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Rochlitzer Anzeiger

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<strong>Rochlitzer</strong> <strong>Anzeiger</strong> Seite 4 5. September 2013<br />

Holocaust Überlebende für einen Tag am Ort düsterer Vergangenheit<br />

<strong>Rochlitzer</strong> Geschichtsverein empfängt Agnes Geva<br />

69 Jahre ist es her als Agnes Geva unter unmenschlichen Bedingungen<br />

ihre nackten Füße auf <strong>Rochlitzer</strong> Boden setzte. Jetzt kehrte die heute 83-<br />

Jährige in den USA lebende Jüdin für einen Tag zurück an den Ort, der<br />

einer von denen ist, die das dunkelste Kapitel ihrer Lebensgeschichte<br />

markieren.<br />

Im Alter von gerade mal 14 Jahren wurde Agnes Geva gemeinsam mit<br />

ihrer Mutter und jüngeren Schwester aus Miskolc (Ungarn) ins Konzentrationslager<br />

Auschwitz-Birkenau deportiert. Im Herbst 1944 kam sie von<br />

dort nach Sachsen, wo sie in der Mechanik Rochlitz GmbH Zwangsarbeit<br />

verrichten musste. Der <strong>Rochlitzer</strong> Betrieb gehörte als Tochterunternehmen<br />

zu den Pittler Maschinenwerken in Leipzig, in der rund 600 jüdische<br />

Mädchen und Frauen Teile für die deutsche Rüstungsindustrie<br />

produzierten. Untergebracht waren die Zwangsarbeiterinnen in<br />

Baracken auf dem späteren Betriebsgelände von Stern-Radio und an<br />

der Waldheimer Straße (1990er Jahre Kunststofftechnik). Das <strong>Rochlitzer</strong><br />

Lager wurde streng bewacht und unterstand der Außenstelle des<br />

Konzentrationslagers Flossenbürg in Bayern.<br />

schehen von ganz persönlichen Erlebnissen und Begegnungen. Ingrid<br />

Lippold war damals vier Jahre alt und wohnte in der Nähe des ehemaligen<br />

Gesundheitsamtes. „Auf dem Weg zur Arbeit kamen die Zwangsarbeiterinnen<br />

tagtäglich an unserem Haus vorbei. Sie waren ausgemergelt,<br />

trugen nur leichte Arbeitsbekleidung und ihre nackten Füße steckten in<br />

abgewetzten Schuhen“, erinnert sie. In der Tür stehend, beobachtete<br />

Ingrid Lippold wie ihre Mutter den jüdischen Frauen heimlich Strümpfe<br />

zusteckte. Symbolisch für diese menschliche Geste überreichte sie beim<br />

Treffen im Rathaus ein Paar Strümpfe an Agnes Geva.<br />

Oberbürgermeisterin Kerstin Arndt sprach Frau Geva gegenüber ihre<br />

Hochachtung aus, dass sie den Mut und Willen gefunden habe nach all<br />

dem Erlebten für einen Tag nach Rochlitz zurückzukehren. Wichtig sei,<br />

dieses düstere Kapitel <strong>Rochlitzer</strong> Stadtgeschichte nicht zu vergessen.<br />

Als beispielhaft, wie auch die junge Generation in die Aufarbeitung eingebunden<br />

sei, nannte sie das Projekt „Zeitenspringer“ des Vereins Muldentaler<br />

Jugendhäuser e. V., dessen Mitstreiter eine kleine Ausstellung ihrer<br />

Arbeit im Rathausfoyer aufgebaut hatten.<br />

Am späten Nachmittag stand eine Kremserfahrt mit den Gästen auf dem<br />

Programm. Die Tour führte u. a. zum Gelände der ehemaligen Kunststofftechnik,<br />

wo Agnes Geva im Herbst 1944 untergebracht war. Sie<br />

erzählte von mehreren Baracken, die dort gestanden hätten und von<br />

bewaffneten SS-Aufseherinnen, die sie überall hin begleiteten.<br />

Nach vier Monaten Aufenthalt in Rochlitz wurde Agnes Geva nach Calw<br />

verlegt, wo sie bis 1945 Zwangsarbeit verrichtete.<br />

Gemeinsam mit ihrer Schwester und ihrer Mutter lebte sie nach Kriegsende<br />

zunächst für acht Monate in Innsbruck, danach führte sie der Weg<br />

zurück in ihre ungarische Heimatstadt Miskolc, wo der Antisemitismus<br />

inzwischen fest Fuß gefasst hatte. „Ich ging nur einen Tag zur Schule“,<br />

berichtet Agnes Geva, „meine Mitschüler fragten mich, warum ich überhaupt<br />

zurückgekommen sei, sie hätten gehofft mich nicht wieder zu<br />

sehen.“<br />

Vor den Mikrofonen und Kameras von MDR und Mittelsachsen TV<br />

schildert Agnes Geva in deutscher Sprache ihre Erinnerungen an das<br />

damals Erlebte.<br />

Anlässlich des diesjährigen Treffens ehemaliger Häftlinge in Flossenbürg<br />

reiste Agnes Geva erstmals nach 1945 als freie Bürgerin nach Deutschland<br />

und nutzte die Gelegenheit am Folgetag einer Einladung des<br />

<strong>Rochlitzer</strong> Geschichtsvereins nachzukommen. Vereinsvorsitzender Sven<br />

Krause sprach angesichts des Besuches der jüdischen Zeitzeugin von<br />

einer historischen Begegnung in der <strong>Rochlitzer</strong> Stadtgeschichte: „Es sei<br />

eine bemerkenswert schöne Geste von Frau Geva in ihrem inzwischen<br />

hohen Alter noch einmal den Weg nach Rochlitz zu nehmen, um durch<br />

ihre persönliche Anwesenheit die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels<br />

zu unterstützen.“<br />

Vor ca. 40 Gästen im <strong>Rochlitzer</strong> Rathaus berichtete Agnes Geva in<br />

gebrochenem Deutsch wie sie und ihre Familie die Deportation aus<br />

Ungarn überlebt hatten, wie in Auschwitz Transporte mit Häftlingen aus<br />

allen Richtungen ankamen und wie tagtäglich Menschen selektiert<br />

wurden. „Wir wussten nicht wohin es geht und was uns am Bestimmungsort<br />

erwartete“, schilderte Agnes Geva die unerträgliche Last der<br />

Ungewissheit. Was sie im KZ Auschwitz in nur wenigen Tagen an<br />

Unmenschlichkeit erlebt hatte, nahm ihr jeglichen Glauben dieser Hölle<br />

jemals entrinnen zu können.<br />

Vom September 1944 bis zum Januar 1945 war Agnes Geva in Rochlitz,<br />

einem Außenlager des KZ Flossenbürg, untergebracht. „Wir wurden mit<br />

verschiedenen handwerklichen Fertigkeiten vertraut gemacht und man<br />

zeigte uns, wie man Schrauben in Aluminium dreht. Während der<br />

Anlernphase bekamen wir Zettel und Bleistift, durften an einem Tisch<br />

Platz nehmen und uns auf einen Stuhl setzen. Für mich war es das erste<br />

Mal in Gefangenschaft, dass ich mich wieder ein wenig wie ein Mensch<br />

fühlte“, erinnert sich Agnes Geva.<br />

Einige der anwesenden Gäste, darunter Ingrid Lippold und Gerhard<br />

Hofmann berichteten im Zusammenhang mit dem damaligen Zeitge-<br />

Agnes Geva (2.v.re.) am Standort der ehemaligen Kunststofftechnik in<br />

der Waldheimer Straße. 1944/45 standen hier noch mehrere Baracken,<br />

in denen die Zwangsarbeiterinnen untergebracht waren.<br />

Angesprochen auf ihre Familie, Frau Geva war mit 2 ihrer Enkelinnen<br />

angereist, räumte sie ein, dass ihre Schwester bis heute nicht über die<br />

schmerzvollen Erinnerungen sprechen könne.<br />

Rund 30.000 Menschen mussten im KZ Flossenbürg ihr Leben lassen.<br />

Agnes Geva hatte das außergewöhnliche Lebensglück der Hölle von<br />

Auschwitz und Flossenbürg zu entkommen.<br />

Heute arbeitet sie im National-Holocaust-Museum in Washington als<br />

Freiwillige im Bereich Besucherbetreuung.<br />

Ihr Tag in Rochlitz ging mit einer „musikalischen Referenz“ in der St.<br />

Petrikirche zu Ende.<br />

Jörg Richter<br />

C<br />

M<br />

Y<br />

K

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