nordische Skaldenpoesie, nicht zuletzt die Tradition einheimischer volkssprachiger Poesie mit ihrem Formengemisch von Stabreimen und End reimen. Um 870 verfasste dann Otfrid von Weißenburg seine Evangelienharmonie, in der er durchgängig Reime mit einem Gleichklang ab dem letzten betonten Vokal anstrebte. Seit der um 1100 beginnenden provenzalischen Troubadourdichtung gehört der Endreim zum selbstverständlichen Bestandteil der europäischen volkssprachigen Dichtung. Freilich wurden über die Jahrhunderte immer auch Stimmen laut, der Reim sei „barbarisch“. Wie schon Schiller bemerkte, verdankt der Reim „seinen Ursprung einer Sprache“. Die Zahl der Phoneme einer Sprache ist begrenzt. Durchschnittlich haben Sprachen etwa 30 Phoneme, das Deutsche etwa 35 Phoneme. Die vielen, unabsehbar vielen Wörter der Sprache werden gebildet aus Kombinationen der wenigen Phoneme. Daher sind Gleichklänge unvermeidlich. Im alltäglichen Sprechen sind sie uns nur kaum bewusst. Sie wirken im Hintergrund. Der zweite Ursprung liegt in dem, wofür Karl Bühler in den 20er Jahren den Begriff der „Funktionslust“ einführte, was man aber besser Sprachlust nennen sollte. Sprachlust betrifft nicht nur die Lust am gelingenden körperlichen und praktischen Funktionieren des Sprechens, sondern auch die Lust an einem spielerischen, d. h. auch freien Umgang mit der Sprache, ihren Bedeutungen und ihren Klängen. Diese Sprachlust kann als ein anthropologisches Faktum gelten. Ihr Ursprung liegt, wie die Sprach - erwerbsforschung erwiesen hat, wie jeder Umgang mit Kindern erweist, im frühkindlichen Spracherwerb. Nur wenige Hinweise: Der Weg vom ersten Schrei zur sinntragenden Äußerung führt über das Gurren von Kontaktlauten, Unmutslauten, Trinklauten, Wohligkeitslauten, Schlaflauten und das Plappern von Silben. Das Spiel mit der Stimme setzt etwa mit dem dritten Lebensmonat ein. Laute entstehen und werden dann ausprobiert. Der geäußerte Laut erfüllt eine doppelte Funktion, er ist, wie Gehlen es formuliert, ein „motorischer Vollzug des Sprechwerkzeuges“ und „selbstgehörter, zurückgegebener Klang“. Es entwickelt sich ein, wieder Gehlen, 18 „Selbstgefühl der eigenen Tätigkeit“ – eine Basis von Selbstbewusstsein. In Hölderlins Hymne „Am Quell der Donau“ wird die Stimme eine „Erweckerin“ und „menschenbildend“ genannt. Mit einer spezifischen Elternsprache stimmen sich die Eltern auf diese Lautäußerungen ein und entwickeln sie in der Kommunikation mit dem Kind fort. Es wiederholt Laute zu lustvoll erlebten Silbenketten und Silbenkombinationen in einem rhythmischen Singsang, ebenso lustvoll wird dieser rhythmische Singsang verändert. In der Wiederholung oder schon Selbstnachahmung erhalten die Laute eine Kontur. Silbenwiederholungen verfestigen sich in der sprachlichen Interaktion von Kind und Eltern: mama, dada, papa, mimi, hamham, gagack. Lustvoll wird auch erlebt, dass Laute etwas bewirken. Lautmalereien, die sogenannten Onomatopoetika, stellen Lautgruppen auf dem Wege zur Konzeptbildung dar. Sie sind mimetische Abstraktionen. Kein Hund bellt wauwau, kein Hahn kräht kikeriki. Ihre Form wird auch vom System der Muttersprache mitbestimmt. Im Deutschen kräht der Hahn kikeriki, im Niederländischen kükelekü. Mit Beginn des zweiten Lebensjahres treten zeitgleich das Als-ob-Spiel oder Symbolspiel und die ersten Wörter auf – erste Wörter, d. h. spontan gebrauchte, als Einwortäußerung erkennbare Wörter. Dieses lustvoll erlebte, klanglich-rhythmische Spiel mit den Lauten verliert sich, wie alle Erfahrung lehrt, in der weiteren Ausbildung der Sprache zu einer grammatischen Sprache nicht und trägt auch die Lust am sprachlichen Rhythmus und am Reim. In der Kinderpoesie wird nicht nur der Reim voll ausgebildet, also mit Konsonanz ab dem letzten betonten Vokal und mit Dissonanz der anlautenden Konsonanten, und zusammen mit dem Rhythmus als Gesetz genau befolgt, mit ihm wird auch, bis zur Unsinnspoesie, sprachlich kreativ gespielt: Ilse – bilse, Renate – Tomate. In dieser Lust am Reim liegt nicht nur eine Lust am klanglich-rhythmischen Wiederholen von Lauten, sondern auch eine Lust, deren Quelle im Spiel mit der knappen Ressource der Laute, also in der Überwindung eines Mangels, eines Wiederholungszwangs liegt. Mit diesem
Zwang der phonetischen Ressourcen geht der Reim frei und kalkuliert um. Er macht aus der Not eine Tugend, indem er diesen Zwang als poetisches Verfahren einsetzt. Ist der Reim einmal eingeführt, werden wir von der Erwartung geleitet, dass und wie er eingelöst wird. Als gelungen gelten Reime, wenn sie ein Überra- schungsmoment enthalten, wenn der Zwang zwanglos eingelöst, wenn der Mangel in Reichtum überführt wird. Insofern bringt der Reim auf den lautlichen Punkt, was zum Sprachumgang allgemein gehört: ein freier, schöpferischer Umgang mit den Elementen, den Regeln und Konventionen der Sprache.* * Gekürzt um den persönlichen Teil der Vorlesung mit dem Dank an die Universitätsverwaltung, die Kolleginnen und Kollegen und die Studenten. 19
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