffentlich-rechtlichen Anstalten nur dann, wenn sie freiwillig Beiträge<br />
in die seit 1972 bestehenden Pensionskassen einzahlen, an denen sich die<br />
Anstalten sowie anstaltseigenen Produktionsfirmen beteiligen.<br />
Je nach Vertragsgestaltung besteht für die Freien kein Kündigungsschutz<br />
und häufig auch kein Anspruch auf Ar<strong>bei</strong>tslosengeld. Die Freien sind jedoch<br />
ständig von Ar<strong>bei</strong>tslosigkeit bedroht, denn die Medienunternehmen sind nicht<br />
verpflichtet, den Lebensunterhalt der Freien durch eine ausreichende Auftragslage<br />
zu sichern. Bei den Honorarverhandlungen über ihre jeweiligen Leistungen<br />
richtet sich die Höhe der Honorare nach von Sender zu Sender verschiedenen<br />
Tarifverträgen, Dienstanweisungen und Honorarrahmenverträgen. Vergleichbare<br />
Leistungen werden <strong>bei</strong> den einzelnen Sendern also höchst unterschiedlich hono-
- 243 -<br />
riert. Die Freien sind oftmals über die Möglichkeiten, die sie <strong>bei</strong> den einzelnen<br />
Sendern aushandeln können, nicht informiert. Darüber hinaus scheinen die neuen<br />
privaten Anbieter noch willkürlicher mit den einseitig diktierbaren Leistungsvergütungen<br />
der Freien zu verfahren.<br />
Bei einigen Rundfunkanstalten erschweren die sogenannten Prognoseverfahren<br />
die Ar<strong>bei</strong>tssituation der. Freien. Sie sind die Antwort der Sender auf<br />
eine Welle von Festanstellungsklagen Mitte der 70er Jahre, mit denen sich<br />
Freie in "verkappten" Ar<strong>bei</strong>tsverhältnissen per Ar<strong>bei</strong>tsgericht und Unterstützung<br />
der Gewerkschaften in Festanstellungen hineingeklagt hatten. Die Prognoseverfahren<br />
limitieren die Ar<strong>bei</strong>tszeit und damit auch die Honorareinnahmen<br />
der Freien. Die Rundfunkanstalten sehen darin den einzigen "Schutz" vor Festanstellungsklagen.<br />
In der Realität bringen sie Nachteile für eine konstruktive<br />
und kontinuierliche Programmzusammenar<strong>bei</strong>t von Freien und Festen, da Freie<br />
immer wieder für eine bestimmte Zeit sozusagen "gesprrt" werden. Aufgrund<br />
der damaligen Festanstellungen von ca. 900 ehemaligen Freien entstanden den<br />
Sendern höhere Personalkosten, die sie in der Folgezeit teilweise <strong>bei</strong> den Programmitteln,<br />
aus denen auch die Honorare der Freien bezahlt werden, wieder<br />
einsparten. Bei den nachfolgenden Tarifverhandlungen über di e Honorare der<br />
Freien war <strong>bei</strong> den Anstalten die Bereitschaft sehr gering, einer Anhebung der<br />
Honorare, die jahrelang eingefroren waren, zuzustimmen. Last but not least<br />
si nd die Anstalten auch nicht verpflichtet, Freie an Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen<br />
zu beteiligen. Ausnahmen bestätigen nicht die Regel .<br />
Die konkrete Ar<strong>bei</strong>tssituation der Freien vollzieht sich in interpersonellen<br />
Absprachen mit Festangestellten, die für die Programmverantwortlichen Garanten<br />
sind, die inhaltliche und gestalterische Ar<strong>bei</strong>t der Freien in den Programmauftrag<br />
einzubinden. Die Verhandlungspartner für die Freien sind nach wie vor<br />
überwiegend Männer, ganz selten Frauen. Das bedeutet für die Frauen unter<br />
den Freien, ihre Ar<strong>bei</strong>t von Frau zu Mann "an den Mann" zu bringen, für ihre<br />
Kollegen jedoch nur "von Mann an den Mann" zu bringen. In den vergangenen<br />
Jahren versuchten einige Sender, ihr Image aufzubessern, indem sie frei werdende<br />
Planstellen im redaktionellen Bereich mit Frauen besetzten oder in einstigen<br />
Männerdomänen sichtbar Nachrichtensprecherinnen und Sportmoderatorinnen<br />
einsetzten. Mehr als Schönheitsreparaturen sind da<strong>bei</strong> bis jetzt noch nicht herausgekommen.<br />
In Spitzenpositionen gibt es neuerdings zwei Frauen. Bleibt abzuwarten,<br />
inwieweit ihnen nur eine "Feigenblattfunktion" zukommt. Uber Finanz-,<br />
Investitions- und Programmpolitik entscheiden also fast ausschließlich
- 244 -<br />
Männer. Für die Freien wird sich die männerdominierte Welt der Festangestellten<br />
auch nur langsam ändern, denn diese sind ar<strong>bei</strong>tsrechtlich bis zu ihrer Pensionierung<br />
geschützt. Bisher besetzt kein Sender frei werdende Stellen radikal<br />
nur mit Frauen. Auch Spitzenpositionen wie Intendanten, Programmdirektoren<br />
und teilweise Chefredakteure, die auf Zeit gewählt werden, bleiben fest in<br />
Männerhand, solange die politischen Parteien in Männern die besseren Garanten<br />
für ihre Einflußnahme sehen. Obwohl es qualifizierte Frauen gibt, schlagen<br />
Parteien in der Regel keine Frauen für diese Amter vor, oder besser gesagt,<br />
lassen sie nicht über die Gremien vorschlagen. Die Leistungen der Freien werden<br />
also auch in Zukunft mehrheitlich von Männern beurteilt werden.<br />
Die Qualität der Zusammenar<strong>bei</strong>t der Freien und der Festen hängt davon<br />
ab, ob die Festangestellten die Ar<strong>bei</strong>t der Freien für das "Salz in der Suppe"<br />
halten und die konstruktive, kreative, kontinuierliche Programmar<strong>bei</strong>t schätzen<br />
und fördern, indem sie sachliche Kriterien zugrunde legen. Problematisch gestaltet<br />
sich die Zusammenar<strong>bei</strong>t immer dann, wenn Festangestellte in den Freien<br />
lediglich nur die berühmte "stille Reservearmee" sehen, aus der sie sich<br />
unerschöpflich nach dem "hire and fire"-Prinzip bedienen können, unter dem<br />
Motto: hier die mächtigen "Kreativ beamten" und dort das "abhängige Kreativproletariat".<br />
Vor letzterem sollten die Freien allerdings geschützt werden.
- 245 -<br />
Paula Schütze / Romy Wehrda<br />
VORLAUFIGE TERRAINERKUNDUNG<br />
ZUR SITUATION DER FREIEN MITARBEITERINNEN BEIM HÖRFUNK<br />
Wir sind freie Journalistinnen und hatten uns vorgenommen, zur Situation der<br />
freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen <strong>bei</strong> Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik zu recherchieren.<br />
Unser täglich Brot ist es, Informationen zu beschaffen. Aber über die<br />
Situation dieser Mitar<strong>bei</strong>terinnen/Journalistinnen war nicht viel herauszubekommen.<br />
Von den Honorar- und Lizenzabteilungen waren keine Angaben zur Zahl<br />
der Frauen unter den freien Mitar<strong>bei</strong>tern zu erhalten: "Ja, da müßten wir ja<br />
erst ein neues Computerprogramm schreiben." Erst recht gab es keine Zahlen<br />
zum wesentlich kleineren Stamm der ständigen freien Mitar<strong>bei</strong>ter und dem Anteil<br />
der Mitar<strong>bei</strong>terinnen. Zu den geschätzten Einkommen von nichtständig und<br />
ständig beschäftigten Freien waren wir auf Literatur angewiesen, zur rechtlichen<br />
und zur tariflichen Situation und damit zu den sozialen Bedingungen des<br />
Berufs lag uns eine Diplomar<strong>bei</strong>t vor (Heidemann 1984 ). 1<br />
Wenn die Auftraggeber, die Rundfunkanstalten, nach den Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
ihrer Freien gefragt werden, herrscht Schweigen. Obwohl kein Programm<br />
ohne deren Ar<strong>bei</strong>t auskommt, ist das Thema nicht beliebt. Denn" so nötig die<br />
Freien sind, es geht auch darum, ein "Nachwachsen anstellungsverdächtiger<br />
freier Mitarbeher" zu verhindern (Heidemann 1984, S. 76). Das Stichwort heißt<br />
"Prognose". Damit ist die Beschränkung der Ar<strong>bei</strong>tszeit und -leistung der Freien<br />
seitens der Anstalten gemeint, so daß keine ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Bedingungen<br />
entstehen, die etwa auf eine Festanstellung hinauslaufen könnten.<br />
Das Aktionsfeld der freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen erstreckt sich zwischen Bedarf<br />
und Behinderung durch die Anstalten. Der Anteil der Journalistinnen unter<br />
den Freien liegt schon seit einigen Jahren <strong>bei</strong> gut einem Drittel. 2 Damit liegt<br />
er höher als die Zahl der festangestellten Redakteurinnen <strong>bei</strong> Hörfunk und<br />
Fernsehen 3 • Wieso es mehr Frauen im freien Beruf gibt als im Gefüge der<br />
Rundfunkanstalten, darauf versuchen wir eine Antwort zu geben durch unsere<br />
persönlichen Eindrücke und Beobachtungen. Daß inzwischen die Präsenz der<br />
Journalistinnen und Moderatorinnen gestiegen ist, ist im Rundfunk nicht mehr<br />
zu überhören. Aber soviel ist auch klar: die Entscheidungsstellen hinter den<br />
Kulissen sind fest in männl icher Hand.
- 246 -<br />
Und noch etwas: Wir haben uns, obwohl seit geraumer Zeit in diesem Metier<br />
tätig, erst anläßlich dieses Artikels ausführlich mit unserer eigenen Situation<br />
beschäftigt. Zu verdrängen, wie ungewiß und ungeklärt inzwischen der<br />
Status der Freien ist, gehört mit zu den Voraussetzungen, sich auf diesen Beruf<br />
überhaupt einzulassen. Nach einiger Zeit kommt man und besonders frau aber<br />
um eine Auseinandersetzung nicht mehr herum.<br />
1. Intermezzo<br />
"Ja, können Sie denn davon leben?" oder "Haben Sie etwa ein Rittergut zu<br />
Hause?", kalauernde oder besorgte Fragen nach der finanziellen Situation der<br />
freien Mitar<strong>bei</strong>ter sind an der Tagesordnung. Weniger häufig sind dagegen die<br />
Fragen, ob das Honorar für eine Sendung auch dem Rechercheaufwand entspricht.<br />
Ob ich an einer Sendung für 250 DM einen oder drei Tage ar<strong>bei</strong>te, an<br />
einem Stundenfeature drei oder sechs Wochen, das ist Sache meiner Ar<strong>bei</strong>tsökonomie<br />
und meines Budgets. Bezahlt wird nach Fertigstellung der Sendung<br />
von den Honorar- und Lizenzabteilungen, d.h. <strong>bei</strong> manchen Anstalten ist das<br />
Gel d nach zwei Wochen, <strong>bei</strong> manchen erst nach zwei Monaten da. "Ranklotzen"<br />
ist notwendig, damit der Ausstoß der Sendungen und damit der Geldfluß gesichert<br />
sind. Vier bis fünf Projekte, die gleichzeitig im Manuskript fertiggestellt,<br />
an recherchiert, angeboten oder für die Interviews geführt werden, sind keine<br />
Seltenheit. Daneben wollen die Meldungen für die Sozialversicherungen, die<br />
Steuererklärung usw. organisiert und die spärlichen sozialen Tarifleistungen der<br />
Anstalten wie z.B. das jährliche Urlaubsgeld, das alle Rundfunkanstalten inzwischen<br />
gewähren, reklamiert sein. Voraussetzung ist eine Tätigkeit von mindestens<br />
42 Ar<strong>bei</strong>tstagen in sechs Monaten <strong>bei</strong> einer Stammanstalt, und man/frau<br />
muß dort 50% des Jahreseinkommens verdient haben. Auf meinen ersten Urlaubsantrag<br />
trug ich daraufhin pflichtgemäß meinen wir klichen Ar<strong>bei</strong>tsaufwand<br />
ein. Später erfuhr ich, daß als Schlüssel pro Ar<strong>bei</strong>tstag etwa ein Verdienst von<br />
20 0 DM angesetzt wird. "Darunter lohnt es sich ja nicht." Schön wär's. Aber<br />
das, was ich an Ar<strong>bei</strong>tstagen leiste und das, was die Anstalten als Ar<strong>bei</strong>tstag<br />
an erkennen, klafft bedenklich auseinander. Und es ist ein Kunststück an Disposi<br />
tion - zumal, wenn man für mehrere Anstalten ar<strong>bei</strong>tet -, die Sendungen <strong>bei</strong><br />
der Stamman,stalt so hintereinanderzulegen, daß der Anspruch auf Urlaubsgeld<br />
nicht verloren geht.
- 247 -<br />
Freie Mitar<strong>bei</strong>ter - ein unmögl icher Berufsstand. Für die Gewerkschaftler<br />
von der DJU (Deutsche Journalisten Union) und der RFFU (Rundfunk-Fernseh<br />
Film-Union) <strong>bei</strong>spielsweise sind die Leute eigentlich ar<strong>bei</strong>tslos oder müßten fest<br />
angestellt sein. Sie tun sich schwer, z.B. Tarifbedingungen für Freie auszuhandeln<br />
bzw. die Freien überhaupt organisiert zu vertreten. Denn eine Grenze muß<br />
immer gewahrt bleiben, die zwischen Festangestellten und Freien. Alle Definitionen,<br />
die in den letzten Jahren für den Status der Freien, z.B. von Ar<strong>bei</strong>tsgerichten,<br />
vorgenommen wurden, laufen auf diese Abgrenzung hinaus. Vertragsverhältnisse<br />
wie "ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlicher Mitar<strong>bei</strong>ter" oder "auf Produktionsdauer<br />
Beschäftigte" dienen dazu, überhaupt diese Ar<strong>bei</strong>tsverhältnisse zu umschreiben.<br />
Heraus kommt ein Status von Sel bständigen, die dennoch eng mit dem Programm-<br />
und Produktionsablauf der Rundfunkanstalten verflochten sind. Bis zu<br />
240 Hauptmitwirkungsarten der Freien gibt es, von denen 80 "stark besetzt<br />
sind" (Heidemann 1984, S. 12).<br />
Seit 1976 gibt es den § 12 .a im Tarifvertragsgesetz für ar<strong>bei</strong>tnehmerähnliche<br />
Personen, die zwar als selbständig gelten, aber wirtschaftlich abhängig<br />
ar<strong>bei</strong>ten. In Einzelverträgen handelten die Rundfunkanstalten mit den Gewerkschaften,<br />
z.B. der RFFU und dem DJ V (Deutscher Journalisten-Verband) Bedingu<br />
ngen aus . Die Tarifleistungen stellen sich daher innerhalb der Bundesrepublik<br />
für die einzelnen Anstalten unterschiedlich dar. Urlaubsgeld ist inzwischen<br />
überall verbindlich, aber Schutzbestimmungen, z.B. für freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen,<br />
die schwanger werden oder die Kinder haben, sind als verbindliche Leistungen<br />
<strong>bei</strong> allen Anstalten noch in weiter Ferne. Zahlungen <strong>bei</strong> Schwangerschaft, also<br />
vor und nach der Entbindung, können <strong>bei</strong> einigen Anstalten theoretisch in Anspruch<br />
genommen werden, doch scheint es unmöglich, auch Ar<strong>bei</strong>tsaussichten<br />
nach einem Babyjahr zuzusichern.<br />
Unter den jetzigen Bedingungen ist es nahetu ausgeschlossen, diesen Beruf<br />
mit einer langfristigen Lebensplanung zu verbinden. Auch unvorhersehbare Ereignisse<br />
wie Unfälle oder Krankheiten werden finanziell zu einem Desaster,<br />
wenn nicht eine Mindestbeschäftigungszeit von 72 Ar<strong>bei</strong>tstagen pro Jahr <strong>bei</strong><br />
einer Anstalt vorliegt und damit der Anspruch auf Krankengeld besteht oder<br />
private Versicherungen abgeschlossen wurden. Die verbesserung der sozialen<br />
Bedingungen wird von den Rundfunkanstalten mit dem Hinweis auf die große<br />
Zahl der freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen abgelehnt. Auf über 100.000 wird die Zahl<br />
der Freien geschätzt. Verschwiegen wird da <strong>bei</strong>, daß die Zahl der ständigen<br />
freien Mitar<strong>bei</strong>ter, der sogenannten "festen Freien" (Kriterium wäre da<strong>bei</strong> etwa
- 248 -<br />
ein Jahreseinkommen ab 20 .000 DM und die hauptberufliche Tätigkeit}, <strong>bei</strong> allen<br />
Rundfunkanstalten wesentlich niedriger liegt. Mit rund 500 gab sie der jetzi<br />
ge WDR-Intendant Nowottny auf einer Tagung der regionalen Rundfunkstudios<br />
an. Das ist nicht viel für die größte Anstalt der Bundesrepublik 4 . Diese hauptberuflichen<br />
Freien unterliegen den gleichen sozialen und ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen<br />
Bedingungen wie der gelegentlich vortragende Professor, nebenamtlich tätige<br />
Lehrer/innen oder als "nebenberuflich" tätige Student/innen.<br />
Nach Ansicht der Anstalten ist eine große Zahl von freien Mitar<strong>bei</strong>tenden<br />
notwendig, da deren Kreativitätspotential das Niveau des Programms hebt. Als<br />
ei n "Stück Rundfunkfreiheit" bezeichnete sie daher der frühere WDR-Intendant<br />
von Seil. Sie sind tatsächlich <strong>bei</strong> der Aufgabe, ein umfassendes Meinungs- und<br />
Themenspektrum zu bieten, unentbehrlich. Inzwischen verkommen, so scheint<br />
es, ist dies "Stück Rundfunkfreiheit". Eher wird nach dem "Prinzip Durchlauferhitzer"<br />
allen möglichen Leuten ein Mikrofon in die Hand gedrückt, und die Talentierten<br />
werden sich schon irgendwie durchsetzen. Ex und hopp lautet die<br />
Devise.<br />
Die Situation der Freien war nicht immer so schlecht. Für heute frei ar<strong>bei</strong>tende<br />
Rundfunkjournalisten kaum vorstellbar war die Zeit während des Aufbaus<br />
der Rundfunkanstalten und der Programme (Heidemann 1984, S. 66-85)<br />
nach 1945. Die Zeit war günstig, kreative Mitar<strong>bei</strong>ter wurden gesucht. Sie trugen<br />
in der Hauptsache das Programm und experimentierten mit neuen Sendeund<br />
Programmformen. Für sie lohnte es sich, frei zu ar<strong>bei</strong>ten und damit auf<br />
Sozial- und Tarifleistungen zu verzichten, denn die Honorare lagen höher als<br />
die der Festangestellten.<br />
Erst in den 60er Jahren stieg der Kostenanteil des festangestellten technischen,<br />
künstlerischen und journalistischen Personals, der heute den größten Teil<br />
der Etats aus dem Rundfunkgebührenaufkommen ausmacht. Die Beschäftigungsmöglichkeiten<br />
für Freie wurden reduziert, die Verdienste sanken weit unter das<br />
Einkommen der Festangestellten. Die Reaktion auf die schlechten Bedingungen<br />
wa r die Festanstellungswelle, die di e Anstal ten von 1973 bis 1978 überrollte.<br />
An der Spitze der Entwickl ung lag der WDR mit 260 Festanstell ungsklagen und<br />
mi t 363 "freiwilligen" Ubernahmen in Fällen, in denen der Gang zum Ar<strong>bei</strong>tsgeri<br />
cht für die Mitar<strong>bei</strong>ter erfolgreich gewesen wäre. Danach reagierten die Anstalten<br />
mit weiteren Ar<strong>bei</strong>tsrestriktionen, der "Prognose", und neuen Vertragsformen.<br />
Vor allem die "Prognose" verursacht Ar<strong>bei</strong>tsbeschränkungen und finanzielle<br />
Einbußen. So wurde im WDR letztes Jahr wieder einmal die Beschränkung
- 21./.9 -<br />
auf fünf Ar<strong>bei</strong>tstage im Monat diskutiert. Damit wäre die Prognose so niedrig,<br />
daß die Voraussetzungen für die Reklamation der Tarifleistungen entfallen.<br />
Auch kommt es vor, daß die freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen nkht offiziell von neuen<br />
Einschränkungen informiert werden, sondern dies erst von den Redakteuren erfahren<br />
müssen. Meistens erfahren sie davon, wenn sie gerade ein neues Thema<br />
angeboten haben, das dann natürlich von anderen bear<strong>bei</strong>tet wird.<br />
Heute gilt die freie Mitar<strong>bei</strong>t zwangsläufig als Sprungbrett in die Festanstellung:<br />
Dies gilt für die Redaktionen aller Medien sowie Presseabteilungen<br />
öffentlicher Einrichtungen, aber auch privater Unternehmen. Die noch immer<br />
vorhandene Orientierung auf die männlichen Kollegen <strong>bei</strong> Festanstellungen begründet<br />
zum Teil den relativ hohen Anteil der Mitar<strong>bei</strong>terinnen unter den Freien<br />
. Sie sind nach unseren Beobachtungen länger als Freie tätig. Hinzu kommt,<br />
daß von den freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen angenommen wird, die flexible Ar<strong>bei</strong>tszeit<br />
mache die Vereinbarung mit anderen Verpflichtungen (Kinder, Haushalt) oder<br />
auch die Berücksichtigung außerberuflicher Bedürfnisse möglich. Auch eine<br />
andere, von uns subjektiv beobachtete Tatsache spielt eine Rolle: Männer<br />
wechseln nach einiger Zeit freier Mitar<strong>bei</strong>t ungerührt die Fronten, gehen z.B.<br />
in die Presseabteilung einer Institution, kompensieren den Verlust von Meinungs-<br />
und Themenvielfalt mit höherem Gehalt und der Entfaltung in einer neuen<br />
Hierarchie; Journalistinnen dagegen liegt mehr an der Herausforderung und<br />
der Mannigfaltigkeit ihrer Ar<strong>bei</strong>t. Sie sind weniger bereit, das Interesse an<br />
Menschen und Ereignissen aufzugeben und sich einem meinungsbestimmenden<br />
Ar<strong>bei</strong>tgeber loyal gegenüber zu verhalten. Damit bewerten wir die Klage über<br />
die angeblich mangelnde Durchsetzungsfähigkeit von Frauen in Institutionen<br />
umgekehrt.<br />
2. Intermezzo<br />
Nach einigen Jahren freier Mitar<strong>bei</strong>t und gelegentlichem Austausch mit Kolleg/innen<br />
über Themen und Sendeformen meinte ich, daß die Rundfunkanstalt<br />
auch etwas für meine Fortbildung tun sollte. Also ging ich zum/r Ausblldungsbeauftragten<br />
meiner Stammanstalt. Was es denn für Möglichkeiten und Angebote<br />
gäbe, fragte ich, und daß ich Interesse an einem Austausch zu Featureformen<br />
habe, ggf. auch zu Recherchemethoden. "Nein, nein, eine Fortbildung ist<br />
sehr teuer, und die Freien bekommen wir wahrscheinlich auch gar nicht zusam-
- 250 -<br />
men", lautete die Antwort. Und überhaupt, da gäbe es auch Schwierigkeiten mit<br />
der Prognose, wenn die Fortbildungszeit als Ar<strong>bei</strong>tstage angerechnet werden<br />
müßte. Ich verstand. Und: "Wenn Sie auch für den WDR ar<strong>bei</strong>ten, gehen Sie<br />
doch dort hin, die haben die Fortbildung für Freie vorgesehen". Inzwischen kam<br />
ich mir vor, als befände ich mich ungebührlicher weise in einem Bewerbungsgespräch.<br />
Diese Atmosphäre macht sich sofort breit, wenn Freie einmal etwas<br />
verlangen oder nr vorschlagen. Da<strong>bei</strong> ging es mir doch nur um meine Qualifikation,<br />
die auch dem Programm der Anstalt zugute käme.<br />
Der freie Journalismus gilt als Begabungsberuf, der Zugang ist offen.<br />
Wer's kann, kann's oder experimentiert, probiert, ar<strong>bei</strong>tet auf eigene (Zeit-)Kosteno<br />
Fortbildung für Freie ist noch lange keine selbstverständliche Einrichtu<br />
ng. Selbst wenn die Forderung Sinn macht, stehen seitens der Anstalten viele<br />
(ar<strong>bei</strong>tsrechtliche) Argumente dagegen. Zwar können sich Freie zu Kursen und<br />
Seminaren der Gewerkschaften melden, müssen dann aber die hohen Kosten (in<br />
der Regel 200-300 DM) selbst tragen. Und es gibt in Frankfurt die ZEP, die<br />
zentrale Fortbildung der<br />
Programmitar<strong>bei</strong>ter, eine Gemeinschaftseinrichtung<br />
vo n ARD und ZDF, zu der die Anstalten ihre Redakteure schicken und die Kosten<br />
übernehmen. Auch Freie können für die Angebote der ZEP vorgeschlagen<br />
werden. Das machen z.B. der Hessische Rundfunk und neuerdings auch verstärkt<br />
der WDR. Beim WDR gibt es schon länger eine Vereinbarung, die auch Freien<br />
di e Teilnahme an Fortbildungskursen ermöglicht. Theoretisch-praktisch sieht es<br />
so aus, daß die Freien dazu von einer Redaktion vorgeschlagen werden müssen.<br />
Oft sind die wichtigsten Kurse der ZEP schon lange ausgebucht, bis auch Freie<br />
einmal das Programm in die Hand bekommen. Seit z.B. der WDR schlechte Erfa<br />
hrungen mit der Qualität der Sendungen in den neuen Regionalprogrammen<br />
machte, andererseits aber die Konkurrenz mit den Privaten sich im Hörfunk vor<br />
al lem im lokalen Bereich abspielen wird, gibt es dort ein neues Bestreben, "von<br />
oben" Freie weiterzuqualifizieren. Seit 1986 stehen Freien drei bezahlte Weiterbildungstage<br />
im Jahr zur Verfügung, unabhängig von den sonstigen Ar<strong>bei</strong>tsbeschränkungen.<br />
Notwendig ist aber jeweils die Fürsprache einer Redaktion.<br />
Die Anstalten verhalten sich zur Qualifikation ihrer freien Mitar<strong>bei</strong>ter<br />
weiterhin zwiespältig. Zwar ist erkannt, daß die Rekrutierung von Freien vor<br />
Ort nicht auf Anhieb Professionelles zutage bringt, aber andererseits wird der<br />
Pool der Freien ständig erweitert. So schickt der WDR Fragebögen "Zur Fest-<br />
\<br />
stellung der Versicherungspflicht/-freiheit in der Sozialversicherung" an alle,<br />
die das erste Mal für die Anstalt gear<strong>bei</strong>tet haben. Darauf darf dann säuberlich
- 25 1 -<br />
angekreuzt werden, ob sie Ar<strong>bei</strong>tnehmer/in, Beamt/er/in, Schüler/in, Student/in,<br />
Hausmann oder -frau sind, Pensionär/in, Rentner/in, Ar<strong>bei</strong>tslos/e/er<br />
oder eben Freiberufler/in. Die Palette zeigt es: Reinriechen darf jede/r einmal,<br />
die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen, die Begabung wird' s<br />
schon richten, und die Fortbildung wird gespart. Eine fortlaufende Qualifizierung,<br />
die auch außerhalb der viel gerühmten und zugegeben wichtigen Praxis<br />
nötig wäre, findet in der Wirklichkeit und zugänglich für viele Freie nicht<br />
statt.<br />
3. Intermezzo<br />
Die öffentlich-rechtlichen Regionalstudios brauchen Freie, die sich vor Ort<br />
auskennen und ständig präsent sind. Ihr Kontakt mit dem Studio und den Redakteuren<br />
ist daher relativ fest, sie nehmen an den Redaktionskonferenzen teil<br />
und sind auch sonst häufig anwesend. Die "Einstellung" einer Freien erfolgt in<br />
der Regel durch den Chef, den Studioleiter oder seinen Stellvertreter. Das ist<br />
nichts Ungewöhnliches, es ergeht auch Männern so. Doch wir haben erlebt, daß<br />
sich der Studioleiter neben den üblichen Fragen nach Ausbildung, journalistischen<br />
Vorerfahrungen und Themenschwerpunkten auch lebhaft nach der privaten<br />
Situation der zukünftigen Mitar<strong>bei</strong>terinnen erkundigte. Seiner Ansicht nach,<br />
so erfuhren wir, haben Frauen kaum Chancen, sich hausintern zu etablieren. Da<br />
er<br />
aber die ortsverbundene, zuverlässige Mitar<strong>bei</strong>terin braucht, ist sein Ideal<br />
die "versorgte" Freie, z.B. eine ar<strong>bei</strong>tssuchende Journalistin, die mit einem<br />
Studienrat verheiratet ist. Das verspricht Kontinuität und wenig Konflikte, weil<br />
aufgrund der "nebenberuflichen" Beschäftigung mit Profilierung und Ar<strong>bei</strong>tsansprüchen<br />
kaum zu rechnen ist. Bändelt eine Freie dann doch mit anderen Redaktionen<br />
der Anstalt - in diesem Fall im WDR -. an, so hört sie in der täglichen<br />
Redaktionskonferenz Sätze wie "Die hat übrigens gestern einen ausgezeichneten<br />
Beitrag in der und der Sendung gehabt". Damit wird Anerkennung<br />
zwischen Neid und Verwunderung ausgedrückt, gleichzeitig aber auch eine Maßregelung<br />
für den ungebührlichen Versuch, sich überregional einen Namen zu<br />
machen.<br />
Unserer Einschätzung nach korrespondiert der Einsatz der freien Journalistinnen/<br />
Autorinnen mit den Aufgabengebieten der festangestellten Redakteurinnen.<br />
Demnach dürften sie in den Kultur- und Familienredaktionen und in den
- 252 -<br />
Regionalstudios am stärksten vertreten sein. Wenn eine Freie z.B. den Themenschwerpunkt<br />
"Sozialpolitik" hat und es tatsächlich schafft, damit im politischen<br />
Programm Fuß zu fassen, muß sie sich hüten, z.B. in den Frauenprograrnmen<br />
der Morgenschiene ebenfalls Themen anzubieten. Obwohl das inhaltlich naheliegt,<br />
wäre sie damit für die meist männlichen Redakteure in der Politik "untragbar".<br />
Die Mitar<strong>bei</strong>t in verschiedenen Redaktionen schließt sich mitunter<br />
aus.<br />
Die Tätigkeit der freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen hat auch geschlechtsspezifische<br />
Akzente, weswegen sie in manchen Bereichen wie den Regionalstudios gerne<br />
gesehen sind. Die Ar<strong>bei</strong>t vor Ort, den "kleinen Mann" (die "kleine Frau") vor<br />
dem Mikrofon zum Sprechen zu bringen, verlangt zwischenmenschliche Fähigkeiten,<br />
verlangt, auf Menschen zugehen zu können und ihnen die Angst vor dem<br />
Mikrofon zu nehmen. Der Programmauftrag der regionalen Berichterstattung,<br />
den Leuten von "nebenan" in Reportagen und in Original-Tonaufnahmen Gehör<br />
zu verschaffen, erfordert auch SozialarbeIt. Bezeichnenderweise ist es eine<br />
Ar<strong>bei</strong>t, die zeitaufwendig ist, während zielstrebige Karrieristen sich lieber auf<br />
den pointierten Kommentar und den schnell geschriebenen Bericht verlegen. So<br />
schwierig die Sozialreportage ist, so wenig Ansehen genießt sie unter den Journalisten<br />
und Redakteuren.<br />
Die atmosphärischen Bedingungen, unter denen freie Mitar<strong>bei</strong>terinnen ar<strong>bei</strong>ten,<br />
lassen sich schwer beschreiben, andererseits sind sie maßgebend für<br />
Ar<strong>bei</strong>tseinsatz und -lust. Von den Redakteuren werden ihre Beiträge in der<br />
Regel kaum ernsthaft diskutiert. Entweder sie gefallen oder nicht, es gibt nur<br />
selten sachliche Auseinandersetzungen, die auch das Kollegenverhältnis betonen.<br />
Eher begegnet frau der väterlichen oder der Kavaliersrolle.<br />
Das Verhältnis mit den Redakteurinnen ist ein anderes. Sie ar<strong>bei</strong>ten meist<br />
in den Redaktionen, die in der Hierarchie der Anstalten kaum für wichtig gehalten<br />
werden. Vor allem die Frauenprogramme, und sofern es das noch gibt, der<br />
Frauenfunk, müssen um Sendeplätze und Finanzen kämpfen. Manchmal wird diese<br />
Form der "Mißachtung" an die Mitar<strong>bei</strong>terinnen weitergegeben, z.B. wenn<br />
sie sich woanders um Aufträge bemühen oder aber gerade, weil sie sich nicht<br />
auch in anderen Redaktionen profilieren. Sicher ist frau da nicht. Andererseits<br />
haben wir erfahren, daß es Redakteurinnen sind, die mit Engagement und Aufmerksamkeit<br />
auch die Ar<strong>bei</strong>t der Freien wahrnehmen und mit den Freien für<br />
eine gute Sendung eng zusammenar<strong>bei</strong>ten. Die Anzahl der Redakteurinnen in<br />
den Redaktionen beeinflußt langfristig den Einsatz und die Anzahl der Mitar-
- 253 -<br />
<strong>bei</strong>terinnen, die sich freiberuflich durchsetzen werden. Eine gegenseitige Unterstützung<br />
ist nötig, um die Präsenz der Frauen in den Medien überhaupt zu<br />
verstärken.<br />
Wir haben bisher nicht erwähnt, daß die freie Mitar<strong>bei</strong>t auch Spaß macht:<br />
die Vielfalt der Themen, die Begegnung mit Menschen, die spannende Erkundu<br />
ng eines Themas während der Recherche, die Umsetzung in hörbare Sendeformen.<br />
Aber die Frage nach der Perspektive dieser Tätigkeit wird besser nicht<br />
gestellt, damit der Spaß auch noch bleibt. Beklagt wurde der Abbau der sozialen,<br />
wirtschaftlichen und ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Grundlagen für den Beruf des freien<br />
Mitar<strong>bei</strong>ters schon lange. "Vom Aussterben bedroht" hieß eine Dokumentation<br />
der RFFU von 1977. Wir kennen nur die schlechten Bedingungen, die<br />
eigentlich jede/ n Freie/n daz u bringen, den Sprung in die Festanstellung anzustreben.<br />
Doch es gibt auch unter den Freien Maßnahmen gegen die Aushöhlung<br />
ihrer Berufsgrundlagen. So bemühen sich z.B. Journalistinnen, Büros zu gründen.<br />
Das be endet die Isolation und kann zugleich die Professionalität durch den<br />
Austausch mit Kollegen und Kolleginnen und allein schon durch den Einsatz<br />
aröeitsökonomisierender Geräte erhöhen.<br />
Zu fordern bleibt gl eichwohl, daß sich die Gewerkschaften in Zukunft<br />
stärker für die freien Mitar<strong>bei</strong>ter/innen einsetzen, Tarifleistungen aushandeln<br />
und vor allem überregional vereinheitlichen und die Freien in Broschüren über<br />
ihre Rechte informieren. Da gi bt es noch ein weites Betätigungsfeld. Das Argument,<br />
das oftmals vorgebracht wird, die Freien seien nicht zu erreichen, trifft<br />
ni cht mehr zu: Nach unserem Eindruck sind die meisten Freien in der Gewerkschaft<br />
oder im DJV organisiert.<br />
Die Initiative der freien Mitar<strong>bei</strong>terinnen könnte sich so darstellen, daß<br />
si e ein Einstieg in den Medienbereich, der ihnen durch die ungeschützte freie<br />
Mitar<strong>bei</strong>terschaft möglich war, sichern uno ausbauen. Zusammenschlüsse zu<br />
Journalistinnenbüros, lokale Netzwerke und - leider - die schonungsl ose Analyse<br />
ihrer gemeinsamen Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen sind erste Schritte dazu.<br />
ANMERKUNGEN<br />
Diese Ar<strong>bei</strong>t versammelt die wichtigste Literatur der letzten 15 Jahre zur<br />
sozialen und ar<strong>bei</strong>tsrechtlichen Situation der freien Mitar<strong>bei</strong>ter.<br />
2 Eine schriftliche Umfrage unter den ständigen Freien <strong>bei</strong> HR und SWF von<br />
1976 durch Ines Elster ergab einen Anteil von 33% Mitar<strong>bei</strong>terinnen, und
- 254- -<br />
zuletzt, 1986, ergab eine Umfrage der 'feder', Zeitschrift der IG Druck und<br />
Papier, unter freien Mitar<strong>bei</strong>tern nach den Verdienst- und Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen<br />
eine Zahl von 34-% Journalistinnen - die Umfrage bezog sich auch auf<br />
di e Freien <strong>bei</strong> Printmedien.<br />
3 Redakteurinnen <strong>bei</strong>m Hörfunk ca. 17%, <strong>bei</strong>m Fernsehen ca. 12%; die Zahlen<br />
si nd von 1981 und beziehen sich auf die Situation der Mitar<strong>bei</strong>terinnen im<br />
WDR. Vgl. hierzu Becher 1981.<br />
4 Von 203 ständigen oder "festen" Freien <strong>bei</strong> HR und SWF geht Ines Elster aus<br />
(vgl. Anm. 2).<br />
LITERATUR<br />
Becher, Vera u.a.: Die Situation der Mitar<strong>bei</strong>terinnen im WDR. Auszug aus der<br />
Studie. Köln, Mai 1981<br />
Elster, Ines: Journalisten Zweiter Klasse. Die ständigen freien Mitar<strong>bei</strong>ter der<br />
Rundfunkanstalten. In: Kepplinger, H.M. (Hg.): Angepaßte Außenseiter.<br />
Was Journalisten denken und wie sie ar<strong>bei</strong>ten. Freiburg/München 1979<br />
Freie fordern 200 Prozent. Umfrage der "feder", Zeitschrift der IG Druck und<br />
Papier für Journalisten und Schriftsteller. In: die feder Nr. 6/Juni 1986<br />
Heidemann, Annette: Frei zu sein bedarf es wenig. Zur Situation freier Mitar<strong>bei</strong>ter<br />
<strong>bei</strong> Hörfunk und Fernsehen. Unveröffentl . Diplomar<strong>bei</strong>t. Dortmund<br />
1984-<br />
Tarifverträge für auf Produktionsdauer Beschäftigte und ar<strong>bei</strong>tnehmerähnlicher<br />
Personen des Westdeutschen Rundfunks. Köln (neue Fassung Okt. 1981)
- 255 -<br />
Luise Pusch/Ingeborg Stahr<br />
FRAU PROFESSOR TINGEL T DURCH DIE LANDE 000<br />
- EIN INTERVIEW MIT LUISE PUSCH<br />
Das folgende Interview habe ich mit Luise Pusch im April 1987 in Hannover<br />
geführt. Sie wohnt dort in einer Wohngemeinschaft. Mich überraschte die Einfachheit<br />
ihres Lebensstils, der für ihre gesellschaftliche Statusgruppe nicht<br />
üblich ist.<br />
Luise Pusch ist 43 Jahre alt, war von 1979-1984 Heisenberg-Stipendiatin und<br />
ist seit neun Jahren habilitiert. Sie hat ca. achtzig Aufsätze und zwei Bücher<br />
zur Grammatik des Deutschen, Englischen, Italienischen und Lateinischen sowie<br />
zur feministischen Linguistik geschrieben. Bekannt geworden ist sie vor allem<br />
durch ihre zahlreichen Glossen - ' u.a. in Courage - und drei Frauenbücher , nämlich<br />
als Autorin von "Das Deutsche als Männersprache: Aufsätze und Glossen<br />
zur feministischen Linguistik" (1984), als Herausgeberin von "Feminismus: Introspektion<br />
der Herrenkultur" (1983) und "Schwestern berühmter Männer: Zwölf<br />
biographische Portraits" (1985).<br />
I. : Luise, kannst Du mir kurz die Stationen Deiner beruflichen Laufbahn bis<br />
zur Habilitation schildern?<br />
L. : Ja, also Studium in Hamburg: Englisch, Latein, allgemeine Sprach wissenschaften<br />
von 1963 bis 1969, also 12 Semester Studium. Dann Promotionszeit,<br />
die Dissertation Ende 1971 abgeschlossen, Anfang 1972 das Rigorosu<br />
m. Danach war ich bis 1975 in einem Forschungsprojekt über kontrastiven<br />
Sprachvergleich Deutsch: Italienisch als wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin tätig.<br />
Von 1975 bis 1977 hatte ich ein Habilitationsstipendi um von der Deutschen<br />
Forschungsgemeinschaft. Ach, und dann hatte ich danach noch ein<br />
Forschungsstipendium, ein halbjähriges. 1978 war dann die Habilitation, und<br />
in dem Jahr auch noch Ar<strong>bei</strong>t an einem italienischen Grammatikprojekt. Da<br />
habe ich über das italienische Tempus-System ein großes Kapitel geschrieben.<br />
Und seit 1979 bis 1984 Heisenberg-Stipendium, also praktisch Forschungsfreiheit<br />
für fünf Jahre.
- 256 -<br />
I.: Ja. Im Jahr 1978 hast Du also in Konstanz habilitiert. Das war vor neun<br />
Jahren. Dann das Heisenberg-Stipendium. Seitdem bist Du mehr oder weniger<br />
als freischaffende Wissenschaftl erin oder als Selbständige tätig?<br />
L. : Ja, wie gesagt, bis 1984 hatte ich diese Forschungsprofessur • Da war ich<br />
schon ziemlich selbständig, ich wurde gut bezahlt. Ich konnte selbständig<br />
ar<strong>bei</strong>ten und kriegte dafür quasi ein Gehalt. Das war eine tolle Zeit.<br />
L: Das war ein regelrechter Ar<strong>bei</strong>tsvertrag als wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin?<br />
L.: Das kann man so sagen. Also ja.<br />
Das Stipendium kriegten nur ganz wenige, die Voraussetzungen waren ja<br />
sehr scharf: Nicht älter als 33 und habilitiert sollte frau oder man sein. Es<br />
war quasi eine Belohnung für das, was vorher gel eistet worden war . Es<br />
wurde wohl davon ausgegangen, daß das so intensive Forschungspersönlichkeiten<br />
werden, daß sie natürlich immerzu fleißig forschen. Nachweisen<br />
mußte ich nur nach drei Jahren einen Bericht. Davon hing dann die Verlängerung<br />
ab, und die habe ich auch bekommen. Aber die war sowieso mehr<br />
oder weniger automa!isch. Das war also für fünf Jahre geplant. Das war<br />
damals ein HiIfsprogramm. Das läuft immer noch - ja, um den wissenschaftlichen<br />
Nachwuchs an der Uni oder für die Uni zu erhalten - weil Stellen ja<br />
ni cht da waren. Damit die Leute nicht in die USA abwandern und auch<br />
ni cht verzweifeln. Ich habe das dann eben etwas zweckentfremdet. Ich<br />
habe in der Zeit dann feministische Linguistik gemacht und Frauenforschung<br />
und diese biographische Forschung. Das hast Du ja so ein bißchen<br />
mitgekriegt. Da ich ja machen konnte, was ich wollte, habe ich das einfach<br />
auch gemacht. Das war nicht so im Sinne der Stipendiengeber. Aber, ja, ich<br />
fand das eben einfach sehr gut so.<br />
Und richtig stellungslos oder ar<strong>bei</strong>tslos ••• Ich würde sagen, ich bin weder<br />
ar<strong>bei</strong>tslos noch erwerbslos. Der beschönigende Ausdruck ist eben: freiberuflich.<br />
Das sagen die Leute auch lieber als ar<strong>bei</strong>tslos. Ich bin freiberuflich,<br />
weil ich an der Uni keine Stelle bekomme. Beworben habe ich mich seit<br />
1976 ungefähr auf 100 Stellen oder mehr.<br />
L: Waren das Professuren oder auch andere Stellen?<br />
L. : Professuren und Forschungsstellen, z.B. <strong>bei</strong>m Institut für Deutsche Sprache.<br />
Dort hatten sie ein Grammatikprojekt für neun Jahre, und da habe ich mich<br />
1984 beworben. Da wollten sie mich auch nicht.<br />
L:<br />
Auf welche Gründe führst Du das zurück?
- 257 -<br />
L.: Der Hauptgrund ist, daß ich seit 1979 verschrieen bin in meiner Disziplin<br />
als feministische Linguistin, und die Disziplin behauptet, das ist keine Lingu<br />
istik, was ich da mache, denn Linguistik werte nicht, sondern die beschreibe<br />
bloß. Und es wird gesagt, wie unheimlich schade es ist, daß die<br />
begabte Linguistin der Disziplin verloren gegangen ist, wo ich doch vorher<br />
diese steile Karriere gemacht habe, bis zum Heisenberg-Stipendium. Das<br />
waren damals drei Frauen, die das bekommen haben in der Bundesrepublik.<br />
Ja, großes Bedauern, daß ich vom rechten Wege abgekommen bin. Meine<br />
Definition ist, daß das, was ich da gemacht habe, das Beste und Wichtigste<br />
war, was ich je gemacht habe. Davon bin ich einfach überzeugt, und die<br />
Resonanz außerhalb der Uni ist auch entsprechend, aber innerhalb der Uni<br />
eisige Kälte. Seit 1979.<br />
I. : Uni, damit meinst Du also bundesweit an den Hochschulen?<br />
L. : Ja, bundesweit an den Hochschulen. Es gibt da auch noch einige besondere<br />
Anekdoten, also so etwa meine Uni Konstanz, die mich <strong>bei</strong> einer Bewerbung<br />
ni cht berücksichtigt hat. Also ich habe mich öfter da beworben. Ich fiel als<br />
Heisenberg-Stipendiatin nicht unter das Hausberufungsverbot. Also konnte<br />
ich mich an meiner Heimat-Uni bewerben. Da war eine AnglistiksteIle, C2,<br />
und da haben sie beschlossen, ich wäre in der Anglistik nicht qualifiziert.<br />
Ich habe ja in Anglistik promoviert, aber formal war das vielleicht in Ordnung,<br />
weil ich mich ja in Italianistik mehr oder weniger habilitiert habe. Da<br />
konnten sie das also sagen. Das Interessante ist, daß sie dann einen Mann<br />
genommen haben aus Hannover. Als der den Ruf auf diese Stelle nach Konstanz<br />
bekam, habe ich seinen Chef in Hannover vertreten. Eine C4-Professur.<br />
In Hannover war ich qualifiziert genug, seinen Chef zu vertreten,<br />
aber an meiner Heimat-Uni nicht qualifiziert für Anglistik. Da sind sie also<br />
besonders gegen mich in Konstanz. Das liegt daran, weil einige männliche<br />
Kollegen - und einige Frauen - das als Nicht-Linguistik definiert haben. Ich<br />
merke allerdings, daß sich das allmählich ändert, weil die Studentinnen<br />
ni cht mehr mitmachen. Ich bekomme ständig Einladungen für Lehraufträge,<br />
z.B. in Saarbrücken, jetzt in Oldenburg, Darmstadt usw. Allerdings bin ich<br />
durch meine Schreiberei jetzt zum Glück in der Situation, daß ich mich<br />
di eser Sel bstausbeutung nicht mehr unterziehen muß. Ich kann inzwischen<br />
als Freiberuflerin eine sehr viel bessere Ar<strong>bei</strong>t machen, interessantere<br />
Ar<strong>bei</strong>t, auch besser bezahlt heißt das.
- 258 -<br />
I.: Kannst Du noch einmal ein bißchen mehr beschreiben, was für Tätigkeiten<br />
Du in der Zeit nach Deinem Heisenberg-Stipendium ausgeübt hast? In welcher<br />
Art von Beschäftigungsverhältnissen und für welche Zeiträume warst<br />
Du jeweils tätig?<br />
L: Ich hatte einige Lehrstuhlvertretungen schon während des Heisenberg-Stipendiums,<br />
dreimal hier in Hannover. Also eine Vertretung einer C3-Professur<br />
in Germanistik und zwei Vertretungen eines Lehrstuhls in Anglistik.<br />
Dann hatte ich in Duisburg noch eine C3-Vertretung in Germanistik und<br />
eine Gastprofessur in Illinois an der Universität Urbana/Champaign, eine<br />
Vortragsreise durch die USA, so die berühmtesten Universitäten Princeton,<br />
Stanford, Berkeley bis Alaska, weil ich die Einzige bin, die feministische<br />
Linguistik des Deutschen macht. Also die Senta Trömel-Plötz, meine Kollegi<br />
n, sie macht Gesprächsanalyse. Speziell zum Deutschen ar<strong>bei</strong>tet sie nicht.<br />
Das ist natürlich in den USA sowieso sehr gut vertreten. Ich bin eingeladen<br />
worden von der Berufsvereinigung der Germanistinnen, die da über das ganze<br />
Land verteilt sind und an ihren jeweiligen Universitäten die Vorträge<br />
organisieren. Daher habe ich in den USA ziemlich gute Kontakte und bin da<br />
auch sehr oft zu Vorträgen und auch zu Forschungsaufenthalten. Also das<br />
waren so die universitären Kontakte in der Bundesrepublik. Wie gesagt,<br />
di ese paar Vertretungen - aber dann auch etliche Vorträge, die meisten die<br />
AStA-Frauen organisieren, aber hin und wieder auch männliche Kollegen.<br />
1.: Und sonst außerhalb der Uni?<br />
L: Ein Riesenvortragsprogramm im gesamten bundesdeutschen Kulturbetrieb.<br />
Es ist mir damals erst aufgegangen, was das für ein Netz ist. Es besteht<br />
großes Interesse an Referentinnen und <strong>bei</strong> der Frauenbewegung sowieso an<br />
feministischen Themen. Ist ja klar! Aber auch so etwas wie die katholische<br />
Kirche oder Freidenker in der Schweiz, eine merkwürdige Organisation. Ja,<br />
und <strong>Text</strong>er und so, die da an ihrem Ort einfach mal ihre Progressivität<br />
kundtun wollen, laden sich also eine Feministin ein mit einem Professorinnentitel,<br />
und die zahlen nicht schlecht. Davon kann ich ganz gut leben. Ja,<br />
im Moment kann ich sogar von meinen Glossen leben, die ich schreibe. Deshai<br />
b auch diese Sache mit dieser Sei bstausbeutung, daß ich also die Lehraufträge<br />
ablehne. Wenn ich mich einen Tag hinsetze und zwei Glossen<br />
schreibe, dann verdiene ich dassel be wie mit so einem Lehrauftrag, und ich<br />
habe natürlich viel mehr Spaß daran. Also ich kann bescheiden leben von
- 259 -<br />
meinen Glossen. Wenn ich dann zusätzlich noch Sachen parallel mache,<br />
et wa den Kalender da ••.<br />
I. : Auch im Auftrag eines Verlages?<br />
L. : Nee, das habe ich mir selber ausgedacht.<br />
Frauenchronik<br />
im Computer<br />
Hannover (dpa). Eine bislang<br />
einmalige sogenannte<br />
Frauenchronik will die<br />
Sprachwissenschaftlerin Luise<br />
Pusch aus Hannover zusammenstellen.<br />
Im Computer hat<br />
die Professorin in Eigenar<strong>bei</strong>t<br />
bereits 8 000 Frauenbiographien<br />
gespeichert. Sie will ihr<br />
Archiv auf mindestens 22 000<br />
Biographien erweitern, um einen<br />
"<br />
Schlüssel zur Frauenforschung<br />
" zu schaffen. So soll<br />
verhindert werden, daß die<br />
wenigen bedeutenden Frauenfiguren<br />
aus Vergangenheit<br />
und Gegenwart, die Aufnahme<br />
in die Geschichtschroniken<br />
gefunden haben, wieder in<br />
Vergessenheit geraten. Studenten<br />
ziehen die Computerliste<br />
bereits <strong>bei</strong> wissenschaftlichen<br />
Ar<strong>bei</strong>ten zu Hilfe.<br />
L: Und die Daten hast Du alle selber gesammelt?<br />
Ich habe das dem Verlag angeboten,<br />
und die waren Feuer und<br />
Flamme daf ür natürlich.<br />
Ja, ich<br />
denke, daß ich damit, weil es ein<br />
Endlos-Projekt ist, auch schon<br />
mein Leben abgesichert habe. Also<br />
di e Berge an Daten, auf denen ich<br />
sitze, das sind 15.000 Frauen aller<br />
Länder. Ja, und was ich damit zunächst<br />
mache, ist ein<br />
Kalender.<br />
Der beginnt ab 1988. Dann wird für<br />
jeden Tag eine Frau mit Bild vorgestellt,<br />
die dann ein rundes Jubiläum<br />
hat. 50 Frauen werden vorgestellt<br />
mit einer längeren Biographie<br />
und einem schönen großen<br />
Bild. Das ganze soll auch auf Englisch<br />
gemacht werden. Also interna<br />
tional angeboten werden. Ich<br />
wüßte nicht, daß es etwas Vergleichbares<br />
gibt • .Es wird sehr gut<br />
sein. Ich ar<strong>bei</strong>te seit 1982 daran.<br />
L. : Ja. Und seit dem letzten Sommer ar<strong>bei</strong>tet noch Ulla Reis mit daran.<br />
L: Ohr<br />
L. : Also, ich kann Dir <strong>bei</strong>spielsweise, wenn Du Lust hast, sofort alle Frauen<br />
nennen, die an Deinem Ge,burtstag Geburtstag haben. Das ist so eine Spielerei<br />
von mir. Und alle Zeitgenossinnen, was weiß ich, von Helene Lange,<br />
die gleichzeitig in Berlin gelebt haben. Also das wird dann sicherlich auch<br />
zu einem wichtigen Informationsdienst ausgebaut werden können. Für alle<br />
möglichen Forschungsvorhaben. Ich kann auch viele Frauen nennen, <strong>bei</strong>-
- 260 -<br />
spielsweise, die im Kindbett gestorben sind, verrückt geworden sind oder so<br />
etwas. Eben für systematische Studien.<br />
I.: Ich möchte nochmal auf Deine Beschäftigungssituation zurückkommen. Wie<br />
ist es mit Sozialversicherung, Krankenversicherung usw.?<br />
L. : Ich bin in der Künstlersozialkasse versichert, ja, und altersversichert ...,<br />
ja, ich habe kaum Zeit dafür, mich darum zu kümmern. Aber ich bin da<br />
drin. Krank bin ich inzwischen nicht geworden. Ich bin in der xy-Kasse,<br />
weil die hier nebenan ist. Ich denke, wenn ich krank werde, wird das auch<br />
funktionieren. (Lachen).<br />
I. : Es ist doch aber ein großes Problem für Sel bständige, wenn Aufträge nicht<br />
er füllt werden können, z.B. wegen Krankheit. Dann fehlt doch das Einkommen,<br />
nicht?<br />
L. : Ja, da bin ich krankenversichert, da bekomme ich auch Einkommensersatz,<br />
soviel ich weiß. Ich glaube, aber nur ein paar Wochen. Ja, ich werde wahrscheinlich<br />
nie so kra,nk. Ich müßte schon irgendwie ••• ja bewußtlos sein.<br />
Wenn ich krank im Bett liege, bin ich ja immer noch ar<strong>bei</strong>tsfähig. (Lachen)<br />
Um mir etwas auszudenken - wenn ich eine kaputte Hand habe oder so,<br />
dann höre ich ja nicht auf zu denken!<br />
I.: Ja, das führt hin zu der Frage nach Deiner Ar<strong>bei</strong>tszeit und Deinem Ar<strong>bei</strong>tsumfang.<br />
Wie sieht das denn aus?<br />
L. : Eigentlich rund um die Uhr. Ich würde am liebsten am Schreibtisch sitzen<br />
un d nicht so viel herumfahren und Vorträge halten. Das ist sehr anstrengend.<br />
Aber das gehört eben dazu. Einfach weil ich damit Geld verdienen<br />
muß. Ich glaube, letztendlich könnte ich ähnlich viel verdienen oder genausoviel,<br />
wenn ich nur am Schreibtisch säße. Aber das muß ich mir auch alles<br />
durch das Herumfahren erar<strong>bei</strong>ten. Diese Position in der Öffentlichkeit, daß<br />
das, was ich dann ar<strong>bei</strong>te, auch gefragt ist, hängt natürlich auch mit den<br />
öffentlichen Lesungen zusammen und Auftritten, geht so Hand in Hand.<br />
Jetzt kommen also viele Fragen vom Rundfunk, Fernsehen hin und wieder,<br />
und ich veröffentliche ja auch viel in der Schweiz. Die Zeitungen dort, die<br />
zahlen dreimal so gut wie hier, so daß ich vom Schreiben eigentlich leben<br />
könnte, wie gesagt.<br />
Das Ar<strong>bei</strong>ten rund um die Uhr hängt damit zusammen, daß ich einfach gerne<br />
ar<strong>bei</strong>te und so viele Projekte habe, di ich einfach gar nicht alle realisieren<br />
kann. Jetzt fange ich gerade an zu delegieren.
- 261 -<br />
Ich erhole mich <strong>bei</strong> den langen Bahnfahrten. Morgen oder übermorgen fahre<br />
ic h zum Beispiel nach Bern. Das sind 8 Stunden. Da lese ich. Hier muß ich<br />
meistens irgendetwas erledigen. Du siehst ja, wie es hier aussieht! Ich komme<br />
gar nicht nach, weil ich zur Zeit unheimlich in diesem Kalenderprojekt<br />
drinsitze. Es muß bis Ende Mai fertig sein. Ich habe mir das erst zu Weihnachten<br />
ausgedacht. (Lachen) Die Daten hatte ich alle. Ich wollte damit<br />
eigentlich etwas anderes machen.<br />
1.: Kommst Du denn überhaupt einmal dazu, Urlaub zu machen?<br />
L. : Hm. Ja, ich habe lange keinen Urlaub gemacht. Aber ich werde in diesem<br />
Jahr Urlaub machen. In Schweden. Es wird auch Zeit.<br />
1.: Ohne den Hintergrund, irgendwelche Ar<strong>bei</strong>tsprojekte zu erledigen?<br />
L. : Ja.<br />
I. : Wie erlebst Du eigentlich diese Beschäftigungssituation als Professorin, wie<br />
is t das für Dich? Schlimm, oder?<br />
L. : Nee. Das ging durch verschiedene Stadien. Zunächst, als ich nur Linguistik<br />
gemacht habe und feministisch zwar interessiert war, aber nicht wußte,<br />
daß ich davon leben kann, da hatte ich große Angste. Was wird bloß aus<br />
mir? Ich hatte diesen einen kleinen Aufsatz geschrieben. Das hat meine<br />
Uni-Karriere völlig zerstört. Eigentlich konnte ich es kaum fassen, aber es<br />
war so. Was willst Du machen als Linguistin außerhalb der Uni? Das kannst<br />
Du doch nur an der Uni überhaupt verkaufen. Da war ich sehr verzweifelt.<br />
Denn ich hatte 20 Jahre immerhin dafür investiert, um das machen zu können.<br />
Da war ich eigentlich sehr verbittert. Ich habe gedacht, diese Scheißkerle<br />
da. Meine Schüler, die sitzen jetzt auf ihren Lehrstühlen. Nun ja, ich<br />
halte mich zum Teil für wesentlich qualifizierter . Aber das nützt mir ja<br />
nun nichts, davon kann ich auch nicht leben. Jetzt rückblickend würde ich<br />
sagen, diese totale Ablehnung der Universität hat mich tatsächlich gezwungen,<br />
Fähigkeiten in mir zu entdecken und zu kultivieren, von denen ich bis<br />
dahin keine Ahnung hatte. Journalistisch, publizistisch, schriftstellerisch,<br />
satirisch - also schon immer Schreiben - aber meine wissenschaftliche Präzision<br />
zu verbinden mit einer leicht faßlichen Darstellung für ein breites<br />
Publikum, das verkauft sich natürlich sehr viel besser als alles, was ich<br />
vorher gemacht habe. Das lesen viele Leute. Es freut sie, und ich glaube,<br />
da habe ich aufgrund dieses langen Studiums eben doch vor vielen einen<br />
Vorsprung, so daß ich im Grunde eine gute Position habe. Jetzt würde ich<br />
sagen, wenn sie mir jetzt eine Professur anbieten, das würde ich mir sehr
- 262 -<br />
überlegen, ob ich sie nehmen würde. Denn die Uni ist wirklich unheimlich<br />
charakterschädlich, damals habe ich ganz anders gedacht. Heute denke ich<br />
viel freier, kühner, weil diese Schere im Kopf nicht mehr da ist. Ich<br />
schreibe und sage auch das, was ich denke, wo ich früher immer gedacht<br />
habe, da werden die ja auf mich herunterfallen wie die Geier, das kann ich<br />
ni cht aushalten.<br />
Und insofern ist die Situation für mich doch jetzt sehr angenehm. Ich empfinde<br />
es auch als angenehm, daß ich frei entscheiden kann, was ich mache.<br />
Uberhaupt, ich kann doch einfach Urlaub machen oder irgendetwas absagen,<br />
wenn ich das nicht machen möchte, ich brauche eigentlich nur das zu machen,<br />
wozu ich Lust habe. Ich brauche auch keine Vorträge zu halten,<br />
wenn ich mehr Lust habe, ein paar Glossen oder ein Buch zu schreiben.<br />
Also diese Freiheit schätze ich sehr. Dafür habe ich keine Sicherheit, aber<br />
ich glaube, die habe ich mir allmählich trotzdem geschaffen. Also etwa in<br />
dem Kalender-Projekt, wenn es nicht total eingeht oder danebengeht, was<br />
ic h mir kaum vorstellen kann. Dann kann ich wohl davon, glaube ich, leben.<br />
Das ganze funktioniert natürlich nur auf der Basis der Bescheidenheit.<br />
Aber das ist für mich kein Problem. Ich habe sowieso immer mehr verdient,<br />
als ich jemals Zeit und Lust hatte auszugeben. Also dieses hohe Heisenberg-Stipendium<br />
••• also ich habe in der Zeit, wo ich noch gut verdient<br />
habe, einfach auch einiges angespart, so daß ich wirklich für die nächsten<br />
10 Jahre, was das betrifft, keine Sorgen zu haben brauche, denn ich kann<br />
das Geld bis dahin ja einfach aufbrauchen.<br />
L: Im Medienbereich wird ja häufig argumentiert, die Beschäftigung von freien<br />
Mitar<strong>bei</strong>tern und Mitar<strong>bei</strong>terinnen spiele auch deshalb eine Rolle, weil<br />
wenn man nur fest Angestel lte in diesem Bereich beschäftigen würde, ginge<br />
die Kreativität und die Innovationsfreudigkeit verloren. Siehst Du das für<br />
den Wissenschaftsbereich auch so? Gerade <strong>bei</strong> dem Stichwort, was Du vorhin<br />
nanntest, die Uni ist charakterschädigend?<br />
L. : Ja, das sehe ich für die Uni ganz genauso, aJlerdings nicht auf dem top<br />
level, den die Männer für sich reserviert haben, da können sie, glaube ich,<br />
frei entscheiden, ob sie Verwaltungshengste werden wollen, also in der<br />
Wissenschaftsorgansiation eine große Figur darstellen oder ob sie weiter<br />
kreativ ar<strong>bei</strong>ten wollen. Jemand, das meine ich, der sich da stark einbinden<br />
läßt, in diese Repräsentations- und Verwaltungspflichten, der ist natürlich<br />
ni cht mehr besonders kreativ, aber ich glaube, dem kann sich solch ein
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C4-Mensch durchaus auch entziehen, wenn er will, und hat dann mit einem<br />
sehr schönen Gehalt die Möglichkeit, seinem Hobby zu frönen. Aber der<br />
gesamte Mittelbau, da sieht es völlig anders aus, der ist weisungsgebunden,<br />
und ich war immer nur im Mittelbau, ich mußte weisungsgebunden forschen,<br />
und ich hatte an sich eine sehr gute Stelle. Es war ein angenehmes Klima;<br />
aber jetzt, wo ich meine eigenen Sachen mache, weiß ich, was das einfach<br />
für eine geistige Bevormundung war. Denn ich mußte natürlich in dem Rahmen<br />
forschen, den mein Professor gesetzt hatte. Und wir waren eigentlich<br />
vö llig verschiedene denkerische Persönlichkeiten, und da hat's auch geknallt,<br />
und ich mußte mich im Endeffekt ihm unterwerfen. Denn er mußte<br />
es nach außen vertreten. Das verstehe ich irgendwie, aber dieses Auf-eigene-faust-Denken<br />
und dies auch nach außen vertreten, das kann ich erst,<br />
seitdem ich freiberuflich bin, und das schätze ich sehr. Aber das kann, wie<br />
gesagt, jedes hohe Tier an der Uni auch, aber nur in den entsprechenden<br />
Rängen, und die behalten die Männer für sich. (Lachen)<br />
L: Ja, damit hast du schon gesagt, inwieweit sich Dein Beschäftigungsverhältnis<br />
auf Deine Qualifikation und auch Motivation ausgewirkt hat. Gibt es<br />
auch Konsequenzen für Deine körperliche Verfassung?<br />
L. : Ja. Ich habe oft gehört: "Wenn ich so wie Du leben würde, dann wäre ich<br />
schon längst tot!" Weil ich nämlich wirklich unheimlich viel ar<strong>bei</strong>te und<br />
rauche wie verrückt, mich wenig bewege, und das ist natürlic'h meine eigene<br />
Dummheit, daß ich das so handhabe. Du würdest das auch anders machen,<br />
das ist vielleicht auch mein Charakterzug, und ich kann mir das leisten,<br />
weil ich von meinen lieben Eltern eine irrsinnige Gesundheit geerbt<br />
habe, also das erbt frau oder sie erbt es halt nicht. Also meine Mutter<br />
wird siebzig, die war nie krank. Mein Vater fünfundsiebzig. Von dem ist<br />
auch nie berichtet worden, er wäre jemals krank gewesen, und meine Geschwister<br />
sind auch sehr gesund. Also ich habe da wirklich, glaube ich,<br />
ziemliches Glück, eine große Robustheit geerbt zu haben. Ich war auch nur<br />
als Kind krank, und seitdem nicht mehr. (Lachen) Aber das ist eine Ausnahme.<br />
Sonst, wie gesagt, die Bedingungen, unter denen ich lebe, sind, glaube<br />
ich, sehr gesundheitsschädlich. Also dieses viele Sitzen, sei es in der Bundesbahn,<br />
sei es am Schreibtisch, also Du kannst nicht so viel Jogging machen<br />
und Tennis spielen, wenn Du geistig ar<strong>bei</strong>test. Das impliziert Sitzenkönnen.<br />
Das finde ich jedenfalls, also auch gerade am Computer, das viele<br />
Denken. Ich denke auch gerne mit meinem Material nach, was um mich her-
- 264 -<br />
um ist, und daz u muß ich sitzen. Das ist auch immer meine Formulierung<br />
gewesen, also die wichtigste Voraussetzung für eine Wissenschaftlerin ist,<br />
Sitzfleisch zu haben. (Lachen).<br />
L: Ja. (Lachen).<br />
L.: Das konnte ich schon immer sehr gut. Ich bin sehr bewegungsfaul.<br />
L: Hat sich eigentlich die Art oder das Niveau Deiner Ar<strong>bei</strong>tsanforderungen<br />
durch diese Art des Beschäftigungsverhältnisses verschoben?<br />
L. : Ja. Früher, da habe ich im Widerstand gelebt. Diese Aufträge, die ich machen<br />
sollte, über die ich forschen sollte, ich habe das meistens in der<br />
Nacht, bevor die Sitzung war, gemacht. Zwischendurch habe ich dann Musik<br />
gehört und bin vor der Ar<strong>bei</strong>t davongelaufen. Das hing damit zusammen,<br />
daß es nicht meine eigenen Ideen waren. Ich habe zwar während meines<br />
Studiums und während meiner Schulzeit alles nett gemacht und auch ziemlich<br />
gut, aber immer in letzter Minute und mit größter Unlust. Das hat sich<br />
bis 1978 hingezogen, und das ist genau ins Gegenteil umgeschlagen, seitdem<br />
ich das mache, was ich mir selber ausgesucht habe, was ich selber will. Ich<br />
erlebe auch einen unheimlichen Gebrauchswert, so daß mir vom Verlag und<br />
auch so alles aus den Händen gerissen wird, was ich schreibe. Das motiviert<br />
natürlich noch mehr. Seitdem ar<strong>bei</strong>te ich mit größter Lust und Konsequenz<br />
und laufe nicht mehr vor der Ar<strong>bei</strong>t weg.<br />
Jetzt laufe ich nur vor der Verwaltungsar<strong>bei</strong>t wieder weg. Also was hier<br />
jetzt so ist, das müßte ich alles verwalten. Stattdessen mache ich aber den<br />
Kal ender. Das kann ich auch motivieren, aber eigentlich habe ich ein ganz<br />
schlechtes Gewissen, daß ich seit 1 1/2 Monaten nichts mehr verwaltet<br />
habe.<br />
I. : Wie sieht denn eigentlich so Dein Alltag aus?<br />
L.: Ich gehe meistens so gegen 4 oder 5 Uhr zu Bett und schlafe bis 12 oder<br />
13 Uhr, dann frühstücke ich, dann fange ich an zu ar<strong>bei</strong>ten, wieder bis<br />
nachts um 4 oder 5, und an den Tagen, wo ich unterwegs bin, was allerdi<br />
ngs auch viel ist, dann geht das eben, umgekehrt. Dann fahre ich morgens<br />
weg so gegen 9 Uhr, stehe also auch früher auf, sitze dann fröhlich verschlafen<br />
in der Bahn, wache aber zu dem Vortrag wieder auf. Also das finde<br />
ich dann immer sehr belebend, die Begegnung mit anderen Frauen.<br />
Ja, wenn ich aufgestanden bin, dann sitze ich hier und ar<strong>bei</strong>te. Früher, da<br />
habe ich oft viel ferngesehen, bin sehr gerne ins Kino gegangen. Wenn ich<br />
mir jetzt mal was im Fernsehen angucke, dann habe ich große entsetzliche
- 265 -<br />
Langeweile. Ar<strong>bei</strong>t ist halt viel spannender. Also ich bin richtig unruhig,<br />
wenn ich nicht ständig aktiv bin.<br />
I.: Ist das eigentlich so, daß Dir von Verlagen auch schon einmal inhaltlich<br />
irgendetwas vorgeschrieben wird, oder bist Du inzwischen so weit, daß Du<br />
nur das machst, was Dich wirklich interessiert und keine Kompromisse eingehen<br />
mußt?<br />
L.: Ja, ich mache nur das, was mich wirklich interessiert. Beim Verlag, die<br />
wissen sehr wohl, was sie an mir haben. Auch rein geschäftlich. Das ist ein<br />
schön egoistisches Interesse. Die haben wenig Kontakt mit der Frauenbewegung<br />
und haben sich zuerst gegen meine Projekte gesträubt. Also "Deutsch<br />
als Männersprache", was ist das für ein Titel?! Außer dem wissenschaftliche<br />
Aufsätze .•• das bringen wir nur ab 65 ••• von großen Tieren. Da werden<br />
da nn die wissenschaftlichen Aufsätze noch einmal abgedruckt. Da mußte<br />
ich ihnen mühsam erklären, daß es darum nicht geht, um das große Tier,<br />
sondern um das Thema und daß es da nur diese Ar<strong>bei</strong>ten gibt. Das Thema in<br />
di eser Form, und sie sollten es halt mal machen. Als sie immer noch nicht<br />
wollten, wollte es ein anderer Verlag machen. Da haben sie sofort zugeschlagen,<br />
weil sie sagten, wir wollen unsere Autorin am Verlag behalten,<br />
da nn machen wir das in Gottes Namen. Das war 1984, und dann ist das<br />
Buch sehr gut eingeschlagen, inzwischen in der 5. Auflage. Und diese<br />
"Schwestern" (gemeint ist ihr letztes Buch, "Schwestern berühmter Männer",<br />
1985), da haben sie sich auch erst gesträubt, das wäre ihnen zu dick<br />
und das ginge gar nicht, und das ist in der 3. Auflage. Das verkauft sich<br />
also sehr gut, so daß sie jetzt gemerkt haben, das, was ich mache, wird<br />
sc hon gut sein. Ich kriege da keine Auflagen, nur Unterstützung. Sie sagen<br />
dann, das geht vielleicht geschäftlich nicht so gut, also das ist mehr so das<br />
Marktpolitische, was wir miteinander besprechen. Aber ich habe noch sehr<br />
vi ele Ideen, was ich noch machen möchte, und sie warten dringend darauf,<br />
daß ich das auch mache. Das ist natürlich für meine männlichen Kollegen<br />
auch immer wieder ein Argernis, denn sei würden schon gerne <strong>bei</strong> diesem<br />
Verlag veröffentlichen. (Lachen) Sie würden auch gerne haben, daß ihre<br />
Werke so diskutiert würden.<br />
I. : Unter welchen Bedingungen würdest Du Dir das denn überlegen, eventuell<br />
eine Professur anzunehmen?<br />
L. : Ich müßte ein feministisches Umfeld haben, also nicht die einzige Feministin<br />
in der Gegend weit und breit sein. Denn es ist mir völlig klar, daß ich
- 266 -<br />
andernfalls kaputtgehen würde, weil das Forschungsbedürfnis der Frauen so<br />
an gestaut ist. Die paar feministischen Professorinnen, die ich kenne, die<br />
gehen kaputt, sind völlig überlaufen, werden von den Männern geschnitten<br />
und lächerlich gemacht und von den Studentinnen aufgefressen. Also an<br />
dem Fachbereich müßte mindestens noch eine Feministin sein, die da die<br />
Hälfte der Ar<strong>bei</strong>t übernimmt. Hinzukommen müßte ein gut ausgestatteter<br />
Lehrstuhl - unter einem Lehrstuhl würde ich es also nicht tun - mit drei<br />
Assistentinnen, mit guten Bibliotheksgeldern und Möglichkeiten, anderen<br />
Ar<strong>bei</strong>tsplätze zu verschaffen. Ich würde sofort ein großes Forschungsprojekt<br />
machen. Also was ich hier so privat am Küchentisch mache, das ist<br />
natürlich ein großes Forschungsproj ekt. Wir sind ja hier so ganz unter uns<br />
all eine ein Familienbetrieb. Das geht natürlich auch angenehm und schön,<br />
an dere kriegen dafür Massen von Geldern. Wir machen das für sehr wenig<br />
im Moment, hoffen aber, daß es sich dann auszahlt in Form des Kalenders.<br />
L: Ich habe Euch zu dritt hier ar<strong>bei</strong>ten sehen. Werdet ihr drei vom Verlag<br />
bezahlt?<br />
L.: Ich gebe das Ding heraus, die Beate wird von mir bezahlt als freie Mitar<strong>bei</strong>terin,<br />
und Ulla ist also praktisch zweite Herausgeberin, hat also auch<br />
sehr viel von den Daten <strong>bei</strong>getragen, und sie wird zur Hälfte am Erlös be-<br />
. teiligt. Sie will dann damit eine Stiftung machen, eine feministische. Und<br />
der Verlag, der, ja, also ich ar<strong>bei</strong>te immer mit Freundinnen, die der Verlag<br />
ni cht gut kennt, und mache immer die Herausgabetätigkeit und garantiere<br />
die Kontinuität. Das Ganze läuft unter meiner Regie.<br />
L: Um noch einmal auf die Professur zu kommen, denkst Du auch daran, eventuell<br />
nach Amerika zu gehen, weil Du vorhin sagtest, daß Du auch häufig<br />
drüben bist?<br />
L.: Ja, in Amerika ist die Situation für mich auch nicht einfach, weil die dort<br />
unter Linguistik etwas anderes verstehen. Also ich mache moderne linguistik,<br />
das ist da im Fach Englisch wunderbar vertreten. Im Fach Deutsch<br />
verstehen sie unter Linguistik Altphilologie. Da sitzen immer einige alte<br />
Herren, die niemand braucht, so daß der Bereich meistens besetzt ist. Im<br />
Grunde brauchen sie moderne germanistische Linguistik, aber dazu müssen<br />
sie erst einmal noch kommen, daß sie das einsehen. Sie lernen im Studium<br />
al le mögliche Literatur kennen, auch feministische, und dann müssen di e<br />
Leute an die Schulen und müssen Sprqchunterricht machen und haben keine<br />
Ahnung. Die brauchen dringend eine Linguistin. Aber so ähnlich, wie ich
- 267 -<br />
hier zwischen allen Stühlen sitze, ist es da ebenso. Es gibt aber einige<br />
Leute, die sind da<strong>bei</strong>, darauf hinzuweisen, daß sie das nun dringend brauchen.<br />
Also neulich hatte ich mich auf eine Professur beworben in Minneapolis.<br />
Die sind auch sehr sparsam, da waren 1.500 Bewerbungen und 6 Professuren,<br />
also praktisch auf jede hatten sich 300 beworben, und ich bin<br />
dann unter die ersten 18 gekommen und bin auf Platz 9 gelandet, also<br />
praktisch auf Platz 2. Diese 6 sind also verteilt worden, und ich bin jetzt<br />
<strong>bei</strong> den sechsen auf Platz neun. Ich bin da gelandet, obwohl ich sehr viel<br />
qualifizierter war als die meisten. Die Berufungskommission bestand aus 7<br />
Männern und 5 Frauen, die 5 Frauen waren alle für mich, die 7 Männer alle<br />
gegen mich. (Lachen) Also selbst da war ich zu radikal!<br />
1: Also selbst in Amerika! (Lachen)<br />
L.: Ja, also das war wirklich witzig, die 5 Frauen fanden alle, ich sei erster<br />
Klasse, die anderen alle zweiter. Da sieht man also, wie objektiv die Wissenschaft<br />
ist. Also wenn, dann würde ich ganz gerne etwas machen, so<br />
etwas, was die Sölle hat, ein halbes Jahr in den USA und ein halbes Jahr<br />
hier. Das könnte sich durchaus ergeben in der nächsten Zeit. Ich möchte<br />
auf keinen Fall die ganze Zeit in Amerika bleiben, weil ich ja am Deutschen<br />
ar<strong>bei</strong>te, und was soll ich da . Das ist also mein Hauptforschungsgebiet,<br />
das heutige Deutsch.<br />
I. : Was meinst Du eigentlich, wie sicher Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnenar<strong>bei</strong>tsplätze<br />
heute sein sollten? Wie sie ausgestattet sein sollten?<br />
L. : Das ist diese Frage "Beamtenverhältnisse - Angestelltenverhältnisse", nicht<br />
wa hr?<br />
I. : Ja, besonders in dieser Ambivalenz, die Du vorhin aufgezeigt hast: Einbuße<br />
an<br />
Kreativität und Abhängigkeit auf der einen Seite, auf der anderen Seite<br />
das Bedürfnis nach Sicherheit.<br />
L. : Zum Beispiel ich habe oft gedacht, wenn wir hier diese kapitalistischen<br />
Unis hätten wie in den US A, dann hätten Senta und ich - also Senta Trömel-Plötz<br />
ist auch ar<strong>bei</strong>tslos - die bestbezahlten Professuren in der Bundesrepublik,<br />
weil wir einfach einen wahnsinnigen Zulauf hätten - anders als<br />
die Herren Professoren mit ihren dicken Gehältern, denn die machen ja<br />
häufig extra etwas völlig Entlegenes, damit niemand kommt, also z.B. Okzitanisch<br />
im Fach Romanistik, und darüber schreiben sie ihr Buch. Das geht<br />
ja alles an einer kapitalistischen Uni nicht. Die müssen sich wirklich nach<br />
der Bezahlung richten, und die bezahlen ja auch wirklich völlig verschiede-
- 268 -<br />
ne Gehälter, je nachdem, wie diese Professoren oder der Professor der Uni<br />
guttut oder nicht. Also von daher wünschte ich mir dann häufig ebenso<br />
et was hier. Andererseits sehe ich, wie die sich dumm und dämlich zahlen<br />
für die Ausbildung ihrer Kinder, also meine Freundinnen da drüben. Die<br />
Universitäten, die guten, auch die guten Schulen sind so entsetzlich teuer,<br />
daß das halbe Gehalt draufgeht, und da sehe ich dann hier unsere Staatsuniversitäten<br />
und unsere Staatsschule auch wieder als etwas sehr Positives.<br />
Also eine Fluktuation für diejenigen, die das wollen im Angestelltenverhältnis<br />
- also ich bin verwaltungstechnisch, ökonomisch eigentlich gar nicht<br />
genug gebildet -, aber es müßte eigentlich ein Modell geben, was die guten<br />
Seiten dieses kapitalistischen Modells hat, gegenüber den guten Seiten unserer<br />
öffentlichen Schulen, den Staatsschulen und Staatsuniversitäten. Also<br />
mehr Privatuniversitäten einfach zulassen.<br />
L: Wie siehst Du denn auf diesem Hintergrund die Situation der Frauen, besonders<br />
das Verhältnis von Familie und Beruf. Unter den Bedingungen, unter<br />
denen Du ar<strong>bei</strong>test, ist es ja gar nicht möglich, Familie und Kinder zu haben.<br />
L.: Ja, das ist ja im Grunde genommen für Männer auch nicht möglich, wenn<br />
sie nicht entsprechend die Frau haben, die ihnen den Rest abnimmt. Das<br />
war also auch so interessant <strong>bei</strong> mir in Konstanz. Alle Männer sind verheiratet,<br />
und die Frau machte ihnen die Habil-Schrift und die Bibliotheksrecherchen,<br />
wusch die Socken und kümmerte sich um die Kinder. Alle Wissenschaftlerinnen,<br />
also Kolleginnen, waren unverheiratet, hatten keinen Mann,<br />
der das für sie machte, waren also dadurch auch unheimlich benachteiligt.<br />
Mein Gesellschaftsmodell ist also gut feministisch: 20-Stunden-Woche usw.,<br />
<strong>bei</strong>de Geschlechter müssen natürlich voll die Hausar<strong>bei</strong>t machen, wenn sie<br />
heiraten und Kinder wollen. Na, und dann gibt es ja auch noch diejenigen<br />
Männer und Frauen, die das eh nie vorgehabt haben. Ja, und die widmen<br />
sich dann eben ihren Kindern nicht so intensiv, sondern ihren sonstigen Interessen.<br />
In diesem Fall also Wissenschaft. Aber jeder Mann, der einmal<br />
Kinder haben wHI, muß damit rechnen, meiner Ansicht nach, daß er nur die<br />
Hälfte der Zeit für die Wissenschaft aufbringen kann. Genau die Hälfte, die<br />
ihm sonst die Frau abnimmt.<br />
L: Ja, aber dann hätte man auch gleich wieder ein Zwei-Klassen-System in<br />
der Wissenschaft, nicht? Wenn man auf der einen Seite die Wissenschaftler
- 269 -<br />
l<br />
und Wissenschaftlerinnen betrachtet, die nur für die Wissenschaft da sind,<br />
und auf der anderen Seite diejenigen, die auch Familie haben.<br />
L. : Ja, ich glaube, das ist ja auch ein großer Verzicht. Denn die haben ja immerhin<br />
die Kinder . Das ist ja auch eine sehr schöne Lebensbereicherung.<br />
Ich würde sagen, die Lebensbereicherung durch Kinder, durch Menschen<br />
oder durch Forschung, das läßt sich auch durchaus gegeneinander aufwiegen.<br />
Denn, wie gesagt, wenn die Kinder groß sind, dann können sie sich ja<br />
auch wieder ganz der Wissenschaft widmen. Wenn sie wollen. Aber viele<br />
wollen das ja überhaupt gar nicht. Wer will das denn schon? Denn so viele<br />
si nd das doch überhaupt gar nicht, die so leben möchten, und überhaupt,<br />
ich glaube, ich bin da wirklich ziemlich extrem. Ich bin eben eine Intellektuelle.<br />
Es hat mir schon immer am meisten Spaß gemacht, mir etwas auszudenken.<br />
Während meine Schwester <strong>bei</strong>spielsweise dazu überhaupt keine Lust<br />
hat. Sie ist glücklich, mal irgendetwas zu machen, aber nicht so intensiv,<br />
und um so intensiver ist sie an ihren Kindern interessiert. Ich finde das<br />
auch ganz toll. Da gibt es doch einfach auch ganz verschiedene Persönlichkeiten!<br />
Bloß die Männer, die haben ihre Kinderliebe noch nicht so ganz<br />
entdeckt. Ja, und eine andere Alternative wäre natürlich öffentliche Erziehung.<br />
Dann gäbe es nicht das Zwei-Klassen-System. Also viel mehr Tagesschulen,<br />
Kinderkrippen usw. Das ist ja unglaublich, was die Frauen die ganze<br />
Zeit leisten, ohne Bezahlung. Es würde alles zusammenbrechen, wenn sie<br />
streiken würden. Ja, wirklich alles.<br />
L: Das stimmt. Ja.<br />
L. : Die gesamte Krankenpflege, Altenpflege, Altenversorgung. 95%, habe ich<br />
mal gelesen, in der Altenversorgung findet zu Hause statt.<br />
L: Oder auch ehrenamtlich, nicht?<br />
L. : Ja.<br />
I. : Was meinst Du, wie die Rückwirkungen der derzeitigen Beschäftigungssituation<br />
von Wissenschaftlerinnen auf den wissenschaftlichen - vor allem<br />
auch weiblichen wissenschaftlichen - Nachwuchs sind?<br />
L. : Katastrophal! Das fängt <strong>bei</strong>m Studi um an. Streichung von BAföG und all so<br />
Sachen. Also, als ich Abitur gemacht habe, da war das Abitur immerhin<br />
Garantie dafür, daß ich studieren konnte, was ich wollte. Das ist ja jetzt<br />
überhaupt nicht mehr so. Die Promotion war 1972 auch noch eine gute Garantie<br />
für einen guten Ar<strong>bei</strong>tsplatz, obwohl es allmählich auch schon etwas<br />
schlechter wurde. Die Habilitation war da mals, Anfang der 70er Jahre,
- 270 -<br />
noch immer eine gute Garantie für eine gute Lebensstellung. All das gilt<br />
überhaupt nicht mehr. Auch für Männer nicht. Aber für Frauen eben extrem<br />
nicht. Gerade in der Berufsklasse, wo ich eigentlich hingehöre, da<br />
si nd ja, wie gesagt, 99% Männer und 1 % Frauen. Das liegt an unserer Berufungskommissionszusammensetzung,<br />
und das läßt sich, meiner Meinung nach,<br />
nur durch Quotierung ändern. Alles andere ist völlig unmöglich. Also auch<br />
was sonst vorgeschlagen wird. Bevorzugung von Frauen <strong>bei</strong> gleicher Qualifi<br />
kation ••• da kann ich nur lachen! Also ich bin wirklich höher qualifiziert<br />
ge wesen als viele Mitbewerber, aber es fehlte mir eben das männliche Geschlecht.<br />
Es ist nun mal äußerst schädlich in diesem Beruf, weiblich zu<br />
sein! Ich habe früher immer romantische Ansichten über Wissenschaft gehabt,<br />
über Innovation in der Wissenschaft. Ich habe gedacht, es käme auf<br />
di e Qualität der Ar<strong>bei</strong>t an, aber es kommt auf das Geschlecht an. Die suchen<br />
sich einen Mann, das weißt Du ja, der die Innung stärkt. Also auch<br />
Män ner, die aus dem Rahmen fallen, sind ja nicht beliebt. Aber Frauen fallen<br />
schon per Geschlecht aus dem Rahmen.<br />
L: Ja, und dann besonders die, die noch vom klassischen Wissenschaftsverständnis<br />
abweichen.<br />
L. : Ja, und dann die Frauen, die Feministinnen sind, sind natürlich völlig draußen.<br />
Die Frau, die es in der Uni noch schafft heutzutage, also die Feministi<br />
n, die es heute an der Uni überhaupt noch gi bt, das sind eben diejenigen,<br />
die zum Feminismus gekommen sind, als sie ihre Stelle schon da gehabt<br />
haben. Das finde ich auch sehr schön, daß sie dazu gekommen sind. Also<br />
jetzt neuere Feministinnen, da kenne ich jetzt wirklich nur drei Frauen.<br />
Diese Literaturwissenschaftlerin in Hamburg, ich weiß nicht, das ist vielleicht<br />
auch eine Initiative von der Heide Pfarr (P rof. Dr. Heide Pfarr war<br />
die erste Frau in der Geschichte, die Vizepräsidentin einer bundesdeutschen<br />
Hochschule war, Anm. d. Verfass.) gewesen. Ich weiß nicht. Aber<br />
sonst, Quotierung ist das einzig Mögliche, wo<strong>bei</strong> das sicher wieder auf die<br />
formale Qualifikation durchschlagen wird. Wie ich die Herren kenne, werden<br />
sie dann die Promotion für Frauen erschweren. ,<br />
L: Also Deiner Meinung nach werden dann die Bedingungen so hoch geschraubt,<br />
daß da kaum noch eine Frau etwas erreichen kann?<br />
L. : Ja. Das ist schon sehr weit gedacht. Zunächst einmal trete ich für die<br />
Quotierung ein. Was die Männer dann im Gegenzug wieder erfinden, darüber<br />
möchte ich jetzt noch nicht nachdenken. Das ist ja wohl klar, daß sie
- 271 -<br />
so etwas machen werden. Also die Männer leichter habilitieren und die<br />
Frauen schwerer. Das kann ich mir gut vorstellen. Das wird sich wohl nur<br />
ändern, wenn wir wirklich 50% Frauen haben. Das ist alles so grotesk! Ich<br />
komme mir in dieser Gesellschaft wirklich oft so vor wie im Irrenhaus.<br />
Wenn ich einfach von der Grundtatsache ausgehe, daß Männer und Frauen<br />
gl eich intelligent und gleich forschungstüchtig sind, wenn ich dann ansehe,<br />
wer da forscht und lehrt und wer nicht ••• ein Irrenhaus!<br />
1: Ja, fällt dir noch was Wichtiges ein, was Du zu diesem ganzen Themenkomplex<br />
sagen möchtest?<br />
L.: Nein, ich glaube nicht im Moment, weil ich jetzt ar<strong>bei</strong>ten muß. Ich muß<br />
doch meine Reise organisieren, die ich morgen oder übermorgen machen<br />
muß.<br />
1: Dann danke ich Dir.<br />
L.: Ja, bitte.