Dokumentation der Fachtagung vom 4.6.2013 in Berlin - Perspektive ...
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Stefan Sell<br />
11<br />
noch viele, gerade ältere Ingenieure haben, die arbeitslos<br />
s<strong>in</strong>d. Obwohl wir, wie <strong>in</strong> diesen Tagen bekannt wurde,<br />
viele Ingenieure haben – angeblich so e<strong>in</strong> knappes<br />
Gut auf dem deutschen Arbeitsmarkt –, die aber bei<br />
den großen Konzernen mit Werkverträgen abgespeist<br />
werden. Dann sehen Sie auch, dass mittlerweile bis zu<br />
50 Prozent <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Forschung und Entwicklung für<br />
die Automobil<strong>in</strong>dustrie tätigen Ingenieure nicht bei<br />
Daimler, BMW o<strong>der</strong> VW beschäftigt s<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n mit<br />
Werkverträgen für Ingenieurdienstleistungsunternehmen<br />
arbeiten. Zwar nicht zu Hungerlöhnen, aber eben<br />
auch nicht zu Löhnen, die man sich normalerweise<br />
nach Abschluss e<strong>in</strong>es Ingenieurstudiums vorstellt und<br />
die man bekommen kann, wenn man zur Stammbelegschaft<br />
e<strong>in</strong>es großen Konzerns gehört. Das heißt, wenn<br />
man genau schaut, warum es diesen angeblichen Mangel<br />
gibt, dann stellt man fest, dass es als Mangel angesehen<br />
wird, wenn die Arbeitgeber nicht mehr so frei auswählen<br />
können wie früher – und das hat was mit <strong>der</strong> Ausbildung<br />
zu tun. Die Zahl <strong>der</strong> Ingenieurstudenten hat sich<br />
seit dem Jahr 1993 erheblich verr<strong>in</strong>gert. Warum? Die<br />
älteren Semester werden sich noch gut an die Rezession<br />
<strong>in</strong> diesem Jahr er<strong>in</strong>nern und an die neudeutsch<br />
„Freisetzungen“ genannten Entlassungen gerade <strong>in</strong> den<br />
süddeutschen Industrieunternehmen. In dieser rezessiven<br />
Phase wurde an die Wirtschaft appelliert, die jungen<br />
Ingenieursjahrgänge wenigstens auf Teilzeit e<strong>in</strong>zustellen,<br />
damit diese zur Verfügung stehen, wenn die Konjunktur<br />
wie<strong>der</strong> anspr<strong>in</strong>gt. Man hat damals zwei, drei ganze<br />
Ingenieursjahrgänge <strong>in</strong> die Arbeitslosigkeit geschickt.<br />
Das hat sich bei den jungen Leuten natürlich herumgesprochen,<br />
es war Thema <strong>in</strong> <strong>der</strong> damaligen Berichterstattung,<br />
und dann haben sich viele gesagt: Soll ich so e<strong>in</strong><br />
schweres Studium machen und dann arbeitslos werden?<br />
Und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit s<strong>in</strong>d die Studierendenzahlen nach<br />
unten gegangen. Erst <strong>in</strong> den letzten Jahren ist es uns<br />
gelungen, die Zahl <strong>der</strong> Ingenieurstudenten wie<strong>der</strong> nach<br />
oben zu drücken – nicht nur, aber auch e<strong>in</strong>e Folge <strong>der</strong><br />
„Ingenieurmangel“-Debatte. Wenn Sie die Zahlen<br />
hochrechnen, werden Sie sehen, <strong>in</strong> zwei, drei, vier, fünf<br />
Jahren werden wir wie<strong>der</strong> genug Absolventen haben – <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>igen Ingenieurbereichen teilweise wie<strong>der</strong> zu viele.<br />
Bei den Ärzten ist die Problematik noch schwieriger.<br />
Wir haben Jahr für Jahr e<strong>in</strong>e steigende Zahl<br />
von Ärzten. Was sich allerd<strong>in</strong>gs verän<strong>der</strong>t hat: Es gibt<br />
immer mehr Frauen, und bei den heute das Mediz<strong>in</strong>studium<br />
beg<strong>in</strong>nenden jungen Menschen haben wir<br />
teilweise Frauenanteile bis 80 Prozent. Und die Frauen<br />
haben berechtigterweise ke<strong>in</strong>e Lust mehr, 60 Stunden<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelpraxis zu arbeiten. Sie wollen Beruf und<br />
Familie vere<strong>in</strong>baren. Sie wollen zum Beispiel nur noch<br />
Teilzeit arbeiten. Dann ist aber e<strong>in</strong> Arzt von heute nicht<br />
mehr <strong>der</strong> Arzt von gestern, son<strong>der</strong>n wir haben e<strong>in</strong><br />
Arbeitsvolumenproblem. Und neben dem Arbeitsvolumenproblem<br />
haben wir gleichzeitig e<strong>in</strong> veritables Verteilungsproblem<br />
<strong>der</strong>gestalt, dass die Ärzte bestimmte<br />
Regionen, vor allem ländliche Räume, meiden und sich<br />
<strong>in</strong> an<strong>der</strong>en, vor allem den großstädtischen, konzentrieren.<br />
Dann wird natürlich das Fehlen <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>er<br />
auf dem Land als „Ärztemangel“ wahrgenommen, was<br />
er ja auch ist für die Betroffenen, nicht aber unbed<strong>in</strong>gt<br />
bezogen auf das Gesamtaggregat.<br />
Man muss also bei diesen Gruppen, die es geschafft<br />
haben, sich <strong>in</strong> die öffentliche Diskussion zu br<strong>in</strong>gen,<br />
ganz genau h<strong>in</strong>schauen.<br />
Wo <strong>der</strong> „wahre“ Fachkräftemangel <strong>der</strong> Zukunft<br />
liegen wird? Wir haben schon seit Langem auf e<strong>in</strong>en<br />
großen Problembereich h<strong>in</strong>gewiesen – <strong>der</strong> lei<strong>der</strong> erst<br />
jetzt, <strong>in</strong> den letzten Monaten, auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaftspresse<br />
zunehmend thematisiert wird: Das Rückgrat<br />
<strong>der</strong> deutschen Wirtschaft s<strong>in</strong>d die Facharbeiter, von<br />
denen viele heute über 50 Jahre alt s<strong>in</strong>d und die e<strong>in</strong>e<br />
solide Berufsausbildung haben. Sie s<strong>in</strong>d es, die vielen<br />
Unternehmen <strong>in</strong> unserem Land die hohe Produktivität<br />
br<strong>in</strong>gen. Viele von ihnen werden <strong>in</strong> absehbarer Zeit<br />
<strong>in</strong> den Ruhestand gehen. In den nächsten Jahren wird<br />
deutlich werden, dass die Wirtschaft das Ausbildungsdefizit<br />
<strong>der</strong> zurückliegenden Jahre nachzuholen hat bzw.<br />
mit diesem konfrontiert werden wird. Man wird erkennen,<br />
dass gerade Facharbeiter <strong>in</strong> <strong>der</strong> Industrie <strong>in</strong> richtig<br />
großem Umfang fehlen werden. Und natürlich auch im<br />
Gesundheitswesen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pflege. So ist alle<strong>in</strong> die Frage<br />
schon nicht trivial, welche Fachkräfte wir denn sichern<br />
müssen, welche wir denn brauchen werden.<br />
Noch schwieriger ist es bei <strong>der</strong> Frage, wie viele<br />
Fachkräfte wir denn brauchen werden, die wir da als<br />
„Mangelware“ identifiziert haben, und ab wann genau<br />
wir die Fachkräfte brauchen werden. Was nützt es uns,<br />
wenn wir sie heute hätten, sie aber erst <strong>in</strong> zehn Jahren<br />
benötigen.