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1987 Verlag der Nation Berlin<br />
QUELLE: http://roswitha-gruettner.de<br />
Roswitha Grüttner<br />
Brief an Herrn S.<br />
Lieber Herr S.,<br />
ich bin sehr im Verzug mit der Antwort auf Ihren Brief. Zugegeben, ich<br />
finde es überaus freundlich, dass Sie mich an Ihrem Projekt beteiligen wollen –<br />
aber sollte man erstens nicht die Finger von dem lassen, was man nicht kann,<br />
und zweitens: sind Sie sicher, dass jemand meine Gedanken überhaupt lesen will?<br />
Ist es nicht eine ganz eigene und damit für jemanden, der sich nicht mit solcher<br />
Arbeit befasst, völlig uninteressante Sache, über Ängste, Nöte und auch Freude<br />
und Genugtuung zu sinnieren? Die Angst vor dem leeren Stück Papier, die Angst,<br />
einem Text nicht nahezukommen, sich einfach in der Vorfreude auf Kommendes<br />
verausgabt zu haben und dann unfähig zu sein, diese Lust sicht- und spürbar<br />
zu machen. Wer will das schon wissen? Nur das Resultat zählt. Und das Resultat<br />
meiner Arbeit ist die Illustration. Diese wiederum sollte entstehen, nicht gemacht<br />
werden – was also sollte ich da schreiben?<br />
Ist es nicht schon Anmaßung, einem anderen, der natürlich seine Bilder hat,<br />
die eigenen massiv dagegenzusetzen? Möglich, dass sich der eine oder andere angeregt<br />
fühlt und zu neuen bildlichen Vorstellungen gelangt - dies wäre ein ungeheurer<br />
Glücksfall! Aber ebenso gut könnte es sein, dass ich mit meinen Bildern den<br />
Leser gar nicht erreiche, ihn verärgere! Das ist das Risiko bei der Sache, denn die<br />
Illustration ist meine Äußerung zur Literatur, und diese ganz persönliche Meinung<br />
kommt ganz öffentlich – und jetzt auch noch in Worten? Nein, das lassen wir<br />
doch lieber.<br />
Bitte entschuldigen Sie mich.<br />
Herzlichst R.G.