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edition grischa<br />
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Der Autor<br />
Peter Montalin, geboren 1953, lebt im Domleschg im Kanton Graubünden.<br />
Er schreibt Krimis, Thriller und historische Romane, macht aber auch<br />
vor gesellschaftskritischen Themen nicht Halt. Er begann mit zahlreichen<br />
Kurzgeschichten und schrieb 2008 seinen ersten Roman. Durch seine<br />
Weltreisen ist er in der Lage, die Orte des Geschehens in seinen Bücher<br />
authentisch zu beschreiben. Sein Erstling „Schattenvögel“ erschien 2012<br />
und der Nachfolger „Grünes Blut“ 2013. 2014 erscheint mit „Im Namen der<br />
Kirche“ sein erstes gesellschaftskritisches Werk, gefolgt von „<strong>Die</strong> <strong>Zeitmacher</strong>“,<br />
einem historischen Roman. 2015 erscheint mit „Das Mädchen mit<br />
dem Teufelsgesicht“ ein weiterer gesellschaftskritischer Roman.<br />
Das Buch<br />
Boris Michailow ist Hofuhrmacher des Zaren in St. Petersburg. Bereits<br />
1904 erfindet er die erste Armbanduhr, die vorerst nur belächelt wird.<br />
Beunruhigt von den politischen Unruhen beschließt er, Russland zu verlassen.<br />
Da seine Frau Olga mit seinem Vorhaben nicht einverstanden ist,<br />
reist Boris allein in die Schweiz, fest entschlossen, einen Neuanfang zu<br />
wagen. In Neuenburg erwirbt er eine Fabrik nebst einer Villa für seine<br />
Familie. Gleichzeitig muss er sich mit der ablehnenden Haltung der<br />
Schweizer Uhrmacher auseinandersetzen. Nach seiner Rückkehr nach Russland<br />
hofft er, Olga hätte ihre Meinung geändert, doch sogar nach dem<br />
Sturz des Zaren ist sie nicht bereit, das Land zu verlassen. So macht sich<br />
Boris gegen ihren Willen mit ihr und zehn seiner Mitarbeiter und ihren<br />
Familien auf den Weg in die Schweiz, mitten durch die deutschen Linien.<br />
Eine Odyssee beginnt.<br />
2<br />
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Peter Montalin<br />
<strong>Die</strong> <strong>Zeitmacher</strong><br />
Historischer Roman<br />
3<br />
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<strong>Die</strong>ser Titel erscheint auch als E-Book<br />
© edition grischa 2014<br />
Alle Rechte vorbehalten<br />
www.edition-grischa.ch<br />
Der Autor im Internet:<br />
www.petermontalin.ch<br />
Umschlags- und Buchgestaltung: grischa inhouse unter Verwendung<br />
von Fotos von shutterstock.de<br />
Printed in Germany<br />
978-3-906120-12-6<br />
Bibliografische Information der Schweizer Bibliothek:<br />
<strong>Die</strong> Schweizer Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />
in der Schweizer Nationalbibliografie.<br />
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5
Hauptpersonen<br />
Boris Michaelow, Hofuhrmacher St. Petersburg<br />
Olga, seine Frau<br />
Eva, seine zweite Frau<br />
Boris jun. II, sein erster Sohn (aus erster Ehe)<br />
Alexander, sein zweiter Sohn (aus zweiter Ehe)<br />
Pascal, sein dritter Sohn<br />
Sandra, Boris‘ Schwiegertochter, Pascals Frau<br />
Jacqueline, Alexanders Frau<br />
Alexandra, Alexanders Tochter<br />
Boris III, Sohn von Sandra<br />
Igor Kapajev, Eisenbahnunternehmer St. Petersburg<br />
Joan Martin, Igors Frau<br />
Charles, Igors Sohn<br />
Jeanine, Frau von Charles<br />
Juri Antanov, Vorarbeiter von Igor<br />
Anna, Frau von Juri<br />
Grigori, Sohn von Juri<br />
Dawid Nowak, polnischer Jude und Unternehmer<br />
Abraham Wiese, österreichischer Jude und Unternehmer<br />
Akseli Korhonen, finnischer Eisenbahnunternehmer<br />
Walter Merian, Anwalt und Freund von Alexander<br />
Isabelle Merian, seine Frau<br />
Klaus Merian, sein Sohn<br />
Weitere Schweizer<br />
Marcel Benoit, Fuhrhalter Neuchâtel<br />
Witwe Capelli, Fabrikbesitzerin Neuchâtel<br />
Anna Elmer, Kindermädchen von Boris jun. II<br />
Walter Iselin, Bauunternehmer Basel<br />
Paul Wagner, Schmuckunternehmer Basel<br />
Erich Müller, Privatdetektiv Bern<br />
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Rolf Bichsel, Freier<br />
Hans Berger, Polizist<br />
Peter Gerber, Student und Vater von Boris III<br />
Mario Segantini, Klavierlehrer von Boris III<br />
Walter Huber, Anwalt Neuchâtel<br />
Doris Rösli, Steuerbeamtin<br />
Paul Enzler, Detektiv und Mitarbeiter von Müller<br />
Anne Dubois, Hausmädchen von Sandra<br />
Doktor Perrin, Psychiater<br />
Evelin Grosjean, Freundin von Alexandra<br />
Celine Bourgeois, Freundin von Alexandra<br />
Xavier Blanc, Ganove und Heiratsschwindler<br />
Susanne Bertod, Psychiatrieschwester<br />
Ralph Beglin, Staatsanwalt<br />
Walter Ettinger, Anwalt von Sandra<br />
Erneste Wiler, Richter<br />
Jaques Biland, ehem. Assistent von Alexander<br />
Amerikaner<br />
Ralph Gardner, Unternehmer und Vater von Rebecca<br />
Rebecca Gardner, Freundin von Alexandra<br />
Eric Warner, Inhaber der Detektei Warner<br />
Tom Harris, Mitarbeiter von Warner<br />
Toni Bertoli, Mafioso<br />
Viktor Kulikov, Freund von Juri und Mitarbeiter bei Ford<br />
Historische Persönlichkeiten<br />
Zar Niklaus II, Russischer Herrscher 1894 - 1917<br />
Zarin Alexandra (Alix von Hessen-Darmstadt), seine Frau<br />
Alexander Fjodorowitsch Kerenski, Chef Übergangsregierung<br />
Wladimir Iljitsch Lenin, Bolschwewikenführer<br />
Lionel Martin, Rennfahrer und Unternehmer<br />
Nicolas Hajek, Schweizer Unternehmer<br />
7<br />
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Weitere Titel des Autors<br />
Schattenvögel, Kriminalroman<br />
Grünes Blut, Kriminalroman<br />
Im Namen der Kirche, Thriller<br />
8<br />
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Prolog<br />
Er war völlig durchnässt, die Haare klebten an seinem<br />
Kopf, die Hose hing zerrissen herunter, die Schnürsenkel<br />
fehlten seinen Schuhen und das schlechte Gewissen gegenüber<br />
seiner Frau und den Kindern trieb ihn zur schieren Verzweiflung,<br />
einer Verzweiflung, die ihn innerlich zerfraß. Wieder<br />
einmal, wie fast täglich, stand er mit leeren Händen da und<br />
wusste nicht, wie er dies den Seinen erklären sollte. Langsam<br />
öffnete er die Tür.<br />
»Hast du was bekommen, Juri?«<br />
»Nein, Anna, nichts. Als ich um zwei Uhr morgens ankam, war<br />
die Schlange schon über hundert Meter lang und um sechs Uhr<br />
gab‘s kein Brot mehr.«<br />
»Was soll ich denn nur den Kindern sagen? Sie hungern seit<br />
Tagen.«<br />
»Ich weiß es nicht, aber so kann es nicht weitergehen. Irgendetwas<br />
muss geschehen, und zwar bald.«<br />
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10<br />
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Erster Teil<br />
Flucht und Neuanfang<br />
1916 – 1945<br />
11<br />
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12<br />
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1<br />
Boris Michailow 1916 – 1945<br />
Wie ein riesiges undurchlässiges Tuch lag der Dunst über<br />
der Stadt und drückte die kohlegeschwängerten Gase<br />
der Großindustrie ins Innere der Häuser. Es schien, als sei gar<br />
nichts mehr in Ordnung, als Boris Michailow im Frühjahr 1916<br />
in St. Petersburg in seiner Werkstatt saß und seinen neuesten<br />
Chronometer betrachtete, den er soeben fertig zusammengebaut<br />
hatte. Immer, wenn er seine Werke betrachtete, hing er<br />
seinen Gedanken nach. Gedanken über den Sinn des Lebens und<br />
seines eigenen Daseins.<br />
Plötzlich zerbarst eine Fensterscheibe und ein in Papier gewickelter<br />
Stein lag vor ihm. Vorsichtig griff er danach, wickelte<br />
den Stein aus und erblickte Geschriebenes. Er klemmte das<br />
Monokel vors Auge und las: Ihr solltet allesamt vor die Hunde<br />
gehen. Angst hing in der Luft und sie schien mit riesigen<br />
Tentakeln nach ihm zu greifen. Er kam sich vor wie auf einem<br />
Vulkan sitzend, in dessen Inneren es brodelte und dampfte und<br />
die Eruption kurz bevorstand. Aber noch konnte er sich retten.<br />
Seit 1914 hieß die Stadt eigentlich Petrograd, aber damit<br />
wollte sich niemand so richtig anfreunden, auch Boris nicht.<br />
Obwohl er über vierhundert Mitarbeiter beschäftigte, ließ er<br />
es sich nicht nehmen, ab und zu selbst Hand anzulegen. <strong>Die</strong><br />
Uhrenmanufaktur der Michailows war denn auch die größte im<br />
13<br />
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ganzen Zarenreich und wurde bereits zu seines Vaters Zeiten<br />
zur Hofmanufaktur ernannt, worin sich neben der hervorragenden<br />
Qualität auch ihr Erfolg begründete.<br />
Nicht allein der Krieg, der im Zarenreich wütete, machte<br />
Boris Angst, sondern vor allem die politische Instabilität im<br />
eigenen Land. In fast ganz Europa dominierte der Adel und<br />
spuckte verächtlich auf die kleinen Leute. Eine Obrigkeit, die<br />
nicht aufgrund ihres Könnens oder der Intelligenz das Sagen<br />
hatte, sondern allein ihrer Herkunft wegen. Boris machte nicht<br />
wie viele seiner Landsleute den Fehler, die Bolschewiken und<br />
die mit ihnen einhergehenden Unruhen zu unterschätzen. <strong>Die</strong><br />
dauernden Streiks, die größtenteils auf ihr Konto gingen, ließen<br />
jedoch die Unzufriedenheit der Bevölkerung klar zutage<br />
treten. Eine Unzufriedenheit, die Boris durchaus nachvollziehen<br />
konnte, war er doch einer von wenigen, die in ihrem eigenen<br />
Haus Ordnung geschaffen haben und das Wohl der Arbeiter an<br />
erste Stelle stellten, was sich auch auszahlte. So glaubte er<br />
jedenfalls.<br />
Er wusste nur zu genau, wie es um die Arbeiter bestellt<br />
war und führte deshalb bereits 1910 die Fünfzigstunden- und<br />
Fünftagewoche ein, obwohl er von allen Seiten dafür belächelt<br />
wurde. Vielfach bezeichnete man ihn sogar als Verräter an der<br />
herrschenden Klasse, was ihn zum Außenseiter machte. Doch<br />
jeden, der für die Michailows arbeiten durfte, erfüllte dies mit<br />
besonderem Stolz.<br />
Da die Automation, besonders im Uhrenhandwerk, noch in<br />
den Kinderschuhen steckte, beschäftigten die Michailows ausschließlich<br />
gut ausgebildete Facharbeiter, die an ihren Tischen<br />
mit den runden Ausschnitten und den Lupen auf der Stirn Uhr<br />
14<br />
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für Uhr herstellten. Jedes einzelne Teil wurde von Hand gefertigt,<br />
und so dauerte es oft Wochen, bis eine fertige Uhr die<br />
Manufaktur verlassen konnte.<br />
Boris war nie selbst politisch aktiv, aber er verfolgte die<br />
Entwicklung mit Argusaugen, vielleicht mehr als ein eingefleischter<br />
Politiker, oder wie auch immer sich die führenden<br />
Köpfe dieser Zeit nannten. Er führte auch viele Gespräche,<br />
sowohl mit Arbeitern als auch mit angesehenen Leuten, und<br />
konnte sich deshalb durchaus ein Bild der momentanen Lage<br />
machen. Gleichwohl musste er Vorsicht walten lassen, denn die<br />
gefürchtete Geheimpolizei des Zaren hatte ihre Ohren überall.<br />
Er wusste, dass auf jeder Veranstaltung, die er besuchte, des<br />
Zaren Spitzel eingeschleust waren und es vernünftiger schien,<br />
nicht jedermann mit der schrecklichen Wahrheit zu konfrontieren.<br />
Eins jedoch sah er genau: So konnte es keinesfalls weitergehen,<br />
sonst würde Mütterchen Russland einen gewaltsamen<br />
Tod erleiden.<br />
Boris war davon überzeugt, dass die Tage des Zaren gezählt<br />
waren, mochte sich dieser auch noch so dagegen zur Wehr setzen.<br />
Mit schöner Regelmäßigkeit schlüpften die Aufmüpfigen<br />
immer öfter durch die Maschen der so gefürchteten Geheimpolizei.<br />
Auch das Zauberwort Sibirien schien diese Leute nicht<br />
abzuschrecken, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Es<br />
wurden verschiedene Untergrundorganisationen gegründet, denen<br />
die Geheimpolizei nur schlecht beikam, und wenn sie es<br />
dennoch schaffte, entstand gleich eine neue Zelle. <strong>Die</strong> Wirren<br />
des Krieges schickten denn auch Wasser auf die Mühlen dieser<br />
Oppositionellen, die an der mittlerweile dreihundertjährigen<br />
15<br />
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Diktatur der Romanows kein gutes Haar ließen. Auch sein eigenes<br />
Haus war schon verschiedentlich Ziel von Attacken, und<br />
fast jede Woche mussten wieder einmal ein paar Fensterscheiben<br />
ersetzt werden. Der Pöbel ging sogar so weit, gewaltsam<br />
ins Haus einzudringen, aber Boris konnte dies dank seiner vier<br />
Wachleute bisher verhindern.<br />
Sorgen bereiteten ihm aber auch seine über vierhundert Mitarbeiter,<br />
die er beschäftigte, und ihre Familien, die dahinter<br />
standen und deren Broterwerb er begründete. Viele von ihnen<br />
verdankten ihm ihren bescheidenen Wohlstand und Boris war<br />
immer darauf bedacht, diesen zu mehren.<br />
Er hatte das von seinem Vater gegründete Unternehmen in<br />
den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut, und es gehörte<br />
zu St. Petersburg wie eine Institution. Er unterhielt zwei<br />
Werke. Im ersten wurden Taschenuhren, im anderen Wand- und<br />
Tischuhren gefertigt. Jeder in St. Petersburg, der es sich leisten<br />
konnte, war stolz darauf, eine Michailow Uhr zu besitzen.<br />
Gerade in den letzten beiden Jahren vervielfachte sich der<br />
Absatz seiner Uhren, während die Arbeiter und Bauern unter<br />
massiver Teuerung litten. Überhaupt stieg die Nachfrage für<br />
Luxusgüter seit Beginn des Krieges.<br />
<strong>Die</strong>s alles drohte jetzt den Bach hinunter zu gehen, und dies<br />
nur wegen ein paar unverbesserlicher Fanatiker, die mit ihren<br />
unrealistischen Parolen das Volk aufhetzten. Bereits bei den<br />
Unruhen 1905 schlugen einige kluge Köpfe dem Zaren vor, dringend<br />
Reformen einzuleiten, was dieser mit seiner dummen Arroganz<br />
mit schöner Regelmäßigkeit abwürgte, und er in dieser<br />
Ansicht bei vielen Speichelleckern noch Unterstützung fand.<br />
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Sein Vater war wegen seiner Verdienste 1872 vom Zaren<br />
geadelt worden, und ein Michailow zu sein, bedeutete fortan<br />
etwas. Aber wie lange noch? Boris dachte nicht daran, sich<br />
künftig sein Leben von einer Horde grenzenloser Fanatiker und<br />
Barbaren diktieren zu lassen, und er hielt auch nichts von Klassenkämpfen,<br />
da ihm dies wider die menschliche Natur ging.<br />
Auch er hatte die Thesen von Karl Marx gelesen und konnte<br />
sich mit einigen Passagen durchaus anfreunden, doch entstand<br />
bei ihm die feste Überzeugung, dass dieses Manifest in den<br />
Händen dieser Fanatiker mehr Schaden anrichtet, besonders,<br />
wenn es falsch ausgelegt wurde, und dass genau dies geschehen<br />
konnte, dessen war er sich sicher.<br />
So saß er nun da und überlegte, in diesem Labyrinth den<br />
Ausgang zu finden, ohne allzu viel Not und Bitterkeit in seinem<br />
Innern zu hinterlassen. Sein Vater hatte 1905 das Zeitliche<br />
gesegnet, und seither führte Boris das Unternehmen im Alleingang,<br />
denn Brüder hatte er keine, nur zwei Schwestern, und<br />
Frauen wurden nicht zur Nachfolge zugelassen.<br />
Boris war jetzt sechsunddreißig. Er fing damals gleich nach<br />
der Schule im Betrieb seines Vaters an und lernte das Uhrmacherhandwerk<br />
von der Pike auf. 1902 schickte ihn sein Vater für<br />
zwei Jahre in die Schweiz, um von den dortigen Größen zu lernen<br />
und seine Fertigkeit zu perfektionieren, und er erwog den<br />
Gedanken, genau dorthin zurückzukehren, weil er wusste, dass<br />
er den dortigen Koryphäen in keiner Weise nachstand, weder in<br />
puncto Kreativität noch Exaktheit. <strong>Die</strong> Reise war schon damals<br />
beschwerlich, und Boris wagte nicht daran zu denken, wie diese<br />
inmitten der hässlichen Kriegswirren verlaufen würde.<br />
Und da war auch noch seine Frau Olga, die so sehr in den<br />
adligen Festivitäten aufging, welche fast täglich stattfanden,<br />
17<br />
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und nicht davon wegzulocken war, ohne dass man sie gewaltsam<br />
von diesen Wurzeln trennte, und genau dies wollte er tunlichst<br />
vermeiden. Jedes Gespräch, welches in diese Richtung<br />
lief, wurde von Olga jeweils durch einen heftigen Weinkrampf<br />
unterbrochen, sie wehrte sich, als wenn es ihr Leben zu verteidigen<br />
galt. Doch Boris war sich sicher, dass er handeln musste,<br />
wenn er das Lebenswerk seines Vaters, welches mittlerweile<br />
auch sein eigenes war, retten wollte.<br />
Auf eben einem dieser Feste hatte er Olga 1908 kennengelernt.<br />
Sie war die Tochter eines Grafen, der in den <strong>Die</strong>nsten des<br />
Zaren stand, und es gereichte Boris zur Ehre, ihr den Hof machen<br />
zu dürfen, insbesondere weil sie auch noch ein anmutiges<br />
Äußeres besaß. Es stellte sich heraus, dass hinter der Fassade<br />
des adligen Geschlechtes nichts weiter steckte als dauernde<br />
Geldnöte, in denen Olgas Vater zu versinken drohte und schon<br />
bald war sonnenklar, wer hier die gute Partie machen würde.<br />
<strong>Die</strong> Mitgift fiel denn auch mehr als bescheiden aus und war<br />
kaum erwähnenswert, als er Olga 1911 vor den Traualtar führte,<br />
denn das Haus des Grafen stand vor der Zwangsversteigerung<br />
und konnte nur mit Boris Mitteln gerettet werden. Der feine<br />
Herr kam dann auch des Öfteren bettelnd angekrochen wie ein<br />
Hund, der gerade eine Tracht Prügel bezogen hatte.<br />
1913 wurde Olga schließlich schwanger und gebar ihm Anfang<br />
1914 einen Sohn, den sie Boris nannten. Dank des Geldes<br />
von Boris wurde der Kleine gleich in die Obhut eines Kindermädchens<br />
gebracht, damit Olga weiter ihren so wichtigen gesellschaftlichen<br />
Verpflichtungen, wie sie es nannte, nachgehen<br />
konnte. Jeden Morgen aalte sie sich in ihrem Bett wie eine<br />
göttliche Diva, bis man ihr zwischen zehn und halb elf den Tee<br />
18<br />
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servierte, den sie achtlos hinunterstürzte, um sich danach von<br />
einer Zofe in ihre bereiften Kleider helfen zu lassen, Kleider,<br />
die sie sich ohne Boris gar nicht hätte leisten können. Nach<br />
dem Mittagessen, welches gegen ein Uhr eingenommen wurde,<br />
ging das Ganze dann wieder von vorne los. Auch die Finanzen<br />
des Grafen schienen sich vorerst zu erholen, um drei Jahre später<br />
wieder vor dem Abgrund zu stehen, aber trotz Zureden von<br />
Olga konnte dieser kein zweites Mal mit Boris Hilfe rechnen.<br />
***<br />
Igor Kapajev war ein Mann von kleiner Statur mit üblichem<br />
Respektbalken unter der Nase, den er des Nachts immer unter<br />
einer Binde versteckte. Mit seinen stechenden Augen konnte<br />
er seine Diskussionspartner regelrecht löchern und sie förmlich<br />
zu Zugeständnissen zwingen. Er wuchs mit drei Schwestern<br />
wohlbehütet auf und galt als besonders cleverer Geschäftsmann,<br />
der auch Neuerungen keineswegs ablehnend gegenüberstand.<br />
Gleich Boris hatte auch er die Firma seines Vaters<br />
übernommen, ein großes Werk, welches Lokomotiven und Eisenbahnwaggons<br />
herstellte und deren Nachfrage nach Ausbruch<br />
des Krieges ständig stieg. <strong>Die</strong> Armee des Zaren verfügte über<br />
die erstaunliche Anzahl von sechs Millionen Mann, und diese<br />
mussten irgendwie an die Front gelangen. Sein Werk wurde<br />
von immer wiederkehrenden Streiks heimgesucht und die Lösung<br />
dieses Problems bestand darin, dass man die streikenden<br />
Arbeiter kurzerhand an die Front schickte und sie damit den<br />
deutschen Kanonen zum Fraß vorwarf. Außer der zahlenmäßigen<br />
Überlegenheit hatte die russische Armee nichts vorzuweisen,<br />
was sie auch nur im Entferntesten berechtigte, in diesem<br />
19<br />
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fürchterlichen Krieg mitzumischen. Nur ein kleiner Bruchteil<br />
der Wehrmänner verfügte überhaupt über eine soldatische Ausbildung.<br />
<strong>Die</strong> Waffen, die sie benutzten, waren veraltet, litten<br />
großteils an Ladehemmungen und die Kanonen gehörten bestenfalls<br />
ins nächste Museum. Dazu kamen die Offiziere, die<br />
schon allein ihrer Herkunft wegen seit Geburt diesen Titel trugen<br />
und vom Kriegshandwerk so viel verstanden, wie ein Bauer<br />
vom Rosenzüchten. Das Problem wurde dadurch gelöst, dass<br />
man Soldaten, welche die stumpfsinnigen Befehle missachteten,<br />
kurzerhand erschoss oder an den nächsten Galgen hängte.<br />
Wer also nicht unter feindlichen Kugeln erstickte, wurde von<br />
den eigenen Leuten beseitigt. Zu allem Übel waren es immer<br />
wieder Igors beste Arbeiter, die auf diesem Weg an die Front<br />
kamen, und so bekundete er bald einmal größte Mühe, die geforderte<br />
Produktion aufrechtzuerhalten.<br />
Seit 1913 war er Mitglied der Duma, einer grauenhaften Ansammlung<br />
arroganter Zeitgenossen, und dort dem liberalen<br />
Flügel zugehörig. Igor war kein Anhänger des Zaren, dessen unvorstellbare<br />
Ignoranz und Dummheit er hasste. Trotzdem fühlte<br />
er sich der herrschenden Oberschicht näher als seinen Arbeitern.<br />
Sein bester Freund war Boris, der auch einer der Einzigen<br />
war, der ihm die Stirn bot. Aber er glaubte sich sicher, dass<br />
nichts von den nächtelangen Diskussionen, die sie pflegten, je<br />
nach außen drang. Seit dem Aufstand 1905, der so blutig niedergeschlagen<br />
wurde, hatte der Zar seine Geheimpolizei, und<br />
insbesondere sein Spitzelnetz beträchtlich ausgebaut, sodass<br />
es sogar in der Oberschicht immer schwieriger wurde, ein offenes<br />
Wort zu wechseln.<br />
Igor teilte Boris‘ Ansicht, dass das letzte Stündchen des un-<br />
20<br />
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geliebten Herrschers längst geschlagen hat, folgte aber dessen<br />
Meinung mit der drohenden Anarchie für Mütterchen Russland<br />
nicht. Für ihn war klar, die Macht im Staate würde von einer<br />
Gruppe intelligenter Köpfe übernommen, wenn denn der Zar<br />
einmal entfernt wäre, und die Oberschicht ließe sich das Zepter<br />
nicht so einfach aus der Hand nehmen.<br />
Igor war der einzige Außenstehende, der von Boris‘ Plänen<br />
wusste und dieses Vorhaben gab immer wieder Anlass zu kontroversen<br />
Diskussionen der beiden. Immerhin folgte er Boris,<br />
indem er die Fünfzigstundenwoche einführte, und staunte, dass<br />
die Streiks im gleichen Moment stark nachließen. <strong>Die</strong>se Tatsache<br />
bekräftigte ihn, sich fortan vermehrt für Reformen einzusetzen,<br />
mit denen er aber in der Duma gegen Windmühlen<br />
kämpfte. Hinzu kam der Umstand, dass der Zar das Parlament<br />
kurzerhand aufzulösen pflegte, wenn sich dieses wieder einmal<br />
allzu reformfreudig zeigte. In einem Punkt schien er mit Boris<br />
einig, der Zar musste weg, um den Fortbestand von Russland<br />
zu sichern, doch die Gefahr, die darin bestand, verschloss sich<br />
seinem geistigen Auge und den Argumenten seines Freundes.<br />
So war es denn keineswegs verwunderlich, dass Igor die Pläne<br />
von Boris ins Reich der Absurdität verwies.<br />
Am Freitag, dem 19. Mai 1916, geschah dann das Unfassbare.<br />
Igor war auf dem Weg zu seinem Werk, als er hinter sich<br />
Schritte hörte. Er schaute sich um und sah zehn Männer, angeführt<br />
von einem Sergeanten, allesamt mit Schlagstöcken und<br />
Gewehren bewaffnet. Igor stellte sich ihnen in den Weg.<br />
»Was wollt ihr auf dem Werksgelände?«, fragte er den Anführer.<br />
»Das geht Euch einen Scheißdreck an!«, murrte der Sergeant.<br />
21<br />
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»Und ob mich das was angeht. Das ist mein Gelände und ihr<br />
haben hier nichts zu suchen.«<br />
»Wir sind hinter vier Deserteuren her, und die sind hier gesehen<br />
worden.«<br />
»Und wer sagt euch, dass es Deserteure sind?«<br />
»Das wissen wir.«<br />
Igor wusste, dass er vor drei Tagen vier ehemalige Arbeiter<br />
eingestellt hatte, die 1915 von der Armee eingezogen wurden,<br />
Männer, die seit Jahren für ihn arbeiteten. In der Märzoffensive<br />
1916 waren sie von ihren Offizieren mit der Pistole im Rücken<br />
auf den Feind gehetzt worden. Längst hatte man aufgehört, die<br />
Gefallenen und Verletzten dieser unbeschreiblich arroganten<br />
Dummheit zu zählen. Er beschloss, sie nicht einfach kampflos<br />
dem Galgen preiszugeben, da sich die Stimmen mehrten, diesen<br />
Krieg, der nie gewonnen werden konnte, zu beenden.<br />
»Auf diesem Gelände sind nur mir bekannte Arbeiter, und<br />
jetzt verschwindet.«<br />
»Tut mir leid, wir müssen das Werk durchsuchen. Geht aus<br />
dem Weg.«<br />
Doch Igor dachte gar nicht daran, den Weg freizumachen und<br />
stellte sich demonstrativ vor den Polizisten.<br />
»Ich sage es jetzt zum letzten Mal, aus dem Weg.«<br />
Igor wusste um seine kleine Statur, und dass er damit nicht<br />
viel Eindruck schinden konnte, trat aber keinen Schritt beiseite.<br />
Noch ehe er sich versah, schlug der Polizist ihm den Knüppel<br />
über den Schädel. Igor schrie auf, sackte zusammen und<br />
sah gerade noch, wie der Trupp in seinem Werk verschwand.<br />
Langsam rappelte er sich auf und machte sich auf den Weg zum<br />
Eingang. Sein Kopf schmerzte entsetzlich, er blutete und sein<br />
Gesicht war voll Kohlestaub. Er öffnete die Tür und lautes Ge-<br />
22<br />
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schrei drang an seine Ohren. Etwa zwanzig Männer stellten sich<br />
den Polizisten entgegen, doch diese fackelten nicht lange. Sie<br />
entsicherten ihre Gewehre und begannen, auf die Männer zu<br />
schießen, und nach kurzer Zeit lagen acht blutend am Boden.<br />
<strong>Die</strong> Restlichen wurden zusammengetrieben und abgeführt.<br />
Was Igor aber am meisten erschreckte, war, dass er nichts<br />
tun konnte. Ohnmächtig musste er zusehen, wie seine Männer<br />
kaltblütig erschossen wurden, und was mit den anderen passierte,<br />
konnte er sich denken. Traurig und irritiert setzte er<br />
sich in sein Büro und dachte nach. Es muss doch einen Weg<br />
geben, diesem Irrsinn Einhalt zu gebieten? <strong>Die</strong> Idee, die er in<br />
der Folge hatte, sollte sein Leben verändern.<br />
***<br />
Im Sommer 1904, kurz nach seiner Rückkehr aus der Schweiz,<br />
gebar Boris eine Idee besonderer Art. Es handelte sich um eine<br />
Uhr, die man am Handgelenk tragen konnte. So ein kleines<br />
und flaches Uhrwerk zu bauen, erforderte sein ganzes Geschick,<br />
aber er war bereits damals überzeugt, auf dem richtigen Weg<br />
zu sein. Er packte die zwei Uhren in eine Schatulle, die er<br />
eigens dafür gefertigt hatte, und machte sich damit auf den<br />
Weg zum Hof. Normalerweise müsste der Zar Zeit haben, denn<br />
außer Schwimmen und einfältige Sätze in sein Tagebuch zu<br />
schreiben, die gewöhnlich aus drei Worten bestanden, wie er<br />
aus Hofkreisen erfahren hatte, tat dieser Zar den ganzen Tag<br />
nichts. Da er ein gern gesehener Gast am Hofe war, bereitete<br />
es ihm keine Mühe, an den Palastwachen vorbeizukommen. Mit<br />
eiligen Schritten stieg er die breite Treppe empor, als ihm die<br />
Zarin begegnete. Er verneigte sich.<br />
23<br />
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»Was führt Euch denn her, mein lieber Boris?«, fragte die Zarin.<br />
Sie war eine hessische Prinzessin, die es an den russischen<br />
Hof schaffte und dies mit Sicherheit nicht ihrer Klugheit wegen,<br />
denn sie war noch dümmer als der Zar selbst. Ihr geistiger<br />
Horizont schaffte es gerade mal bis zu ihren Augenwimpern.<br />
»Ich möchte gern den Zaren sprechen, ob er vielleicht Zeit<br />
hat?«<br />
»Ich glaube, das lässt sich einrichten, was habt Ihr denn<br />
Schönes?«<br />
»Ach, nur eine neue Uhr.«<br />
Jetzt war das Interesse der Zarin geweckt, denn sie liebte<br />
Schmuck über alles und Uhren gehörten zweifellos dazu. Boris<br />
öffnete die Schatulle, in der sich eine Damen- und eine Herrenarmbanduhr<br />
befanden. <strong>Die</strong> Zarin begann zu kichern wie ein<br />
kleines Mädchen, dem man ein paar Süßigkeiten vor die Nase<br />
hielt.<br />
»Sind die schön«, kam es über ihre Lippen. »Wo trägt man<br />
denn so etwas?«<br />
Wahrscheinlich um den Hals, dachte Boris, riss sich aber im<br />
letzten Moment zusammen und sagte: »Ums Handgelenk.«<br />
»Ums Handgelenk?«, echote die Zarin, »darauf wäre ich nie<br />
gekommen. Ihr meint, wie ein Armband?«<br />
Wie blöd ist diese Person eigentlich, dachte Boris, ließ sich<br />
aber nichts anmerken. <strong>Die</strong> Zarin nahm die kleinere der beiden<br />
Uhren heraus und hielt sie sich ans Handgelenk.<br />
»Darf ich Durchlaucht helfen?«, fragte Boris.<br />
»Ja, bitte.«<br />
Boris hatte bei beiden Uhren Lederarmbänder verwendet und<br />
plötzlich fragte die Zarin. »Könnte man hier nicht Goldarmbänder<br />
montieren?<br />
24<br />
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»Sicher«, meinte Boris, »es sind ja nur Muster, die zeigen<br />
sollen, dass man eine Uhr auch am Handgelenk tragen kann.«<br />
»Ach so«, meinte die Zarin. Sie behielt die Uhr an ihrem<br />
Handgelenk, als wenn sie bereits ihr Eigentum wäre, und bat<br />
Boris, ihr zu folgen. Nach einer weiteren Treppe standen sie<br />
vor einer großen, mit Ornamenten verzierten Tür, durch die gut<br />
und gern ein ganzes Pferdefuhrwerk gepasst hätte, und die<br />
Zarin öffnete sie. Der Zar saß an einem kleinen Schreibtisch<br />
und schrieb wahrscheinlich etwas über seine morgendlichen<br />
Befindlichkeiten in sein ominöses Tagebuch. Er blickte auf und<br />
sagte:<br />
»Oh, Ihr, mein lieber Boris. Was führt Euch zu mir?«<br />
Boris machte die obligate Verbeugung und näherte sich in<br />
gebückter Haltung dem Schreibtisch. <strong>Die</strong> Zarin stand daneben<br />
und besah sich die Uhr an ihrem Arm.<br />
»Ich möchte Durchlaucht eine neue Erfindung präsentieren.«<br />
»Oh, da bin ich aber gespannt, was ist es denn?«<br />
Boris öffnete die Schatulle und entnahm ihr die große Uhr.<br />
Der Zar war zwar ein kleines bisschen klüger als seine Frau,<br />
aber Boris machte sich keine Illusionen. »Das ist eine Uhr, die<br />
man am Armgelenk tragen kann.«<br />
»Und wofür soll das gut sein?«<br />
»Damit Ihr nicht immer in die Tasche greifen müsst.«<br />
»Ah«, meinte der Zar und fing lauthals zu lachen an.<br />
Als er sich etwas erholt hatte, sagte er: »Also ich weiß nicht,<br />
lieber Boris. Ist das nicht eher etwas für Weiber? Ich glaube<br />
nicht, dass ich so etwas tragen werde.«<br />
So verschwanden die zwei Uhren wieder in der Schatulle, vorerst<br />
jedenfalls. Er dachte nicht daran, sich einzig auf das Urteil des<br />
Zaren zu verlassen, die Zeiten würden sich schnell genug ändern.<br />
25<br />
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Doch erst 1914, zu Beginn des Krieges, sollte seine Idee Anklang<br />
finden. Es waren vor allem die Offiziere, die den praktischen<br />
Nutzen erkannten und ihm alsdann die Bude einrannten.<br />
Boris bekundete größte Mühe, die Nachfrage zu befriedigen,<br />
denn sogar der Zar, der vor zehn Jahren das Projekt belächelte,<br />
war mittlerweile ein Anhänger der Armbanduhr.<br />
***<br />
Seiner Idee folgend, setzte Igor sein Vorhaben in die Tat um.<br />
Er dachte nicht einmal daran, diesen Vorfall so einfach hinzunehmen.<br />
Als Geschäftsmann verfügte er über genügend Beziehungen,<br />
um sich Waffen zu besorgen. Genau dies tat er auch.<br />
Bereits zwei Tage später wurden unter der Plane eines Heuwagens,<br />
verdeckt mit Kartoffeln, fünfzig Gewehre samt Munition<br />
geliefert. Zwar hatte er dem Zaren einen Beschwerdebrief gesandt,<br />
doch Igor dachte nicht daran, auf eine Antwort zu warten,<br />
die sowieso nicht erfolgen würde. Einer seiner Vorarbeiter<br />
hieß Juri Antanow und genau den wollte er damit beauftragen,<br />
eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Während seiner<br />
Studienjahre in England schnappte er auf, dass verschiedene<br />
englische Großbetriebe so eine Art Werkschutz hatten und exakt<br />
so etwas schwebte ihm nun vor. Er bat seine Sekretärin,<br />
Juri Antanow zu rufen, der drei Minuten später eintraf.<br />
»Nehmt Platz.«<br />
Juri setzte sich ihm gegenüber und eine Mischung aus<br />
Schweiß und verbrannter Kohle beleidigte Igors Nase. Der<br />
Dreck seiner Tätigkeit bedeckte ihn von Kopf bis Fuß, das Gesicht<br />
glänzte ölig und in seinem Dreitagebart hingen noch die<br />
Überreste der letzten Mahlzeit. Doch Igor fand keine Zeit für<br />
26<br />
Satz <strong>Zeitmacher</strong>.indd 26 17.10.2014 03:10:45
Äußerlichkeiten, dafür war das Thema zu brisant.<br />
»Ich möchte verhindern, dass sich das, was vor drei Tagen<br />
passiert ist, wiederholt.«<br />
»Und wie wollt Ihr das anstellen?«<br />
»Ganz einfach. Indem ich fünfzig Mann von Euch mit Gewehren<br />
ausstatte, damit Ihr jeden Eindringling in Schach halten<br />
könnt. So eine Art Werkschutz.«<br />
»Und wenn wir schießen müssen?«<br />
»Dann wird eben geschossen.«<br />
»Und wenn es die Polizei ist?«<br />
»Dann erst recht. Wer hat denn acht Leichen hinterlassen? Ich<br />
möchte nicht, dass sich das wiederholt!«<br />
»Ihr wisst aber, welchem Risiko Ihr Euch aussetzt, wenn Ihr<br />
uns mit Waffen ausstattet?«<br />
»Ja, das weiß ich, aber es ist bei Weitem das kleinere Übel.<br />
<strong>Die</strong> Gewehre haltet Ihr immer griffbereit an Eurem Arbeitsplatz.<br />
Ich bin überzeugt, dass Ihr Eure Männer im Griff habt, ich<br />
verlasse mich auf Euch.«<br />
»Alles klar«, sagte Antanow, »und wo sind die Gewehre?«<br />
»Unten steht ein Wagen, oben sind Kartoffeln, die könnt Ihr<br />
an Eure Männer verteilen und darunter sind Gewehre und Munition.<br />
Sucht Euch dafür Eure besten Leute aus, Männer, zu denen<br />
Ihr Vertrauen habt. Das wär‘s.«<br />
Igor wartete jetzt schon zwei Wochen, von einer Antwort des<br />
Zaren war er weiter entfernt denn je. Juri bildete wie besprochen<br />
eine Gruppe von fünfzig Mann, die er genauestens instruierte,<br />
was zu tun sei. Es gab in den letzten vierzehn Tagen<br />
keine weiteren Vorfälle, doch Igor traute der Sache nicht. Es<br />
klopften dauernd Männer an, die nach Desertion rochen. Igor<br />
27<br />
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konnte sie gut verstehen, denn er wusste nur zu genau, von<br />
welchen Idioten das Offizierskorps beherrscht wurde, und gab<br />
den Männern bereitwillig Arbeit. Es verging eine weitere Woche,<br />
in der nichts geschah.<br />
Dann, Igor wollte gerade nach Hause gehen, kam derselbe<br />
Sergeant mit zwanzig Mann daher. Igor stellte sich in den<br />
Schatten des kleinen Nebeneingangs und wartete gespannt,<br />
was geschehen würde. Der Polizeitrupp stand vor dem Hauptportal,<br />
im Begriff, dieses zu öffnen.<br />
Juri sah zur Tür. Er hatte mit seinen Männern ein spezielles<br />
Zeichen vereinbart und hielt es für angebracht, es zu zeigen,<br />
als er den Sergeanten erblickte. Sie hatten dies mehrere Male<br />
geübt, und so war es kaum verwunderlich, dass seine Männer in<br />
der fast gleichen Sekunde mit den Gewehren im Anschlag auf<br />
die Polizeitruppe zielten.<br />
»Raus hier«, schrie Juri, »ihr habt hier nichts zu suchen.«<br />
»Ihr werdet doch nicht etwa auf die Polizei schießen?«<br />
»Wenn‘s denn sein muss«, sagte Juri.<br />
»Woher habt ihr die Gewehre?«, fragte der Sergeant.<br />
»Das geht dich einen feuchten Dreck an. Wenn ihr in zehn<br />
Sekunden nicht verschwunden seid, eröffnen wir das Feuer.«<br />
Der Sergeant drehte sich auf dem Absatz um und rief: »Das<br />
wird ein Nachspiel geben.«<br />
Igor sah die Polizisten fluchend das Gelände verlassen, dann<br />
ging er durchs Hauptportal direkt auf Juri zu.<br />
»Hat funktioniert«, sagte er lachend.<br />
»Ich würde mich nicht zu früh freuen, der Typ ist gefährlich,<br />
ich kenne ihn, er heißt Pulikov. Der schießt auf alles, was sich<br />
28<br />
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ihm in den Weg stellt. Am liebsten hätte ich ihm eine Kugel in<br />
sein Hirn geschossen. Es wird gewaltigen Ärger geben.«<br />
Seltsamerweise blieb dieses Nachspiel aber aus, vorerst jedenfalls.<br />
***<br />
Allein oder mit Frau und Kind, sein Sohn war mittlerweile<br />
zwei Jahre alt, in die Schweiz zu reisen, war eine Sache, ein<br />
ganzes Unternehmen dorthin zu verfrachten, eine andere, und<br />
das auch noch mitten in einem Krieg, der kein Ende zu nehmen<br />
schien. Er würde einen halben Eisenbahnzug benötigen, um<br />
diesem großen Projekt Herr zu werden, und das Ganze müsste<br />
einigermaßen unauffällig vonstattengehen, denn ganz so einfach<br />
würde ihn der Zar nicht ziehen lassen. Boris hoffte noch<br />
immer, dass endlich dieser verdammte Krieg ein Ende nahm,<br />
aber es geschah nichts dergleichen und nach der verpatzten<br />
Märzoffensive der russischen Truppen wurde die Sache immer<br />
bedrohlicher.<br />
Es lag nicht am Geld, denn davon besaß Boris reichlich, und<br />
das ganze Unternehmen würde er verschleiern, indem er vorgab,<br />
im Ausland eine Niederlassung aufzubauen, aber da war<br />
eben noch Olga, die mit keinen Argumenten von hier fortzulocken<br />
war. Boris stand auf und ging in den großen Salon, wo er<br />
Olga zu finden hoffte.<br />
»Olga!«<br />
»Ja, was ist denn?« Wie immer, wenn Boris etwas von ihr<br />
wollte, stand sie da, mit den Händen in die Hüften gestützt.<br />
Ihren Rundungen war das ausschweifende Leben deutlich anzusehen.<br />
Sie sah aus wie eine große Matrjoschka, doch durchaus<br />
29<br />
Satz <strong>Zeitmacher</strong>.indd 29 17.10.2014 03:10:45
zeitgemäß und konnte die Herren der Schöpfung mit ihren großen,<br />
prallen Brüsten und ihrem fetten Hintern in eine gewisse<br />
Euphorie versetzen.<br />
»Ich muss mit dir reden.«<br />
»Das tust du ja gerade.« Sie schaute ihn mit ihren Mandelaugen<br />
abschätzig an und nestelte dabei an der Spange, die sie in<br />
ihren hochgesteckten Haaren trug.<br />
»Ich meine ernsthaft.«<br />
»Redest du sonst nie ernsthaft?«, fauchte sie ihn an, »oder<br />
willst du wieder über die Schweiz mit mir reden, dieses proletarische<br />
und todlangweilige Land, in dem es nach übel riechenden<br />
Bauern stinkt? Und falls du es vergessen hast, die<br />
haben diesem Lenin Unterschlupf gewährt, in so ein Land gehe<br />
ich ohnehin nicht. Dorthin kannst du mich bestenfalls als Leiche<br />
transportieren.«<br />
»Möchtest du deine Zukunft lieber in der Schweiz oder in<br />
Sibirien verbringen?«<br />
»Was ist denn das nun wieder für ein Vergleich? Du weißt<br />
ganz genau, dass wir Freunde des Zaren sind, und der schickt<br />
seine Vertrauten sicher nicht nach Sibirien.«<br />
»Ich rede auch nicht vom Zaren.«<br />
»Wovon dann, verdammt noch mal?!«<br />
»Von den Bolschewiken, oder glaubst du ernsthaft, denen<br />
fällt gleich etwas Neues ein, wie sie ungeliebte Leute wegsperren<br />
können?«<br />
»Hör auf mit diesen Analphabeten!«<br />
»Sie mögen Fantasten sein, aber Analphabeten sind sie bestimmt<br />
nicht, und sie sind gefährlich, besonders für Leute wie<br />
uns. Wenn du die Parolen dieses Lenin etwas ernster nehmen<br />
würdest, merktest du schnell, woher der Wind pfeift, aber du<br />
30<br />
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liest sie ja nicht einmal. Es wird kein Jahr mehr dauern und<br />
das Zarenreich gehört der Vergangenheit an, willst du das denn<br />
nicht sehen, bist du völlig blind? Weder die Arbeiter noch die<br />
Bauern werden sich länger bieten lassen, was ihnen geschieht.<br />
Deine Feste kannst du dir dann jedenfalls an den Hut stecken.«<br />
»Ich bin nicht blind, aber der Zar hat etwas zu verlieren, und<br />
seine Polizei wird das schon richten, das hat sie bisher immer<br />
getan. Um einen Umsturz anzuzetteln, dafür braucht man Geld,<br />
und genau das haben diese Leute nicht. Im Notfall ist immer<br />
noch die Armee da.«<br />
»Wenn du dich da mal nicht irrst. Und apropos Geld. Der<br />
Lenin wird es von den Deutschen kriegen, denn die sind an<br />
jeder Schwächung des Zaren interessiert, um den Krieg zu gewinnen.«<br />
»Das Zarenreich ist jetzt dreihundert Jahre alt und daran<br />
werden auch deine Bolschewiken und diese Deutschen nichts<br />
ändern. Und was den Krieg betrifft, das hat schon der Napoléon<br />
nicht geschafft, sie werden alle elendiglich im Morast und<br />
Schnee versinken.«<br />
»Da irrst du dich, meine Liebe. Wo war denn deine Polizei,<br />
als sie uns letzte Woche alle Fensterscheiben einschlugen und<br />
ins Haus eindringen wollten?«<br />
»Das kann schon mal vorkommen, aber die Kerle wurden ja<br />
gleich anschließend verhaftet.«<br />
»Aber es hätte schlimmer kommen können, und ich verlange<br />
jetzt eine verbindliche Antwort von dir!«<br />
»<strong>Die</strong> hab ich dir schon tausend Mal gegeben, und sie wird<br />
auch das tausendunderste Mal gleich lauten. Hast du dir eigentlich<br />
einmal Gedanken darüber gemacht, was du hier alles<br />
aufgibst, das Lebenswerk deines Vaters? Soll das etwa alles<br />
31<br />
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vor die Hunde gehen, soll unser Sohn einmal leer ausgehen und<br />
sein Dasein bei den Armen fristen? Abgesehen davon, wirst du<br />
es ohnehin nicht schaffen, mitten im Krieg in die Schweiz zu<br />
ziehen. <strong>Die</strong> Deutschen werden dich durch den Fleischwolf drehen,<br />
bevor du richtig hinschaust. Du bist Uhrmacher und kein<br />
Abenteurer, hast du das schon vergessen? Meine Antwort ist<br />
ein klares Nein und dabei bleibt es.«<br />
Und so verliefen diese Gespräche jedes Mal und nichts und<br />
niemand konnte seine Olga überzeugen.<br />
So beschloss er denn in aller Heimlichkeit, alles minutiös<br />
vorzubereiten und auf des Zaren letztes Stündlein zu warten,<br />
was schließlich auch seine Olga überzeugen würde; plötzlich<br />
herrschaftlichen Freuden beraubt.<br />
Sein ganzes Barvermögen, immerhin über achthunderttausend<br />
Rubel, transferierte er in diesem Frühjahr 1916 in die<br />
Schweiz. <strong>Die</strong>s war kein leichtes Unterfangen, und er betraute<br />
seine engsten Mitarbeiter damit, jene, die er auch mitzunehmen<br />
gedachte. Es hatte auch den entscheidenden Vorteil, dass<br />
diese ihre neue Heimat kennenlernten. Immer zu zweit unternahmen<br />
sie die beschwerliche Reise, bepackt mit einem Teil<br />
des Vermögens. Das Glück stand ihnen zur Seite, und sie kamen<br />
alle durch und wieder zurück.<br />
Zeitgleich begann er, die umfangreichen Ländereien der Familie<br />
zu veräußern, was ihm nochmals neunhunderttausend Rubel<br />
einbrachte, die er ebenfalls in der Schweiz in Sicherheit<br />
brachte. Boris wusste, dass die Reise mitten durch die von<br />
Kriegswirren gezeichneten Länder keineswegs ungefährlich<br />
war. Er hielt dafür einen stolzen Betrag zurück, als mögliche<br />
Bestechungsgelder. Er ließ seine Mitarbeiter immer wieder an-<br />
32<br />
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dere Routen wählen, um schließlich die Beste zu finden. <strong>Die</strong>s<br />
war jedoch schier unmöglich, da sich die Fronten andauernd<br />
änderten. Dabei musste er nicht nur die Deutschen fürchten,<br />
sondern auch die Armee des Zaren, der ihm unter diesen Umständen<br />
keine Hilfe sein würde.<br />
***<br />
Igor war mit Boris verabredet, und wie üblich, wenn sie etwas<br />
Geheimes zu besprechen hatten, trafen sie sich in Igors<br />
Jagdhütte, die zu Pferd etwa eine Stunde außerhalb von St.<br />
Petersburg lag. Es war ein heißer Sommernachmittag und die<br />
Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel, als er sich auf den<br />
Weg machte. Seine Stute Amonka wieherte ihm freudig entgegen,<br />
als wenn sie merkte, dass ein längerer Ausritt bevorstand.<br />
Seit er seine Männer mit Waffen versorgt hatte, war er von<br />
Streiks weitgehend verschont geblieben, obwohl zwei seiner<br />
Arbeiter auf offener Straße erschossen wurden. Er schwang sich<br />
in den Sattel und gab Amonka die Sporen.<br />
Boris war schon da, als er bei seiner Jagdhütte eintraf. Sie<br />
lag in einem von Birken dominierten Mischwald. Im Gegensatz<br />
zu Boris schlitterte Igor nie in den Hafen der Ehe, und wenn er<br />
sich Olga näher anschaute, fühlte er sich darin bestätigt. Geld<br />
hatte er genug, und wenn ihm danach war, gab es genügend<br />
willige Mädchen, die nur allzu bereitwillig eine Nacht mit ihm<br />
verbrachten.<br />
»Bist du schon lange da?«, fragte er Boris.<br />
Boris griff nach seiner Taschenuhr und sagte: »Etwa eine<br />
Viertelstunde.«<br />
33<br />
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»Lass uns reingehen«, sagte Igor. »Drinnen ist es kühler als<br />
hier draußen.« <strong>Die</strong> Hütte war sehr geräumig und solide gebaut.<br />
An der Wand hingen Jagdtrophäen, die ihre glasigen Blicke<br />
in den Raum warfen und in der Mitte baute sich eine riesige<br />
Feuerstelle auf. Während Igor die Gardinen öffnete, fragte er:<br />
»Wodka, wie immer?«<br />
»Ja, bitte.« Boris hatte mittlerweile an dem kleinen Tischchen<br />
Platz genommen und Igor füllte zwei Gläser.<br />
»Jetzt sag schon, was gibt es Neues?«<br />
»Oh, eine ganze Menge.«<br />
»Also erzähl und spann mich nicht auf die Folter.«<br />
»Ich möchte in die Schweiz reisen.«<br />
»Das weiß ich.«<br />
»Nein, ich meine jetzt und vorerst allein, das heißt, mit<br />
einem meiner Arbeiter. Schließlich gibt es sehr viel zu organisieren.<br />
Ich brauche ein Haus dort und eine Fabrikhalle.«<br />
»Also immer noch überzeugt davon, auszuwandern?«<br />
»Ja, mehr denn je.«<br />
»Du bist dir aber schon im Klaren darüber, dass nach der verpatzten<br />
Märzoffensive die Front immer näherkommt?«<br />
»Ich habe bereits zehn meiner Männer in die Schweiz geschickt<br />
und die waren alle nach acht Wochen wieder zurück,<br />
also ist es sehr wohl möglich.«<br />
»Weiß Olga davon?«<br />
»Noch nicht. Aber ich muss es riskieren.«<br />
»Du bist also immer noch der festen Meinung, dass unser<br />
Land in Anarchie verfällt?«<br />
»Ja, und je länger ich darüber nachdenke, um so klarer wird<br />
das Bild. Du bist doch mit mir der Auffassung, dass dieser unfähige<br />
Zar weg muss?«<br />
34<br />
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»Das schon, aber deswegen fällt das Land doch nicht irgendwelchen<br />
Arbeitern- oder Bauernlümmeln zum Opfer.«<br />
»Du bist doch noch immer Mitglied der Duma. Was habt ihr<br />
denn für Alternativen? Ich meine damit Männer, die dieses<br />
Land wirklich führen können?«<br />
»Doch, da gibt es einige, denen ich das durchaus zutrauen<br />
würde. Da wäre zum Beispiel Fürst Lwow, der sich für eine<br />
konstitutionelle Demokratie starkmacht oder Kerenski, der den<br />
Menschewiki nahesteht, und noch ein paar andere.«<br />
»Und du denkst, das werden die Bolschewiki einfach so hinnehmen?«<br />
»<strong>Die</strong> Bolschewiki sind führerlos und deshalb keine große Gefahr.«<br />
»Und was ist mit Lenin?«<br />
»Der ist in der Schweiz und von dort aus keine große Hilfe.«<br />
»Aber er ist sehr intelligent und ein hervorragender Führer.<br />
Seine Leute hören auf ihn, selbst aus dem Exil. Es gibt kaum<br />
jemanden, der so überzeugend auftritt wie er.«<br />
»Aber wie gesagt, was will er schon tun?«<br />
»Sehen wir‘s mal so«, sagte Boris. »Was würde den Deutschen<br />
am meisten nützen, um den Krieg zu gewinnen?«<br />
Igor dachte nach und schaute aus dem Fenster. Dann räusperte<br />
er sich und sagte: »Ich weiß nicht.«<br />
»Na, versetz dich doch mal in deren Lage. Das Beste, was<br />
ihnen passieren könnte, wären politisch instabile Verhältnisse<br />
in Russland inklusive des Sturzes des Zaren.«<br />
»Und wie sollen die das erreichen?«<br />
»Indem sie einen Weg finden, Lenin die Rückkehr nach Russland<br />
zu ermöglichen und ihn mit Geld ausstatten, damit er<br />
eine Revolution finanzieren kann.«<br />
35<br />
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»Und du glaubst tatsächlich, die Deutschen sind so dumm?<br />
Wenn die so etwas tun würden, hätte das Deutsche Kaiserreich<br />
anschließend ein kommunistisches Bollwerk gleich vor der<br />
Haustüre. Ich glaube, da ist denen ein Russland als Monarchie<br />
lieber.«<br />
»Es geht aber den Deutschen im Moment darum, diesen verdammten<br />
Krieg zu gewinnen, deshalb glaube ich nicht, dass<br />
sie so weit denken.«<br />
»Aber es müssen zuerst die Voraussetzungen geschaffen werden,<br />
damit Lenin überhaupt zurückkann.«<br />
»Voraussetzungen? Ich glaube, der Zar ist soeben dabei, diese<br />
Voraussetzungen zu schaffen. <strong>Die</strong> Bauern halten ihm zwar<br />
noch die Treue, aber wie lange noch? Und wenn die Bauern<br />
mit den Arbeitern in den gleichen Topf springen und du noch<br />
etwas Hunger dazugibst, hast du deine hausgemachte Revolutionssuppe,<br />
die dann nicht mehr vor sich hin brodelt, sondern<br />
überschwappt und das Feuer der Monarchie ein für alle Mal<br />
auslöscht.«<br />
»Findest du nicht, dass du jetzt etwas übertreibst?«<br />
»Wart‘s ab. <strong>Die</strong> Lebensmittelversorgung ist schon heute am<br />
Anschlag und Brennstoffe sind knapp. Was denkst du, wird im<br />
nächsten Winter passieren, wenn die Bevölkerung hungert und<br />
friert? Das Volk wird schon deshalb auf die Straße gehen, weil<br />
es nichts mehr zu verlieren hat.«<br />
Igor dachte nach und zupfte dabei an seinem Schnauzer.<br />
»Ich hab noch was ganz anderes«, sagte Boris. »Kannst du<br />
mir Pläne besorgen, die mich über den genauen Verlauf der<br />
Front aufklären?«<br />
»Du willst es also unbedingt wissen? Klar kann ich die dir<br />
besorgen. Ich könnte auch mit meinem Vorarbeiter Juri re-<br />
36<br />
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den. Er ist mein bester Mann und hat für mich den Werkschutz<br />
organisiert. Seitdem hatten wir keinen Besuch mehr von der<br />
Polizei. Aber er ist Anhänger der Bolschewiki. Vielleicht weiß<br />
er mehr als du und ich?«<br />
»Mach das, aber verrate ihm nichts von meinen Plänen.«<br />
»Ich werde mich hüten.«<br />
Am nächsten Morgen ließ Igor Juri rufen.<br />
»Nehmt Platz. Ich möchte mich etwas mit Euch unterhalten.«<br />
»Ach ja, worüber denn?«<br />
Igor konnte die feindselige Haltung seines Gegenübers deutlich<br />
spüren. Es war ihm unbehaglich und er bemühte sich, Haltung<br />
zu bewahren.<br />
»Über Politik.«<br />
»Ausgerechnet Ihr wollt mit mir über Politik reden?«<br />
»Ihr steht doch den Bolschewiki nahe?«<br />
»Und wenn?«<br />
»Ich möchte Euch nur sagen, dass ich Euch teilweise verstehen<br />
kann.«<br />
»Ihr wollt mich verstehen? Kaum zu glauben. Was wisst denn<br />
Ihr schon von unserem Leben? Jeden Tag um zwei Uhr morgens<br />
aufstehen, sich in eine endlose Schlange einreihen, um dann<br />
unverrichteter Dinge wieder abzuziehen, weil wieder kein Brot<br />
da war. Ich habe zwei Kinder, die ich jeden Tag etwas weniger<br />
sehe, weil ihnen das Fleisch auf den Rippen fehlt. Wir leben<br />
zu viert in einem Zimmer, weil es an anständigen Wohnungen<br />
fehlt, und werden uns im nächsten Winter den Arsch abfrieren,<br />
weil wir nichts haben, was wir verfeuern können. Aber vielleicht<br />
ist diese Nähe von euch sogar gewollt, damit wir uns<br />
gegenseitig wärmen können. Und da fragt Ihr mich, ob ich den<br />
37<br />
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Bolschewiki nahestehe?«<br />
»Ich kann Euch helfen.«<br />
»Ihr müsst nicht mir helfen. Ihr müsst das System ändern,<br />
sonst wird das System Euch ändern.«<br />
»Wenn Ihr meint, dass der Zar weg muss, bin ich Eurer Meinung,<br />
noch aber genießt er die Unterstützung vor allem von<br />
den Bauern.«<br />
»Millionen von Bauern werden an die Front geworfen und<br />
was der Rest produziert, reicht noch knapp für die Selbstversorgung.<br />
Wen wundert‘s noch, dass die Arbeiter in den Städten<br />
leer ausgehen? Wo nichts ist, gibt‘s auch nichts zu holen und<br />
die Lage wird immer prekärer. Ich wage nicht einmal daran zu<br />
denken, was im nächsten Winter mit uns geschieht.«<br />
»Und was wird Eurer Meinung nach geschehen?«<br />
»Das ist ziemlich einfach. Wir können verhungern oder auf<br />
die Straße gehen und das Heft selbst in die Hand nehmen.«<br />
»<strong>Die</strong> Armee wird euch stoppen.«<br />
»Glaubt Ihr das wirklich? <strong>Die</strong> Soldaten sind nämlich keinen<br />
Deut besser dran als wir, und ein hungernder Soldat folgt keinen<br />
Befehlen mehr. Ich weiß zwar nicht, warum Ihr das tut,<br />
aber Ihr nehmt Männer auf, die desertiert sind. Fragt sie mal,<br />
warum sie geflohen sind. Sicher nicht, weil sie sich in der Armee<br />
ihre Bäuche vollschlagen konnten. <strong>Die</strong>ser Krieg wird Euch<br />
das Genick brechen, noch bevor Ihr richtig hinsehen könnt.«<br />
»Und wie lange gebt Ihr dem Zaren noch?«, fragte Igor.<br />
»Es geht hier eigentlich weniger um den Zaren. Der ist ein<br />
ignoranter, aufgeblasener Dummkopf, der sich mit nicht weniger<br />
blasierten Idioten umgibt. Das System muss geändert<br />
werden und das geht leider nur, indem man diesen elenden<br />
Wasserkopf abschneidet und ihn zum Platzen bringt.«<br />
38<br />
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»Und Ihr meint, die Bolschewiki könnten das?«<br />
»Es ist zumindest eine Option, da ich in der jetzigen Führungsriege<br />
leider niemanden ausmachen kann, der das System<br />
verändern kann und dabei gewillt ist, alle alten Zöpfe abzuschneiden.«<br />
»Und wer sollte dazu in der Lage sein?«<br />
»Lenin zum Beispiel.«<br />
»Aber der ist in der Schweiz und besitzt wenig oder gar keinen<br />
Einfluss.«<br />
»Wenn Ihr Euch da mal nicht täuscht.«<br />
Igor dachte noch lange über das Gespräch mit Juri nach und<br />
fand immer mehr Parallelen zum Gedankengut von Boris. Boris<br />
selbst hatte einmal erwähnt, dass, wenn ein Mann wie Lenin<br />
an die Macht käme, es schlimmer würde, als es unter der Monarchie<br />
je war, und diese Befürchtung bildete schließlich auch<br />
den Grund für Boris‘ Wunsch, auszureisen. Wenn Boris nun recht<br />
hätte, wäre seine eigene Existenz in größter Gefahr. Je länger<br />
er darüber nachdachte, um so klarer zeigte sich ihm die Situation,<br />
aber er war noch nicht bereit, gleich die Flinte ins Korn<br />
zu werfen. Dann fasste er einen Entschluss.<br />
***<br />
Im Sommer 1916 reiste Boris selbst in die Schweiz, obwohl<br />
Olga ihn mit aller Gewalt davon abzuhalten versuchte. Für sie<br />
zählten einzig Geld und das vergnügliche Leben, und dessen<br />
einziger Garant war natürlich Boris. Es wäre schrecklich, wenn<br />
ihm etwas zustoßen würde, kaum auszumalen, was dann mit ihr<br />
geschah. Zu ihrem großen Schrecken wählte er auch noch eine<br />
39<br />
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sehr heikle Route, aber Boris schaffte auch dies und erreichte<br />
die Schweiz unversehrt.<br />
In Neuenburg im Schweizer Jura kaufte er nach zähen Verhandlungen<br />
ein leer stehendes Fabrikgebäude und eine Villa<br />
für die Familie als Wohnsitz, direkt am See. Da sie in St. Petersburg<br />
nahe dem Meer wohnten, wollte er Olga wenigstens<br />
die Annehmlichkeiten des Sees bieten. <strong>Die</strong> Schweizer waren<br />
offenbar nicht gut auf Fremde zu sprechen, und so lag das<br />
Problem weniger beim Finden geeigneter Objekte, sondern bei<br />
der Bereitschaft, ihm diese zu veräußern. <strong>Die</strong> mühseligen Verhandlungen<br />
wurden immer wieder abgebrochen, da man sich<br />
noch anderweitig besprechen musste und noch andere Angebote<br />
vorlagen. <strong>Die</strong> Villa war eine Sache, viel schwieriger war, ein<br />
geeignetes Fabrikgebäude zu erstehen. Schließlich erledigte<br />
sich aber alles zu seiner Zufriedenheit, da die Schweizer dem<br />
unerwarteten Geldsegen nicht widerstehen konnten. Igor hatte<br />
ihn vor seiner Abreise gebeten, für ihn wenigstens einen Teil<br />
seines Vermögens in Sicherheit zu bringen, was Boris nur zu<br />
gern für seinen Freund tat.<br />
Mit der Kantonsregierung des Kantons Neuenburg handelte er<br />
die Bedingungen aus, in der Schweiz Aufnahme zu finden, was<br />
er vor allem der Zusage, Arbeitsplätze zu schaffen, welche die<br />
Schweiz so dringend benötigte, verdankte. Wenigstens übte die<br />
Regierung genügend Weitblick.<br />
Boris machte aber zur Bedingung, zehn seiner besten Mitarbeiter<br />
mitnehmen zu dürfen, was ihm bereitwillig gewährt wurde.<br />
Er stattete seinem ehemaligen Arbeitgeber einen Besuch<br />
ab, doch dieser legte ihm ans Herz, seine Pläne zu begraben,<br />
da sich er und die übrigen Uhrenhersteller dagegen zur Wehr<br />
40<br />
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setzen würden. Er könne kaum damit rechnen, in dieser Region<br />
gegen diese Widerstände Fuß zu fassen. Doch Boris ließ sich<br />
auch dadurch nicht von seinem Plan abbringen, denn nach wie<br />
vor stand ihm seine Geheimwaffe Armbanduhr zur Seite. Gegen<br />
eine Horde Konkurrenten kann ich leichter bestehen als gegen<br />
einen ungeordneten Haufen grenzenloser Fanatiker, sagte er<br />
sich immer wieder. Dass sein Freund Igor langsam, aber sicher<br />
auf seine Linie einschwenkte, verhalf ihm zur Zuversicht. Er<br />
konnte das Für und Wider noch so lange gegeneinander abwägen,<br />
er kam schlussendlich zum selben Resultat, und nichts<br />
konnte ihn von seinem einmal gefassten Entschluss abbringen.<br />
Boris war zu schlau, um nicht zu wissen, dass er anfangs Mühe<br />
haben würde, Arbeitskräfte zu finden, denn wer wollte schon<br />
für einen Russen arbeiten?<br />
Er stand vor seiner soeben gekauften Villa und ließ seinen<br />
Blick über das leicht gekräuselte Wasser des Neuenburgersees<br />
schweifen. Er liebte die Anmut dieser Gegend. Zwar gab es<br />
auch hier arme Leute, aber das war nichts im Vergleich zum<br />
Elend in St. Petersburg. Er hatte noch immer die Hoffnung, seinen<br />
Freund Igor dazu zu bewegen, es ihm gleich zu tun, doch<br />
wusste er, dass Igor außer seinem Barvermögen alles aufgeben<br />
musste, wenn er ihm nachfolgen würde. Boris dachte an seine<br />
vierhundert Mitarbeiter, die er zum größten Teil zurücklassen<br />
musste, und an das Schicksal ihrer Familien, und es gab Momente,<br />
in denen es ihn regelrecht davor graute. Andererseits,<br />
was würde von der Uhrenmanufaktur noch übrig bleiben, wären<br />
einmal ihm heute noch unbekannte Mächte am Werk? Er riss<br />
sich am Riemen, um nicht in Schwermut zu verfallen, denn das<br />
war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte. In seinen Gedanken<br />
malte er sich aus, wie er mit dem kleinen Boris im See<br />
41<br />
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schwimmen ging, ihm beim Spielen im großen Garten zuschaute.<br />
Langsam drehte er sich um und marschierte zur Villa zurück.<br />
Er wusste, dass sich mithilfe eines Teils seiner Mitarbeiter<br />
ein Neustart einfacher gestalten ließe, nur war er sich noch<br />
wenig klar darüber, wie sich diese zu einem solchen Schritt<br />
bewegen ließen. <strong>Die</strong> bereitwilligen Reisen einiger seiner Arbeiter<br />
stimmten ihn jedoch zuversichtlich. Er verbrachte volle<br />
zwei Monate in der Schweiz, um Nägel mit Köpfen zu machen,<br />
aber er hatte nicht die geringste Ahnung, was sich bereits<br />
zusammenbraute.<br />
***<br />
Igor wollte gerade zusammenpacken und sein Tagwerk abschließen,<br />
als es an seine Türe klopfte. Draußen stand ein<br />
sichtlich aufgelöster Juri und sagte: »Ich muss mit Euch reden.«<br />
»Kommt rein und setzt Euch. Was kann ich für Euch tun?«<br />
»Gestern wurden fünf meiner Männer auf offener Straße erschossen.<br />
Ich kann das nicht länger hinnehmen.«<br />
»Wisst Ihr, wer sie getötet hat?«<br />
»Ja, zwei meiner Leute konnten abhauen. Es war Pulikov. Er<br />
denkt sich wahrscheinlich, wenn ich schon nicht in die Fabrik<br />
komme, murkse ich die Leute auf der Straße ab.«<br />
Igor betrachtete Juri nachdenklich, dann sagte er: »Und was<br />
schlagt Ihr vor?«<br />
»Ich bringe den Kerl eigenhändig um, das bin ich meinen<br />
Leuten schuldig.«<br />
Igor begann abzuwägen. Auch er hätte Pulikov am liebsten als<br />
Leiche gesehen. Dann sagte er: »Und was geschieht danach?«<br />
42<br />
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»Was, danach? Das ist mir eigentlich egal.«<br />
»Pulikov wird ersetzt und der ganze Spuk beginnt von Neuem.<br />
Das ist doch wohl kaum, was Ihr wollt?«<br />
»Und was schlagt Ihr vor?«<br />
»Dass Ihr ihm einen Denkzettel verpasst.«<br />
»Und wie soll das aussehen?«<br />
»Verpasst ihm eine Abreibung, die er nicht so schnell vergisst,<br />
aber lasst ihn am Leben.«<br />
»Aber der Kerl hat dreizehn meiner Männer umgebracht.«<br />
»Wollt Ihr‘s künftig mit einem eingeschüchterten Pulikov zu<br />
tun haben oder mit einem gänzlich neuen Schwein? Zufällig<br />
weiß ich, dass diese Spezies gar nicht so selten ist in den Reihen<br />
der Polizei, oder wie auch immer wir das nennen wollen.«<br />
»Wahrscheinlich habt Ihr Recht.«<br />
Am nächsten Abend nahm Juri fünf seiner Männer und machte<br />
sich auf den Weg. Er hatte bereits herausgefunden, welchen<br />
Weg Pulikov jeweils nahm, und dass er ihn meist allein ging.<br />
Am Nevskiy Prospekt lauerten sie ihm auf. Pulikov war ein<br />
Brocken von einem Mann, über ein Meter achtzig groß, mit<br />
breiten Schultern und einem verschlagenen Gesicht. Er würde<br />
sich mit Vehemenz zur Wehr setzen, doch Juri hoffte auf den<br />
Überraschungsmoment. Er lief jetzt nur noch etwa hundert Meter<br />
von Juris Gruppe entfernt, die, gut getarnt, in einem düsteren<br />
Hauseingang auf ihn wartete, und überquerte die Straße.<br />
»Wir lassen ihn vorbeigehen und greifen ihn von hinten an«,<br />
sagte Juri zu seinen Männern.<br />
Jetzt war Pulikov auf ihrer Höhe. Er schien nichts zu ahnen<br />
und schlenderte frohgemut vorbei. Juri hob die Hand und sagte<br />
leise: »Los!« <strong>Die</strong> Männer stürmten aus ihrem Versteck und Juri<br />
43<br />
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ekam Pulikov um den Hals zu fassen. Zwei weitere Männer<br />
packten ihn an den Beinen und gemeinsam trugen sie den<br />
heftig Zappelnden in den Hauseingang. Drinnen angekommen<br />
versetzte ihm Juri einen Schlag ins Gesicht, dass man laut und<br />
deutlich die Nase krachen hörte. Pulikov fauchte und spuckte,<br />
aber die Männer hielten ihn in Schach. Sie setzten ihn in eine<br />
Ecke und Juri begann:<br />
»Du hast bereits dreizehn meiner Leute erschossen, acht im<br />
Werk und fünf auf offener Straße. Am liebsten würde ich dich<br />
jetzt gleich erschießen, doch so einfach kommst du mir nicht<br />
davon.« Wieder versetzte er ihm einen Schlag, diesmal in den<br />
Magen und Pulikov krümmte sich vor Schmerz.<br />
Juri nahm ein Messer und hielt es ihm an die Kehle. »Ich bin<br />
nicht so ein Bastard wie du.«<br />
»Ihr seid euch schon bewusst, dass ihr erschossen werdet?«<br />
Juri begann zu lachen. »Das ist ja mal ganz was Neues, was<br />
du nicht sagst. Was meinst du, was wir mit dir machen werden,<br />
wenn wir hier fertig sind? Du hast allerdings eine letzte<br />
Chance, mit dem Leben davonzukommen.« Juri drückte ihm das<br />
Messer fester an den Hals und plötzlich sah er, wie sich Nässe<br />
auf Pulikovs Hose ausbreitete.<br />
»Ach, sieh mal einer an. Wehrlose Leute abknallen und wenn‘s<br />
ihm selbst an den Kragen geht, pisst sich der doch gleich in<br />
die Hose. Was bist du auch für ein widerlicher Schwächling.«<br />
Juri drückte das Messer noch stärker an seinen Hals.<br />
»Jetzt hör mal gut zu. Du wirst dich unserem Werk nie mehr<br />
nähern, hast du mich verstanden?« Pulikov schwieg.<br />
»Ob du mich verstanden hast?«<br />
»Ja.«<br />
»Ja, was?«<br />
44<br />
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»Ich werde mich eurem Werk nie mehr nähern.«<br />
»Wenn du es trotzdem tust, werden wir dich erschießen, sobald<br />
wir dich sehen, ohne Vorwarnung. Hast du das verstanden?<br />
Genauso werden wir dich abknallen, wenn du dich noch einmal<br />
einem meiner Männer näherst.«<br />
»Ja, ihr werdet mich erschießen, wenn ich mich dem Werk<br />
nähere.«<br />
»Schon besser.« Juri hielt ihm das Messer vor ein Auge. »Am<br />
liebsten würde ich dir für jeden meiner Männer ein Auge ausstechen,<br />
aber du hast leider nur zwei.«<br />
Pulikov begann zu winseln: »Nein, bitte nicht, ich habe Frau<br />
und Kinder zu Hause.«<br />
»Das haben wir alle. Was glaubst du eigentlich, wie viele<br />
Kinder du zu Halbweisen gemacht hast?«<br />
Pulikov schwieg.<br />
»Wenn du noch einmal einen meiner Männer umbringst, machen<br />
wir dich kalt. Und hör gut zu. Wir werden dich finden,<br />
denn in der ganzen Stadt wimmelt es nur so von unsereins.<br />
Du wirst keine verdammte Straße mehr überqueren können, du<br />
wirst nicht einmal mehr aufs Scheißhaus gehen, ohne dass wir<br />
davon wissen.« Juri gab ihm mit voller Wucht einen Tritt in<br />
den Bauch und Pulikov kippte zur Seite.<br />
»Und jetzt mach, dass du wegkommst, du elendes Stück<br />
Scheiße.« Dabei spuckte ihm Juri ins Gesicht.<br />
Pulikov erhob sich vorsichtig und schlich sich davon.<br />
»Glaubst du, es hat gewirkt?«, fragte einer seiner Männer.<br />
»Das werden wir früh genug erfahren. Ich musste mich auf<br />
jeden Fall sehr beherrschen, um diesem Bastard nicht gleich<br />
den Rest zu geben.«<br />
45<br />
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Mitte Oktober 1916 war Boris zurück in St. Petersburg. <strong>Die</strong><br />
politische Lage zeigte sich sehr angespannt. <strong>Die</strong> Bevölkerung<br />
hungerte, die Arbeiter befanden sich teilweise im Streik und<br />
gingen, von gewissen Kreisen aufgehetzt, zu Hunderten auf<br />
die Straße, um gegen die Missstände zu protestieren. Doch in<br />
diesen Protesten war nicht die Spur irgendeiner Organisation<br />
zu erkennen.<br />
Olga überschlug sich fast vor Freude, als sie den Garanten<br />
ihres feudalen Lebens wohlbehalten zurückerhielt. Sie<br />
verschwendete jedoch keine Sekunde, irgendwelche Fragen zu<br />
seiner langen Reise zu stellen, sondern behandelte Boris nach<br />
wie vor wie einen Putzlappen, den man achtlos in die nächste<br />
Ecke wirft. Aber Boris wusste längst über die Gefühle von<br />
Olga Bescheid, doch sie war die Mutter seines Sohnes, auch<br />
wenn sie sich kaum mit ihm beschäftigte. Aufgrund der nicht<br />
enden wollenden Feiern ist aus der einst schlanken Grafentochter<br />
eine achtzig Kilogramm schwere Matrone geworden,<br />
deren Kleider fortwährend zu eng waren und durch neue ersetzt<br />
werden mussten. Ihre Pflichten als Mutter nahm sie überhaupt<br />
nicht mehr wahr und es grenzte an ein Wunder, dass der Kleine<br />
nicht schon fragte: »Wer ist das?«<br />
Zunehmende Versorgungsprobleme, insbesondere Brennstoffmangel,<br />
machten den Winter 1916/17, der auch noch außergewöhnlich<br />
streng verlief, für die Bevölkerung zur Hölle und<br />
das Elend nahm ungeheure Ausmaße an. <strong>Die</strong> Leute hungerten<br />
und froren, die Todesfälle nahmen rasant zu und begannen,<br />
unglaubliche Dimensionen anzunehmen. Alles, was irgendwie<br />
brennbar aussah, wurde zusammengekratzt und gestohlen, aber<br />
wer glaubte, damit der entsetzlichen Kälte zu trotzen, hatte<br />
46<br />
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sich geirrt, es war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen<br />
Stein. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere litten<br />
unter der klirrenden Kälte, erfroren zu Tausenden und fehlten<br />
natürlich in der Nahrungskette, welche bald einmal ganz<br />
zerbrach. Überall in den Straßen sah man in Lumpen gehüllte<br />
Menschen, die meist vergeblich versuchten, sich das Nötigste<br />
zusammenzubetteln, darunter auch viele Kinder. Jeden Morgen<br />
mussten Leute zusammengesammelt werden, die die eisig kalte<br />
Nacht nicht überstanden hatten, da sie am Ende ihrer Kräfte<br />
angelangt waren. Nun war das Maß aller Dinge voll. Wenn die<br />
Bevölkerung auch noch so gewollt hätte, sie konnte einfach<br />
nicht mehr.<br />
Es entstand ein richtiggehender Flächenbrand, den die Autokratie<br />
nicht mehr einzudämmen vermochte, aber die Feste in<br />
den adligen Kreisen gingen weiter, als wenn überhaupt nichts<br />
geschehen wäre. Sie schienen diesen äußeren Umständen gegenüber<br />
mit völliger Blindheit geschlagen und seine Olga war<br />
natürlich, wie immer, mit von der Partie. Tunlichst verschloss<br />
sie die Augen vor all dem Elend, welches für sie ja nicht galt.<br />
Boris dachte manchmal, dass es sich dabei um eine Art Ablenkung<br />
vom tatsächlichen Geschehen handelte, eine andere<br />
Erklärung für solch unverantwortliches und gleichgültiges<br />
Handeln hatte er nicht. Seine Olga jedenfalls war immer mit<br />
dabei und schlug seine Warnungen weiterhin in den Wind, als<br />
ob überhaupt nichts geschähe.<br />
***<br />
47<br />
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Anfang Februar 1917 trafen sich Boris und Igor ein weiteres<br />
Mal, diesmal im Werk von Igor in seinem Büro.<br />
»Du hättest längst abhauen sollen, jetzt wo die Züge noch<br />
fahren.«<br />
»Ich warte, bis alles zusammenbricht, vielleicht lässt sich<br />
Olga dann überzeugen.«<br />
»Du spielst mit deinem Leben. Lass dir einen Rat geben, guter<br />
Freund. Für diese Frau lohnt sich das nicht.«<br />
»Sie ist die Mutter meines Sohnes. Das ist das Einzige, was<br />
für mich zählt. Aber jetzt mal was ganz anderes. Hast du die<br />
neusten Karten von der Front?«<br />
Igor griff in die Schublade seines alten Schreibtisches und<br />
nahm ein Bündel Karten heraus. »Ich habe dir den Verlauf der<br />
Front genau eingezeichnet. Aber denk daran, dass er sich fast<br />
täglich ändert.«<br />
»Dann wäre da noch etwas«, sagte Boris. »Du bist näher am<br />
Geschehen als ich. Kannst du mich über etwaige gravierende<br />
Änderungen in Kenntnis setzen?«<br />
»Selbstverständlich! Ich werde dir immer dann einen Boten<br />
schicken, wenn ich es für notwendig erachte.«<br />
»Und was machst du, lieber Freund, willst du nicht auch<br />
mitkommen?«<br />
»Nein, solange ich etwas tun kann, um das Schlimmste zu<br />
verhindern, werde ich hierbleiben und meine ganze Kraft zum<br />
Wohle Russlands einsetzen.«<br />
»Ich hoffe für dich, dass du das überlebst.«<br />
»Genau das Gleiche wünsche ich dir auch, lieber Boris.« <strong>Die</strong><br />
zwei Männer umarmten sich, und keiner der beiden wusste, was<br />
die Zukunft brachte, und ob sie sich überhaupt noch einmal<br />
wiedersehen würden.<br />
48<br />
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Der sogenannte Burgfriede, bei dem sich die politische Opposition<br />
während des Krieges in Zurückhaltung übte, zerbrach<br />
ob der immer schlimmer werdenden Missstände und des sich<br />
ausbreitenden Elends. Auch in der Duma begann sich die Protestbereitschaft<br />
der Bevölkerung zu zeigen, und obwohl diese<br />
vom Bürgertum und dem Adel dominiert wurde, war eine rasche<br />
Liberalisierung Russlands gefordert. In der Folge löste der Zar<br />
die Duma auf und stellte die Abgeordneten, trotz Immunität,<br />
unter polizeiliche Überwachung, was sich als sehr kontraproduktiv<br />
auswirkte. Was dem Zaren so zugetragen wurde,<br />
entsprach wahrscheinlich nur teilweise der Wahrheit, er lebte<br />
schon eine ganze Weile bei seinen Truppen, fernab von jeder<br />
politischen Realität im eigenen Land.<br />
Das war natürlich Öl ins Feuer der Argumente der lieben<br />
Olga, die sich darin bestätigt sah, dass der Zar reagierte und<br />
die Aufrührer unter Bewachung stellte.<br />
»Siehst du, es wird alles beim Alten bleiben«, bemerkte sie<br />
beiläufig.<br />
»Da irrst du dich gewaltig, da diese Schlacht auf der Straße<br />
und nicht in der Duma ausgefochten wird. Es wird eine Zeit<br />
kommen, wo nicht nur wir, sondern auch die Arbeiter mit Sehnsucht<br />
an die Zarenherrschaft zurückdenken werden, aber dann<br />
möchte ich lieber nicht mehr in diesem Land sein. <strong>Die</strong>ser Trotzki<br />
und der Lenin warten doch nur darauf, bis ihnen die Situation<br />
erlaubt, aus ihrem Exil zurückzukommen, und diesen zwei<br />
Herren möchte ich lieber nicht begegnen. <strong>Die</strong> Russen werden<br />
noch sehr gern an ihren verhassten Zaren denken, wenn diese<br />
beiden erst einmal an der Macht sind.«<br />
»So weit wird es nie kommen.«<br />
»Du wirst schon sehen.«<br />
49<br />
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