Philosophisches Themendossier - Philosophie.ch
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Interview mit<br />
Prof. Dr. Martino Mona<br />
Prof. Dr. Martino Mona hat seit 2012 den Lehrstuhl für Strafre<strong>ch</strong>t und Re<strong>ch</strong>tsphilosophie,<br />
Re<strong>ch</strong>tstheorie, Re<strong>ch</strong>tssoziologie an der Universität Bern inne. In seiner Dissertation aus<br />
dem Jahr 2007 mit dem Titel „Das Re<strong>ch</strong>t auf Immigration. Re<strong>ch</strong>tsphilosophis<strong>ch</strong>e Begründung<br />
eines originären Re<strong>ch</strong>ts auf Immigration im liberalen Staat“ befasste er si<strong>ch</strong><br />
ausführli<strong>ch</strong> mit dem Thema Einwanderung.<br />
Gibt es ein Re<strong>ch</strong>t auf Einwanderung?<br />
Nein, ein allgemeines Re<strong>ch</strong>t auf Einwanderung<br />
gibt es zurzeit ni<strong>ch</strong>t. Dies ist aber ein<br />
willkürli<strong>ch</strong>er Zustand, der historis<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet<br />
eher eine Eigenheit darstellt: Die Staatengemeins<strong>ch</strong>aft<br />
kam bis zum Ende des 19.<br />
Jahrhunderts weitgehend ohne Einwanderungsrestriktionen<br />
aus, obs<strong>ch</strong>on der Anteil<br />
an Migranten an der Gesamtbevölkerung<br />
damals höher war. Dass Gesells<strong>ch</strong>aften<br />
nur dank einer drastis<strong>ch</strong>en Eins<strong>ch</strong>ränkung<br />
der Einwanderung funktionieren können, ist<br />
entgegen dem heutigen politis<strong>ch</strong>en mainstream<br />
ni<strong>ch</strong>t anzunehmen. Die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
zeigt vielmehr, dass freie Migration den Prozess<br />
des Wirts<strong>ch</strong>aftswa<strong>ch</strong>stums gestärkt,<br />
zur Entstehung von erfolgrei<strong>ch</strong>en Staaten<br />
beigetragen und Kulturen und Zivilisationen<br />
berei<strong>ch</strong>ert hat. Migranten, die den Mut hatten,<br />
si<strong>ch</strong> über die Grenzen ihres Landes hinauszuwagen,<br />
um in fremden Ländern na<strong>ch</strong><br />
neuen Lebens<strong>ch</strong>ancen zu su<strong>ch</strong>en, haben<br />
si<strong>ch</strong> grundsätzli<strong>ch</strong> – sofern man sie ni<strong>ch</strong>t<br />
daran hinderte – zum erhebli<strong>ch</strong>en Vorteil<br />
des aufnehmenden Landes als tatkräftige<br />
Mitglieder der Gesells<strong>ch</strong>aft erwiesen. Die<br />
heutige Situation bildet diese Erkenntnis offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t ab. An vielen Fronten wird<br />
auf eine Restriktion der Einwanderung hin<br />
gearbeitet und damit faktis<strong>ch</strong> auf die Verteidigung<br />
unserer Privilegien. Dies muss geändert<br />
werden. Es ist nur eine Frage der Zeit,<br />
bis kommende Generationen dazu gelangen,<br />
ein Re<strong>ch</strong>t auf Einwanderung anzuerkennen;<br />
sie werden auf unsere Zeit s<strong>ch</strong>auen<br />
und diese genauso kritis<strong>ch</strong> beurteilen,<br />
wie wir die Zeiten der Leibeigens<strong>ch</strong>aft, des<br />
Feudalismus, der systematis<strong>ch</strong>en Unterdrückung<br />
von Frauen und Kindern oder der<br />
Diskriminierung von Behinderten beurteilen.<br />
Die Errungens<strong>ch</strong>aften in diesen Berei<strong>ch</strong>en<br />
müssen selbstverständli<strong>ch</strong> weitere ausgebaut<br />
werden und sind immer wieder vor Angriffen<br />
zu s<strong>ch</strong>ützen. Um wirkli<strong>ch</strong>e Gere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
s<strong>ch</strong>affen zu können, müssen aber au<strong>ch</strong><br />
die Bedürfnisse und Interessen der Ausländer<br />
und Immigranten stärker gewi<strong>ch</strong>tet und<br />
re<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ützt werden. Dazu ist aber<br />
in der Tat eine besondere Leistung der Perspektivenübernahme<br />
erforderli<strong>ch</strong>, da „Ausländer“<br />
diejenige Kategorie von Mens<strong>ch</strong>en<br />
ist, zu der i<strong>ch</strong> in meinem Land mit Si<strong>ch</strong>erheit<br />
nie gehören werde.<br />
Die Migrationspolitik der S<strong>ch</strong>weiz ist<br />
ein ständiges Thema in den Medien.<br />
Wel<strong>ch</strong>es ist Ihrer Ansi<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> die<br />
grösste S<strong>ch</strong>wierigkeit, der si<strong>ch</strong> die<br />
S<strong>ch</strong>weiz zu stellen hat?<br />
Die grösste S<strong>ch</strong>wierigkeit ergibt si<strong>ch</strong> aus<br />
dem eben Gesagten. Während es weitgehend<br />
gelungen ist, ein Gefühl der Solidarität<br />
oder des Gemeinsinns zu s<strong>ch</strong>affen im Hinblick<br />
auf die Sorgen und Bedürfnisse von<br />
einheimis<strong>ch</strong>en Gruppen oder Minderheiten,<br />
wird die Migrationspolitik dominiert von der<br />
Unters<strong>ch</strong>eidung in „Wir“ und „Andere“. Das<br />
Resultat ist eine selektive Gesetzgebung,<br />
die jegli<strong>ch</strong>es Mass verloren hat, weil sie<br />
eben ni<strong>ch</strong>t „uns“ betrifft, sondern nur andere<br />
Mens<strong>ch</strong>en, zu denen wir kaum einen<br />
Bezug haben. Mens<strong>ch</strong>en, die zwar ähnli<strong>ch</strong>e<br />
Bedürfnisse na<strong>ch</strong> Freiheit, Wohlstand und<br />
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