Das Mädchen mit dem Teufelsgesicht
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Kapitel 1<br />
Ein verregneter, alles ertränkender Herbst neigte sich <strong>dem</strong> Ende<br />
zu, als Anna schweißüberströmt am 30. November 1979 in St.<br />
Martin, außerhalb der Gemeinde Obersaxen, in den Wehen lag.<br />
Ihren Ältesten, den zwölfjährigen Max hat sie ins Dorf geschickt, um<br />
die Hebamme herzuholen, doch bisher waren weder Max noch die<br />
Geburtshelferin aufgetaucht. Ein Telefon besaßen sie nicht.<br />
Anna lag allein in <strong>dem</strong> alten Holzbett. Die Matratze, die schon<br />
Generationen von Leibern zum Schlaf verholfen hatte, war<br />
durchgelegen und an den Seiten aufgerissen, sodass der Inhalt<br />
herausquoll und sich in kleinen Bröseln auf <strong>dem</strong> Boden verteilte. Im<br />
Bettgestell wohnte der Holzwurm, und niemand wusste, wie lange<br />
das marode Teil noch aushalten würde.<br />
Von der Decke hing eine einzelne, völlig verstaubte Birne herab,<br />
für einen Lampenschirm reichte schlicht das Geld nicht. Der Raum<br />
erschien düster und Bilder suchte man vergeblich, aber ein<br />
beißender Gestank schien die hinterste Ritze auszufüllen. Die<br />
angelaufenen und verdreckten Scheiben taten das ihre, um noch das<br />
letzte Licht draußen zu halten.<br />
Durch die schlecht schließenden Fenster des uralten,<br />
verlotterten und kaum bewohnbaren Bauernhauses, pfiff ein kalter<br />
Wind, der ihr zwar Abkühlung verschaffte, doch auch die Fliegen,<br />
vom unter <strong>dem</strong> Fenster liegenden Misthaufen, <strong>mit</strong> hineinsog.<br />
An der Wand hing eine alte Kuckucksuhr, deren hölzerner<br />
Bewohner sich schon lange nicht mehr ins Freie getraute, was die<br />
trübe Stimmung etwas aufgelockert hätte. Der Fußboden knarrte<br />
entsetzlich beim kleinsten Schritt und nur <strong>dem</strong> Umstand, dass<br />
dieser Teil des Hauses nicht unterkellert, war es zu verdanken, dass<br />
noch niemand zu Tode gestürzt ist. <strong>Das</strong> Anwesen lag zwei Kilometer<br />
von Obersaxen entfernt an einem Waldrand, wo sich Fuchs und Hase<br />
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Gute Nacht sagen und die Touristen im Sommer angewidert,<br />
kopfschüttelnd von so viel Armut vorbeispazierten, und im Winter<br />
meterhoch Schnee lag.<br />
Die Gedanken, <strong>mit</strong> denen sich Anna, die nun bereits alle zwanzig<br />
Minuten von Wehen geschüttelt wurde, herumschlug, schienen<br />
mehr als ernst. Sie war gerade mal neunundzwanzig, hatte nie etwas<br />
Anständiges gelernt und ist <strong>mit</strong> knapp siebzehn, nach einem<br />
fünfminütigen Stelldichein in einem Heuschober auch gleich das<br />
erste Mal schwanger geworden. Außer <strong>dem</strong> Schmerz beim dieser<br />
Premiere, konnte Anna der intimen Begegnung nicht viel<br />
abgewinnen und eine nachträgliche Erklärung, warum sie sich<br />
darauf einließ, war schwer zu erbringen. Nach einem Monat<br />
bemerkte sie <strong>mit</strong> Entsetzen, dass ihre Periode ausblieb, und glaubte<br />
dann in ihrer Verzweiflung, das Richtige zu tun.<br />
Anna kam als Tochter eines armen Käsebauern 1950 zur Welt,<br />
einer Welt, die für sie nichts als Entbehrung bereithielt. Schon früh<br />
lernte sie, im elterlichen Bauernhaus allerlei Dinge zu verrichten<br />
und ihrer Mutter, als einziges <strong>Mädchen</strong> neben vier Brüdern, zur<br />
Hand zu gehen. Anna war intelligent, so klug, dass sie sogar die<br />
Sekundarschule besuchen konnte, aber nur unter der Bedingung,<br />
dass sie sich zu Hause weiter ins Zeug legte.<br />
<strong>Das</strong> Absolvieren einer Ausbildung wurde ihr dann <strong>mit</strong> der<br />
Begründung untersagt, dass sie ohnehin bald heiraten würde und<br />
man deshalb kein gutes Geld, welches ohnehin nicht vorhanden war,<br />
verschleudern wolle. <strong>Das</strong> einzige Kapital, das sie hatte, lag in ihrer<br />
Schönheit, aber offensichtlich hatte sie diese Gottesgabe völlig<br />
falsch eingesetzt.<br />
In der ach so schönen Surselva, wo die Leute sich krampfhaft an<br />
irgendeinem katholischen Gott festhielten und man in Obersaxen<br />
2
vor lauter Kapellen und Kirchen das eigene Haus kaum fand, war es<br />
eine Todsünde, unvermählt Liebesfreuden zu frönen. Die sexuelle<br />
Revolution hat vor dieser frommen Gegend, wo die Pfaffen <strong>mit</strong> den<br />
Hausangestellten ihr Unwesen trieben und Keuschheit von der<br />
Kanzel predigten, längst kapituliert.<br />
Um Schande von der Familie abzuwenden, hat sie Albert, den sie<br />
gerade mal zwei Monate kannte, zähneknirschend geheiratet. Mit<br />
schöner Regelmäßigkeit ist sie dann fast jedes Jahr schwanger<br />
geworden, meist, weil er in seinem Suff wieder einmal nicht<br />
aufpasste.<br />
Bis heute hat sie sechs Buben das Leben geschenkt, und sie kam<br />
sich vor wie eine Gebärmaschine. Der liebe Albert schlug sie<br />
windelweich, wenn sie ihm von einer neuen Schwangerschaft<br />
berichtete, denn jede kam der Rationierung seines Alkohols gleich,<br />
von welchem er die Finger nicht lassen konnte.<br />
Albert kam in einer streng katholischen Familie zur Welt, und<br />
seine Mutter war der Ansicht, allein <strong>mit</strong> Gottes Segen, acht Kinder<br />
großziehen zu können. Wie Annas Vater stellte auch Alberts alter<br />
Herr, stündlich angetrieben von einer gehörigen Portion<br />
Zwetschgenwasser, Käse her.<br />
Mit zwölf hat Albert einen kräftigen Schluck davon erwischt, und<br />
scheinbar hat es ihm so gemundet, dass es fortan seine<br />
Lebensphilosophie wurde, denn bald einmal ging ohne dieses Nass<br />
gar nichts mehr. Obwohl die Gesetze eigentlich anders lauten, hat<br />
man ihn nach der sechsten Klasse von der Schule genommen,<br />
schlicht deshalb, weil Albert einfach zu dumm war, zwei und zwei<br />
zusammenzuzählen.<br />
Von ihrem kargen Einkommen, sie bearbeiteten mehr schlecht<br />
als recht ein kleines Stück Land und nannten ein paar Ziegen und<br />
eine Kuh ihr Eigen, konnten sie sich die Kinderschar kaum leisten.<br />
<strong>Das</strong> bisschen Geld, welches sie <strong>mit</strong> der Herstellung von Ziegenkäse<br />
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verdienten, versoff ihr Albert, der sich schon eine ganze Weile<br />
aufgegeben hatte, und praktisch nur noch im Adler, <strong>dem</strong><br />
dorfeigenen Restaurant, anzutreffen war.<br />
<strong>Das</strong> war aber nicht das Hauptproblem, das Anna bedrückte. Sie<br />
sehnte sich nach Liebe und Zärtlichkeit, nach einem Mann, der sie<br />
glücklich machte. Da Albert dazu nicht imstande war, und<br />
Derartiges in drei Minuten zu erledigen pflegte, sofern er überhaupt<br />
noch konnte, ließ sie sich <strong>mit</strong> einem Touristen ein und das Ergebnis<br />
dieser zu tief gefühlten Vereinigung, wartete jetzt auf seine<br />
Niederkunft.<br />
Vom Verursacher war nichts mehr zu sehen. Nach<strong>dem</strong> er Anna<br />
den Himmel auf Erden versprochen und seine aufgestauten Säfte<br />
hat abfließen lassen, ist er sang- und klanglos wieder abgereist,<br />
nichts wissend vom Unheil, das er angerichtet hatte.<br />
Doch Anna sehnte sich nach diesem Fremden, der es verstanden<br />
ihre Lust zu wecken und sie in die Freuden sexueller Vereinigung<br />
tauchte, ein Gefühl, das sie bei ihrem Albert überhaupt nicht kannte<br />
und auch nie kennenlernen würde, dessen war sie sich gewiss.<br />
Sie schaute zur Tür in der Meinung, sie hätte etwas gehört. Aber<br />
da regte sich nichts, nur der Wind, der durch die Ritzen pfiff und<br />
den Staub, der überall lag, aufwirbelte. Der gleiche Wind, der die<br />
Schindeln vom Dach gerissen und dafür sorgte, dass es überall<br />
hereinregnete.<br />
Im ganzen Haus waren Eimer aufgestellt, um das Wasser<br />
aufzufangen, und über die ihr Albert <strong>mit</strong> schöner Regelmäßigkeit<br />
fluchend stolperte, wenn er in seinem Suff nach Hause kam. <strong>Das</strong><br />
Scheppern der Kübel und die Kraftausdrücke, die ihr Albert dabei<br />
gebrauchte, ließen sie schon lange nicht mehr zusammenfahren.<br />
4
Die nächste Wehe war im Anmarsch und sie hoffte, dass Max <strong>mit</strong><br />
der Hebamme bald zurück sein mochte. Wo er wohl bleiben mag?<br />
Der liebe Albert wusste nichts von einem Rivalen, wie sollte er<br />
auch. Der viele Alkohol hat seinen Blick getrübt, aber er hätte auch<br />
so nie einen Gedanken daran verschwendet, seine Anna könnte in<br />
fremden Wassern fischen. Und obwohl sie sehr hübsch war, erschien<br />
es ihm gänzlich unmöglich, dass sich jemand an seiner Anna vergriff.<br />
Er hielt sich ohnehin für den tollsten Hecht der ganzen<br />
Umgebung und prahlte da<strong>mit</strong> am Stammtisch, wenn sich seine<br />
Saufkumpane wieder über ihn lustig machten. Immerhin hatte er<br />
sechs Buben auf die Welt gestellt, und das sollte ihm doch bitte<br />
einmal einer nachmachen.<br />
Es war ihm auch völlig egal, dass es zu Hause reinregnete, die<br />
Tiere mehr schlecht als recht versorgt waren, der Käse, der schon<br />
längst in die Molkerei sollte, vor sich hingammelte, es ums Haus<br />
herum aussah, wie auf einer Geröllhalde, die Kinder in Lumpen<br />
herumliefen, solange der Wirt ein Einsehen hatte und ihm den<br />
Kaffee Schnaps nicht verweigerte, war die Welt für ihn in Ordnung.<br />
Eine weitere Wehe durchflutete Anna, die langsam da<strong>mit</strong><br />
rechnete, das Kind allein zur Welt zu bringen. Die ohnehin<br />
schmutzigen Bettlaken waren schon ganz durchnässt von ihrem<br />
Schweiß, den sie in Bächen absonderte, und sie konnte sich kaum<br />
noch aufrichten. Die Wehen kamen jetzt bereits alle zehn Minuten.<br />
Sie fand ein gebrauchtes Taschentuch im Nachttisch <strong>mit</strong> der<br />
Marmorplatte, der schon lange eine Ecke fehlte, und trocknete sich<br />
die Stirn.<br />
Endlich, Anna hatte fast aufgegeben, stand Max <strong>mit</strong> der<br />
Hebamme im Zimmer.<br />
»Guten Abend Frau Meier. Entschuldigen Sie, aber ich wurde<br />
noch zu einer anderen Geburt gerufen? Wo ist Ihr Mann?«<br />
5
»Die Wehen kommen jetzt so alle fünf Minuten und der Albert<br />
befindet sich <strong>mit</strong> Sicherheit im Adler.«<br />
»Auch gut, den brauchen wir ohnehin nicht, hab ich Recht? Ich<br />
glaube wir erscheinen ja gerade noch rechtzeitig, um <strong>dem</strong> neuen<br />
Erdenbürger auf die Beine zu helfen. Ich gehe mal schnell<br />
Heißwasser aufsetzen.«<br />
»Die Tücher habe ich in der Küche bereitgelegt«, rief Anna ihr<br />
nach.<br />
Die Hebamme, Gret Arpagaus, war eine schrullige, alte Frau und<br />
ging bereits auf die siebzig zu. Sie besaß ein strenges Gesicht, <strong>dem</strong><br />
die Haare, welche sie nach hinten gekämmt, noch eins oben<br />
draufsetzten. Seit einer halben Ewigkeit war sie als Geburtshelferin<br />
in Obersaxen unterwegs und praktisch keines der Kinder in den<br />
letzten dreißig Jahren, kam ohne ihre fachkundige Hilfe zur Welt.<br />
Gret hielt auch nichts von den neuerdings so angepriesenen<br />
Spitalgeburten und niemand in der Gegend dachte auch nur daran,<br />
auf Gret zu verzichten.<br />
Gret war nicht heikel und durch ihre Tätigkeit schon in so<br />
manchem Haus, aber was sie hier vorfand, war auch für Gret kaum<br />
zu ertragen und der modrige, beißende Gestank, machte ihr schwer<br />
zu schaffen. Sie setzte Wasser auf und fand: wenigstens ist die Küche<br />
einigermaßen ordentlich, dann ging sie zurück ins Schlafzimmer, wo<br />
Anna in ihrem Schweiße zu Ertrinken drohte.<br />
»Wie geht‘s Ihnen Frau Meier?«<br />
»Es geht so.«<br />
Sie nahm einen feuchten Lappen und trocknete ihr die Stirn.<br />
»Was wird‘s denn diesmal, wahrscheinlich wieder ein Junge?«<br />
Sie half Anna in eine halbhohe Sitzposition.<br />
»Na, dann gehen wir's an. Sie atmen ganz fest durch den Bauch,<br />
und wenn ich es sage pressen Sie, aber das wissen Sie ja alles, nicht<br />
wahr Frau Meier?«<br />
6
Anna wurde von einer weiteren Wehe erfasst. Sie tat wie ihr<br />
geheißen. Sie bekundete Respekt vor einer Hebamme, die eine so<br />
lange Ausbildung hinter sich hatte, welche Anna nie bekommen<br />
würde. Anna wollte einmal Krankenschwester werden, doch alles<br />
Klagen half nichts, Mutter und Vater meinten <strong>mit</strong> Nachdruck, sie<br />
solle sich diese Flausen aus <strong>dem</strong> Kopf schlagen, und die Familie<br />
hätte schon Opfer genug gebracht, als man sie auf die<br />
Sekundarschule gehen ließ. Als sie dann vor lauter Kinderkriegen<br />
kaum mehr aus <strong>dem</strong> Wochenbett kam, hielt man dies für eine<br />
Bestätigung des damaligen Handelns.<br />
Bei der nächsten Wehe fing Anna auf Geheiß an zu pressen,<br />
während die Arpagaus <strong>mit</strong> den Fingern die Fruchtblase zum Platzen<br />
brachte. Ein Schwall von Fruchtwasser ergoss sich ins Bett, aber<br />
das spielte auch keine Rolle mehr, nass war es ohnehin schon.<br />
Eine weitere Wehe war im Anmarsch, und Anna begann, erneut<br />
zu pressen.<br />
»Wir haben‘s gleich«, meinte die Arpagaus, es sei ja schließlich<br />
nicht wie beim Ersten.<br />
Anna blickte zurück, zu ihrer ersten Geburt, wo sie sechzehn<br />
Stunden in den Wehen gelegen hatte. Bitte, bitte lieber Gott, nicht<br />
noch einmal.<br />
Wieder tauchte das Bild des Fremden vor ihr auf, der für das alles<br />
hier verantwortlich zeichnete, doch Anna bereute keine Sekunde<br />
des innigen Beisammenseins. Wenigstens ist es diesmal ein Kind der<br />
Liebe, und nicht nur eines durch den vielen Alkohol verzögerten<br />
Ergusses ihres besoffenen Alberts. Ich hoffe es sieht mir ähnlich und<br />
Albert merkt nichts. Sie hoffte auch, dass es ein Junge wird, da<br />
Albert offensichtlich nur Buben zeugen konnte.<br />
Eine weitere Wehe begann.<br />
»Ja, Frau Meier. Fest pressen, der Kopf ist schon da.« Die<br />
Hebamme zog und nach dreißig Sekunden war alles vorbei.<br />
7
Kapitel 2<br />
Gret Arpagaus machte ein Gesicht, wie wenn sie etwas zu Tode<br />
erschreckt hätte, und wandte sich schnell ab.<br />
»Es ist ein <strong>Mädchen</strong>«, sagte sie kleinlaut. Sie legte ihr das<br />
winzige Ding in <strong>dem</strong> Arm und Anna wendete den Kopf.<br />
Was sie da sah, drehte ihr fast den Magen um. Rasch schaute sie<br />
wieder weg. Nach einer Weile wendete sie wieder langsam den Kopf.<br />
Ihr war, als blickte sie <strong>dem</strong> leibhaftigen Teufel ins Gesicht. Um sie<br />
herum begann sich alles zu drehen, selbst der Kuckuck in der Uhr<br />
an der Wand, schien es in seiner Behausung nicht länger<br />
auszuhalten, und die Tränen begannen ihr zu fließen. Wie wenn die<br />
Kirchenglocken der Dorfkirchen und Kapellen sich in diesen Raum<br />
verirrt hätten und zur Morgenandacht läuteten, fing es in ihrem<br />
Kopf an zu dröhnen. Ihre Arme versagten ihren Dienst und die Kleine<br />
wäre beinahe aus <strong>dem</strong> Bett gefallen, wenn Gret sie nicht im letzten<br />
Augenblick aufgefangen hätte. Anna konnte, auch wenn sie noch so<br />
gewollt hätte, einfach nicht mehr hinsehen.<br />
<strong>Das</strong> Kind besaß kein Kinn. Von der Unterlippe weg traten die<br />
Knochen, wenn denn welche da waren, die Flucht nach hinten an.<br />
Die Nase ragte steil nach oben und es war nichts zu sehen, als zwei<br />
riesige Löcher. Der Mund verlief so schief, dass man nicht wusste,<br />
ob er senkrecht im Gesicht stand. Die übergroßen Ohren standen in<br />
neunzig Grad vom Kopf ab, wie zwei riesige Trichter. Die Augen<br />
konnte sie noch nicht so richtig beurteilen, es waren bislang nur<br />
Schlitze, die auch noch um einen Zentimeter nach oben und unten<br />
versetzt waren.<br />
In ihrem ganzen Leben hatte Anna noch nie etwas Hässlicheres<br />
zu Gesicht bekommen. <strong>Das</strong> soll meine Tochter sein? Ist das die<br />
Strafe Gottes für mein Techtelmechtel? Sie drehte angewidert den<br />
8
Kopf weg, und bat die Hebamme das Kind in die bereitstehende<br />
Wiege zu legen.<br />
»Wie konnte das nur passieren? Albert bringt mich um dafür, ich<br />
habe doch bisher nur gesunde Kinder geboren.«<br />
»Aber er ist doch genauso daran beteiligt wie Sie«, sagte Gret,<br />
und nur Anna wusste, dass dies nicht zutraf.<br />
Warum hat der liebe Gott mich nur so bestraft? Ich habe mich<br />
doch nur einer unsäglich schönen Liebe hingegeben, darf ich es<br />
denn nicht auch einmal wunderbar haben in meinem Leben, muss<br />
denn die Frucht der Liebe so erbarmungswürdig daherkommen?<br />
Max kam herein und fragte Anna, warum sie weine.<br />
»Sieh selbst.«<br />
Max ging zur Wiege und erstarrte.<br />
»Was ist das, Mama?«<br />
»<strong>Das</strong> ist deine Schwester.«<br />
»Sie sieht zwar schrecklich aus, aber immerhin eine Schwester<br />
und nicht wieder ein so dämlicher Kerl.«<br />
»Sonst hast du dazu nichts zu sagen?«, fragte Anna.<br />
»Was soll ich denn sagen? Ich habe mir meine Schwester<br />
vielleicht etwas anders vorgestellt, doch es ist ein <strong>Mädchen</strong> und<br />
allein dafür werde ich sie lieben.«<br />
Anna konnte nicht fassen, was sie da aus <strong>dem</strong> Mund ihres<br />
Ältesten zu hören bekam, und ihre Gedanken wurden von einem<br />
Strudel wirbelnden Wassers davongetragen. Wenn mein Max das<br />
Kind ertragen kann, so gelingt mir das auch, hauchte es aus ihrem<br />
Unterbewusstsein.<br />
Nach zehn Minuten ging die Tür auf und Albert schwankte ins<br />
Zimmer.<br />
9
»Ischt er schon da?«, stammelte seine versoffene Stimme. Er<br />
stützte sich am Türpfosten und seine Schnapsfahne hätte der<br />
Arpagaus beinahe zu einer Ohnmacht verholfen.<br />
»Es ist eine Sie«, sagte die Arpagaus mürbe.<br />
Albert schwankte zur Wiege und sah hinein.<br />
Angewidert drehte er sich ab, stolperte in die Küche und kotzte<br />
ins Spülbecken. Er konnte noch immer nicht glauben, was er da<br />
gerade gesehen hatte. Langsam schlurfte er zurück und näherte sich<br />
vorsichtig der Wiege, wie wenn ihn im nächsten Moment ein wildes<br />
Tier anspringen könnte. Fassungslos starrte er hinein.<br />
»Scholl das etwa von mir schein? <strong>Das</strong>ch ist eine Misschgebur,<br />
dasch ist niemalsch von mir. Ich habe schechs schtramme Buben<br />
geseugt, dasch da drin kann unmöglich von mir schein. Wer hat dir<br />
dasch angehängt, du vedammte Hure? <strong>Das</strong>ch ist die Strafe Gottes,<br />
du hasch <strong>dem</strong> leibhaftigen Deufel das Leben geschenkt, in dieschem<br />
Haus ist kein Platz für so wasch.«<br />
»Jetzt siehst du, was du <strong>mit</strong> deiner Sauferei angerichtet hast, du<br />
elender Mistkerl«, schrie Anna.<br />
»Willscht du da<strong>mit</strong> etwa schagen, dasch ich daran schuld bin?«<br />
»Es ist hinlänglich bekannt, dass Säufer solche Missgeburten<br />
produzieren und dieses kleine Geschöpf ist mir noch hundertmal<br />
lieber, wie jeden Tag, in deine versoffene Fratze zu blicken. Und jetzt<br />
muss sie einen Namen haben«, winselte Anna.<br />
»Nenn schie von mir ausch, wie du willsch, aber trete mir <strong>mit</strong><br />
dieser Kreatur nie mehr unter die Auschen, nie mehr, hasch du<br />
misch verschtanden?«<br />
Er drehte sich um, schlug die Tür in einem Knall hinter sich zu,<br />
kotzte noch mal ins Spülbecken und machte sich auf den Weg in den<br />
Adler.<br />
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»Wie soll sie denn nun heißen«, fragte die Arpagaus.<br />
Anna blickte weinend auf und sagte: »Sophie, Sophie will ich sie<br />
nennen, wenn ich ihr was geben kann, dann wenigstens einen<br />
schönen Namen.«<br />
11
Kapitel 3<br />
St. Martin/Obersaxen 1980 - 1985<br />
Mit knapper Not hatte Anna verhindert, dass sie <strong>mit</strong> Sophie von<br />
Albert aus <strong>dem</strong> Haus getrieben wurde. Er war an diesem Tag nicht<br />
aus <strong>dem</strong> Dorf zurückgekehrt, so betrunken war er. Als er dann am<br />
anderen Morgen immer noch ziemlich angeduselt nach Hause kam,<br />
fing er an, aus <strong>dem</strong> ohnehin spärlichen Mobiliar Kleinholz zu<br />
machen. Alle Kinder saßen am Küchentisch und Albert schrie immer<br />
und immer wieder: »Schieh sie dir doch an, dasch sind meine<br />
Kinder.« Er packte Anna bei den Haaren, führte sie zu je<strong>dem</strong> der<br />
Jungs und sagte: »Schieh genau hin du vedammte Nutte, scho<br />
schehen Alberts Kinder ausch.«<br />
Als Max seine Mutter beschützen wollte, knallte er ihm eine<br />
solche Ohrfeige, dass dieser durch den ganzen Raum flog und<br />
benommen liegen blieb.<br />
Als sie ihm zu Hilfe eilen wollte, packte er sie wieder an ihren<br />
Haaren, warf sie auf den Tisch, riss ihr die Beine auseinander und<br />
plante über sie herzufallen.<br />
»Du willst also noch so eine Missgeburt«, schrie Anna.<br />
Max, <strong>mit</strong>tlerweile wieder aufgestanden, näherte sich ihm von<br />
hinten und schlug ihm einen Stuhl in den Rücken, Albert sackte wie<br />
ein Käse zusammen.<br />
»Komm wir bringen ihn ins Bett, er hat ziemlich getankt.«<br />
Während sie ihn zu zweit ins Schlafzimmer schleiften, murmelte<br />
Albert. »<strong>Das</strong>ch Balg werfe ich in den Basch, was schollen auch die<br />
Leute denschen.«<br />
»Du gibst denen schon genug zu denken, das erledigst du <strong>mit</strong><br />
deiner Völlerei ganz alleine«, entgegnete Anna. »Du bist ein<br />
verdammter nichtsnutziger Trunkenbold, der das Ganze hier zu<br />
verantworten hat.«<br />
12
Nach drei Stunden wurde Albert von Entzugserscheinungen<br />
geweckt. Er stand auf und wankte in die Küche, wo alle versammelt<br />
waren.<br />
»Wenn ich schurückkomme, ist diesche vedammte Kreatur<br />
verschwunden, hascht du mich veschtanden.«<br />
»Aber wo sollen wir denn hingehen, ich kann doch die Kinder<br />
nicht allein lassen, wie stellst du dir das vor?«<br />
»Ich brausche mir gar nichts vorschuschellen und schage dir<br />
nochmal, sobald ich schurück bin, ist dieses leine Monschter weg.«<br />
Er fasste nach seiner zerschlissenen Jacke und wankte Richtung<br />
Adler.<br />
Die anderen Kinder hatten <strong>mit</strong>tlerweile bereits einen Blick auf<br />
das Unfassbare riskiert. Alle wandten sich angewidert ab und der<br />
kleine Paul hat sogar auf den Boden gekotzt. <strong>Das</strong> ist ja ein Gespenst<br />
riefen sie wie aus einem Mund und rannten eilends aus <strong>dem</strong> Zimmer.<br />
Nur Max blieb an der Seite seiner Mutter und sagte zu ihr: »Wir<br />
werden schon irgendwie da<strong>mit</strong> klarkommen, Mama.«<br />
Verzweifelt wog Anna ab, was sie tun sollte, aber es wollte ihr<br />
einfach nichts Passendes einfallen, denn auch die anderen Kinder,<br />
außer ihrem ältesten Max, fürchteten sich vor <strong>dem</strong> kleinen Monster.<br />
In ihrer Verzweiflung fragte sie Max, was er tun würde?<br />
Max studierte eine Weile und sagte: »<strong>Das</strong> Beste wäre, wir<br />
könnten ihn <strong>mit</strong> Schnaps bestechen, dafür tut dieser Mistkerl<br />
nämlich eine Menge, aber leider haben wir kein Geld.«<br />
Anna überlegte …<br />
Auch sie wusste, dass Albert für Alkohol alles tun würde. Von<br />
ihrer Mutter bekam sie damals, als sie Albert geheiratet hatte ein<br />
kleines Kästchen, der Inhalt, zweihundert Franken. Sie hatte sich<br />
bisher, trotz schwerer Zeiten, standhaft geweigert das Geld, von<br />
13
<strong>dem</strong> ihr Albert natürlich nichts wusste, anzurühren. Genau diesen<br />
Batzen wollte Anna nun einsetzen, um das Leben von Sophie zu<br />
retten.<br />
Sie setzte sich an den Küchentisch, dessen bessere Zeiten längst<br />
der Vergangenheit angehörten, und beschloss, auf Alberts Rückkehr<br />
zu warten, da sie Angst hatte, er könnte Sophie etwas antun. Vor ihr<br />
stand das Kästchen, welches sie immer wieder öffnete und wieder<br />
verschloss.<br />
Um ein Uhr morgens schwankte Albert schwer berauscht durch<br />
die Tür. Max hatte sich zur Sicherheit hinter der Tür postiert, da er<br />
seine Mutter nicht allein lassen wollte.<br />
»Ischt diesches Monschter weg?«, ertönte seine versoffene<br />
Stimme, kaum zum Sprechen fähig. Seine Fahne war so widerlich,<br />
dass Anna zurückwich.<br />
»Was hältst du von einer Woche Adler, wo du saufen kannst, ohne<br />
zu bezahlen?«<br />
»Wie willscht du denn dasch anschtellen? Willscht du etwa <strong>mit</strong><br />
<strong>dem</strong> Andrin auch noch in die Kischte schteigen?«<br />
»Nichts dergleichen«, antwortete Anna.<br />
»Wie denn dann?«<br />
»Wenn du mir versprichst, dass Sophie hier bleiben darf, kann<br />
ich das einrichten.«<br />
»Isch hab dir bereitsch hunschertmal gesagt, dass isch <strong>mit</strong><br />
dieschem Monschter keine Minute länger unter einem <strong>Das</strong>ch lebe.«<br />
»Willst du jetzt eine Woche gratis saufen, oder nicht?«<br />
»Gut eine Wosche darf schie noch bleiben, aber dann ist schie<br />
wesch.«<br />
»Nein mein Lieber, entweder sie bleibt für immer oder du kannst<br />
deine Trinkerei vergessen.«<br />
14
Albert, der sich schon seit mehr als fünf Tagen anschreiben ließ<br />
und wusste, dass er nächste Woche wahrscheinlich auf <strong>dem</strong><br />
Trockenen sitzen würde, gab Kleinbei.<br />
»Unter einer Beschingung.«<br />
»Und die wäre?«<br />
»<strong>Das</strong>ch schich diesche Kreatur nie im gleischen Raum aufhält,<br />
wie isch.«<br />
»Also gut, aber ich möchte das schriftlich von dir.«<br />
»Meinetwegen.«<br />
»Ich will nie mehr etwas davon hören, dass Sophie weg muss,<br />
sonst bring ich dich um.«<br />
Am andern Tag ging Anna nach Obersaxen Meierhof und<br />
überreichte <strong>dem</strong> Adlerwirt die zweihundert Franken.<br />
»Wie viel hat mein Mann bis jetzt anschreiben lassen?«<br />
Andrin nestelte in den Coupons herum. »Da haben wir‘s, neunzig<br />
Franken.«<br />
»Hier sind zweihundert, und dafür säuft er nächste Woche<br />
kostenlos. Und kein Wort zu meinem Mann!«<br />
Andrin nahm das Geld und schüttelte den Kopf. So eine Alte<br />
möchte ich auch mal haben, die bezahlt <strong>dem</strong> sogar noch das Saufen.<br />
Andrin war schon lange scharf auf Anna, aber er konnte nicht fassen,<br />
was er da von dieser schönen Frau zu hören bekam.<br />
Die ganze Woche bearbeitete Albert Andrin, wie seine Anna dies<br />
wohl angestellt hatte.<br />
»Du vöschelst schie, hab isch rescht?«<br />
»Nein«, sagte Andrin.<br />
»Aba du würdest schie gern vernaschen?«<br />
»Sagen wir‘s mal so, sie wäre eine Sünde wert.«<br />
»Wenn schie disch nun jede Wosche einmal ranlässcht, würdest<br />
du mir dann schieben Tasche koschtenlosch Schnaps ausschenken?«<br />
15
»Darüber könnte man reden.«<br />
Die ganze folgende Woche kam Albert manchmal auf allen Vieren<br />
angebrochen, so besoffen war er.<br />
Als die Woche Freischnaps vorbei war, meinte Albert eines<br />
Morgens.<br />
»Isch habe <strong>mit</strong> Andrin geredet.«<br />
»Und, was denn?«, fragte Anna?<br />
»Wenn du einmal die Wosche <strong>mit</strong> ihm ins Bett gehscht, bekomme<br />
ich schieben Tasche Schnaps umsonst.«<br />
Nun hatte Anna genug.<br />
»Du bist so ein widerlicher Scheißkerl. Sogar deine eigene Frau<br />
würdest du verkaufen, um deine Sauferei zu finanzieren.«<br />
»Na und, du bischt ja ohnehin eine Hure und da kommt‘s auf<br />
einen mehr oder wenischer auch nischt an.«<br />
Anna begann zu weinen. Wo<strong>mit</strong> habe ich mir diesen widerlichen<br />
Kerl verdient, aber Albert hatte bereits die Tür hinter sich<br />
zugeschlagen und wankte Richtung Dorf.<br />
16
Kapitel 4<br />
Die nächsten Wochen waren für Anna die reine Hölle. Immer,<br />
wenn Albert besoffen nach Hause kam, begann er zu randalieren.<br />
Die Kinder stoben auseinander, wenn sie ihn erblickten, nur Max<br />
stellte sich schützend vor seine Mutter. Er bearbeitete den<br />
Küchentisch <strong>mit</strong> seinen Fäusten, riss die Türen, vom einzigen<br />
Schrank, den sie besaßen, aus den Angeln, und fing an, <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />
Geschirr um sich zu schmeißen. Dann packte er Anna bei den<br />
Haaren, schleifte sie ins Schlafzimmer, warf sie aufs Bett und<br />
versuchte in sie einzudringen, aber er brachte in seinem Zustand<br />
keinen hoch und schlief nach wenigen Minuten ein. So ging das<br />
einige Monate weiter, jeden Tag dasselbe Spiel.<br />
Die Taufe der kleinen Sophie war ein Ereignis besonderer Art<br />
und lockte die Gaffer in Scharen. Die Kunde vom winzigen Monster<br />
war längst ins Dorf gedrungen, nicht zuletzt deshalb, weil Albert<br />
sein Maul nicht halten konnte und allen sein Leid klagte. Albert,<br />
schon am frühen Morgen beduselt, lag weggetreten im<br />
Schlafzimmer und schrie man solle ihn gefälligst in Frieden lassen,<br />
er werde sich gewiss in der Gemeinde nicht zum Affen machen.<br />
So machte sich schließlich Anna, nur von Max begleitet, allein<br />
auf den Weg zur Kirche.<br />
Als sie dort ankamen, sahen sie eine unübersehbare<br />
Menschenmenge vor <strong>dem</strong> Gotteshaus versammelt, die alle nicht<br />
wussten, ob sie einen Blick auf das Unfassbare riskieren sollten.<br />
Selbst das größte Dorffest hätte kaum mehr Leute angezogen, die in<br />
gebühren<strong>dem</strong> Abstand ihre Augen verdrehten.<br />
Wie wenn sie von einer ansteckenden Krankheit heimgesucht<br />
werden könnten, rutschten die Kirchenbesucher in ihren Bänken<br />
nach außen, aber gleichwohl starrend, als Anna <strong>mit</strong> der kleinen<br />
Sophie auf <strong>dem</strong> Arm, den Mittelgang entlang schritt. Jene, die<br />
17
trotz<strong>dem</strong> einen Blick erhaschten, wandten sich angewidert ab,<br />
rannten nach draußen und nicht wenige übergaben sich.<br />
Der Pfarrer, der normalerweise den Täufling in den Arm nahm,<br />
weigerte sich standhaft, es auch diesmal zu tun und komplimentierte<br />
Anna zum Taufbecken, wo er der Kleinen <strong>mit</strong> gestrecktem Arm das<br />
Taufwasser überschüttete und sich sofort angewidert abwandte.<br />
<strong>Das</strong> war zu viel für Anna. Weinend und von allen verlassen,<br />
rannte sie, gefolgt von Max, aus der Kirche, nur noch das Ziel nach<br />
Hause vor sich, wo sie bereits Alberts Geschrei, »Geh mir <strong>mit</strong> <strong>dem</strong><br />
Balg aus den Augen«, erwartete, was dann auch prompt eintraf.<br />
»Hat er diesches Monschter überhaupt geschtauft«, wollte<br />
Albert wissen.<br />
»Ja, hat er«, gab Anna knapp zur Antwort.<br />
»Es ist nicht zu fasschen, zu wasch sisch diesche Paffen<br />
heutzutasche alles herablasschen, aber vielleischt hat er schie gar<br />
nischt getauft, schondern nur <strong>mit</strong> seinem Zauberwasscher gewedelt,<br />
um den Deubel auschschutreiben?«<br />
Anna war heilfroh, dass wenigstens Max zu ihr stand. Er<br />
unterstützte seine Mutter, wo er nur konnte. Als Einziger trug er die<br />
kleine Sophie auf seinen Armen und gab ihr das Fläschchen,<br />
nach<strong>dem</strong> Annas Milchquelle versiegt war.<br />
Zwischen den drei entstand ein zartes unsichtbares Band,<br />
welches, je mehr Zeit ins Land schritt, immer fester wurde.<br />
Max begann sogar, <strong>mit</strong> Sophie zu spielen. Sie spielten Hoppe,<br />
Hoppe Reiter und andere lustige Dinge, und Anna musste im Stillen<br />
lächeln, wenn sie die beiden beobachtete.<br />
18
Kapitel 5<br />
Die Kleine, jetzt <strong>mit</strong>tlerweile fast zwei Jahre alt, durfte beim<br />
Essen nicht <strong>mit</strong> den anderen an einem Tisch sitzen, da Albert ihren<br />
Anblick noch immer nicht ertragen konnte. Aber auch die übrigen<br />
Buben, außer Max der Älteste, schauten immer vorwurfsvoll zu<br />
Anna, da ihnen der Anblick der kleinen Sophie, offenbar den Appetit<br />
verdarb.<br />
Man hat ihr etwas abseits ein kleines Tischchen hingestellt, und<br />
davor ein Tuch gehängt, da<strong>mit</strong> sie die Kleine nicht sehen brauchten.<br />
Außer wenn‘s unvermeidlich war, hatte sich ihr Albert noch nie mehr<br />
als auf fünf Meter genähert. Sie musste immer sitzen bleiben, bis<br />
die anderen den Raum verließen, was sie auch brav tat. Sophie hatte<br />
schnell gelernt, dass man sich <strong>mit</strong> einem vorwitzigen Maul nur<br />
Scherereien einhandelte, und war eifrig darauf bedacht, nur ja nicht<br />
aufzufallen, was ohnehin kein leichtes Unterfangen darstellte.<br />
<strong>Das</strong> Aussehen der kleinen Sophie hat sich kaum merklich<br />
verändert. Ihr Gesicht war schlicht eine Zumutung. Frankenstein<br />
hätte seine helle Freude daran gehabt.<br />
Eines Abends, Albert stolperte in seinem Rausch wieder einmal<br />
über einen Regenkübel, packte er den, der danebenstand und<br />
überschüttete Sophie <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> kalten Wasser. Die kleine Sophie<br />
brüllte, wie am Spieß. Er ging zum Bettchen rülpste, sein Magen<br />
wurde eins <strong>mit</strong> der Speiseröhre und er kotzte in einem Schwall<br />
seinen ganzen Mageninhalt über die Kleine, die nun noch lauter<br />
schrie. Anna kam angerannt und warf <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> nächsten Kübel nach<br />
Albert, der sich angewidert abwandte.<br />
Als die Kunde von der hässlichen Tochter nach Obersaxen und<br />
die umliegenden Dörfer drang, standen die Leute Schlange vor <strong>dem</strong><br />
Haus der Meiers, nur um einen Blick auf das schier Unfassbare zu<br />
erhaschen. Es wurden richtiggehende Pilgerreisen zu ihrem<br />
19
Bauernhaus veranstaltet, um die Sensationsgier der Menschen zu<br />
stillen.<br />
Die Nachricht von der Missgeburt erfasste schließlich das ganze<br />
Tal und Albert befasste sich ernsthaft da<strong>mit</strong>, langsam Eintritt zu<br />
verlangen, für alle, die seine Tochter sehen wollten. Mit einer leeren<br />
Konservendose stellte er sich vor die Tür und verlangte von<br />
jedermann, der Sophie anschauen wollte, einen Franken. Den so, er<br />
grinste über seinen Einfallsreichtum, eingesteckten Erlös, wandelte<br />
er in Schnaps um. Seit er von der ganzen Gegend be<strong>mit</strong>leidet wurde,<br />
verbrachte er seine Zeit praktisch nur noch im Adler, wo ihm der<br />
eine oder andere aus Mitleid die Zeche zahlte. Sein Rausch wurde<br />
zum Dauerzustand und die Arbeit rührte er nicht mehr an.<br />
Nur <strong>dem</strong> Einsatz des <strong>mit</strong>tlerweile vierzehnjährigen Max war es<br />
zu verdanken, dass die Familie mehr schlecht als recht überleben<br />
konnte. Er half seiner Mutter <strong>mit</strong> den Tieren und auf <strong>dem</strong> Feld. Die<br />
Herstellung des Käses war schon eine Weile seine Domäne, da der<br />
liebe Albert nichts mehr anrührte.<br />
Regelmäßig sah man ihn schwer bepackt <strong>dem</strong> Dorf zusteuern, wo<br />
er das Resultat seiner Arbeit ablieferte und für seine Familie wieder<br />
ein paar Franken verdiente. Mehr als einmal kam es jedoch vor, dass<br />
sein betrunkener Vater ihn abpasste, und ihm den sauer<br />
erarbeiteten Lohn abnahm, da<strong>mit</strong> er weitersaufen konnte. Doch Max<br />
ließ sich nicht entmutigen und achtete darauf, seinem Alten fortan<br />
aus <strong>dem</strong> Weg zu gehen.<br />
Neben Anna war Max noch immer der Einzige der Familie, der<br />
sich, wenn er gerade Zeit hatte, <strong>mit</strong> Sophie beschäftigte.<br />
Anna hat sich <strong>mit</strong> ihrem Schicksal, so gut es eben ging,<br />
abgefunden, und zu Sophie sogar eine wirkliche Zuneigung<br />
entwickelt<br />
20
Kapitel 6<br />
Sophie war auch sonst kein normales Kind. Als sie ein Jahr alt<br />
war, konnte sie schon ganze Sätze sprechen, und zwar kamen diese<br />
keineswegs als Geplapper über ihre Lippen, sondern gestochen<br />
scharf. Sie begann auch je<strong>dem</strong>, der gerade zuhörte, ein Loch in den<br />
Bauch zu fragen. Opfer dieser Fragestunden waren jeweils Anna und<br />
Max.<br />
»Was ist das für ein Käfer, wie heißt der Baum dort drüben,<br />
warum geht am Morgen die Sonne auf, wo wohnt der liebe Gott,<br />
woher kommen die kleinen Kinder, wieso habe ich einen so schiefen<br />
Mund und eine so große Nase.«<br />
Von etwas Geld, das er auf die Seite gelegt hatte, kaufte Max ein<br />
altes, gebrauchtes Radio und Sophie war nicht mehr davon<br />
wegzukriegen. Sie hörte alles, von Musik über die Nachrichten und<br />
Geschichten, die erzählt wurden, und prompt stellte sie wieder die<br />
entsprechenden Fragen dazu.<br />
Als sie eines Tages eine Zeitung fand, die Max <strong>mit</strong>gebracht hatte,<br />
stürmte sie so lange auf ihn ein, bis er ihr daraus vorlas. Aber Sophie<br />
hörte keineswegs nur zu, sondern behielt auch alles, was man ihr<br />
sagte, und zwar ohne Ausnahme, ob dies nun politische Texte,<br />
Todesanzeigen oder sonst was war. Als Max, nach einer halben<br />
Stunde lesen, einmal aufsah, begann Sophie alles, was sie in den<br />
letzten dreißig Minuten gehört hatte, Wort für Wort wiederzugeben,<br />
was Max in Erstaunen versetzte.<br />
»Du hast ein enormes Gedächtnis kleines Schwesterchen.«<br />
»<strong>Das</strong> ist doch kinderleicht«, meinte die Sophie und das<br />
wohlverstanden <strong>mit</strong> zwei Jahren.<br />
Schon bald begann sie Max zuzusehen, wie er Käse herstellte,<br />
und <strong>mit</strong> drei wusste sie alles über Käse, was es zu wissen gab und<br />
schämte sich nicht, weitere Fragen zu stellen. Zur gleichen Zeit fing<br />
21
sie an, die Buchstaben, die ihr aus den Zeitungen in Erinnerung<br />
waren, auf ein Blatt zu malen. Sie kopierte ganze Zeitungsseiten in<br />
das Heft, das Max ihr eines Tages <strong>mit</strong>brachte. Da sie kein Spielzeug<br />
besaß, sammelte sie Baumnüsse, die sie aber nicht zum Spielen<br />
brauchte, sondern zum Rechnen. Schon <strong>mit</strong> drei Jahren zählte sie<br />
mühelos bis Tausend und konnte Zahlen addieren, subtrahieren,<br />
multiplizieren und teilen, wie wenn sie Mathematik erfunden hätte<br />
und Max kam aus <strong>dem</strong> Staunen nicht mehr heraus.<br />
Im Alter von viereinhalb Jahren kam der Tag, an <strong>dem</strong> Sophie das<br />
erste Mal <strong>mit</strong> ihrer Mutter nach Obersaxen durfte. Mehr als den<br />
alten, verlotterten Bauernhof und den Wald nebenan, hatte sie<br />
bislang nicht zu Gesicht bekommen. Was die Welt bedeutete,<br />
bestand für Sophie aus Zeitung und Radio, die Nüsse brauchte sie<br />
schon lange nicht mehr, da sich jetzt alles in ihrem Kopf abspielte.<br />
Außer Max kamen ihre anderen Brüder noch immer kaum mehr<br />
als drei Schritte an sie heran und streckten ihr immer angewidert<br />
die Zunge heraus, wenn ein Blickkontakt wieder einmal<br />
unvermeidlich war. Sie wurde von den fünf geplagt, wo sie nur<br />
konnten und insbesondere Paul, hatte es auf die Kleine abgesehen.<br />
Eines Tages, Sophie war im Wald beim Spielen, schleppte er ihre<br />
alte durchlöcherte Matratze, aus ihrem Verschlag nach draußen,<br />
und zündete sie an. In der Folge musste sie drei Wochen auf <strong>dem</strong><br />
kalten Boden schlafen, bis Max eine neue organisieren konnte. Er<br />
fand sie auf einem Abfallhaufen im Dorf.<br />
Aber auch ihre andern Brüder waren keineswegs besser. Einmal<br />
bastelten sie Steinschleudern, das ideale Instrument jemanden zu<br />
terrorisieren, <strong>dem</strong> man nicht zu Nahe treten wollte. <strong>Das</strong> üble Spiel<br />
22
hörte erst auf, nach<strong>dem</strong> Max die Schleudern eingesammelt, und<br />
seine Geschwister <strong>mit</strong> einer gehörigen Tracht Prügel bedacht hatte.<br />
Endlich kam besagter Tag und Anna nahm die Kleine bei der<br />
Hand. Zu Fuß gingen sie die etwa drei Kilometer bis Meierhof<br />
Obersaxen. Sophie freute sich, einmal ins Dorf zu kommen und am<br />
Anfang schien auch alles gut zu gehen.<br />
Anna wusste, dass die Leute sich nach den beiden umdrehen<br />
würden, aber sie war entschlossen, diesen Nach<strong>mit</strong>tag<br />
durchzustehen.<br />
»Mama, warum gucken die Menschen so komisch?«<br />
»Achte nicht auf sie, meine Kleine.«<br />
Schon tönte es hinter einer Hausecke: »Vogelscheuche, hässliche<br />
Vogelscheuche.«<br />
»Sind wir gemeint, Mama?«<br />
»Schau nicht darauf, das sind nur böse Buben.«<br />
»Aber warum tun sie das?«<br />
»Eben, weil sie böse Buben sind.«<br />
Die entgegenkommenden Leute gingen in großem Bogen an den<br />
beiden vorbei. Viele wechselten sogar auf die andere Straßenseite,<br />
gafften aber fasziniert, auf was sie sahen.<br />
Schon wieder ertönte der Ruf: »Vogelscheuche, hässliche<br />
Vogelscheuche.«<br />
Sophie sah das erste Auto und wollte sofort wissen, wie denn so<br />
ein Ding funktioniert, doch Anna hatte darauf auch keine Antwort<br />
und war für einmal sichtlich überfordert.<br />
Die Kleine zeigte sich merklich beeindruckt von allem, was sie<br />
sah, und fragte ihre Mutter ein Loch in den Bauch.<br />
Anna hatte keineswegs im Sinn, schnell zu kapitulieren, jetzt, wo<br />
sie <strong>mit</strong> der Kleinen doch schon im Ort weilte. »Magst du etwas<br />
23
trinken?« <strong>Das</strong> Risiko, das sie in der Folge auf sich nahm, sollte sie<br />
aber rasch bereuen.<br />
»Au ja, Mama.«<br />
Sie nahm ihre Tochter bei der Hand, steuerte direkt aufs Central<br />
zu, den Adler wollte sie meiden, weil dort <strong>mit</strong> Sicherheit Albert saß,<br />
und trat ein.<br />
Sie schaute sich um und suchte einen freien Platz.<br />
Wie aus einem Mund riefen alle Gäste: »Zahlen!«, als sie die<br />
beiden erblickten.<br />
Der verdatterte Wirt schaute zur Tür, sah die Urheber des<br />
Aufruhrs und rief: »Macht, dass ihr verschwindet, ihr vertreibt mir<br />
die Kunden.«<br />
Anna konnte nicht anders. Sie spuckte auf den Fußboden und<br />
bugsierte ihre Tochter hinaus.<br />
»Ist das wegen mir, Mama?«<br />
»Nimm‘s nicht so schwer meine Kleine. Die Welt ist eben sehr<br />
ungerecht, und du bist halt ein besonderes Kind. Es ist besser, wenn<br />
wir nach Hause gehen.«<br />
»Aber wir sind doch erst eine Stunde hier.«<br />
»Glaub mir, es ist klüger so.«<br />
Resigniert trat sie an der Hand von Anna den Heimweg an und<br />
nochmals begleiteten sie die durchdringenden Rufe:<br />
»Vogelscheuche, Vogelscheuche!«<br />
Es sollte fast zwei Jahre dauern, bis Sophie wieder ins Dorf kam.<br />
24
Kapitel 7<br />
Sophie weilte viel im Wald beim Spielen, so dachte man<br />
jedenfalls. Allen Bäumen hatte sie Namen gegeben und artig<br />
begrüßte sie jeden, wenn sie vorbeilief, wie wenn es ihre besten<br />
Kumpels wären. Sie erkannte die Bäume mühelos <strong>mit</strong> Namen und<br />
sie waren ihre einzigen Zuhörer, wenn Sophie wieder einmal, in<br />
Selbstgesprächen versunken, im Wald saß und <strong>mit</strong> ihren dicken<br />
Stämmen sprach, die einzigen, die sie neben Max und Anna zu<br />
verstehen schienen und nicht zurückwichen, sobald sie sich ihnen<br />
näherte.<br />
Als Sophie ihren vierten Geburtstag feierte, überraschte sie der<br />
inzwischen siebzehnjährige Max <strong>mit</strong> einem besonderen Mitbringsel.<br />
Bei einem Trödler hat er ein kleines Transistorradio erstanden, und<br />
das übergab er Sophie, in Geschenkpapier verpackt, zum<br />
Geburtstag.<br />
Mama und er waren die Einzigen, außer ihren Freunden im Wald<br />
natürlich, denen sie um den Hals fallen durfte, und genau das tat sie<br />
bei Max auch besonders ausgiebig vor Freude.<br />
Kaum hatte sie es ausgepackt, verschwand sie schon in ihrem<br />
Verschlag, den man notdürftig gebaut hatte, um sie von den anderen<br />
fernzuhalten und abzuschirmen. Aber mehr, als ein dreckiges,<br />
improvisiertes Loch war das auch nicht. Sein ganzer Inhalt bestand<br />
aus einer Matratze und einer Haarasse, in der Sophie besondere<br />
Schätze und die Zeitungen aufbewahrte.<br />
Doch Sophie liebte es <strong>mit</strong> Bergen von Druckschriften, den<br />
vollgeschriebenen Heften und ihrem geliebten Radio allein zu sein.<br />
Sie hatte schon als ganz kleines Kind gelernt, sich <strong>mit</strong> sich selbst zu<br />
beschäftigen. Mit vier konnte sie Lesen und Schreiben und<br />
besonders Mathematik hatte es ihr angetan. Bereits <strong>mit</strong> fünf hatte<br />
sie alle Schulbücher von Max bis zur neunten Klasse<br />
25
durchgearbeitet und das Meiste davon wusste sie auswendig. Ihr<br />
Wissensdurst war unersättlich, und selbst große Zahlen, <strong>mit</strong> denen<br />
sie wie ein Jongleur <strong>mit</strong> fünf Bällen balancierte, machten ihr wenig<br />
Eindruck.<br />
In einem der Hefte von Max, las sie eines Tages etwas von<br />
Primzahlen und merkte sehr schnell, dass dies Zahlen sind, die nur<br />
durch eins und durch sich selbst teilbar waren. Sie machte sich<br />
künftig einen Sport daraus, alle Primzahlen, bis zu einer Milliarde<br />
herauszufinden. Mit der Zeit bestand ihr ganzes Leben nur noch aus<br />
der logischen Abfolge von Ziffern.<br />
Aber deshalb konnte man Sophie keineswegs als einseitig<br />
bezeichnen, denn auch Literatur begann sie zu interessieren, und so<br />
bat sie Max, ihr alle möglichen gebrauchten Bücher anzuschleppen,<br />
die er finden konnte, was Max auch sehr gerne für seine kleine<br />
Schwester erledigte, die er <strong>mit</strong>tlerweile, trotz ihres gespenstischen<br />
Aussehens, abgöttisch liebte.<br />
Er konnte ihr einfach keinen Wunsch abschlagen, und wenn<br />
immer möglich machte er ihn wahr.<br />
Im Alter von sechs Jahren besaß Sophie nicht weniger als<br />
hundertvierzig Bücher, die sie allesamt gelesen hatte. Max war<br />
deswegen dauernd auf Achse. Er bat den Dorfarzt, den Pfarrer und<br />
alle möglichen Leute, ihm Bücher zu vermachen, die sie bereits<br />
durchgelesen hatten und nicht mehr benötigten, und das ganze Dorf<br />
begann, sich über Wissensdurst dieses jungen Mannes zu wundern.<br />
Sie hatten ja keine Ahnung, dass diese Schätze für ein kleines<br />
<strong>Mädchen</strong> bestimmt waren.<br />
Durch das Lesen begann auch die große weite Welt langsam in<br />
Sophies einsames <strong>Das</strong>ein vorzudringen, und da sie in ihrem<br />
Verschlag keine Lichtquelle besaß, bat sie Max, ihr Kerzen zu<br />
besorgen, die sie zu Dutzenden niederbrannte. Als Sophie fünf Jahre<br />
26
alt war, brachte ihr Max ein Buch, von <strong>dem</strong> er selbst keine Ahnung<br />
hatte, was es sein sollte. Es handelte sich um Algebra und nach<br />
kurzer Zeit löste sie Gleichungen <strong>mit</strong> mehreren Unbekannten. Sie<br />
neckte Max immer wieder <strong>mit</strong> Fragen wie, was gibt 798 mal 274 und<br />
lieferte die Lösung 218'652 innert drei Sekunden gleich <strong>mit</strong>.<br />
Aber Max wunderte bei seiner kleinen Schwester schon lange<br />
nichts mehr. Doch Anna geriet immer mehr in Staunen, woher die<br />
kleine Sophie Dinge wusste, von denen sie selbst keine Ahnung<br />
hatte.<br />
Sie machte große Augen, als sie ihr eines Abends ein Gedicht<br />
vorlas. Sophie liebte das Vorlesen, denn es brachte ihr eine gewisse<br />
Entspannung. Sie wiederholte die Verse wortwörtlich, obwohl nur<br />
einmal gehört.<br />
»Wie hast du das gemacht?«<br />
»Was gemacht, Mama?«<br />
»Du hast das Gedicht wörtlich zitiert.«<br />
»Ach das, Mama. Ich kann das eben. Möchtest du wissen, was<br />
heute in der Zeitung steht, die Max gebracht hat?«<br />
»Warum, kannst du die etwa auch auswendig?«<br />
»<strong>Das</strong> ist doch nicht schwer Mama«, und Sophie fing an, den<br />
Inhalt der Zeitschrift wortwörtlich zu wiederholen.<br />
Anna hörte gespannt zu, die Kleine rekapitulierte alles aus der<br />
Zeitung, wie wenn sie aufgeschlagen vor ihr liegen würde und nach<br />
einer Weile wusste Anna, ihre Tochter ist <strong>mit</strong> einer besonderen Gabe<br />
gesegnet und kurz darauf fasste sie einen Entschluss, der ihr noch<br />
viel Kopfzerbrechen bereiten sollte.<br />
27
Kapitel 8<br />
Die Meiers besaßen zwei Katzen und Sophie staunte, wie<br />
vorbehaltlos die beiden Tiere auf sie zugingen. Wenn sie in ihrem<br />
Bett, oder wie man die durchlöcherte Matratze nannte, lag,<br />
kuschelten sich die Kleinen an sie. Sie verbrachte sehr viel Zeit <strong>mit</strong><br />
den Stubentigern, die ihr auf Schritt und Tritt folgten. Trotz ihrer<br />
beachtlichen Intelligenz war Sophie durchaus zu Gefühlen fähig,<br />
welche sie aber nur gegenüber Anna, Max und ihren beiden Katzen<br />
zeigte.<br />
Eines Morgens sah sie Albert über eine Katze stolpern. Er packte<br />
das Tier beim Schwanz und schlug es so lange auf den Küchentisch,<br />
bis es tot liegen blieb.<br />
»Hör ausch schu plärren du Monschter«, war das Einzige, was<br />
Albert dazu zu sagen hatte. Er nahm das tote Tier und schmiss sie<br />
in hohem Bogen in den Wald, dann wandte er sich wieder seinem<br />
Zwetschgenwasser zu, das er <strong>mit</strong>tlerweile schon frühmorgens trank.<br />
Sophie ging <strong>mit</strong> einer kleinen Schaufel in den Forst, beerdigte<br />
die Katze und setzte ein selbst gebasteltes Kreuz aufs Grab.<br />
Von nun an behütete Sophie die zweite Katze, wie eine Henne<br />
ihre Eier. Sie ließ niemanden, nicht einmal mehr Max und Anna in<br />
die Nähe des Tieres. Albert, vor <strong>dem</strong> sie ohnehin auf der Hut war,<br />
bewachte sie fortan <strong>mit</strong> Argusaugen.<br />
An einem Wochenende, Sophie war gerade sechs Jahre alt<br />
geworden, war Kirmes im Ort und die große Attraktion waren eine<br />
Pferdeschaukel und eine Geisterbahn. Sie bestürmte Max so lange,<br />
bis dieser schließlich widerwillig einlenkte und <strong>mit</strong> Sophie ins Dorf<br />
ging.<br />
28
Sie wollte unbedingt <strong>mit</strong> der Pferdeschaukel fahren. Max nahm<br />
sie bei der Hand und schritt auf den Billettschalter zu.<br />
Der Besitzer schaute angewidert auf Sophie herab.<br />
»Was will denn diese Kreatur hier, doch nicht etwa <strong>mit</strong> der<br />
Schaukel fahren?«<br />
»Genau das wollen wir«, sagte Max.<br />
»<strong>Das</strong> geht aber nicht, doch ich hätte eine andere Idee. Ich habe<br />
da drüben nämlich noch eine Geisterbahn, da könnten wir dieses<br />
Monster hineinstellen und den Leuten das Fürchten lehren. Ha, ha,<br />
ha.«<br />
Traurig, die Tränen liefen ihr über die Backen, verließ Sophie an<br />
der Hand von Max die Kirmes, und sie traten den Heimweg an.<br />
Wenn immer Max im Dorf war, brachte er Sophie etwas zum<br />
Lesen <strong>mit</strong>. Während sie im Frühling, Sommer und Herbst viel<br />
draußen auf <strong>dem</strong> Hof, oder wie man diesen schrecklichen<br />
Abfallhaufen auch nennen wollte, verbrachte, war sie in den trüben<br />
Wintermonaten meist völlig allein in ihrem Verschlag. Um die<br />
beißende Kälte zu ertragen, kroch sie ganz unter ihre Decke und las,<br />
was immer ihr Max auftreiben konnte.<br />
29
Kapitel 9<br />
St. Martin/Obersaxen Herbst 1986 – Frühjahr 1987<br />
Als Sophie sieben Jahre alt war, sagte Anna: »Es ist an der Zeit,<br />
dass du zur Schule gehst.« Anna wurde stutzig, dass man Sophie zur<br />
ärztlichen Untersuchung nicht aufgeboten hatte, wo bestimmt<br />
wurde, ob ein Kind die nötige Reife für einen Schuleintritt besaß.<br />
Daher wandte sie sich persönlich an den Schulratspräsidenten<br />
Beat Vinzens. Er war für einen Ratspräsidenten noch ziemlich jung,<br />
doch das hinderte ihn keineswegs, Anna eine gehörige Abreibung zu<br />
verpassen. Im Spätsommer 1986 machte sich Anna <strong>mit</strong> Sophie, bei<br />
strömen<strong>dem</strong> Regen auf den Weg ins Dorf und steuerte gleich auf<br />
Vinzens‘ Wohnung zu, welche sich in einem der wenigen Wohnblocks<br />
im Ort befand.<br />
Durch den Niederschlag, die Meiers verfügten weder über einen<br />
Schirm noch passendes Regenzeug, trieften Sophies Haare vor<br />
Nässe und sie sah um einiges gespenstischer aus, als ohnehin schon.<br />
Nur <strong>mit</strong> einem Morgenrock bekleidet öffnete ihnen Vinzens die<br />
Tür und ließ auch gleich die Kaffeetasse fallen, die er in der Hand<br />
hielt, als er Sophie erblickte. Man sah deutlich, dass er verzweifelt<br />
da<strong>mit</strong> kämpfte, sein Frühstück, welches er seit wenigen Minuten<br />
intus hatte, zu behalten.<br />
»Warum hat meine Tochter keinen Bescheid zur<br />
Einschulungsuntersuchung erhalten?«<br />
»Weil wir solche Monster nicht einschulen.«<br />
»Und wieso nicht?«<br />
»Da man schon von Weitem sieht, dass sie krank ist.«<br />
»Meiner Tochter fehlt nichts.«<br />
»<strong>Das</strong> betrachtet der Schularzt aber anders und <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> haben<br />
wir schließlich gesprochen. Sie können Ihren Nachwuchs<br />
30
einschulen, wo Sie wollen, jedoch sicher nicht bei uns. Für diese<br />
schreckliche Kreatur gibt es hier keinen Platz. Wir sind eine<br />
ehrenwerte Gemeinde, und Sie sollten eigentlich wissen, dass Ihre<br />
Sophie, oder wie Sie sie nennen mögen, wenn überhaupt, in eine<br />
Sonderschule gehört. Uns wundert nämlich schon sehr lange, dass<br />
sie noch nicht in einem Heim ist.«<br />
»Und wer entscheidet das?«<br />
»<strong>Das</strong> ist bereits entschieden!«<br />
»Und wer hat das bestimmt?«<br />
»Der Schularzt.«<br />
»Und wie heißt dieser Arzt?«<br />
»<strong>Das</strong> ist unser Dorfarzt, Doktor Casanova und der muss es ja<br />
wissen. Sie vergeuden wirklich nur Ihre Zeit, Frau Meier.«<br />
»So, er muss es also wissen? Aber er hat sie ja noch gar nie<br />
gesehen.«<br />
»Er hat sie trotz<strong>dem</strong> abgelehnt.«<br />
»<strong>Das</strong> wollen wir ja sehen.«<br />
Sie nahm Sophie bei der Hand wandte sich um, rannte <strong>mit</strong> ihr die<br />
Treppe hinunter und steuerte Richtung Ausgang, in ihren<br />
Augenwinkeln hatten sich kleine Tränen gebildet.<br />
Die Praxis von Doktor Casanova befand sich in einem stattlichen<br />
alten Haus unweit der Dorf<strong>mit</strong>te, und Anna eilte, <strong>mit</strong> ihrer Tochter<br />
im Schlepptau, zielstrebig darauf zu.<br />
Sie läutete.<br />
Eine Gehilfin öffnete die Tür und wich sofort einen Schritt<br />
zurück, als sie Sophie erblickte.<br />
»Was wollen Sie? Die Praxis ist geschlossen.«<br />
»Ich möchte den Doktor sprechen«, sagte Anna.<br />
»Und warum, wenn ich fragen darf?«<br />
»<strong>Das</strong> werde ich <strong>dem</strong> Doktor selbst sagen.«<br />
»Ich muss nachfragen.«<br />
31
Nach fünf Minuten kam sie zurück.<br />
»Der Doktor hat im Moment keine Zeit.«<br />
»Und wann hat er Sprechstunde?«<br />
»<strong>Das</strong> weiß ich doch nicht.«<br />
»Ich gehe nicht von dieser Tür weg, bis ich ihn gesprochen habe,<br />
und wenn nötig platzieren wir uns hier und bleiben die ganze<br />
Nacht«, entgegnete Anna, die vorhatte, alles auf eine Karte zu<br />
setzen.<br />
Die Gehilfin wandte sich eingeschüchtert ab und kam nach<br />
weiteren fünf Minuten <strong>mit</strong> <strong>dem</strong> Doktor wieder, der in gebühren<strong>dem</strong><br />
Abstand stehen blieb.<br />
»Was wollen Sie?«, krächzte er aus der Ferne, nach<strong>dem</strong> er sich<br />
tüchtig geräuspert hatte, wie dies bei starken Rauchern so üblich<br />
war.<br />
»Ich möchte, dass Sie meine Tochter untersuchen.«<br />
»Was fehlt ihr denn?«<br />
»Sie sollen gesagt haben, meine Sophie muss in die<br />
Sonderschule.«<br />
»Allerdings sehen Sie sie doch an.«<br />
»Meiner Tochter fehlt nichts, was sie nicht für die Schule<br />
qualifizieren würde.«<br />
»Und woher wollen Sie das wissen?«<br />
»Woher wollen Sie es wissen, Sie haben ja noch nicht ein Wort<br />
<strong>mit</strong> ihr gewechselt.«<br />
»Muss man denn das. Ist diese Kreatur überhaupt in der Lage zu<br />
sprechen? Man sieht es ihr doch von weitem an, dass <strong>mit</strong> ihr etwas<br />
nicht stimmt. Außer<strong>dem</strong> ist der Schulrat der Meinung, dass wir es<br />
den anderen Kindern kaum zumuten können, <strong>mit</strong> Ihrer Tochter zur<br />
Schule zu gehen.«<br />
»Und warum nicht? Sie kann genau so gut lernen, wie alle<br />
anderen auch.«<br />
32
Er trat siegessicher einen Schritt näher. »Also du kleines<br />
Ungeheuer. Was gibt sieben Mal acht?«<br />
»<strong>Das</strong> ist nicht fair, das können Gleichaltrige auch nicht«, schrie<br />
Anna in ihrer Verzweiflung.<br />
»Sechsundfünfzig«, tönte es aus <strong>dem</strong> Hintergrund, <strong>dem</strong> völlig<br />
verblüfften Casanova entgegen.<br />
»Und jetzt will ich von Ihnen wissen, wie viel<br />
hundertachtundsechzig Mal fünfhundertvierundneunzig gibt, Herr<br />
Doktor«, forderte Sophie genau so siegessicher.<br />
»Möchten Sie einen Taschenrechner«? Darf ich reinkommen,<br />
wenn ich‘s Ihnen verrate?«<br />
Der Doktor räusperte sich wieder, wie wenn er nachdenken<br />
würde.<br />
»99792!«, sagte Sophie.<br />
Der sichtlich verdatterte Casanova sagte nur noch, »also gut<br />
komm rein.« Seine Neugier war geweckt.<br />
Und so kam es, dass Casanova ihr Fragen um Fragen stellte, die<br />
Sophie allesamt richtig beantwortete. Dann gab er ihr ein Buch voll<br />
medizinischer Ausdrücke und bat sie, ihm daraus vorzulesen. Sophie<br />
las fließend und fehlerfrei. Er legte verschiedene Karten <strong>mit</strong><br />
geometrischen Figuren vor sie hin, gab ihr zehn Sekunden Zeit sie<br />
anzuschauen, dann musste sie das Gesehene auf ein Blatt<br />
nachzeichnen. Sophie beging nicht einen einzigen Fehler.<br />
»Soll ich alle Figuren noch mal zeichnen?«<br />
»Wenn du das kannst, bist du ein kleines Genie.«<br />
»Sophie konnte.«<br />
»Ja, Frau Meier. Ich möchte mich bei Ihnen in aller Form<br />
entschuldigen. Wir haben es wirklich <strong>mit</strong> einem wahren Genie zu<br />
tun, aber trotz<strong>dem</strong> dürfte es schwierig werden für Sophie, hier im<br />
Dorf zum Unterricht zu gehen. Die anderen Eltern werden es nicht<br />
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zulassen, und wie ich gehört habe, wollen sie ihre Kinder nach Ilanz<br />
in die Schule schicken, falls sie <strong>mit</strong> Sophie die Schulbank drücken<br />
müssten.<br />
Abgesehen davon, müsste ich sie bei ihrem Wissen, bereits in die,<br />
sagen wir mal, dritte Klasse einschulen, und selbst dort würde sie<br />
ihre Mitschüler schnell überflügeln, was zu weiteren<br />
Schwierigkeiten führen wird.«<br />
»Ich möchte nur, dass meine Tochter ganz normal <strong>mit</strong> anderen<br />
Kindern zur Schule geht, nicht mehr und nicht weniger.«<br />
»Und genau dort liegt das Problem. Aber nach<strong>dem</strong> ich mich<br />
selbst von den erstaunlichen Fähigkeiten Ihrer Tochter überzeugen<br />
konnte, bleibt mir als Arzt nichts anderes übrig, als <strong>dem</strong> Schulrat<br />
eine Empfehlung zu schicken, Sophie aufzunehmen. Es wäre<br />
beileibe schade, um so viel Intelligenz.«<br />
»Ich danke Ihnen Herr Doktor.«<br />
Er fuhr Sophie übers Haar. »Du bist fürwahr ein<br />
außergewöhnliches <strong>Mädchen</strong>.«<br />
»Er hat mich angefasst«, sagte Sophie auf <strong>dem</strong> Heimweg. »Er<br />
hat mich wirklich angerührt. Er ist der erste Mensch, der mich<br />
berührt hat, außer dir und Max natürlich.«<br />
Und schon tönte es wieder hinter einer Ecke. »Vogelscheuche,<br />
Vogelscheuche.«<br />
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