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Archivnachrichten Nr. 46 , März 2013 (application/pdf 2.8 MB)

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Von Mädchen mit Schwefelhölzern<br />

Was die Akten des Medizinalkollegiums über die Herstellung von Zündhölzern<br />

im 19. Jahrhundert berichten<br />

Wer kennt es nicht, Hans-Christian Andersens<br />

1845 entstandenes Märchen vom<br />

kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern.<br />

Die anrührende Geschichte handelt<br />

von einer jungen Streichholzverkäuferin,<br />

die in einer Winternacht all ihre Zündhölzer<br />

verbrennt und schließlich –<br />

träumend im Licht der kleinen Feuer –<br />

den Kältetod findet.<br />

Fast zur gleichen Zeit, als Andersen<br />

seine Geschichte schrieb, erwähnte der<br />

Ludwigsburger Amtsvogt Höring in seinem<br />

Jahresbericht die rätselhafte, schwere<br />

Erkrankung eines Arbeiters in der Kammererschen<br />

Zündholzfabrik in Ludwigsburg.<br />

Der 48jährige Mann litt an massiven<br />

Entzündungen der Kieferknochen,<br />

die man völlig zu Recht mit der Einatmung<br />

von Phosphordämpfen in der<br />

Zündholzfabrik in Zusammenhang<br />

brachte. Der Fall veranlasste das Stuttgarter<br />

Medizinalkollegium als oberste<br />

Gesundheitsbehörde im Königreich<br />

Württemberg zu einer systematischen Erhebung<br />

der Arbeitsbedingungen in den<br />

zahlreichen Zündholzfabriken im Lande<br />

und des Gesundheitszustands der dort<br />

Beschäftigten. Durch diese Umfrage erfahren<br />

wir erstmals Näheres über die Zustände<br />

in diesen protoindustriellen Betrieben<br />

in Württemberg. Die Herstellung<br />

von Zündhölzern unter Verwendung von<br />

Phosphor, die der Ludwigsburger Friedrich<br />

Kammerer Anfang der dreißiger<br />

Jahre des 19. Jahrhunderts erfunden<br />

haben soll, war zwar schon vor dem Bekanntwerden<br />

der ersten Krankheitsfälle<br />

in das Blickfeld der staatlichen Behörden<br />

gelangt. Allerdings beschäftigten sich<br />

diese zunächst vor allem mit feuerpolizeilichen<br />

Belangen. Über die Arbeitsbedingungen<br />

in den Betrieben verraten diese<br />

Akten nur wenig. Erst die Bemühungen<br />

des Medizinalkollegiums um den Gesundheitsschutz<br />

der Arbeiter gewähren<br />

uns Einblicke in den Arbeitsalltag der Beschäftigten.<br />

Neben statistischen Aussagen<br />

enthalten die Berichte auch Schilderungen<br />

von Einzelschicksalen.<br />

Den heutigen Leser überrascht nicht<br />

nur, wie viele solcher Betriebe es damals<br />

gab, sondern auch, dass nicht wenige<br />

von ihnen in Kleinstädten und Dörfern<br />

betrieben wurden, oftmals sogar von<br />

Bauern im Nebenerwerb. Die räumliche<br />

Unterbringung war meist sehr beengt; oft<br />

nutzte man Wohnräume oder Anbauten<br />

an Wohngebäuden als Produktionsstätte.<br />

Einzelne Arbeitsgänge wurden vielerorts<br />

auch in Heimarbeit erledigt. Beschäftigt<br />

wurden neben jungen Frauen überdurchschnittlich<br />

viele Kinder, und das unter<br />

Einschluss des Schulunterrichts bis zu<br />

13 Stunden am Tag. Der Gesundheitszustand<br />

der Beschäftigten war – trotz mancher<br />

beschönigender Aussagen in den<br />

Berichten – meist nicht besonders gut.<br />

Bei beengten Verhältnissen, wenn mehrere<br />

Arbeitsgänge in einem Raum erledigt<br />

wurden, kam es immer wieder zu Phosphorvergiftungen.<br />

Manches Kinderleben<br />

endete so nicht in einem zarten Hinüberträumen<br />

wie bei Andersen, sondern<br />

unter langwierigen und heftigen<br />

Schmerzen.<br />

Um des Problems Herr zu werden,<br />

wurden schließlich – gegen den Widerstand<br />

der Zentralstelle für Handel und<br />

Gewerbe, die eine Verschlechterung<br />

der Wettbewerbsbedingungen für die<br />

württembergischen Betriebe durch die<br />

Verhängung von Auflagen befürchtete –<br />

Mindeststandards für die Herstellung<br />

von Zündhölzern verordnet, um gesundheitsgefährdende<br />

Kontakte mit Phosphordämpfen<br />

auszuschließen. Wie so oft,<br />

ist es allerdings gerade dem Auftreten<br />

von Missständen zu verdanken, dass wir<br />

mehr über jene Lebenswelt erfahren, aus<br />

denen auch das Mädchen aus Andersens<br />

Märchen stammte.<br />

Peter Müller<br />

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<strong>Archivnachrichten</strong> <strong>46</strong> / <strong>2013</strong>

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