Archivnachrichten Nr. 46 , März 2013 (application/pdf 2.8 MB)
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1 | Komarów, Frühjahr 1941. Die Datierung ergibt<br />
sich aus dem Bild selbst, auf dem noch kein Laub zu<br />
sehen ist, und Angaben des Zeugen Walter Zippel<br />
am 19.12.1961, der das Foto gemacht hatte.<br />
Vorlage: Landesarchiv StAL EL 317 III Bü 1203<br />
1<br />
Arbeitszwang und Zwangsarbeit<br />
Quellen aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg im Streit um das sogenannte Ghettorentengesetz<br />
2002 wurde als Ergänzung des Wiedergutmachungsrechts<br />
das Gesetz zur Zahlbarmachung<br />
von Renten aus Beschäftigungen<br />
in einem Ghetto (ZRBG) beschlossen.<br />
Das ZBRG sollte für Ghettoarbeit unter<br />
bestimmten Voraussetzungen einen Rentenanspruch<br />
begründen. Allerdings<br />
wurden zunächst über 90 Prozent der<br />
Anträge abgelehnt. Rund ein Drittel der<br />
Antragsteller klagte daraufhin. Die Begrifflichkeit<br />
des Rentenrechtes erwies<br />
sich als wenig kompatibel mit den komplizierten<br />
Lebensverhältnissen in den<br />
Ghettos. Auch in der historischen Forschung<br />
bildete dieser Aspekt ein Stiefkind.<br />
Relativ spät und verstärkt nur von<br />
einzelnen Sozialrichtern wurden Fachhistoriker<br />
gutachterlich herangezogen,<br />
darunter der Verfasser. 2009 kam es zu<br />
zwei Grundsatzentscheidungen des Bundessozialgerichts<br />
zum ZRBG. Unter<br />
anderem trennte es begrifflich Arbeitszwang<br />
und Zwangsarbeit und erkannte<br />
jegliche Form von Entlohnung an. Letzteres<br />
bedeutete, dass prinzipiell auch<br />
Entlohnung in Naturalien einen Rentenanspruch<br />
begründen kann. Danach kündigte<br />
die Rentenversicherung an, alle<br />
abgelehnten Fälle zu überprüfen. Historische<br />
Gutachten wurden weitgehend<br />
unnötig.<br />
Für die Gutachten erwiesen sich im<br />
Staatsarchiv Ludwigsburg neben Unterlagen<br />
des Landesamts für Wiedergutmachung<br />
insbesondere eine Entnazifizierungsakte<br />
und Akten von Strafverfahren<br />
wegen NS-Gewaltverbrechen als aussagekräftig,<br />
und zwar schwerpunktmäßig für<br />
das sogenannte Generalgouvernement,<br />
dem nicht direkt vom Deutschen Reich<br />
annektierten Restpolen.<br />
Die deutsche Arbeitsverwaltung hatte<br />
dort unmittelbar nach dem deutschen<br />
Einmarsch Dienststellen installiert. Für<br />
sie bildeten die Ghettos in den Städten<br />
sowie auch die kleineren offenen Landghettos<br />
von 1939 bis 1942 einen Teil ihres<br />
Arbeitskraftreservoirs. So konnte die<br />
Existenz einer Arbeitsamtsnebenstelle<br />
für das überwiegend jüdische Komarów<br />
(heute: Polen) im Distrikt Lublin durch<br />
eine Aussage in einer Ludwigsburger<br />
Akte belegt werden.<br />
Für männliche Juden galt prinzipiell<br />
Arbeitszwang. Zunächst kamen Juden<br />
nur in geringem Umfang in Arbeitslager.<br />
Ansonsten ließen, neben Landwirten<br />
und Verwaltungen, Firmen aller Art<br />
Juden für sich arbeiten. So bauten beispielsweise<br />
seit August 1940 als freie Arbeiter<br />
der Baufirma Oemler aus Stuttgart<br />
Juden aus dem Ghetto Staszów (heute:<br />
Polen) im Distrikt Radom an einer Fernverkehrsstraße<br />
mit. Auch für den Ausrüstungsbedarf<br />
der deutschen Soldaten<br />
produzierten jüdische Arbeiter/innen<br />
in diversen Betrieben. Die Ostbahn und<br />
Wehrmachtsdienststellen beschäftigten<br />
ebenfalls vielfach Juden.<br />
Für den heutigen Betrachter überraschend<br />
ist, dass die Juden zumindest<br />
zum Teil entlohnt wurden. So berichtete<br />
etwa ein deutscher kaufmännischer Mitarbeiter<br />
über seinen in Stryj (heute:<br />
Ukraine) im Distrikt Galizien arbeitenden<br />
Betrieb: Anfangs erhielten die Juden<br />
einen Lohn und auch Verpflegung. Der<br />
Lohn war entsprechend den bestehenden<br />
Vorschriften niedrig. Der Wochenlohn betrug<br />
etwa 100 Zloty = 50 Mark. Davon<br />
gingen noch die Soziallasten ab. Auch für<br />
Bauprojekte im Distrikt Radom fanden<br />
sich in den Ludwigsburger Akten ähnliche<br />
Aussagen.<br />
Nachdem bereits Hunderttausende<br />
polnische Juden aus Ghettos in die Vernichtungslager<br />
Belzec, Treblinka und<br />
Sobibor deportiert worden waren, gewann<br />
im Rahmen der Durchführung der<br />
Endlösung der Judenfrage der SS-und Polizeiapparat<br />
endgültig das Primat über<br />
die jüdischen Arbeiter. Mitte September<br />
1942 wurde jede Lohnzahlung an Juden<br />
direkt oder über die Judenräte indirekt<br />
verboten. Die Firmen mussten nun für<br />
noch nicht deportierte Arbeiter Geld an<br />
die SS entrichten. Spätestens jetzt waren<br />
sie als Zwangsarbeiter entweder auf Firmengelände<br />
kaserniert oder wurden von<br />
streng bewachten Restghettos bzw.<br />
Zwangsarbeitslagern zu den Arbeitsstellen<br />
geführt. Ein Teil entging oft in einer<br />
wahren Odyssee über Restghettos,<br />
Zwangsarbeitslager und Konzentrationslager<br />
der ihnen eigentlich zugedachten<br />
Vernichtung.<br />
Volker Rieß<br />
28<br />
<strong>Archivnachrichten</strong> <strong>46</strong> / <strong>2013</strong>