Titel - Justament
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Auf dem Eis<br />
Bernhard Schlink schreibt über deutsche Vergangenheit, Schuld und Recht<br />
Literatur<br />
Jörn Reinhardt<br />
einem sicheren zeitlichen Abstand<br />
Aheraus erscheinen viele Dinge leichter.<br />
Man weiß eben mehr. Wann man nicht<br />
mehr hätte wegsehen dürfen zum Beispiel.<br />
Was man hätte tun müssen und wie. Wenn<br />
die Zusammenhänge erklärt und eingeordnet<br />
sind, wenn alles klar und übersichtlich<br />
wirkt, dann ist die Vergangenheit schon<br />
weitgehend bewältigt und weit weg.<br />
Eine These des neuen, jetzt bei Suhrkamp<br />
erschienenen Buches von Bernhard<br />
Schlink ist, dass dieser Zustand vermeintlicher<br />
Sicherheit ganz eigene Gefahren in<br />
sich trägt. „Vergangenheitsschuld und<br />
gegenwärtiges Recht“ ist der <strong>Titel</strong>, der in<br />
den letzten fünfzehn Jahren entstandene<br />
Essays und Aufsätze Schlinks auf ihren<br />
kleinsten gemeinsamen Nenner bringt. Im<br />
Zentrum steht die Auseinandersetzung<br />
mit der NS-Vergangenheit. Für Schlink<br />
und seine Generation, so kann man lesen,<br />
ist sie von zentraler Bedeutung. Immer<br />
wieder habe man die Thematik gegen<br />
Widerstände durchsetzen und behaupten<br />
müssen. Wenn Schlink darüber schreibt,<br />
geht es ihm nicht nur um abstrakte rechtliche<br />
und moraltheoretische Probleme. Es<br />
geht auch, und sehr detailliert, um die individuellen<br />
und kollektiven Strategien,<br />
Dinge unter den Teppich zu kehren. Es<br />
geht um das Regime von Taktgefühl und<br />
falscher Rücksichtnahme, das dafür sorgt,<br />
dass sie dort bleiben. Und um den großzügigen<br />
Umgang mit Biographien, der<br />
immer dann einsetzt, sobald die neue Zeit<br />
ihre Anforderungen stellt. In dieser Gemengelage<br />
erhält der Begriff der Kollektivschuld<br />
für Schlink einen Sinn. Kollektivschuld<br />
entstehe aus einer Solidarität<br />
mit den Tätern, die nie gänzlich aufgekündigt<br />
wird und vielleicht auch nicht so<br />
einfach aufgekündigt werden kann, weil<br />
es sich bei den Tätern um die Eltern oder<br />
Lehrer handelt. Den erforderlichen Emanzipationsprozess<br />
nennt er „Elternaustreibung“.<br />
„Lehreraustreibung“ wäre auch passend<br />
gewesen: Man erfährt von einer historischen<br />
Tagung am 4. Oktober im Jahr<br />
2000. Die Vereinigung der Deutschen<br />
Staatsrechtslehrer beschäftigt sich zum ersten<br />
Mal mit der NS - Vergangenheit. Viel<br />
Forschung und Literatur hat es zu diesem<br />
Thema bereits gegeben, und nun steht es<br />
auf der offiziellen Agenda des Zentralorgans<br />
der Wissenschaft vom Öffentlichen<br />
Recht. In der Aussprache bedankt sich die<br />
Professorenschaft bei den Vortragenden.<br />
Für ihren Mut und dafür, dass sie das<br />
Thema so „sachlich“ angegangen seien,<br />
also nicht moralisierend nach Schuld und<br />
Verstrickungen einzelner Staatsrechtslehrer<br />
gefragt haben. Eine merkwürdige Geste.<br />
Schlink beklagt in seinem Aufsatz das Ausblenden<br />
der moralischen Frage als verpasste<br />
Chance. Wolle man die Gefährdungen<br />
ausloten, denen jede Rechtskultur ausgesetzt<br />
ist, müsse man individuelles Fehlverhalten<br />
und Schuld in den Mittelpunkt<br />
rücken.<br />
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen<br />
überrascht es dann, wie Schlinks<br />
Einschätzung der strafrechtlichen Bewältigung<br />
der kommunistischen Vergangenheit<br />
nach 1989 ausfällt. In der Bestrafung der<br />
Todesschüsse an der Mauer durch bundesdeutsche<br />
Gerichte sieht er eine Verletzung<br />
des Rückwirkungsverbotes. Die Rechtsprechung<br />
konnte zu einer Strafbarkeit nur gelangen,<br />
indem sie dem zur Tatzeit geltenden<br />
Recht durch eine quasi-naturrechtliche<br />
(Re-)Interpretation eine andere<br />
Bedeutung zumaß. Anstatt auf das Grenzgesetz<br />
der DDR, so wie es zur Tatzeit verstanden<br />
wurde, abzustellen, nahm man<br />
das Gesetz „in menschenrechtsfreundlicher<br />
Auslegung“(BGH). Für Schlink ist das ein<br />
Taschenspielertrick. Geltendes Recht im<br />
Sinne des Rückwirkungsverbotes könne<br />
immer nur sein, was zur Tatzeit als Recht<br />
anerkannt und praktiziert wurde. Jedes<br />
andere Verständnis verkürze das Recht um<br />
seine „Wirklichkeitsdimension“.<br />
Aber macht Schlink es sich an diesem<br />
Punkt nicht zu einfach? Was ist denn diese<br />
„Wirklichkeitsdimension“ des Rechts? Soll<br />
heißen: Wer entscheidet darüber, was<br />
wirklich ist und was nicht? Der Rechtspositivismus,<br />
so wie er hier vorgetragen wird,<br />
lässt die Täter entscheiden. Also die „offizielle“<br />
DDR mit ihren ganz unwirklichen<br />
Geheimhaltungsritualen, die sie um die<br />
Verletzung des Grenzregimes konstruieren<br />
musste, weil sie davon ausgehen durfte,<br />
dass nicht nur die Opfer, sondern die<br />
Mehrheit der Bevölkerung eine andere<br />
Auffassung zur Rechtmäßigkeit des Grenzgesetzes<br />
hatte.<br />
Vergangenheitsschuld und<br />
gegenwärtiges Recht<br />
von Bernhard Schlink<br />
€ 8,50<br />
2002, edition suhrkamp<br />
ISBN: 3-518-12168-5<br />
Wie dünn ist das Eis<br />
Am Endes des Buches steht dann ein Epilog<br />
- und die Frage nach der Zukunft der<br />
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit<br />
des Dritten Reiches und des Holocausts.<br />
Schlink diagnostiziert eine schleichende<br />
Banalisierung, eine Erinnerungskultur,<br />
deren moralisches Pathos ihm<br />
häufig leer erscheint und warnt vor Leichtfertigkeit<br />
und Zynismus als mögliche<br />
Gegenreaktionen: „Moralisches Pathos,<br />
das nicht in moralischem Engagement existentiell<br />
eingelöst wird, stimmt nicht, und<br />
die nächste Generation hat dafür durchaus<br />
ein Gespür“. Doch wird hier keiner neuen<br />
deutschen Fröhlichkeit das Wort geredet.<br />
Angesichts des Rückfalls in die Barbarei als<br />
einer realen Möglichkeit geht es Schlink<br />
um die Bewahrung kritischer Impulse.<br />
„Wenn damals das Eis, auf dem man sich<br />
kulturell und zivilatorisch sicher wähnte, in<br />
Wahrheit so dünn war – wie sicher ist das<br />
Eis, auf dem wir heute leben? Ist es mit<br />
dem Ablauf der Zeit dicker geworden, oder<br />
hat uns der Ablauf der Zeit nur vergessen<br />
lassen, wie dünn es ist?“. Wer selbst auf<br />
dem Eis steht, wird diese Fragen wahrscheinlich<br />
nie mit letzter Sicherheit beantworten<br />
können, sondern nur in dem Maß<br />
wie man sich mehr oder weniger vorsichtig<br />
voranbewegt.<br />
justament drei 2002<br />
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