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Materialsammlung - Theater Marburg

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Der einzige Vogel,<br />

der die Kälte nicht<br />

fürchtet<br />

<strong>Materialsammlung</strong><br />

Spielzeit 2012/13


Barfuß auf Eis?<br />

Ein Pinguin speichert die Wärme im Prinzip wie eine Thermoskanne. Außen sorgt ein Fell und<br />

eine dicke Fettschicht für gute Isolierung. Die Körperwärme bleibt für alle wichtigen, inneren<br />

Organe (Herz, Verdauungssystem) reserviert. An den Füßen gibt es dagegen keinen Federschutz<br />

und die Füsse sind eiskalt. Doch im Gegensatz zu uns Menschen leiden Pinguine nicht unter<br />

kalten Füßen! Pinguinfüße sind speziell für das Stehen auf kaltem Eis konstruiert.<br />

Nervenversorgung und Kälterezeptoren sind a tiefe Minusgrade angepasst. Pinguinfüsse<br />

können ständig eiskalt sein.<br />

Pinguinfüße sind speziell für das Stehen auf kaltem Eis konstruiert.<br />

Um Wärmeverluste zu vermeiden, regulieren Pinguine den Wärmestrom im Körper nach dem<br />

Gegenstrom-Prinzip. Die Arterien im Bein arbeiten wie ein Muskel und ziehen sich zusammen. So<br />

fließt schon einmal weniger Blut und damit auch weniger Wärme in den kalten Fussbereich.<br />

Gleichzeitig geben die dem Körperinneren näher liegenden Arterien Wärme an die parallel dazu<br />

verlaufenden, aufsteigenden kalten äußeren Venen ab. Je näher das arterielle Blut also den Füssen<br />

kommt, desto kälter wird es.<br />

In den Füssen (auf dem eiskalten Boden) wird daher kaum noch Wärme an den Eisboden<br />

abgegeben. Im Fussbereich kann man die das Blut seine tiefste Temperatur im Pinguin-Körper<br />

messen. Das von den Füßen aufströmende, kalte venöse Blut erwärmt sich automatisch, wenn es<br />

Wärme von den abströmenden Arterien aufnimmt.<br />

Dieses Austauschen von Wärme nach dem Gegenstrom-Prinzip ist für das Überleben in der<br />

Antarktis essentiell – der Pinguin muss weniger Energie zur Aufrechterhaltung der Körpertemperatur<br />

aufbringen. Die Temperaturen im Fussbereich bleiben immer gleichbleibend kühl.


Inhalt<br />

Zoran Dvrenkar<br />

Eine kurzbiographische Geschichte<br />

fragen&antworten<br />

Interview mit dem GRIPS-THEATER<br />

Ein kurzer Briefaustausch mit einer Schulklasse<br />

Interview 2008 mit einer Zeitschrift<br />

97 Kreuzschüler löchern Buchautor<br />

Das Freundschaftsverständnis von Kindern<br />

Zoran Dvrenkar über FREUNDSCHAFT<br />

Warum brauchen Kinder Freunde?<br />

"Freunde sind Entwicklungshelfer"<br />

Amsel, Drossel, Fink und Star – Wer bleibt da?<br />

Die fünfte Jahreszeit<br />

von Kurt Tucholsky<br />

historische Hintergründe<br />

Tabubruch hinter der Maske<br />

Maskerade: Rollentausch auf Zeit


Zoran Dvrenkar<br />

Eine kurzbiographische Geschichte<br />

Alles begann in einem entfernten Land, das damals Jugoslawien hieß. Ein Junge wurde im<br />

Morgengrauen geboren. Es war mitten im Sommer, der 19. Juli 1967 und der Schnee lag kniehoch in<br />

meiner Geburtsstadt. Für ungefähr zehn Minuten. Dann wurde ich geboren und der Schnee<br />

verschwand, als wäre er nie dagewesen. Niemand hat es verstanden. So wurde ich zu einem<br />

Winterkind mitten im Sommer. Mein Name heißt übersetzt der im Morgengrauen geborene.<br />

Als ich drei war, beschlossen meine Eltern das Land zu verlassen. Sie dachten, in Deutschland wäre<br />

alles besser. War es auch. Für meine Schwester und mich. Wir gingen zur Schule, wir wuchsen auf<br />

und wohnten in der Philippistraße, der unglaublichsten Straße Berlins. Dort gab es alles.<br />

Wahnsinnige, die sich in Kellern versteckten und Fußballplätze, die wie gewaltige Badewannen in<br />

die Erde eingelassen waren. Es gab Jungen, die bis zum Dunkelwerden draußen blieben und<br />

Mädchen, die man heimlich küssen durfte. Für meine Eltern war das nicht besonders, aber wir<br />

Kinder explodierten beinahe vor Glück. Alles war toll und laut und unheimlich und manchmal auch<br />

still und leise und traurig, aber das machte nichts, denn wir wußten ja, daß es bald wieder toll<br />

werden würde.<br />

Als ich fünf war, geschah das nächste Wunder. Ich lernte lesen. Mit neun war ich schrecklich<br />

verliebt. Mit dreizehn schrieb ich mein erstes Gedicht und wußte, daß die Wunder ab jetzt Schlag<br />

auf Schlag kommen würden. Kamen sie auch. Ich vermasselte die Schule, was ein großes Wunder<br />

war, denn niemand stellte sich so dumm an wie ich. 7. und 10. Klasse hängengeblieben und Abitur<br />

vermasselt. Es gab nur drei Dinge, die ich gut konnte. Bücher lesen, Musik hören und Filme<br />

schauen. Schreiben lernte ich gerade, das konnte ich noch nicht gut.<br />

Dann kam das größte Wunder. Ich war 22 und hatte keine Idee, wer ich eigentlich wirklich war, als<br />

mir Gregor begegnet ist. Gregor sagte, "Wir tun unser Geld zusammen und du schreibst und wirst<br />

berühmt und bis es so weit ist, fahr ich Taxi und hol Geld für uns rein, was hältst du davon?" Ich<br />

hielt viel davon. Neun Jahre zogen in das Land. Dann erschien mein erstes Buch und Gregor hörte<br />

auf Taxi zu fahren. Wir waren die besten Freunde, wir sind es noch immer.<br />

Schnee habe ich im Juli nie wiedergesehen, meine Eltern sind längst Berlin weggezogen, auch ich<br />

lebe nicht mehr dort, aber das Leben ist noch immer toll und manchmal auch still und traurig, aber<br />

dafür regnet es fast jeden Tag kleine Wunder und ich stehe draußen und versuche ein paar davon<br />

aufzufangen. So ist mein Leben. Und es begann in einem entfernten Land, das damals Jugoslawien<br />

hieß.


fragen&antworten<br />

Wie und warum hast du mit dem Schreiben angefangen? Ich habe mit Gedichten angefangen.<br />

Gereimte, überpoetische Gedichte über die Liebe und den Weltschmerz. Ich war vierzehn Jahre alt<br />

und hatte das Gefühl, die Welt würde sich auf mich herabsenken wie ein nasser Vorhang. Nichts<br />

klappte, meine Hormone spielten verrückt, keiner verstand mich und die Mädchen sahen weg, wenn<br />

ich in ihre Nähe kam. Nach den Gedichten kamen Kurzgeschichten, dann die ersten Erzählungen.<br />

Ich versuchte im Schreiben mein Denken zu sammeln, spiegelte alles, was ich las, kopierte es und<br />

war auf der Suche nach einer Freundin und Leuten, die mich verstanden.<br />

Als freier Schriftsteller arbeitest du ja bereits seit Anfang Zwanzig – hast du je einen anderen<br />

Beruf ausgeübt oder ausprobiert? Für mich gab es keine richtige Wahl, ich taumelte recht ziellos<br />

durch das Leben, mußte die 7. und 10. Klasse wiederholen und bin dann auch noch durch das Abitur<br />

gerasselt. Einen Plan, wie meine Zukunft aussehen sollte, hatte ich nie. Ich wußte nur, daß das<br />

Studieren nicht in Frage kam, denn Studieren war für mich eine Weiterführung der Schule, und die<br />

Schule habe ich gehaßt. Als ich dann mit 22 mein erstes Stipendium bekam, war ich plötzlich<br />

Schriftsteller. Ich stand etwas fassungslos da und konnte es nicht glauben. Es war das einzige, was<br />

ich wirklich liebte und konnte, es war das, wofür ich von einem Tag zum anderen anerkannt wurde.<br />

Es war und ist ein Traum.<br />

Verstehst du kroatisch? Und woher kommt der Name? Soweit ich es weiß, heißt Drvenkar so viel<br />

wie der Zar der Hölzer. Mein Vater ist Kroate, meine Mutter Serbin, jetzt leben sie in Kroatien, doch<br />

der Kontakt ist nicht sehr intensiv und so habe ich mein serbokroatisch verlernt. Ich verstehe es<br />

zwar, kann aber nicht schnell reagieren, die Worte fehlen. Ich denke, wenn ich mal ein paar Wochen<br />

in meiner Geburtsstadt verbringe, wird es garantiert wiederkommen.<br />

Ein Teil deiner Kindheit hast du in deinem ersten veröffentlichen Roman Niemand so stark wie<br />

wir und danch in den Büchern Im Regen stehen und Die Nacht, in der meine Schwester den<br />

Weihnachtsmann entführte beschrieben. Es sind Bücher voller Erinnerung und Mut für<br />

Jugendliche, würdest du das auch so sehen? Das Buch gibt den Jugendlichen zwar Mut, es zeigt<br />

ihnen aber auch die düsteren Seiten der Kindheit und Jugend - das Zerbrechen von<br />

Freundschaften, den Verrat von Liebe und das Mißtrauen, das man entwickelt und als Erwachsener<br />

nur schwer wieder abschütteln kann. Ich hatte nie vor über meine Kindheit zu schreiben, ich konnte<br />

mich nicht einmal richtig an sie erinnern. Als ich dann eine Erzählung anfing und über einen Urlaub<br />

in Serbien schrieb, gingen plötzlich Türen in meinem Kopf auf und die Vergangenheit rauschte aufs<br />

Papier herab und ließ zwei Bücher über meine Kindheit entstehen.<br />

Es fällt nicht leicht ehrlich mit sich selbst zu sein; deine Helden versuchen es und das berührt<br />

die Leser. Gleichzeitig aber bekommen deine Charaktere oft eine kritische Distanz zu sich<br />

selbst. Wie blickt man mit Humor auf ernste Sachen zurück? Der Zoran in meinen Erinnerungen<br />

ist nicht der Zoran, der diese Erinnerungen aufschreibt. Ich blicke zurück und sitze im Kopf dieses<br />

Jungen und lebe seine Gedanken. Deswegen fällt es leichter, die schmerzenden und peinlichen<br />

Erlebnisse zu erzählen, denn ich bin mit Abschließen des Buches frei von diesem jungen Zoran. Wir<br />

sind noch immer gute Freunde, ich betrachte gerne seine Geschichten und er freut sich, daß ich<br />

immer wieder über ihn erzählen. In den letzten Jahren ist eine Spur Humor dazugekommen, das<br />

Tragische ist abgelegt und ich kann den Witz und die bittere Ironie der Vergangenheit betrachten,<br />

ohne das es im Kopf schmerzt.<br />

Du bist in Berlin aufgewachsen zu einer Zeit als die meisten Migranten Jugoslawen und Türken<br />

waren. Das hat schon damals eine große Rolle im Geschehen und bei der Entwicklung der Stadt<br />

gespielt. Jetzt ist Berlin größer, mit neuen Einwanderern aus aller Welt. Wie wirkt sich das aus?<br />

Was merkst du heute auf deinen Wegen durch die Stadt? Was war anders in deiner Kindheit?<br />

Nach dem Fall der Mauer bin ich aus Berlin verschwunden, weil mir die Stadt zu voll wurde. Ich kam<br />

wieder, blieb für vier Jahre in Berlin und das war es dann gewesen. Mehr wollte ich von der Stadt


nicht. Meine Kindheit war vorbei, ich vertrug das Chaos nicht mehr, das jede Großstadt als<br />

Hintergrundsmusik hat.<br />

Das Feine an Berlin ist, daß sich die Stadt null dafür interessiert, wer man ist. Sie nimmt einen auf,<br />

sie läßt einen zwischen ihren Straßen und Häusern leben, ohne groß zu urteilen, wer man ist. Sie<br />

will keine Zärtlichkeiten und Versprechungen. Sie will, daß man einfach nur da ist. Und wenn man<br />

wieder geht, weint sie einem auch keine Träne nach.<br />

Früher dachte ich, daß sich alles um mich und mein kleines Leben dreht. Heute dreht sich alles um<br />

sich selbst und ich trete gerne einen Schritt zurück und betrachte mich als Besucher und<br />

heimlicher Geliebter dieser Stadt.<br />

Du hast im deutschsprachigen Raum als Kinder- und Jugendbuchautor viel Anerkennung<br />

erhalten: einige Auszeichnungen und Preise von Literaturkritikern als auch von verschiedenen<br />

Jugendjurys. Wie unterscheiden sich die Begründungen der professionellen Kritiker von der<br />

Begeisterung der Jugendlichen? Das ist eine schwere Frage. Da ich meine Bücher nicht für die<br />

Sparten Kinder- oder Jugendbuch schreibe, sagen mir auch Kommentare wie "Drvenkar weiß, was<br />

die Jugendlichen denken" rein gar nichts. Ich habe keine Ahnung von den Jugendlichen, ich kenne<br />

nicht einmal welche. Und auch Kinder sind mir fremd und werden mir erst vertraut, wenn ich in<br />

meinen Geschichten von ihnen erzählen. Ich finde es recht anbiedernd, sich hinzusetzen und mit<br />

Jugendlichen zu reden und ihr Leben, ihre Sprache, ihre Gedanken dann im Schreiben zu kopieren.<br />

Man muß das Jugendliche im Blut und im Schreiben haben, man muß sich für die jungen<br />

Charaktere in seinem Kopf interessieren. Wenn sie etwas zu sagen haben, sollte man darüber<br />

schreiben, wenn nicht, sollte man lieber den Mund halten. In den letzten Jahren habe ich lieber über<br />

Kinder und Jugendliche erzählt, weil ich sie durchgeknallter und witziger finde. Ich traue ihnen<br />

mehr zu als Erwachsenen, deswegen wurden sie bei mir für eine Weile zum Thema.<br />

Wie siehst du die Einteilung in Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur?<br />

Dumm. Einfach dumm und recht typisch für eine Welt, die ihre Ordnung haben muß. Als Kind las<br />

ich, was mir in die Finger kam. Heutzutage versuchen die Eltern auf alles den Finger zu legen und<br />

die Erfahrungen ihrer Kinder zu kontrollieren. Wenn sie könnten, würden sie ihre Kids mit einem<br />

Fahrradhelm ins Bett schicken. Zum Glück haben Kinder und Jugendliche einen eigenen Willen,<br />

sonst würde ich die Hoffnung auf eine gute Welt aufgeben.<br />

Die Frage über solche Einteilungen stellt sich speziell bei deinen Jugendbüchern. Wer sind deine<br />

Leser? Haben sie Kontakt mit dir und was bedeuten dir diese Kontakte? Meine Leser finden sich<br />

bei den Kleinsten und gehen bis zu den Erwachsenen. Der Kontakt findet meist bei den Lesungen<br />

statt oder ich bekomme Mails und Briefe. Es ist immer wieder erstaunlich, wer alles schreibt, wer<br />

etwas zu sagen hat, was für Gedanken durch Geschichten angeregt werden. Ich hätte früher nie<br />

gedacht, daß ich durch meine einfachen Worte das Leben anderer Menschen berühren kann. Es ist<br />

ein Wunder, der reine Zauber. Oft führen Kommentare von Lesern dazu, daß ich meine Geschichten<br />

in einem anderen Licht sehe. Bei Lesungen stehe ich oft da und begreife, was ich da eigentlich<br />

getan habe. Ein Schriftsteller, der sich von seiner eigenen Arbeit überraschen läßt.<br />

Es ist überraschend wie oft du sogar innerhalb eines einzelnen Romanes das Genre wechselst.<br />

Wenn Sag mir was du siehst erst wie ein spannender Thriller wirkt, so wird das Abenteuer im<br />

Laufe des Buches zu einen Erzählung über die Liebe - zärtlich, innig, hart, fremd, grausam...<br />

Jedes Buch, das von dir verlegt wird, wird dichter und schneller, immer sehr spannend. Kann<br />

man fragen: Wohin gehst du damit? Gibt es Grenzen die du in der Literatur nicht überschreiten<br />

möchtest? Für mich liegt der Reiz sehr darin, alles auszuprobieren, was das Schreiben zu bieten<br />

hat. Mich auf ein Genre festzulegen, wäre ein wenig so, als würde ich mir eine Schlinge um den Hals<br />

legen und darauf warten, daß mich jemand aufknüpft. In meinem Kopf gibt sind Geschichten, die<br />

ihr eigenes Leben haben wollen. Ich weiß vorher oft nicht, was das für ein Leben ist und wohin es<br />

führt. So wie ich bei Sag mir, was du siehst auch nicht wußte, wohin mich diese Geschichte führen<br />

wollte. Grenzen sind etwas für Leute, die Angst haben zu weit zu gehen. Ich gehe gerne weiter, denn


mir liegt die Gefahr und ich will wissen, was hinter der Grenze liegt. Ich will wissen, was der Tod<br />

verbirgt, was eine Liebe am Brennen hält und wie der Geschmack von Verrat ist. Ich will das Böse<br />

durchleuchten und es verstehen. Ich will eine Menge, und es gibt eine Menge, die man über das<br />

Schreiben herausfinden kann zu schreiben.<br />

Wie recherchierst du für deine Bücher und wie viel Zeit verbringst du damit? In letzter Zeit<br />

arbeite ich mit einem sehr guten Freund zusammen, der die Recherchen bei einem historischen<br />

Roman übernimmt. Recherchen liegen mir gar nicht. Ich schreibe über das, was ich weiß. Ein wenig<br />

fürchte ich mich davor, daß man merkt, daß ich recherchiert habe, deswegen hielt ich mich da<br />

bedeckt. Als aber Gregor Tessnow und ich uns an die Arbeit zu Wenn die Kugel zur Sonne wird<br />

machten, war Feierabend mit Nichtrecherchieren. Ich stürzte mich in die Recherche und wäre darin<br />

beinahe ertrunken. Seitdem nehme ich Recherche ernster und mache sie auch gerne allein. Die<br />

Recherceh findet oft direkt bei der Arbeit statt. Heute ist ja alles mit dem Internet möglich.<br />

Schnee, Eis und Kälte spielen immer wieder eine Rolle in deinen Büchern. Woher kommt das? Ich<br />

liebe die Kälte. Ich bin ein Winterkind und wurde im Morgengrauen aus dem Schnee heraus<br />

geboren. Es war der 19. Juli 1967 und der Schnee lag kniehhoch in meiner Geburtsstadt Krizevci,<br />

Kroatien. Für ungefähr zehn Minuten. Dann wurde ich geboren und der Schnee verschwand, als<br />

wäre er nie dagewesen. Niemand hat es verstanden.<br />

Worüber redest du gerne? Über alles, nur nicht über Politik und Computer und Autos und<br />

Zahntechnik, das Wetter und Fernsehen und Stars und Handys und die große Frage, was man alles<br />

im Leben falsch gemacht hat (und wie sehr man es bereut).<br />

Warum? Weil es nichts Langweiligeres gibt, als über Politik und Computer und Autos und<br />

Zahntechnik und das Wetter und Fernsehen und Stars und Handys und die große Frage, was man<br />

alles falsch gemacht hat (und wie sehr man es bereut), zu reden.<br />

Als Autor, so heißt es in einem Porträt (1000+1Buch Nr.1/02), probierst du gerne alles aus und<br />

läßt dich nicht festlegen auf ein Genre oder eine bestimmte Altersgruppe. Und tatsächlich gibt<br />

es von dir erfolgreiche und prämierte Literatur für Kinder, für Jugendliche und seit kurzem auch<br />

einen Titel, Du bist zu schnell, der sich bei Klett Cotta vor allem an Erwachsene richtet.<br />

Außerdem hast du zahlreiche Gedichte (Was geht, wenn du bleibst) und Kurzgeschichten und<br />

auch zwei <strong>Theater</strong>stücke geschrieben. Welche Erfahrungen hast du im Schreiben für so<br />

unterschiedliche Zielgruppen und im kreativen Prozess so unterschiedlicher Genres gemacht?<br />

Die Macke, alles auszuprobieren und sich nicht festnageln zu lassen, muß ich schon seit meiner<br />

Kindheit haben. Sie hat damals schon dazu geführt, daß ich jedes Phantasieland betreten konnte.<br />

Und was früher Spiel war, wurde zum Beruf und zum größten Teil auch zur Lebensphilosophie. Es<br />

geht ja nicht darum, sich hinzustellen und einen Markt zu bedienen. Da könnte ich auch Blumen<br />

verkaufen und mir den Hals wund schreien. Es geht eher darum zu schauen, was für Geschichten in<br />

einem lauern, was für Charaktere es zu entdecken gibt und wer von denen eine Stimme hat. Wenn<br />

du dich beim Schreiben auf alte und junge Erzählperspektiven einläßt, kommst du dir selbst in<br />

Etappen näher – in den jungen Charaktern entdeckst du die Vergangenheit und bewegst dich auf<br />

die Gegenwart zu und bist nervös, was sie dir bringt; in den älteren Charakteren entdeckst du die<br />

Gegenwart, fragst dich, wie du da hinkommst, wer du bist und was dich zu einem Teil der Zukunft<br />

macht. Das sind so ungefähr die tragischen Nebenwirkungen, die ich durchmache, weil ich mache,<br />

was ich mache.<br />

Über deine Sprache hast du wiederholt gesagt, dass du sie nicht bewusst einer Form von<br />

Jugendsprache annähern willst, sondern einfach eine eigene Sprache nutzt. Wenn du nicht eine<br />

spezifische Sprache für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene entwickelst, paßt du dich im<br />

Aufbau deiner Geschichten einer Zielgruppe an? D.h. vereinfachst du bewusst das Geschehen<br />

für Kinder und wird es komplexer mit dem Alter deiner Leser? Da ich keine Zielgruppen sehe, fällt<br />

mir das nicht anpassen leicht. Ich sehe meine Charaktere und lasse sie ihre Sprache sprechen. Das


hat schon Ärger gebracht, weil ein, zwei Verlage fanden, das wäre für die Altersgruppe zu<br />

anspruchsvoll usw. Ich wünschte, ich könnte das, ganz auf klein schreiben, das man mich zu den<br />

Teletubbies einlädt, das wäre was. Aber ein magischer Virus in meinem Blut hält mich davon ab,<br />

gewaltigen Blödsinn anzustellen und dafür bin ich recht dankbar.<br />

In deinen Büchern verweist du immer wieder auf Schriftsteller (u.a. amerikanische<br />

Gegenwartsautoren, phantastische Literatur), Filme und auch Musik. „Ich sehe Filme, lese<br />

Bücher und höre Musik. Wenn du das so intensiv machst, muss es irgendwann raus.„ sagtest du<br />

im Interview mit Ada Jeske (Eselsohr 3/02). Liegt hier der Grund für deine ausgeprägte<br />

dialogische Gestaltung, die vielen kurzen Schnitte, Vor- und Rückblende und ruhigem Verweilen<br />

in reflexiven Einstellungen in deiner Erzählweise? Würdest du deinen Erzählduktus als filmisch<br />

bezeichnen? Ja und moch einmal ja. Es ist der Reiz, eine eigene Mischung zu erfinden, sich durch<br />

die Bereiche Musik, Literatur und Film zu bewegen, als wären sie ein grandioser See und ich<br />

schwimm mal hierlang, mal dalang und wenn ich rauskomme, kann ich genau beschreiben, wie es<br />

war, in diesem See geschwommen zu sein. Man hört den Soundtrack, sieht die Szenen und versteht<br />

die Gefühle der Charaktere mit wenigen Sätzen. Die perfekte Melange.<br />

Warum ist es bloß in vielen deiner Bücher so unglaublich klirrend kalt? (Ist das intellektuell zu<br />

deuten, gesellschaftskritisch oder sind Sie einfach ein Winterfan?) Das Intelektuelle kann ich mir<br />

bis zum hohen Altern abschminken, das kommt erst, wenn ich alt und weise im Sessel sitze und<br />

jeden Satz achtzig Mal destilliere. Dafür kommt das Schreiben einfach zu sehr aus dem Bauch und<br />

rauscht durchs Herz zum Kopf, wo es nur für kurze Zeit Pause machen darf. Auch<br />

gesellschaftskritisch klappt nicht, das habe ich schon mit 20 getan, da war ich der knallharte,<br />

sozialkritische Zoran, der von nichts einen Schimmer hatte, aber sich über alles aufregen konnte.<br />

Nein, es ist ganz simpel. Ich bin ein Winterkind. Ich liebe den Herbst, ich hungere nach dem Winter.<br />

Der eine kommt zu kurz, der andere bringt zu wenig Schnee. Die Welt ist aus der Balance, wir<br />

Schriftsteller rücken sie gerade.<br />

Über Kinder und Jugendliche äußerst du dich fast romantisch: „Die sind risikobereit,<br />

unberechenbar, witzig. Und ich traue Ihnen alles zu: Von tiefster Melancholie bis zum totalen<br />

Wahnsinn.„ (Eselsohr 3/02). Hast du ein ähnlich positives Bild auch von Erwachsenen? Wenn<br />

nicht: wann kommt es deiner Meinung nach zum Bruch? Das Brechen beginnt mit der Schule und<br />

geht fließend weiter, weil wir anfangen nicht mehr miteinander sondern gegeneinander zu<br />

kämpfen. Das Spiel ist Krieg, wer verliert, steigt ab, wer sich nicht absichert, wird nie alt, wer nie alt<br />

wird, endet auf der Straße, wer auf der Straße endet, kommt nie in den Himmel. Mein Bild von<br />

Erwachsenen ist dementsprechend getrübt, was nicht heißt, es gibt keine Ausnahmen. Am liebsten<br />

gebe ich mich mit den Ausnahmen ab. Ich bin auf jeden Fall froh erwachsen zu sein, und ich bin<br />

auch froh noch solch ein einfaches Kind bleiben zu dürfen.<br />

In vielen deiner Bücher erschüttert etwas Außerordentliches deine kleinen, jugendlichen und<br />

nun auch erwachsenen Protagonisten. Sie machen im Folgenden häufig ganz eigene<br />

Erfahrungen, entwickeln eine spezifische Form der Wahrnehmung, die auch isoliert und<br />

durchaus tragische Elemente trägt. Ist es der Zwang des Individuums, in unserer Gesellschaft<br />

seinen ureigenen Weg zu gehen, der deine Helden in diese ungewöhnlichen Abenteuer treibt? Es<br />

ist eher der Zwang des Schriftstellers seine Charaktere auf den Rand zuzutreiben, um sie reagieren<br />

zu sehen. Grenzsituationen sind es, die uns auf den Zehenspitzen halten. Ich will wissen, was<br />

geschieht, wenn das geschieht, was nie geschehe sollte. Ich plane diese Erfahrungen nicht ein und<br />

reibe mir die Hände und denke Hehe, jetzt gebe ich es dem kleinen Scheißer. Ich schreibe und habe<br />

da irgendwann eine Situation, die sich mir nähert wie eine dunkle Wolke, die ich nur aus den<br />

Augenwinkeln sehen kann. Und lange, bevor ich sie im Fokus habe, steht sie auf dem Monitor und<br />

ich frage mich, was ich da schon wieder getan habe. Oft sind solche Situationen Spiegelungen der<br />

Charaktere, sie führen sie selbst hervor. Das weiß ich aber oft erst, wenn die Geschichte zuende ist<br />

und alle mir auf die Schulter klopfen, weil ich so clever war es einzubauen.


Du schreibst Bücher für Kinder und Jugendliche und Erwachsene. Woher beziehst du deine<br />

Ideen? Um ehrlich zu sein, schreibe ich für niemanden. Mein Schreiben hat nichts mit einem<br />

bestimmten Publikum zu tun. Ich lasse meinen Charakteren freien Lauf und versuche sie nicht in<br />

eine Sparte zu stopfen. Natürlich tendiert ein Buch mehr zum Kinderbuch, wenn der Charakter acht<br />

Jahre alt ist. Aber das ist eben nur die Richtung, die die Geschichte nimmt. Die Ideen kommen<br />

dabei von überallher und haben viel mit meinem Leben und den Menschen um mich herum zu tun.<br />

Dazu kommt die Inspiration durch Bücher, Filme und Musik. Und dazu kommt auch der Wunsch aus<br />

all dem, was ich erlebe und aufnehme etwas Neues zu schaffen. Meine Arbeit ist auf ihre eigene Art<br />

und Weise auch eine Hommage an die Autoren, die ich gerne lese und deren Werke ich verarbeite<br />

und zu einem neuen Ganzen zusammenfüge. Was zu einer Geschichte führt sind meist kleine<br />

Szenen. Es sind Momentaufnahmen, die für fünf Seiten reichen und dann eröffnet sich die Frage,<br />

mache ich ein Buch daraus oder nicht.<br />

Wie gehst du an dein Vorhaben zu schreiben heran? Ich schreib und schreibe und schreibe, dann<br />

hänge ich fest, kämpfe mich aus der Sackgasse, lasse meine Freunde lesen, schreibe weiter,<br />

beende das Buch, bin sehr nervös und korrigiere und baue an der Geschichte, bis sie einen Guß hat<br />

und dann lasse ich das Buch liegen und korrigiere es wieder und wieder, bis ich es nicht mehr<br />

sehen kann, und dann ist es fertig<br />

Wie setzt du die einzelnen Ideen und Elemente zusammen? Oft ist es ein Puzzlespiel und zwar ein<br />

sehr chaotisches, da ich aus dem Bauch schreibe und dann im Nachhinein für Ordnung sorge. Zum<br />

Schluß hin bin ich immer gnadenlos erleichtert, wenn der Leser das Gefühl hat, alles stimmt, alles<br />

wirkt wie von leichter Hand. Die Arbeit dahinter darf man nicht sehen. Niemand will in die Küche<br />

schauen, nachdem ein Festmahl zubereitet wurde. Niemand will nach einem guten Essen<br />

abwaschen.<br />

Wie viel ist schon vorhanden - wieviel entsteht während des Schreibens? Am Anfang ist nur eine<br />

Idee da, dann entsteht der Rest Schritt für Schritt und beim Entstehen mache ich dann Pläne und<br />

verbinde die Szene und verusche alles als ein Gemeinsames zu sehen. Die Spontanität macht aber<br />

den Hauptteil aus, was für Spannung sorgt und den Autor gehörig schafft, auch wenn er viel Spaß<br />

daran hat, deswegen beschwert er sich nicht.<br />

Woher holst du dir die Modelle mit dieser passenden Sprache? Woher kommen der geeignete<br />

Musikgeschmack oder die Mode deiner ProtagonistInnen? All das bin ich größtenteils. Bücher<br />

werden zum Fenster in die Welt das Autors. Kleine Fenster zwar mit geheimen Nischen, aber<br />

dennoch Fenster. Meine Musik, mein Geschmack, meine Charaktere. Meine eigene kleine Welt.<br />

Aus welcher Absicht heraus schreibst du einen Roman, ein Gedicht oder eine Geschichte?<br />

Irgendwas kocht in mir, irgendwas will raus und da ist eine Idee, die als Ventil dient. Das Leben<br />

beschäftigt mich, Mensch, Verwicklungen, Tragik. Ich erforsche im Namen meiner Charaktere ihr<br />

Schicksal und sehe, was möglich ist, und treffe auf Grenzen, erlebe Abtenteuer und versuche<br />

herauszufinden, wer sie sind, was sie wollen. Gedichte sind Momentaufnahmen, die<br />

heruntergeschnitzt werden auf den Grundkern. Romane sind lange Reisen und Kurzgeschichten ein<br />

Seitenblick, während man sich auf der Straße befindet und dann ist da ein Haus und in dem Haus<br />

ist Licht und da sitzt eine Frau und streichelt eine Katze, die auf dem Tisch steht und Milch aus<br />

einer Teetasse trinkt. Man fährt zwar weiter, aber der Kopf bleibt bei diesem Bild und besucht die<br />

Frau in ihrem Haus und schaut der Katze in die Augen.<br />

Gibt es Situationen oder Augenblicke, wo man verunsichert wird und der Schreibfluss ins<br />

Stocken gerät? Wenn ja, kannst du eine derartige Situation kurz anreißen? Unsicherheiten sind<br />

immer da. Ich bin bei jedem neuen Buch unsicher und brauche das Okay von meinen Leuten, damit<br />

ich weiß, daß ich auf der richtigen Fährte bin. Zwar würde man nach so vielen Büchern mehr<br />

Professionalität erwarten, aber dem ist nicht so. Und ich bin recht froh darüber, denn sonst würde<br />

die Spannung verschwinden und eine Überheblichkeit einsetzen. Sackgassen sind sehr wichtig,


denn sie pressen und komprimieren die Geschichte, man hängt fest, weiß nicht weiter und MUSS<br />

einen Weg finden. Auch wenn ich sie nicht mag, ginge es ohne sie nicht. Oft kann es Tage dauern,<br />

aber sobald man den nächsten Schritt gefunden hat, ist man sich sicher, daß der Schritt etwas<br />

Besonderes ist, denn man hat ihn so lange gesucht, daß es dem Leser die Schuhe ausziehen wird.<br />

Und falls ich keine Lust mehr zum Schreiben habe oder an der Sackgasse nicht vorbeikomme, dann<br />

mache ich eine Pause und lese tagelang und sehe Filme. Aber das hält nie lange an, denn die Story<br />

rumort im Kopf und will weitergeführt werden. Kurz gesagt, sich Stress zu machen ist ein Fehler,<br />

den Rhythmus finden, darum geht es.<br />

Gibt es eine von dir geschaffene Lieblingsfigur? Wenn ja, welche – und warum? Alle. Ich liebe sie<br />

wirklich alle. Die Guten und die Bösen. Ohne Ausnahme.<br />

Welche Figur hat dir am meisten Kopfzerbrechen bereitet? Und warum? Die Mitglieder der<br />

Kurzhosengang waren recht schwierig, weil ich sie ja in einem zweiten Teil wiederbelebt habe und<br />

natürlich die Charaktere genau so wieder vor mir sehen wollte wie im Vorgänger. Was letztendlich<br />

Quatsch war. Meine Erinnerung an sie ist wichtig und nicht die einzelnen Details. Da habe ich lange<br />

dran geknabbert.<br />

Welche Trends der Gegenwart scheinen dir signifikant? Ich kenne keine Trends, und was sich so<br />

als Trend immer darstellt, naja, oft kriege ich es nicht mit und bin uninteressiert. Mir ist in den<br />

letzten Jahrne aufgefallen, daß der gute Geschmack mehr und mehr siegt. Die Leute kehren zu den<br />

Wurzeln zurück, das heißt bessere Musik und bessere Filme entstehen. Aber das kann auch daran<br />

liegen, daß ich all das aus einem anderen Blickwinkel mitbekommen und andere denken, war doch<br />

schon immer so. Kompliziertes Thema, das hier den Rahmen sprengt.<br />

Die heutigen 15-jährigen sind die 1.Generation, die in der Mehrzahl mit TV- und Videogeräten, mit<br />

einem Zugang zu 30 Fernsehkanälen und mit einem Computer groß geworden sind. Wie werden<br />

deiner Meinung nach Kinder oder Jugendliche zu LeserInnen? Da gibt es keinen Weg. Einige sind<br />

Leser, andere sind es nicht. Auf jeden Fall sollte ein Kind immer den Zugang zu Büchern haben,<br />

was es daraus macht, ist seine Sache. Aufdrängen bringt nichts. Und wenn jemand als Kind<br />

pausenlos liest und als Erwachsener nicht, C'est la vie. Da mache ich mir keinen Kopf. Gelesen wird<br />

immer und der arme Neil Postman hat mit seiner düsteren Vision voll danebengegriffen.<br />

Wahrscheinlich kann man die E-Books als den größten Reinfall der letzten 50 Jahre bezeichnen.<br />

Von mir wollte keiner, daß ich lese. Ich fing mit fünf Jahren an und konnte nicht mehr aufhören. Mir<br />

war es egal, was ich zu lesen bekam. Ich brauchte das geschriebene Wort, um den Schlüssel zu den<br />

inneren Welten zu drehen und einzutreten.<br />

Welche Themen besprichst du z. B. nach Lesungen mit Jugendlichen am häufigsten? Mein<br />

Leben. Das Schreiben. Bücher, Musik, Filme. Die Geschichte, um die es ging. Was geplant ist.<br />

Gibt es für dich besimmte Kriterien oder Ansprüche, die du gerne in deinen Büchern verpackt<br />

wissen möchtest? Wenn ja, welche? Der Anspruch ist, etwas Neues auszuprobieren. Der Anspruch<br />

ist, mein Bestes zu geben. Der Anspruch ist, mit jedem Buch einen Schritt weiterzugehen. Und<br />

hinter allem steckt die Hoffnung, es zu packen und keinen Mist zu verzapfen.<br />

Wie stellst du es an, den Kindern oder Jugendlichen eine Botschaft zu vermitteln? Oder ist das<br />

überhaupt keine Intention für dich? Keine Intentionen. Die Botschaften oder wie auch immer man<br />

den Inhalt dann nennt, erkenne ich oft erst im Nachhinein. Plötzlich wird aus einem mysthischen<br />

Buch ein Buch, daß von Freundschaft handelt. Plötzlich hat eine witzige Geschichte einen dunklen<br />

Unterton und den Tod zum Thema. Es kommt alles aus dem Bauch. Manchmal wünsche ich mir, ich<br />

wüßte, was ich da tue. Ich würde sehr clever herüberkommen. So hoffe ich, daß der Leser kapiert,<br />

was ich wollte. Und so hoffe ich, daß ich es auch eines Tages kapiere. Es geht viel um Freundschaft,<br />

Liebe, Tod und Vertrauen. Nicht in der Reihenfolge, sondern gut vermischt.<br />

Wie bist du zum Autor geworden? Durch die Liebe zum Lesen und weil mir Bücher auf eine Art und


Weise das Leben gerettet haben. Ich denke, man wird nicht zum Autor, man macht sich selbst<br />

dazu. Durch Sturheit, eine Prise Wahnsinn und auch eine dicke Portion Selbstüberschätzung muß<br />

sein. Natürlich gehört reine Begeisterung dazu, Begeisterung für Geschichten und das Leben<br />

überhaupt.<br />

Was empfiehlst du jungen Autoren oder Autoren in spe? Jemand der schreibt sollte sich<br />

entscheiden, ob er schreibt oder nur so tut, als ob er schreibt. Diese Entscheidung ist sehr wichtig.<br />

Jemand der schreibt sollte den Wunsch haben etwas Neues zu schaffen, Türen aufzutreten und<br />

auch ein paar Feuerwerke loszulassen. Und jemand der schreibt sollte sich dessen bewußt sein,<br />

daß er sich mit dem Schreiben für die unausweichliche Konfrontation mit sich selbst entscheidet.<br />

Was kein wirklicher Spaß ist.<br />

Kindliches Denken und Fühlen, wie fühlst du dich rein? Ich bin dieses Jahr 39 geworden und kann<br />

mich in kindliches Fühlen und Denken so gut einfühlen wie in einem buddhistischen Mönch, der<br />

sich früh am Morgen seinen Tee macht. Meine Charaktere übernehmen diesen Job für mich, so wie<br />

ich beim Schreiben dieser buddhistische Mönch werden kann, der seinen Tee genießt, kann ich<br />

meine Charaktere auf die Reise schicken und schauen, ob es ihnen gelingt sich mit elf Jahren aus<br />

einem Eisloch zu befreien. Es ist immer nur eine Frage der Reise - wohin will ich, was will ich da und<br />

wer will ich sein. Sollten meinen Charakteren diese Gabe der Wandlung jemals abhanden kommen,<br />

lasse ich das Schreiben sein.<br />

Was entscheidet über die Themen? Die Charaktere gebe die Richtung an. Ich schaue am Anfang,<br />

wie sie sich mit dem Szenario zufrieden geben und lasse ihnen freien Lauf. Themen können dabei<br />

von überallher kommen. Vieles hat mit meinem Leben und dem Leben der Leute zu tun, die um<br />

mich herum sind. Einfluß von Außen wird fast unbewußt eingebaut. Erst zum Schluß hin kann ich<br />

behaupten, daß ich weiß, was das Thema ist. Aber auch dann bluffe ich ein wenig, denn ich schaue<br />

mir nicht gerne selbst in die Karten.<br />

Braucht man als Autor auch einen Brotberuf? Kommt auf die Zähigkeit an. Kommt auf den Autor<br />

an. Kommt auf das liebe Geld an. Kommt drauf an.<br />

Ein Lieblingsbuch? Das Buch des letzten Jahres war für mich Extrem laut und unglaublich nah von<br />

Jonathan Safran Foer. Dieses Jahr sind es bisher Kopf an Kopf The Dead Fathers Club von Matt<br />

Haig und After Dachau von Daniel Quinn.<br />

Ein Lebensmotto? Leg dich erst nieder, wenn du wirklich müde bist, zeig die restliche Zeit über, wie<br />

wach du bist. (uralter chinesischer Spruch, frei übersetzt)<br />

Interview mit dem GRIPS-THEATER:<br />

Wir haben dich bei einer Lesung aus deinem Roman CENGIZ & LOCKE kennengelernt. Warst Du<br />

sehr überrascht, als wir dich damals gefragt haben, ob Du dir vorstellen könntest, aus deinem<br />

Roman ein <strong>Theater</strong>stück zu machen, oder hattest Du schon früher etwas für die Bühne<br />

geschrieben? Ich hatte zwar zwei Stücke für die Bühne geschrieben, aber nicht im Traum daran<br />

gedacht, daß Cengiz & Locke sich dafür eignen. Es gab so gesehen noch keine Adaption eines<br />

Romanes oder einer Geschichte. Als ihr dann angefragt habt, dachte ich, Na, das wird ja was<br />

werden. Und es ist was geworden.<br />

Der Roman ist über 300 Seiten stark. Das Stück kommt gerade mal auf 56 Seiten. Ich selbst<br />

habe nicht den Eindruck, daß Du für das Stück wesentliche Handlungsstränge oder Figuren<br />

gestrichen hast, gleichzeitig habe ich mich beim Lesen des Romans alles andere als<br />

gelangweilt. Wie ist das möglich? Es ist die reine Komprimierung. Am Anfang war ich recht<br />

verzweifelt, denn es war schnell klar, daß das nicht geht. Niemals kriege ich die Tiefe des Buches in<br />

die Form eines <strong>Theater</strong>stückes gepreßt. Dann hatte mein guter Freund Micha die Idee, einfach mal<br />

die wichtigsten Szenen aufzuschreiben und auf das Skelett zu reduzieren. Es war eine brilliante<br />

Idee. Zum Schluß saßen wir da und hatten elf Szenen, die alles beinhalteten. Daß die erste


Fassung dann knappe hundert Seiten lang war, machte uns das stolz. Als ich dann hörte, daß<br />

sechzig Seiten schon zu viel sind, habe ich schon nicht mehr so stolz in die Gegend gegrinst.<br />

Kürzen ist ein Spaß, wenn man weiß, wo es hinführen soll.<br />

Ich denke, die Spannung ist in dem Stück noch intensiver als in dem Roman, weil die Essenz<br />

geblieben ist. Sie ist auf das prägnanteste Runterdistilliert und trifft den Zuschauer wie ein<br />

Faustschlag. So soll es sein.<br />

Als Romanautor hast Du eine große Macht über deine Figuren, Du bist derjenige, der<br />

entscheidet, wie sie aussehen und was sie tun. Als Autor eines <strong>Theater</strong>stückes schreibst Du<br />

lediglich Dialoge, das heißt, Du kannst nur noch darüber bestimmen, was deine Figuren SAGEN,<br />

und nicht mehr oder nur indirekt über das, was sie später auf der Bühne TUN. Ist es dir beim<br />

Schreiben des Stückes CENGIZ & LOCKE sehr schwer gefallen, die Figuren aus dem Roman<br />

loszulassen und ihr weiteres Bühnenschicksal in die Hände des Regisseurs und der<br />

Schauspieler zu legen? Nein, das fiel gar nicht schwer, weil es mich kein bißchen gekümmert hat.<br />

Ich bin kein großer <strong>Theater</strong>gänger, ich bin eher der Mann für Filme und ging davon aus, daß ich<br />

alles schreibe, was ich für wichtig finde und das Überflüssige kann dann der Regisseur streichen.<br />

Da ich Frank vorher kennengelernt und zwei seiner Stücke gesehen hatte, war ich mir sicher, er<br />

macht sein eigenes Ding daraus. Denn so sehe ich das - ich gebe meine Arbeit aus der Hand und da<br />

ist es egal, ob es ein Drehbuch oder ein <strong>Theater</strong>stück ist. Sobald ich es weggeben habe, ist es<br />

Sache des Regisseurs, was er damit macht. Natürlich kann er es in den Sand setzen, und natürlich<br />

werde ich mich dann fürchterlich rächen. Nee, ich bin ein netter Kerl und ich verlaß mich auf mein<br />

Gefühl.<br />

Die Jungs, über die Du schreibst, haben es nicht gerade leicht im Leben: Sie haben es zu tun mit<br />

Drogen, Schlägereien und Diebstählen, manche von ihnen tragen sogar Waffen. Was hat es für<br />

einen Sinn, über so viel Ausweglosigkeit zu schreiben und wie reagieren die Jugendlichen bei<br />

deinen Lesungen darauf? Es geht hier nicht um Ausweglosigkeit. Es geht hier nicht um die<br />

Realität. Es geht nicht darum, ein pädagogisch wertvolles Werk abzuliefern. Es geht um Charaktere,<br />

die mir am Herzen liegen. Sie bauen Mist, sie lernen Freundschaft kennen, sie versuchen ihre Fehler<br />

wieder gutzumachen und stellen sich nicht gerade sehr geschickt an. Natürlich werden sie auch<br />

mit einem Teil der Realität konfrontiert. Ich bin ja keine Astrid Lindgren der Straßen. Ich schreibe,<br />

was ich sehe und ich erfinde, was ich für echt halte. Ich versuche dabei nahe an meinen<br />

Charakteren dran zu sein und zu schauen, wie sie reagieren. Ein Autor vertraut da sehr seinen<br />

Instinkten. Bei mir ist es nicht so, daß ich dasitze und mir denke, Jetzt laß ich mal Cengiz & Locke<br />

gegen eine Wand laufen. Die Charaktere haben ein Eigenleben, ich bin als Schriftsteller ein<br />

Beobachter, der ihre Wege betrachtet und dokumentiert. Und natürlich ist es für mich reizvoll, den<br />

Konflikt aufzuspüren und zu schauen, wie weit meine Charaktere gehen. Und natürlich tut es mir oft<br />

selbst weh, was ihnen geschieht.<br />

Auch wenn Drogen, Schlägereien und Diebstähle vorkommen, sind sie nicht das Thema. Das<br />

Thema ist Freundschaft und der Glaube an sich. Damit meine ich nichts Religiöses, ich meine diese<br />

Selbstzweifel, die alle Jugendlichen plagen; ich meine, die Art und Weise, wie ihnen schon in der<br />

Schule Angst vor der Zukunft gemacht wird. Dieser fehlende Glaube an sich selbst ist immer wieder<br />

Thema bei mir. Es sind keine Mutmachgeschichte, sie sind aber auch ganz weit entfernt von<br />

destruktiven Visionen. Für mich leuchtet immer die Hoffnung im Hintergrund. Dabei bediene ich<br />

mich beim Schreiben keiner plakativen Härte, sondern einer Härte, die ich in unserer Zeit<br />

beobachte. Und manchmal tut es eben richtig weh. Auch mir als Autor, aber das bin ich meinen<br />

Charakteren schuldig, wegschauen geht nicht.<br />

Die Jugendlichen reagieren teilweise erschrocken, denn natürlich gebe ich ihnen bei den Lesungen<br />

Action und Härte. Ich gebe ihnen auch ein wenig von den sanften Stellen, damit sie sehen, daß das<br />

Buch nicht nur aus Dunkelheit besteht. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Es gibt 10. Klassen, die<br />

danach kaum reden könnnen; es gibt 8. Klassen, die mich mit Fragen bombadieren und das Buch<br />

sofort lesen. Es kommt immer darauf an, welchen Nerv man trifft. Es kommt immer auf die


Verfassung der Jugendlichen an. Mir ist wichtig, daß die Jugendlichen sehen, um wen es wirklich<br />

geht. Es geht nicht um sie. Jugendliche sind mir fremd, ich bin 38, ich will und kann nicht einen auf<br />

Teenager machen. Es geht um Charaktere, die sein könnten. Hier dokumentiert kein Schriftsteller<br />

anbiedernd die Gegenwart der Jugendlichen. Hier ist jemand, der eine Geschichte erzählen will, in<br />

der die Charaktere jung sind und sich mit dem Leben herumschlagen. Die Zeit ist egal, die Konflikte<br />

müssen für jeden greifbar sein, sonst sind sie Trend und Trends kann man sich meiner Meinung<br />

nach an die Backe schmieren.<br />

Das größte Ereignis mit Cengiz & Locke war eine 9. Hauptschulklasse. Dreißig Schüler und<br />

Schülerinnen und eine Lehrerin, die Anfang fünfzig war und meinte, sie hätte das Buch erst<br />

weglegen wollen, dann hat es bei ihr geklickt und sie hat es ihrer Klasse vorgeschlagen. Niemand<br />

von den Schülern hatte bis dahin ein Buch durchgelesen, aber alle haben sie dann diesen Schinken<br />

durchgearbeitet und mich dann eingeladen. Ich war der Lehrerin sehr dankbar. Sie hat ein kleines<br />

Wunder vollbracht und mein Buch war das Werkzeug. Was will man mehr als Schriftsteller? Hier und<br />

da kleine Wunder, besser geht es nicht.<br />

Ein kurzer Briefaustausch mit einer Schulklasse, die noch Fragen zu touch the flame hatte.<br />

was geschieht eigentlich am ende des buches? was am schluß des buches mit den leuten<br />

passiert ist eine gute frage, die ich euch aber nicht beantworten kann. bei mir ist es oft so, daß<br />

wenn ich ein buch beende, die geschichte für mich abgeschlossen. die charaktere sind frei ihren<br />

eigenen weg zu gehen. was dann so aussieht, daß die charaktere in anderen büchern wieder<br />

auftauchen. zum beispiel neil, er wird in die süßen schlampe wieder zurückkehren.<br />

warum das offene ende? das offene ende ist sehr absichtlich. ich war mitten in der geschichte, als<br />

ich auf dieses ende stieß und sofort wußte: so und nicht anders darf muß es enden. ich wollte<br />

lukas die wahl lassen, was weiter geschieht. indem ich die geschichte einfach mitten im satz<br />

beenden, lasse ich alles offen. sogar das nächste wort und das fand ich, war ich lukas schuldig,<br />

nach all dem, was er durchmachen mußte.<br />

was sollen die koffer? die koffer sind und bleiben ein geheimnis. das buch sollte verfilmt werden<br />

und da wollten die leute vom film, das geld oder irgendwelche diamanten drin sind. das will ich<br />

nicht. ich mag diese geheimnisse.<br />

was hat die geschichte mit dir zu tun? vieles an der geschichte ist wahr, denn ich klaue mir viele<br />

charakterzüge von den leuten, die ich kenne. ein guter freund verhält sich wie lukas, ein vater ist<br />

genau wie ritchie. auch die frauen sind frauen ähnlich, die ich kenne. dann stimmen die<br />

örtlichkeiten. die villa ist eine villa, in der ich mal zu besuch war. die straßen sind echt, die parkbank<br />

an der elbe ist echt, solche sachen sind mir sehr wichtig. von der handlung her ist alles erfunden,<br />

aber das nenne ich ab dem moment nicht mehr erfunden, wo ich es aufgeschrieben habe. dann<br />

wird es auf eine eigene art und weise real. alles ist möglich, alles kann passiert sein. so sehe ich<br />

das.<br />

woher kam ruprecht und wieso heißt er so? ruprecht kam von ganz woanders her. das schwierige<br />

an namen ist ja, das sie passen müssen. hätte ruprecht nicht ruprecht sondern ulli geheißen, wäre<br />

es ein anderer charakter geworden. niemand nimmt einen ulli ernst, der so aussieht wie ruprecht.<br />

am anfang hatte ich keinen namen für ihn. er war einfach nur ein ER. dann kam beim schreiben<br />

dieser name ruprecht in meinem kopf und ich fand, er hatte genau die richtige härte, die zu dem<br />

charakter paßte. als ich ihn dann aufgeschrieben und in den text eingefügt hatte, klickte es und die<br />

geschichte war stimmig. auf diese weise komme ich zu namen. lukas war von anfang an lukas. das<br />

ist immer ein geschenk des himmels, wenn ich den namen sofort habe. ritchie brauchte eine weile.<br />

der name mußte auf der einen seite kumpelhaft sein, auf der anderen angeleitet von einem<br />

richtigen namen. richard eben und kurz ritchie.<br />

warum spielt die geschichte hauptsächlich in hamburg? das ist recht einfach – viele meiner


geschichte spielen in berlin und ich hatte lust mich ein wenig wegzubewegen. außerdem hatte ich<br />

zwei moante in hamburg verbracht, was immer praktisch ist, wenn man einen neue location<br />

braucht. mir gefiel die reise, die lukas macht. und mir gefiel, daß er es sich mitziehen läßt, weil sein<br />

vater der meinung ist, das muß gemacht werden.<br />

woher kommen die TTTs? die drei ts sind eine fiese regelung und ich mußte mich zum glück nie an<br />

sie halten. manchmal muß man sich die finger verbrennen, damit man weiß, was gefährlich ist.<br />

touch the flame, babe.<br />

wieso der titel und wieso die musik von U2? jedes buch braucht einen soundtrack. lukas hört so<br />

gerne u2, weil ich damals diese eine platte von u2 sehr geliebt habe und mit ihr aufgewachsen bin.<br />

alles, was u2 danach und davor gemacht hat, mag ich nicht. aber die joshua tree finde ich grandios<br />

und wie u2 sich auf dieser platte geben, so ist auch lukas drauf, darum paßt es. außerdem haben<br />

die songtexte die geschichte mitgeformt.<br />

Interview 2008 mit einer Zeitschrift – und ich habe doch ernsthaft vergessen, welche Zeitschrift<br />

das war.<br />

Sie sind im Alter von 3 Jahren nach Deutschland gekommen, Ihre Muttersprache ist<br />

serbokroatisch. Wie haben Sie die Liebe zur Deutschen Sprache entdeckt, in der Sie ja auch Ihre<br />

Romane schreiben? Bei mir begann alles mit Büchern. Da mein Familienleben kein großer Spaß<br />

war, bin ich in Büchern verschwunden. Sie gaben mir Geborgenheit und Nähe, sie waren immer für<br />

mich da und ersetzen auf diese Weise einen Vater, der sich gab wie ein raufender Kumpel, und eine<br />

Mutter, die den raufenden Kumpel zu zähmen versuchte und ihren Frust auf den Kindern austobte.<br />

Zuhause wurde zwar Serbokroatisch gesprochen, da ich aber alles auf Deutsch las, lebte ich in der<br />

Sprache der Schriftsteller und Dichter.<br />

Hat Ihr Vater Ihnen vorgelesen? Was haben Sie von Ihrem Vater gelernt? Bei uns wurde nicht<br />

vorgelesen. Vater blätterte in der Sportzeitung, Mutter in romantischen Groschenheften. Die Welt<br />

der Bücher gehörte mir ganz allein, ich mußte sie von selbst erobern, was ich mit hungrigem Fieber<br />

tat. Ich las alles, was mir in die Finger kam. Es war nicht wichtig, daß ich es verstand. Es war nur<br />

wichtig, daß ich las. Kopfnahrung pur. Wenn ich ehrlich, habe ich von meinen Eltern kaum etwas<br />

gelernt. Mit neun beschloß ich, nicht so zu werden wie sie. Ich nahm die negativen Dinge und<br />

versuchte sie umzukehren. Das klingt nicht nett, aber so sah es bei uns Zuhause aus.<br />

Paul Maar wird oft als Ihr Lehrer oder literarischer Ziehvater bezeichnet. Was hat er Ihnen mit<br />

auf den Weg gegeben? Wie ist Ihr Verhältnis heute? Das mit Paul und mir ist ein recht witziger<br />

Mythos, von dem ich keine Idee habe, wie der entstanden ist. In meinen Schreibanfängen habe ich<br />

Paul öfter Manuskripte geschickt und er hat zurückgeschrieben, was er davon hielt. Eines Tages hat<br />

er die Manuskripte weitergereicht und erst beim zweiten Mal gab es einen Treffer. Paul und ich<br />

haben uns noch nie privat getroffen, wir haben immer wieder Momente auf der Messe, die ungefähr<br />

fünf Minuten lang dauern, dann driften wir davon. Ich glaube, eines Tages werden wir uns in Ruhe<br />

sehen, bis dahin kann der Mythos weiterbestehen. Meine Vorbilder und Lehrer sind Hunderte von<br />

Schriftstellern, die mir Sprache und Stil beibrachten. Mit jedem Jahre werden es mehr.<br />

In vielen Ihrer Geschichten behaupten sich Kinder, z.B. Eddie, mit Witz und Tücke in der Welt der<br />

Erwachsenen. Muss man ein rebellisches Herz haben, um heute einigermaßen unbeschadet<br />

groß zu werden? Kinder haben eigentlich immer ein rebellisches Herz, daß ihnen allzuoft<br />

gebrochen wird. Ein Kind ohne rebellisches Herz ist wie ein Kopf ohne Gedanken. Du klopfst<br />

dagegen und nicht passiert. Ich denke, wenn den Kindern Raum und Zeit gegeben wird, sich selbst<br />

zu finden, ohne daß sie gefördert, gefördert und gefördert werden oder beim Pinkeln einen<br />

Fahrradhelm tragen müssen, dann werden sie zu echten Personen und sind wer. Unbeschadet wird<br />

niemand groß, das wäre so, als würden wir in der Kindheit ohne Krankheiten sein - das<br />

Immunsystem verkümmert, die Realität wird zu einem Albtraum. Wir müssen gute wie schlechte


Erfahrungen sammeln, weil sie unseren Charakter prägen und uns andere Menschen verstehen<br />

lassen.<br />

Wo finden Sie Vorbilder für die Kinder in Ihren Geschichten? Da sind eine Menge alter Seelen in<br />

mir. Anders kann ich es mir nicht erklären, denn ich habe wenig mit Kindern zu tun und recherchiere<br />

nicht, indem ich Kinder oder Jugendliche frage, was sie denn spannend finden. Ich lebe in einer<br />

Welt, die aus Erwachsenen besteht. Für mich ergeben Kinder und Jugendliche oft spannendere<br />

Charaktere - sie besitzen mehr Humor, mehr Mut und mehr Verrücktheiten. Außerdem traue ihnen<br />

mehr zu als Erwachsenen, denn ihnen steht die ganze Welt offen, sie sind am Anfang, deswegen<br />

erzähle ich gerne von ihnen.<br />

In touch the flame beschreiben Sie einen lange von der Familie abwesenden Trennungsvater, in<br />

Cengiz und Locke ist der Vater ein despotischer Tyrann – Männer, die in ihrer Familie eher am<br />

Rand stehen und wenig geachtet werden. Sind das für Sie typische Väter heute? Nein, das sind<br />

die Väter, die ich aus meiner Kindheit kenne. Väter in der Gegenwart sind mir eher fremd. Eine<br />

Familie auf reinem Glück zu gründen kommt nicht oft vor. Frau und Mann müssen wollen, wenn<br />

einer nicht will und nur mitmacht, weil er dem anderen einen Gefallen tun will, entsteht ein<br />

Ungleichgewicht, das meist das Kind ausbaden muß. Ich glaube, Väter sind bei mir immer ein<br />

Thema, weil mein Vater nie wußte, was ein Vater zu tun hatte. Ich verstand nie, was das sollte und<br />

warum er nicht einfach tat, was alle Väter taten. Nähe. Gespräche. Verständnis. Ich glaube, er war<br />

sehr in der Tradition seines eigenen Vaters verhaftet.<br />

Wie sieht für Sie ein guter Vater aus, den Kinder – und auch die Partnerin – lieben und achten<br />

können? Ein guter Vater – wie jeder Mensch und auch wie jede Mutter – sollte sich an erster Stelle<br />

lieben und nicht daherkommen wie ein Samariter und alle seine Gefühle für die Familie weggeben,<br />

denn das hinterläßt ein Loch in der eigenen Seele und wer will das schon. Aber ich bin der falsche,<br />

den wir hier fragen. Ich habe nicht vor Vater zu werden, bin kein großer Familienfan und ein noch<br />

schlechterer Ratgeber.<br />

http://www.drvenkar.de/autor/index.html


Die Mittelbayerische Zeitung berichtete in ihrer Wochenendausgabe vom 6./7.12.03<br />

97 Kreuzschüler löchern Buchautor<br />

Viel Spaß bei der Lesung in der Turnhalle / Die Kinder wollten alles ganz genau wissen<br />

97 Schüler, Eltern und Lehrer hörten Autor Drvenkar in der Turnhalle zu.<br />

VON URSULA STÖCKER, MZ<br />

ALTSTADT. "Ich bin kein große<br />

Kinderfreund!" Mit kräftigen Buh-Rufen<br />

quittieren 97 Kreuzschüler das nicht so ganz<br />

ernste "Bekenntnis" des Kinder- und<br />

Jugendbuchautors Zoran Drvenkar. Freundin<br />

ja, aber ledig und kinderlos, informiert er<br />

weiter. "Ich habe den Spaß im Kopf - es und<br />

ihr steckt in mir drin", beruhigt der<br />

Schriftsteller die Schüler der vierten<br />

Klassen, die zusammen mit Eltern, Lehrern<br />

und Rektor Manfred Brinsteiner in die<br />

Schulturnhalle zu einer Autorenlesung<br />

gekommen sind. Eine Veranstaltung, die die<br />

Buchhandlung Dombrowsky arrangiert hat.<br />

Drvenkar liest aus seinem für den<br />

Deutschen Jugendliteratur Preis<br />

nominierten Buch "Der einzige Vogel, der die<br />

Kälte nicht fürchtet". Besagter Vogel hat<br />

übrigens eine verblüffende Ähnlichkeit mit<br />

einem Pinguin.<br />

Die Kinder löchern ihn geradezu mit<br />

Fragen. Drvenkar lässt sich nicht aus der<br />

Ruhe bringen. Er verrät, wie man "meinen<br />

schwierigen Namen ausspricht", dass er<br />

36 Jahre alt ist, in Kroatien geboren<br />

wurde, mit drei Jahren nach Berlin kam,<br />

mit neun Jahren anfing zu schreiben.<br />

Auch Gedichte. Und die Idee zu dem Buch<br />

kam ihm, "weil ich den Winter liebe, ich<br />

bin ein Winterkind". Vom Schulstress<br />

geplagt, wollen die Schüler wissen, wie<br />

lange ein Schriftsteller am Tag denn<br />

arbeiten muss. "Acht bis neun Stunden<br />

am Tag", antwortet der Autor bereitwillig.<br />

Das mache im Jahr zwei Bücher, bisher<br />

habe er 27 geschrieben. "So 240 Bücher<br />

sollen es insgesamt werden", scherzt der<br />

Autor auf die konkrete Nachfrage.<br />

Welches sein bestes Buch sei, wollen die<br />

Schüler wissen. "Eine schwere Frage -<br />

immer das neue!" Bei der Frage nach<br />

seinem ersten Buch tut sich Drvenkar<br />

leichter: "Das war die Horrorgeschichte<br />

'Hexenjagd' - der letzte Müll! Das Ding<br />

liegt in der Schublade, braucht keiner zu<br />

lesen!" Und seine beste<br />

Gruselgeschichte? "Das Buch erscheint


Mit sichtbar und hörbar großem Spaß<br />

folgen die Kinder der Geschichte vom<br />

kleinen Ricki, der die nicht enden wollende<br />

Kälte gründlich satt hat und sich aufmacht,<br />

um "mit dem Winter ein ernstes Wort zu<br />

reden". Mitten in der abenteuerlichen Suche<br />

nach dem Winter bricht der Autor ab. Das<br />

Ende verrät er nicht. Selber lesen! Dafür<br />

steht der Autor den wissbegierigen Schülern<br />

anschließend Rede und Antwort.<br />

Autogrammstunde mit Autor Zoran Drvenkar<br />

im nächsten Herbst", so der schon<br />

mehrfach ausgezeichnete Autor. "Es<br />

handelt von Vera, die an ihrem 13.<br />

Geburtstag eine Hexe wird." Per<br />

Einmachglas hexe sie ihrer Umgebung<br />

böse Träume an. Der Autor schmunzelt<br />

und meint: "Wenn ihr da noch gut<br />

schlafen könnt..."<br />

Übrigens: Ebenso erfolgreich wie in der<br />

Kreuzschule verliefen die Lesungen von<br />

Zoran Drvenkar am gleichen Vormittag im<br />

Siemens-Gymnasium vor den 9. Klassen<br />

(Jugendbuch "Touch the Flame") und im<br />

Albrecht Altdorfer vor der Kollegstufe<br />

Deutsch (Erstes Buch für Erwachsene: "Du<br />

bis zu schnell"). Initiator der Lesungen,<br />

Ulrich Dombrowsky, freut sich über das<br />

Interesse der Schulen: "Nach meiner<br />

Anfrage haben alle gleich zugesagt. In<br />

den zwei Gymnasien hatte Drvenkar<br />

jeweils über 100 Zuhörer."<br />

Fotos: Stöcker


Das Freundschaftsverständnis von Kindern<br />

von tm<br />

In psychologischen Studien zur Entwicklung des Freundschaftsverständnisses von Kindern steckt<br />

eine Menge Philosophie. Umgekehrt können solche Studien aber auch das philosophische<br />

(begriffliche) Verständnis der Freundschaft bereichern und unser Bewusstsein für praktisch<br />

bedeutsame Unterscheidungen schärfen. Im Blick auf das Philosophieren mit Kindern über<br />

Freundschaft kann die Kenntnis der entwicklungsbedingten Grenzen kindlicher<br />

Freundschaftsbegriffe vor übertriebenen Erwartungen und einer Überforderung der Kinder<br />

bewahren und helfen, die richtigen Fragen zu stellen. Dieser Text fasst entwicklungspsychologische<br />

Forschungen zum Freundschaftsverständnis zusammen und konzentriert sich dabei auf ihre<br />

ethischen und sozialkognitiven Aspekte.<br />

Wozu Freunde?<br />

Freundschaft gehört aus gutem Grund zu den bevorzugten, motivierendsten Themen beim<br />

Philosophieren mit Kindern. Ginge es allein nach ihnen, bestünde kein Zweifel: Freundschaft ist<br />

nicht nur für die Großen eine wichtige Sache, sie beschäftigt auch schon die Kleinen und Kleinsten.<br />

In sozialpsychologischen Befragungen betont eine große Mehrheit jüngerer wie älterer Kinder, dass<br />

Freunde in ihrem Leben einen herausragenden Stellenwert haben. Nach den Eltern rangieren sie<br />

unter allen sozialen Beziehungen an zweiter Stelle (vor den Geschwistern), und ihre Bedeutung<br />

nimmt mit dem Alter der Kinder noch zu. In deren Wahrnehmung vermitteln Freundschaften<br />

Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Wertschätzung und persönliche Anerkennung. Darüber hinaus bieten<br />

sie eine Grundlage für verschiedene Formen der Unterstützung in schwierigen Situationen und<br />

stärken so Gefühle der Sicherheit und Zuversicht. Mitunter müssen Freunde den Kindern an<br />

Aufmerksamkeit, Halt und Orientierung ersetzen, was ihnen Erwachsene vorenthalten. So kann es<br />

nicht verwundern, dass Freundschaften zwischen Kindern positiv mit deren körperlichem und<br />

psychischem Wohlbefinden, negativ mit psychosomatischen Beschwerden sowie depressiven und<br />

suizidalen Tendenzen korrelieren.<br />

Damit ist ihre Bedeutung für die Entwicklung der Kinder aber allererst angedeutet. Freundschaften<br />

sind (zumindest In westlichen Gesellschaften) vergleichsweise individualisierte, sozial wenig<br />

normierte Beziehungen. Sie werden freiwillig initiiert und eingegangen (bei kleineren Kindern oft mit<br />

Unterstützung der Eltern) und verlangen von den Kindern Engagement und Eigenständigkeit bei<br />

ihrer Gestaltung. Weil Freundschaften die grundsätzliche Gleichrangigkeit der Freunde verlangen,<br />

müssen gegenseitige Erwartungen und Verpflichtungen ausgehandelt und, unter Wahrung der<br />

jeweiligen Interessen und Gerechtigkeitsvorstellungen, vereinbart werden. Darin unterscheiden sich<br />

Freundschaften grundlegend von Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, die letztlich<br />

immer durch asymmetrische Autorität und Verantwortung gekennzeichnet sind (bzw. sein sollten).<br />

In der Freundschaft liegen darum nach Überzeugung vieler Entwicklungspsychologen die Wurzeln<br />

einer autonomen Moral.<br />

Auch die Art der Konflikte, die zwischen Freunden auftreten, unterscheidet sich von der zwischen<br />

Eltern und Kindern. Gewöhnlich sind es die Freunde, die Konflikte interpretieren und lösen oder<br />

auch mit ungelösten Konflikten umgehen müssen. Gemeinsam finden sie Regeln, die Konflikte<br />

vermeiden helfen, die aber selbst Anlass für Konflikte sein können. Die Einhaltung der zwischen<br />

Freunden vereinbarten Regeln ist Aufgabe und Leistung jedes einzelnen Kindes. Bei einem Verstoß<br />

ist die Art der Ahndung oder des Ausgleichs ebenso möglicher Gegenstand von Verhandlungen wie<br />

die Frage, was wofür als Entschuldigung gilt. Beides, das Aushandeln von Regeln und das<br />

Sanktionieren von Verstößen, geschieht bei älteren Kindern im Hinblick auf eine längerfristige, als<br />

in sich wertvoll empfundene Beziehung und nicht allein zum Zweck einer zeitweiligen,<br />

interessegesteuerten Kooperation. Freundschaften bieten darum wertvolle Gelegenheiten zur<br />

Einübung von Verantwortung und Selbständigkeit in dauerhaften sozialen Beziehungen (dies dort<br />

um so mehr, wo Kinder ohne Geschwister aufwachsen). Sie vermitteln also neben einem positiven


Selbstkonzept auch soziale Kompetenzen von kaum zu überschätzendem Wert.<br />

Damit Kinder Freundschaft schließen und die Freundschaft vertiefen und stabilisieren können,<br />

müssen eine ganze Reihe situativer Bedingungen (wie räumliche Nähe, genügend Zeit,<br />

Unterstützung seitens der Eltern usw.) erfüllt sein. Es müssen aber auch Kompetenzen auf Seiten<br />

der Kinder gegeben sein, deren Entwicklung stark abhängt von der Qualität der familialen<br />

Beziehungen und der Verfügbarkeit von Vorbildern, insbesondere Vorbildern in der Welt der<br />

Erwachsenen (Uhlendorff 1995). Eltern und Pädagogen wirken nicht allein durch ihr eigenes<br />

Freundschaftsverhalten, sie wirken auch durch ihre Unterstützung in Situationen der Anbahnung<br />

von Freundschaften und in Fällen des Konflikts zwischen Freunden. Kinderfreundschaften können<br />

von qualifizierten Interventionen der Erwachsenen profitieren, und sie profitieren auch vom<br />

kompetenten Dialog über Freundschaft im Allgemeinen wie insbesondere im Fall des Konflikts.<br />

Moralische und sozialkognitive Aspekte der Freundschaft<br />

Um mit Kindern kompetent über Freundschaft philosophieren, die richtigen (nämlich Reflexions-<br />

und Klärungsprozesse anregenden) Fragen stellen zu können, ist neben Empathie und der Kenntnis<br />

kindlicher Freundschaftskonzepte auch das explizite Verständnis der mit dem<br />

Freundschaftsbegriff verbundenen moralischen und sozialkognitiven Aspekte unbedingt hilfreich.<br />

Um welche Aspekte handelt es sich?<br />

Freundschaft ist eine Beziehung, die sich nicht allein durch die mit ihr verbundenen Emotionen,<br />

sondern auch durch beidseitige Verpflichtungen auszeichnet und die darum in einem elementaren<br />

Sinn eine moralische Beziehung darstellt. Verpflichtet sein bedeutet u.a.: Etwas auch dann zu tun,<br />

wenn man es nicht will oder wenn es einem nicht nützt. Beides, emotionale und moralische<br />

Qualitäten, stehen in engem Zusammenhang. Die typischen Formulierungen für die moralischen<br />

Qualitäten der Freundschaft sind Verlässlichkeit, Loyalität und Vertrauen. Sie erklären zugleich die<br />

empfundene Nähe zwischen den Freunden.<br />

Grundsätzlicher noch für eine Freundschaft (im anspruchsvollen Sinn) ist der Verzicht, den Freund<br />

als Mittel zur Verwirklichung eigener Interessen und zur Befriedigung eigener Bedürfnisse zu<br />

benutzen. Freundschaft verträgt nach allgemeinem (nicht allein philosophischem) Verständnis<br />

keinen egoistischen Nutzenkalkül. Der Freund und die freundschaftliche Beziehung wollen selbst<br />

als Zweck behandelt werden. Eben dadurch setzt die Freundschaft einen Kontrapunkt zu den<br />

primär nutzenorientierten Beziehungen in Wirtschaft und Gesellschaft (auch denen der sog.<br />

"Netzwerke"). Und nur dadurch lässt sie sich durch Ansprüche wie Verlässlichkeit, Loyalität oder<br />

Vertrauen charakterisieren, die ja unabhängig von Interessen verstanden sein wollen. (Jemandem,<br />

der uns, unserer Erwartung nach, im Stich lässt oder verrät, sobald es ihm nützt, schenken wir nicht<br />

unser Vertrauen.) Dieses moralische Verständnis von Freundschaft bildet sich freilich (wenn<br />

überhaupt) erst in einer späten Phase der kindlichen Entwicklung und ist dabei von den<br />

angesprochenen günstigen Bedingungen – zu denen auch die Anregung im Rahmen dialogischen<br />

Philosophierens gezählt werden kann – abhängig.<br />

Die sozialkognitiven* Aspekte des Freundschaftsbegriffs stehen im Mittelpunkt der<br />

entwicklungspsychologischen Forschungen Robert Selmans, mit denen wir uns im Anschluss<br />

beschäftigen werden. Sie schließen insbesondere die Fähigkeit ein, die Gedanken, Wünsche und<br />

Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen – und zwar gerade auch dort, wo sie den eigenen<br />

widersprechen –, sie auf die eigenen Gedanken, Wünsche und Gefühle zu beziehen und ihnen im<br />

eigenen Handeln Rechnung zu tragen. Die sozialkognitive Entwicklung eines Kindes vollzieht sich<br />

(wie die kognitive Entwicklung insgesamt) auch vermittels wahrgenommener Widersprüche im<br />

eigenen Denken bzw. zwischen eigenem Denken und Handeln. Diese Widersprüche zu Bewusstsein<br />

(zur Sprache) zu bringen und Möglichkeiten ihrer Lösung aufzuspüren, kann ein sinnvolles Ziel auch<br />

des Philosophierens mit Kindern sein.<br />

(*Zur Erklärung: Unter Kognitionen versteht man in der Psychologie gewöhnlich alle geistigen


Vorgänge, in denen Informationen verarbeitet werden. Im Alltag würden wir von Denken in einem<br />

weiten Sinn sprechen. Allerdings umfassen Kognitionen auch unbewusste Vorgänge der<br />

Informationsverarbeitung, beispielsweise das Wiedererkennen eines Gesichts oder den (womöglich<br />

falschen) Schluss von einem beobachteten Fall auf alle Fälle gleichen Typs. Soziale Kognitionen<br />

sind Kognitionen, die Aspekte sozialer Beziehungen, z.B. die Erwartungen, Eigenschaften oder<br />

Einstellungen anderer Menschen, zum Gegenstand haben, uns also erlauben, andere Menschen<br />

einzuschätzen und zu verstehen. Sie sind eine Voraussetzung für kompetentes soziales Verhalten.)<br />

Das Kind als Freundschaftsphilosoph (Entwicklungsstufen)<br />

Sozialpsychologen, Erziehungswissenschaftler und Soziologen beschäftigen sich schon seit<br />

einigen Jahrzehnten mit der Freundschaft zwischen Kindern und mit ihrer Bedeutung für deren<br />

moralische und sozialkognitive Entwicklung. Ein wichtiges Resultat der ersten, ab Mitte der 1970er<br />

Jahre veröffentlichten Untersuchungen war, dass sich das kindliche Verständnis von Freundschaft<br />

im Entwicklungsverlauf in vorhersagbarer Weise verändert. Die noch immer interessantesten<br />

Arbeiten zu dieser Veränderung stammen von Robert Selman, einem in Harvard lehrenden Sozial-<br />

und Entwicklungspsychologen (*1942). Erklärtes Ziel seiner Forschungen war, in der Entwicklung<br />

des Freundschaftsverständnisses von Kindern eine "Logik" zu identifizieren. Seine Annahme: Das<br />

kindliche Freundschaftsverständnis lässt sich durch bestimmte soziale Kompetenzen beschreiben,<br />

die sich im Lauf der Entwicklung stetig erweitern und differenzieren. Rückblickend stellt diese<br />

Entwicklung sich dar als eine Abfolge von Kompetenzstufen wachsender Komplexität, deren höhere<br />

(spätere) die niedrigere (frühere) integriert. Mit dieser Annahme orientierte sich Selman an den für<br />

die Entwicklungspsychologie richtungsweisenden Arbeiten Jean Piagets.<br />

Selman ging aus von dem zunächst widersprüchlichen Befund, dass wir einerseits über einen<br />

anspruchsvollen Begriff idealer Freundschaft verfügen – wie er insbesondere in der europäischen<br />

Literatur seit der Antike immer wieder beschrieben, ja besungen wurde –, dass andererseits aber<br />

schon kleine Kinder häufig von ihren Freunden reden, ohne sich auch nur annähernd diesem<br />

Freundschaftsideal gemäß zu verhalten. Eine nahe liegende Reaktion darauf wäre, Kindern das<br />

Verständnis für und damit auch die Fähigkeit zur Freundschaft abzusprechen und ihre Äußerungen<br />

als irrelevant zu disqualifizieren. Faktisch entspricht dies (mit wenigen Ausnahmen) der Haltung der<br />

Psychologie bis in die 1970er Jahre. Eine klügere Reaktion ist die Vermutung, dass sich zwischen<br />

den Gedanken eines Kindes und denen Aristoteles' oder Schillers zur Freundschaft eine Kontinuität<br />

feststellen lässt, dass wir es vielleicht sogar mit einer gesetzmäßigen Entwicklung im Verständnis<br />

von Freundschaft zu tun haben könnten, die sich nicht nur beschreiben, sondern auch auf ihre<br />

Einflussfaktoren hin untersuchen und womöglich fördern ließe. Eine erwünschte Nebenwirkung<br />

dieser Sichtweise wäre, dass der Freundschaftsbegriff nicht allein auf unterschiedliche<br />

Entwicklungsstadien, sondern auch auf unterschiedliche Kulturen hin relativiert werden kann. Dazu<br />

am Ende noch ein paar Worte.<br />

Was also verstehen Kinder wann unter Freundschaft? Selman konnte fünf Freundschaftskonzepte<br />

von Kindern unterscheiden. Dabei ist deren wachsende Fähigkeit, die eigene Perspektive und die<br />

Perspektive des Freundes zusammenzudenken, das von Selman favorisierte Kriterium zur<br />

Charakterisierung dieser Konzepte als Stufen einer Entwicklung. Unter Perspektive verstehen<br />

Sozialpsychologen nicht nur und nicht in erster Linie die visuelle Wahrnehmung einer Situation,<br />

sondern im übertragenen Sinn auch und vor allem deren Bewertung, wobei diese Bewertung von<br />

Bedürfnissen und Interessen abhängt und sich vornehmlich in Gefühlen und Absichten äußert. Die<br />

Fähigkeit zur so genannten Perspektivenübernahme erschöpft sich nicht im Verständnis der<br />

Perspektive des Anderen (was denkt, fühlt und will der Andere), sondern schließt auch die Fähigkeit<br />

und Bereitschaft ein, die verstandene Perspektive im eigenen Handeln gleichgewichtig zu<br />

berücksichtigen und dabei mit der eigenen Perspektive zu koordinieren (im einfachsten Fall im<br />

Sinne eines Wie-du-mir-so-ich-dir: Ich bin nett zu dir, wenn du nett zu mir bist, ich schenke dir was,<br />

wenn du mir was schenkst).


Stufe 0 – Freundschaft als momentane physische Interaktion (Kinder zwischen 3 und 7 Jahren)<br />

Kleine Kinder verwenden das Wort Freund für Menschen, mit denen sie gern spielen und die sie<br />

darum mögen. Räumliche Nähe und gemeinsames Spiel sind die für das Kind entscheidenden<br />

Merkmale eines Freundes. Manchmal werden auch physische Eigenschaften (Kraft,<br />

Geschicklichkeit, Schnelligkeit) genannt, um die Wahl eines Kindes als Freund zu begründen.<br />

Psychische oder charakterliche Eigenschaften spielen dagegen keine Rolle. Sofern ein Kind das<br />

Wort Vertrauen schon kennt, bezieht es sich auf den Glauben an die physischen Fähigkeiten des<br />

Freundes. In erster Linie meint Freundschaft aber dessen Anwesenheit in der gegenwärtigen<br />

Situation in Verbindung mit seiner Bereitschaft zum Spielen. Mit der gemeinsamen Situation<br />

beginnt und endet die Freundschaft. Eine qualitative Unterscheidung zwischen Freunden (guten<br />

oder besten) findet in der Regel nicht statt. Konsequenz dieses Freundschaftsverständnisses ist,<br />

dass auch die eigenen Familienangehörigen einschließlich der Eltern ohne weiteres Freunde sein<br />

können. Eine weitere Konsequenz ist, dass Freundschaften so rasch enden wie sie beginnen und<br />

Freunde häufig wechseln können.<br />

Eine Freundschaft wird durch das Kind selbst (statt durch äußere Umstände) beendet, wenn sich<br />

Konflikte einstellen. Zu Konflikten kommt es, wenn die Perspektiven der Kinder (ihre Deutungen,<br />

Wünsche, Gefühle) kollidieren, etwa weil beide dasselbe Spielzeug wollen, ihre Spielideen nicht<br />

zusammenpassen oder ein Kind das andere zu etwas zu zwingen versucht. Unlösbar sind solche<br />

Konflikte, weil ein Kind dieser Stufe noch im egozentrischen Denken befangen ist und die<br />

Perspektive des anderen Kindes nicht zu verstehen vermag – die eigene Perspektive ist die einzig<br />

für es denkbare. Eine konfliktlösende Vermittlung der Perspektiven (etwa ein Kompromiss oder gar<br />

die Erörterung der Frage, was gerecht wäre) scheidet noch aus. Als Reaktionen bieten sich allein<br />

körperliche Gewalt oder ein Abbruch der Interaktion an ("Spiel doch mit einem anderen Spielzeug!"),<br />

beides keine freundschaftserhaltenden Lösungen.<br />

Stufe 1 – Freundschaft als einseitige Hilfeleistung (Kinder zwischen 4 und 9 Jahren)<br />

Mit dieser Stufe setzt eine Entwicklung ein, in deren Verlauf die Bedeutung des gemeinsamen<br />

Spiels als Grundlage der Freundschaft stetig ab- und die Bedeutung der Übereinstimmung in den<br />

Gefühlen, Gedanken und Wünschen zunimmt. Die möglicherweise abweichende Perspektive des<br />

Freundes wird nun erkannt. Das Kind versteht also, dass der Freund möglicherweise andere<br />

Wünsche, Gefühle oder Gedanken hat, die sein Verhalten erklären. Das Vertrauen bezieht sich nicht<br />

mehr so sehr auf die physischen Fähigkeiten des Freundes, sondern auf dessen Subjektivität,<br />

besonders dessen freundliche Absichten. Die Ideen und Wünsche des Freundes müssen aber zu<br />

den eigenen passen – nicht umgekehrt. Eine Vermittlung der Perspektiven findet nicht statt. Die<br />

eigene Perspektive bestimmt, wie die Situation zu deuten und was vom Freund zu erwarten ist. Ein<br />

Kind ist mein Freund, wenn es mich versteht, meine Wünsche erkennt und übereinstimmt mit mir.<br />

Es muss meine Bedürfnisse befriedigen. Wie auf Stufe 0 können auch Geschwister oder Eltern als<br />

Freunde gelten, sofern sie diese Bedingung erfüllen. ("Ist dein Bruder irgendwann mal dein Freund?<br />

Manchmal, wenn er nett ist, aber meistens nicht. Sind deine Eltern deine Freunde? Ja, sie<br />

schenken mir Spielzeug.")<br />

Die Freundschaft beginnt mit der Zuwendung und Hilfe des anderen Kindes und endet womöglich<br />

rasch, sobald es mir diese vorenthält, d.h. mit dem Konflikt. Es ist immer das andere Kind, das den<br />

Konflikt verschuldet (das "angefangen hat"), ich bin es, die darunter leidet. Der Konflikt<br />

verschwindet nicht mehr schon dadurch, dass man die Interaktion abbricht. Er wurzelt ja im Innern,<br />

in der Subjektivität des anderen Kindes. Der Schuldige muss seine Tat zurücknehmen (das<br />

Spielzeug zurückgeben oder das böse Wort widerrufen) oder wiedergutmachen (etwas schenken<br />

oder sagen, wie leid es ihm tut). Dass auch damit die eigentliche Ursache des Konflikts, die<br />

Divergenz der Perspektiven, fortbesteht, bleibt unverstanden bzw. ohne Belang, weil es noch allein<br />

auf die eigene Sicht der Dinge ankommt.<br />


Stufe 2 – Freundschaft als gegenseitiges Verständnis und "Schönwetter"-Kooperation (Kinder<br />

zwischen 6 und 12 Jahren)<br />

Kinder auf dieser Stufe interessieren sich für die Gedanken, Wünsche und Gefühle des Freundes,<br />

sehen sich selbst mit dessen Augen, bemühen sich um sein Verständnis und Vertrauen, lieben das<br />

Gefühl der Einmütigkeit und versuchen in der Regel, die Perspektive des Freundes mit der eigenen<br />

in Einklang zu bringen. Vertrauen bezieht sich nun auch auf den Umgang mit dem, was man<br />

einander über sich selbst offenbart. Ein Freund ist, wem man seine Geheimnisse anvertrauen kann<br />

und wer zu einem hält. "Die Erkenntnis dämmert", schreibt Selman, "dass Menschen Beziehungen<br />

um der sozialen Interaktion willen brauchen, und nicht bloß um zu bekommen, was sie wollen<br />

(Stufe 1), oder um Spiele spielen zu können (Stufe 0)." Damit erweitert sich auch der Zeithorizont<br />

der Freundschaft: Sie wird als eine auf Dauer angelegte Beziehung empfunden. Die angestrebte<br />

Koordination der Perspektiven gelingt allerdings schon darum nicht immer, weil die eigenen<br />

Interessen und Bedürfnisse auch weiterhin dominieren. Man berücksichtigt die Wünsche und<br />

Meinungen des Freundes, solange das erkennbar den eigenen Interessen dient, mindestens dem<br />

Interesse an einer guten, harmonischen Stimmung.<br />

Immerhin werden Konflikte nicht mehr als nur vom Anderen verschuldet verstanden, sondern<br />

gelten als etwas, an dem man selbst Anteil hat und an dessen Lösung man mitwirken muss. Diese<br />

Einsicht hilft aber nicht, wenn jede Lösung den eigenen Wünschen (und weniger dem, was gerecht<br />

wäre) entsprechen muss. Der beste Weg zu einer Konfliktlösung scheint für die Kinder zu sein, dem<br />

Freund die eigene Perspektive verständlich zu machen, um ihn so zu einer Änderung seines<br />

Standpunkts (in meinem Sinn) zu bewegen. Was fehlt, ist ein Verständnis dafür, dass damit keine<br />

begründete Vermittlung der widersprechenden Perspektiven geleistet wird. Weil sich Lösungen zur<br />

beidseitigen Zufriedenheit auf diese Weise allenfalls zufällig einstellen, sind Freundschaften auf<br />

dieser Stufe noch immer zerbrechlich. Es handelt sich um "Schönwetter"-Beziehungen, die enden,<br />

wenn die Divergenz der Perspektiven überhand nimmt und mindestens einer der Freunde seine<br />

Bedürfnisse als nicht mehr ausreichend befriedigt empfindet.<br />

Stufe 3 – Freundschaft als dauerhafter intimer gegenseitiger Austausch (Kinder zwischen 11 und 15<br />

Jahren)<br />

Auf dieser Stufe wird die abweichende Perspektive des anderen Kindes nicht mehr als ständiger<br />

Störfaktor erlebt, sondern als wesentliches Moment der Beziehung begriffen. Freundschaft gilt nun<br />

als eine Beziehung, in der es um das Verständnis und die Anerkennung des jeweils Anderen in<br />

seiner Besonderheit geht. Seine Eigenschaften (Persönlichkeitsmerkmale), nicht sein Nutzen,<br />

motiviert eine Freundschaft. ("Nimm mal an, Karen würde dir gar nichts geben. Dann hätte ich sie<br />

immer noch gern, weil sie nett ist. Wie kannst du sagen, ob jemand nett ist? Man kennt jemanden<br />

eine Zeitlang, und dann kann man sagen, ob er nett ist.") Das Kind vermag die Perspektive eines<br />

Außenstehenden einzunehmen, in der beide, es selbst und der Freund, gleichwertige Individuen mit<br />

gleichberechtigten Perspektiven sind. Freundschaft ist eine auf Dauer angelegte Beziehung, in der<br />

man sich seine (geheimen) Gedanken, Gefühle und Wünsche anvertraut, füreinander da ist und sich<br />

aktiv von Dritten abgrenzt. ("Warum ist Jimmy dein bester Freund? Wahrscheinlich weil wir viel<br />

zusammen reden und so. Worüber redet ihr denn? Geheimnisse. Was wir von dem oder der oder<br />

sonst jemandem denken.") Die Erhaltung dieser exklusiven Beziehung hängt nicht mehr von der<br />

durchgängigen Übereinstimmung in den Meinungen und der Befriedigung eigener Bedürfnisse ab,<br />

sondern ist selbst primärer Handlungszweck.<br />

Konfliktlösungen orientieren sich darum nicht mehr allein an der eigenen Zufriedenheit, sondern<br />

haben immer auch die Zufriedenheit des jeweils anderen zum Ziel. Beide müssen einverstanden<br />

sein können. Auch dem andern zuliebe nachzugeben, gilt nicht als Lösung. Die gemeinsame Arbeit<br />

an einer echten Lösung kann das wechselseitige Verständnis und damit auch die Beziehung<br />

vertiefen. Gemessen an einer tiefen, langfristigen Freundschaft gelten die meisten Konflikte als<br />

oberflächlich. Sie erschüttern das gegenseitige Vertrauen nicht. Die erstrebte Intimität und<br />

Exklusivität kann sich allerdings auch als Handicap erweisen. Aus ihr resultieren leicht


Besitzansprüche, die dem Autonomiestreben, dem Wunsch nach Unabhängigkeit und<br />

Selbstbestimmung, im Weg stehen können. Kinder (Jugendliche) haben dann das Gefühl, die<br />

Freundschaft behindere ihre Selbstentfaltung und schränke sie unnötig ein. Die Exklusivität einer<br />

Beziehung kann so der Grund ernster Konflikte sein, die die Freundschaft in Frage stellen.<br />

Stufe 4 – Freundschaft als dauerhafte Vermittlung von Autonomie und wechselseitiger<br />

Abhängigkeit (Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren)<br />

Erst mit dieser Stufe gelingt den Kindern bzw. Jugendlichen die Balance zwischen wechselseitiger<br />

Abhängigkeit und individueller Autonomie. Sie begreifen, dass die komplexen und sich<br />

verändernden Bedürfnisse eines Menschen in unterschiedlichen Beziehungen befriedigt werden<br />

müssen. Die Exklusivität der Freundschaftsbeziehung wird zugunsten eines offenen<br />

Interaktionssystems gelockert. Das Kind nimmt sich selbst und den Freund in einem größeren<br />

sozialen Zusammenhang wahr, ohne dass dies als Einschränkung des gegenseitigen Vertrauens,<br />

der Intimität und der Verlässlichkeit empfunden wird. Dabei werden Freundschaften nach ihrer<br />

Qualität unterschieden: Einem engen Freund wird mehr Vertrauen entgegengebracht und mehr<br />

anvertraut als einem guten Freund. Konflikte werden selbstreflexiv und im beiderseitigen Bemühen<br />

um Einsicht zu lösen versucht.<br />

Tatsächlich folgt die Entwicklung des Freundschaftsverständnisses von Kindern sehr weitgehend<br />

Selmans Beschreibung: Stufen werden nicht übersprungen, und Rückfälle auf bereits<br />

überschrittene Stufen (sog. Regressionen) sind selten. Allerdings werden Stufe 3 und insbesondere<br />

Stufe 4 von einigen Kindern und auch von manchen Erwachsenen niemals erreicht. Umgekehrt<br />

spricht inzwischen, 30 Jahre nach Selmans Forschungen, einiges dafür, dass die Stufen (sofern sie<br />

erreicht werden) früher erreicht werden können, als Selman das annehmen durfte.<br />

Ob und wann ein Kind eine Entwicklungsstufe erreicht, hängt von Variablen wie der sozialen Schicht<br />

des Kindes, der Qualität seiner Bindungen oder seinen Erfahrungen mit Gleichaltrigen ab. Es steht<br />

außer Frage, dass die Erfahrung positiver sozialer Beziehungen im eigenen Lebensumfeld,<br />

insbesondere die Verfügbarkeit erwachsener Vorbilder, die Freundschaften vorleben, einen<br />

günstigen Einfluss auf das Freundschaftsverständnis und die sozialen Kompetenzen des Kindes<br />

hat. Umgekehrt wirkt eine gesellschaftliche Tendenz, die soziale Anerkennung mit<br />

Konkurrenzorientierung und ökonomisch definiertem Erfolg verknüpft, der Entwicklung des<br />

Freundschaftsverständnisses eher entgegen. Sie prämiert soziale Beziehungen, die auf<br />

gegenseitigem Nutzen basieren und nur solange Bestand haben, wie die Beteiligten voneinander zu<br />

profitieren erwarten (Stufe 2). Aber nicht nur die Entwicklung des Freundschaftsverständnisses wird<br />

auf diese Weise behindert. In wettbewerbsorientierten, individuelles Erfolgsstreben honorierenden<br />

Gesellschaften erlaubt die erreichte Stufe des Freundschaftsverständnisses nur bedingt Prognosen<br />

des tatsächlichen Verhaltens, weil Loyalität und Vertrauen mit Misserfolg und sozialer Abwertung<br />

bestraft werden können und insofern strukturell diskriminierte Verhaltensalternativen darstellen.<br />

Zwischen Freundschaftsverständnis und Freundschaftsverhalten kann sich so eine (auch für den<br />

"schlechten", aber erfolgreichen Freund belastende) Kluft auftun.<br />

Die Unterscheidung zwischen Freundschaftsverständnis und Freundschaftsverhalten ist es auch,<br />

die manche vordergründige Diskrepanz zwischen psychologischer Theorie einerseits und dem im<br />

Alltag beobachtbaren Verhalten von Kindern zu erklären erlaubt. Während manche Strukturmodelle<br />

(wie das Selmans) Freundschaften zwischen Kindern vor deren viertem, zumindest aber drittem<br />

Lebensjahr auszuschließen scheinen, lassen sich im Alltag enge und längerfristige Bindungen<br />

bereits zwischen noch jüngeren Kindern beobachten. Judy Dunn (2004) etwa hat Belege für<br />

Bindungen zwischen 1,5 – 4 Jahre alten Kindern zusammengetragen, die unbestreitbar Merkmale<br />

einer Freundschaft aufweisen. Diese Kinder präferierten einander dauerhaft (über Monate und<br />

Jahre hinweg) als Spielpartner, bewiesen dabei ein ausgeprägtes Bewusstsein der Gegenseitigkeit,<br />

unterstützten einander und zeigten beim Spielen deutliche Zeichen der Empathie (etwa in der Art,<br />

wie ein Kind die Fantasien des jeweils anderen Kindes aufgriff und weiterführte). Wurden solche


Beziehungen durch äußere Umstände beendet, reagierten einige der Kinder mit langanhaltender<br />

Trauer.<br />

Zunächst einmal lassen solche Verhaltensbeschreibungen keine eindeutigen Rückschlüsse auf das<br />

Freundschaftsverständnis der Kinder zu. Verhalten geht, einem Grundsatz der<br />

Entwicklungspsychologie zufolge, dem Denken über das Verhalten voraus. Die<br />

Konzeptualisierungs- und Artikulationsfähigkeit gerade von Kindern (mehr noch als die der<br />

Erwachsenen) bleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter ihren sozialen Kompetenzen zurück.<br />

Untersuchungen wie die Selmans basieren auf der Befragung von Kindern, nicht auf der<br />

Beobachtung ihres Verhaltens. Es hieße Selman missverstehen, würde man annehmen, er habe die<br />

von Dunn beschriebenen Kompetenzen bei Zwei- oder Dreijährigen ausschließen wollen. Ein<br />

Missverständnis wäre es umgekehrt auch, vom Nachdenken und Reden über Freundschaft keinerlei<br />

Einfluss auf das Freundschaftsverhalten zu erwarten. In der Reflexion auf unser Verhalten<br />

verändern wir uns und unser Verhalten. Gerade hier vermag das Philosophieren mit Kindern über<br />

Freundschaft Kompetenzen zu fördern, indem Gefühle und Verhaltensweisen zur Sprache und<br />

damit zu Bewusstsein gebracht und für eine Differenzierung des Freundschaftsbegriffs und die<br />

Erweiterung des kindlichen Verhaltensrepertoires genutzt werden können.<br />

Selmans Freundschaftsdilemma<br />

Robert Selman hat Kinder, um ihr Verständnis von Freundschaft zu Tage zu fördern, mit einem für<br />

Freundschaften typischen Problem konfrontiert und ihnen dazu eine Reihe von Fragen gestellt, an<br />

denen sich (situations- und altersabhängig) auch kinderphilosophische Einheiten über<br />

Freundschaft orientieren lassen. Hier einige Ausschnitte aus Selmans Interviews (Selman 1982, S.<br />

116-161 sowie S. 297-298), zunächst aber das Freundschaftsdilemma und die dazugehörigen Fragen<br />

(ebd. S. 296).<br />

"Kathy und Becky sind seit dem Kindergarten beste Freundinnen. Sie gehen in der<br />

Schule in dieselbe Klasse. Jeden Samstag versuchen sie, etwas Besonderes zusammen<br />

zu unternehmen, in den Park oder zum Laden zu gehen, oder etwas Besonderes zu<br />

spielen. Sie haben sich immer gut miteinander vergnügt.<br />

Eines Tages zog ein neues Mädchen, Jeanette, in ihre Gegend. Bald stellte sie sich den<br />

beiden Mädchen vor. Von Anfang an schienen Jeanette und Kathy sich gut miteinander<br />

zu verstehen. Sie unterhielten sich darüber, wo Jeanette herkommt, und was sie in der<br />

neuen Stadt alles unternehmen könnte. Becky andererseits schien Jeanette nicht<br />

besonders zu mögen. Sie hielt Jeanette für eine Angeberin und war eifersüchtig auf die<br />

Aufmerksamkeit, die Kathy ihr schenkte.<br />

Nachdem Jeanette die beiden anderen allein gelassen hatte, sagte Becky zu Kathy, was<br />

sie über Jeanette dachte: 'Was hältst du von ihr, Kathy? Ich finde sie etwas aufdringlich,<br />

wenn sie sich bei uns so einmischt.'<br />

'Ach komm, Becky. Sie ist neu in der Stadt und versucht bloß, neue Freunde zu finden.<br />

Wir können wenigstens nett zu ihr sein.'<br />

'Ja, aber das heißt nicht, dass sie unsere Freundin werden muss', erwiderte Becky. 'Also<br />

gut, was würdest du denn gerne diesen Samstag machen? Du kennst doch diese alten<br />

Kasperlfiguren von mir; ich hab mir gedacht, wir könnten sie reparieren und uns unser<br />

eigenes Puppenspiel machen.'<br />

'Klar, Becky, das hört sich toll an', sagte Kathy. 'Ich komm nach dem Mittagessen zu dir<br />

rüber. Jetzt sollte ich lieber nach Hause gehen. Also bis morgen.'


Am gleichen Abend noch rief Jeanette bei Kathy an und überraschte sie mit einer<br />

Einladung in den Zirkus, der letzten Vorstellung in der Stadt. Das einzige Problem war,<br />

dass sie zur gleichen Zeit stattfand, zu der Kathy Becky versprochen hatte, zu ihr zu<br />

kommen. Kathy wusste nicht, was sie tun sollte: zum Zirkus gehen und ihre beste<br />

Freundin allein lassen, oder zu ihrer besten Freundin halten und ein Vergnügen<br />

verpassen."<br />

Fragen zum Dilemma:<br />

"Was hältst du für das Problem in der Geschichte?"<br />

"Was wird deiner Meinung nach Kathy tun: bei ihrer alten Freundin Becky bleiben oder<br />

mit dem neuen Mädchen Jeanette gehen? Warum? Was hältst du für wichtiger: mit<br />

einer alten Freundin zusammenzusein oder neue Freundschaften zu schließen?<br />

Warum?"<br />

"Hast du eine beste Freundin? Was macht sie zu deiner besten Freundin?"<br />

"Jeanette ist neu in der Stadt und versucht, Freunde zu finden. Weshalb, glaubst du, ist<br />

es für sie wichtig, Freunde zu finden?"<br />

"Warum sind Freunde wichtig? Warum braucht man eine/n Freund/in?"<br />

"Wie soll Jeanette es anstellen, neue Freunde zu gewinnen? Was sollte sie dabei<br />

beachten?"<br />

"Ist es leicht oder schwierig, einen guten Freund zu gewinnen? Warum?"<br />

"Was macht eine/n gute/n Freund/in aus?"<br />

"Welche Art von Person wünschst du dir nicht als Freund?"<br />

"Was für eine Art Freundschaft besteht zwischen Kathy und Becky? Was ist eine<br />

wirklich gute und enge Freundschaft? Was für Dinge wissen sehr gute Freunde<br />

voneinander?"<br />

"Über welche Dinge können gute Freunde miteinander sprechen, über die sie mit<br />

anderen Freunden manchmal nicht sprechen können? Welche Probleme können sie<br />

miteinander besprechen?"<br />

"Ist es besser, wenn enge Freunde einander ähnlich sind oder wenn sie sich<br />

voneinander unterscheiden? Warum?"<br />

"Was ist besser: eine/n sehr gute/n Freund/in oder eine ganze Gruppe normaler<br />

Freunde zu haben? Warum?"<br />

"Ist es für eine gute Freundschaft wichtig, füreinander Dinge zu tun? Warum?"<br />

"Ist deiner Meinung nach in einer guten Freundschaft Vertrauen wichtig? Warum?"<br />

"Was heißt Vertrauen überhaupt? Bedeutet es mehr als Geheimnisse zu hüten und


Dinge zurückzuzahlen?"<br />

"Wenn Kathy und Jeanette gute Freundinnen werden, wird das etwas an der<br />

Freundschaft zwischen Kathy und Becky ändern? Was?"<br />

"Was heißt es, in einer Freundschaft eifersüchtig zu sein? Wie wirkt sich Eifersucht auf<br />

eine Freundschaft aus?"<br />

"Angenommen Becky und Kathy geraten in einen großen Streit über die neue<br />

Freundschaft, wie könnten sie das Problem so lösen, dass sie gute Freundinnen<br />

blieben?"<br />

"Könnte die Freundschaft durch diesen Streit sogar besser werden?"<br />

"Kann man auch, wenn man sich miteinander streitet, befreundet sein? Wie ist das<br />

möglich?"<br />

Interview-Ausschnitte:<br />

Stufe 0<br />

Stufe 1<br />

"Was für eine Person ist ein guter Freund?<br />

Jungen spielen mit Jungen, Lastautos spielen mit Lastautos, Hunde spielen mit<br />

Hunden.<br />

Warum sind sie deshalb gute Freunde?<br />

Weil sie dieselben Dinge tun."<br />

"Wer ist dein bester Freund?<br />

Erich.<br />

Vertraust du ihm?<br />

Ja.<br />

Was heißt das, dass du ihm vertraust?<br />

Wenn ich ihm ein Spielzeug gebe, weiß ich, dass er es nicht kaputt macht.<br />

Woher weißt du das?<br />

Er ist nicht stark genug."<br />

"Wenn du und deine Freundin beide mit demselben Spielzeug spielen wollt, wie<br />

entscheidet ihr dann, wer es bekommt?<br />

Hau' sie. Oder spiel' einfach mit was anderem."<br />

"Wie können Freunde sich wieder vertragen, wenn sie sich gestritten haben?<br />

Der Junge, der angefangen hat, sagt allen der Reihe nach, dass es ihm leid tut.<br />

Und das reicht?<br />

Ja."<br />

"Wie entsteht ein Streit zwischen Freunden?<br />

Wenn sie Schimpfworte zu mir sagt oder so.<br />

Wie könnt ihr dann wieder Freunde werden?<br />

Bring sie dazu, dass sie's zurücknimmt und sagt, dass sie gelogen hat."


Stufe 2<br />

Stufe 3<br />

Stufe 4<br />

"Kann eine Person allein einen Streit beenden?<br />

Nein, beide müssen sich einigen."<br />

"Kann jemand dein Freund sein, auch wenn ihr euch streitet?<br />

Ja. Wenn man sich streitet und sagt, 'ich hasse dich' und 'du bist doof, ich hasse dich,<br />

ich hasse dich', und wenn man das wirklich ernst meint, dann wäre das nicht gut; aber<br />

wenn man es nicht wirklich so meint, und man meint es in dem Moment, aber nicht<br />

wirklich, dann ist es schon in Ordnung."<br />

"Gehört es also zu einer richtigen Freundschaft dazu, dass man sich streitet?<br />

Ich denke schon.<br />

Das klingt widersprüchlich, dass ein Freund jemand ist, mit dem man sich streiten<br />

kann. Warum ist das so?<br />

Weil du zeigst, dass du ihn wirklich magst, und dass du sein Freund bist. Wenn man<br />

sich nicht mit ihm stritte, würde das bedeuten, du tust das, ich tu jenes. Aber alle<br />

arbeiten irgendwie zusammen. Jeder ist mit jedem über irgendetwas verschiedener<br />

Meinung. Niemand stimmt mit dem anderen völlig überein."<br />

"Niemand ist eine Insel. Ich meine nicht, man sollte mit einem Freund verschmelzen<br />

und gänzlich seine Identität aufgeben. Ich meine ganz einfach, dass man sich zu einem<br />

bestimmten Grad auf andere verlassen sollte; das kann ein enger Freund sein, dem man<br />

vertraut, und mit dem man auf gleicher Wellenlänge ist.<br />

Was meinst du mit gleicher Wellenlänge?<br />

Nun, jemand, der dich versteht und den du verstehst, ohne immer alles aussprechen zu<br />

müssen."<br />

Freundschaft und Moral (Entwicklungsstufen)<br />

Die Berliner Psychologin Monika Keller hat die Freundschaft zwischen Kindern unter dem<br />

Gesichtspunkt der moralischen Sensibilität untersucht: Welches Verständnis zeigen Kinder für die<br />

mit einer Freundschaft verbundenen Verpflichtungen und ihre Verletzung? Dabei orientiert sie sich<br />

unter anderem an den Arbeiten Robert Selmans und verwendet auch eine Variante von dessen<br />

Freundschaftsdilemma:<br />

Ein Kind hat seiner besten Freundin versprochen, sie zu besuchen. Etwas später erhält es für eben<br />

diesen Zeitpunkt von einem dritten Kind eine Einladung ins Kino mit anschließendem Pizza-Essen.<br />

Einige Gesichtspunkte komplizieren die Situation: Die Freundinnen kennen sich schon lange, die<br />

Einladung durch das dritte Kind gilt für den Tag, an dem sich die Freundinnen immer treffen, und<br />

die Freundin mag das neue Kind nicht. Außerdem wollte die Freundin bei diesem Treffen über ein<br />

Problem reden, das sie ernsthaft beschäftigt. Andererseits ist das dritte Kind neu hinzugezogen<br />

und hat noch keine Freunde.<br />

Anders als Selman unterscheidet Keller lediglich vier Entwicklungsstufen (0 bis 3). Auf die<br />

Zuordnung von Altersangaben verzichtet sie, die von ihr befragten Kinder waren zwischen 7 und 12<br />

Jahre alt.


Stufe 0<br />

Konfliktverständnis:<br />

Auf diesem Niveau besteht noch kein Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven der<br />

Beteiligten. Der Konflikt in der Geschichte wird gar nicht wahrgenommen. (Was ist das Problem in<br />

der Geschichte? Ich weiß nicht.) Das Kind kann zwischen unterschiedlichen<br />

Entscheidungsalternativen nicht abwägen. Es fasst lediglich eine Entscheidungsmöglichkeit ins<br />

Auge und beurteilt diese unter dem Aspekt der Befriedigung oder Nichtbefriedigung der<br />

Bedürfnisse der Handelnden. (Warum geht das Kind ins Kino / zu seiner Freundin? Weil es Spaß<br />

macht.) Die Perspektive der von der Entscheidung Betroffenen (der Freundin oder des neuen<br />

Kindes) bleibt unverstanden. (Wie fühlt sich die Freundin? Gut, sie spielt mit den Barbies.) Für das<br />

Kind stellt sich also auch kein moralisches Problem, aus seiner Sicht existiert keine Verpflichtung.<br />

Allgemeines Verständnis von Versprechen:<br />

Das Kind versteht noch nicht, dass mit einem Versprechen eine Verpflichtung verbunden ist. Die<br />

Einhaltung von Versprechen ist nicht verbindlich, sondern abhängig vom aktuellen Bedürfnis. (Muss<br />

man ein Versprechen halten? Nein/ich weiß nicht.)<br />

Allgemeines Verständnis von Beziehungen:<br />

Beziehungen werden definiert durch positiv erfahrene Handlungen (miteinander spielen, Dinge<br />

miteinander tun) und Belohnungen (Geschenke bekommen) sowie durch die Abwesenheit negativer<br />

Handlungen (nicht an den Haaren ziehen, streiten, prügeln).<br />

Stufe 1<br />

Konfliktverständnis:<br />

Auf diesem Niveau zeigt sich ein erstes Verständnis für die Perspektiven anderer. Die<br />

Unterscheidung von Perspektiven erfolgt im Hinblick auf unterschiedliche Bedürfnisse,<br />

Erwartungen und Interessen. Man selbst und die anderen werden nun als Personen erfahren, die<br />

einen Anspruch auf die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse und Erwartungen haben. Werden solche<br />

Ansprüche verletzt, so wird das als Problem wahrgenommen: Man kann Menschen enttäuschen,<br />

verletzen und verärgern. (Das Kind in der Geschichte weiß nicht, ob es ins Kino oder zur Freundin<br />

gehen soll.) Es gibt also einen Unterschied zwischen dem, was man tun will, und dem, was man tun<br />

sollte.<br />

Allerdings orientiert sich das, was man tun sollte, einfach an einer Erwartung bzw. Gewohnheit (z.B.<br />

wir treffen uns jeden Samstag), nicht an einer Norm (z.B. ein Versprechen muss man halten).<br />

Entscheidungen werden als etwas verstanden, für das es Gründe gibt. Als Gründe kommen<br />

Bedürfnisse oder Erwartungen in Frage: Das Kind geht ins Kino, weil es so gern den Film sehen<br />

möchte; es geht zur Freundin, damit die Freundin nicht allein ist; es geht zur Freundin, weil sie<br />

sonst schimpft; es geht zur Freundin, weil es immer mit ihr spielt. Es werden also die Folgen des<br />

eigenen Handelns bedacht, soweit sie einen selbst und die Beteiligten betreffen. Auch<br />

Schuldgefühle deuten sich bereits an (das Kind fühlt sich schlecht, weil es nicht zur Freundin geht).<br />

Für das eigene Handeln entscheidend sind letztlich aber die Folgen für einen selbst (die eigenen<br />

Bedürfnisse), nicht die für andere.<br />

Weil damit aber wieder unerwünschte Konsequenzen für einen selbst verbunden sein können (z.B.<br />

zerbricht die Freundschaft), zeigen sich auf dieser Stufe erste Formen strategischen Verhaltens:<br />

Das Kind verschweigt etwas oder leugnet, eine Alternative gehabt zu haben, um die Folgen seines<br />

(egoistischen) Handelns abzuwenden. Allerdings gibt es auch erste Formen kommunikativen<br />

Verhaltens: Das Kind informiert die Freundin, dass es nicht kommen werde. Oder es schenkt ihr<br />

etwas als Wiedergutmachung.


Allgemeines Verständnis von Versprechen:<br />

Die Einhaltung von Versprechen wird nun als verbindlich gesehen, wobei ein Widerspruch zum<br />

tatsächlichen Verhalten bestehen kann. Warum muss man Versprechen halten? Weil eine Autorität<br />

(Gott, die Eltern) verboten haben, Versprechen zu brechen.<br />

Allgemeines Verständnis von Beziehungen:<br />

Beziehungen definieren sich über gemeinsame Handlungen und ihre Dauer (dass man oft<br />

miteinander spielt), über die Gegenseitigkeit (dass man Dinge teilt, sich abwechselt), über<br />

Handlungspräferenzen (die gleichen Spiele mögen) und über Verhaltenserwartungen (dass man<br />

nett ist). Nur in der Eltern-Kind-Beziehung ist auch Gehorsam von Bedeutung (Kinder sollen den<br />

Eltern gehorchen).<br />

Stufe 2<br />

Konfliktverständnis:<br />

Auf diesem Niveau ist eine klare Unterscheidung zwischen dem möglich, was erwünscht (subjektiv)<br />

und dem was richtig (intersubjektiv) ist. Handlungen orientieren sich nun auch an Normen, die man<br />

selbst und andere als berechtigt anerkennen. Diese Normen werden aber noch nicht als<br />

Vereinbarungen verstanden, sondern als etwas absolut Geltendes. Konflikte sind Widersprüche<br />

zwischen dem, was man will, und den geltenden Normen, d.h. es sind Konflikte zwischen Innen und<br />

Außen. Allerdings werden Normen auch bereits als etwas wahrgenommen, mit dem man sich<br />

identifiziert und mit dem einen andere identifizieren, d.h. als Teil der eigenen Identität. So kann das<br />

Kind Schuldgefühle empfinden, wenn es sein Versprechen bricht und die Freundin verletzt. Und es<br />

könnte von der Freundin als ein Mensch gesehen werden, der seine Versprechen bricht, der betrügt.<br />

Auch das ist kein gutes Gefühl. Hinsichtlich des Freundschaftsdilemmas werden also sowohl<br />

subjektive Aspekte (z.B. die Freundin fühlt sich verletzt) als auch normative Aspekte (das Kind hat<br />

ein Versprechen gegeben) zur Sprache gebracht. Beide Aspekte werden als Gründe für eine<br />

Entscheidung angeführt: Das Kind geht zur Freundin, weil es sein Versprechen halten muss, aber<br />

auch, weil die Freundin sonst unglücklich wäre. Auch die Folgen für die Beziehung werden bedacht,<br />

nicht allein die für das Kind. Zur Lösung des Dilemmas genügt es nun nicht mehr, der Freundin die<br />

eigene Entscheidung frühzeitig mitzuteilen. Sie muss dieser Entscheidung zustimmen können. Z.B.<br />

erklärt man ihr, wie toll der Kinofilm ist und dass er zum letzten Mal läuft. Oder man bittet sie, mit<br />

ins Kino zu gehen. Alternativ begründet man den Bruch des Versprechens mit einer Lüge: Man<br />

musste die kranke Großmutter besuchen. Das allerdings kann Schuldgefühle zur Folge haben.<br />

Allgemeines Verständnis von Versprechen:<br />

Ein Versprechen wird als eine Verpflichtung verstanden, die unbedingt verbindlich ist (ein<br />

Versprechen ist immer ein Versprechen). Wer es bricht, ist ein Betrüger.<br />

Allgemeines Verständnis von Beziehungen:<br />

Beziehungen werden qualitativ unterschieden. Enge Beziehungen sind durch ihre langdauernde<br />

gefühlsmäßige Qualität charakterisiert (dass man sich spontan oder schon lange mag), durch<br />

gegenseitige Fürsorge (dass man füreinander da ist, sich hilft, sich verzeiht) und auch durch<br />

Fairness (dass man seine Versprechen hält, Geheimnisse bewahrt und sich nicht betrügt oder<br />

anlügt). In Freundschaften sind gemeinsame (Handlungs-)Interessen (z.B. ähnliche Hobbys) und<br />

Gespräche wichtig.<br />

Stufe 3<br />

Konfliktverständnis:<br />

Auf diesem Niveau sind die Kinder fähig, ihre Freundschaft gleichsam von außen zu betrachten als<br />

eine Beziehung wechselseitiger Erwartungen. Die Erwartungen orientieren sich an beiderseits


akzeptierten Normen (wie Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit, Fürsorglichkeit, Vertrauenswürdigkeit), die<br />

zugleich für die jeweils eigene Identität wesentlich sind. Diese Normen zu verletzen, hat negative<br />

moralische Selbstbewertungen und Schuldgefühle zur Folge und wird vor allem aus diesem Grund<br />

vermieden.<br />

In konkreten Situationen richtet man sein Handeln an der Perspektive des Freundes aus: man<br />

handelt so, wie man möchte, dass der andere es täte ("goldene Regel"). Um die Perspektive des<br />

Freundes nicht mit der eigenen zu verwechseln, muss man miteinander reden. Reden, möglichst<br />

viel vom anderen wissen, gehört zur Freundschaft, weil man nur so moralisch, d.h. wie ein Freund,<br />

handeln kann.<br />

Die Begründung einer Handlung ist immer eine moralische. So wird die Entscheidung, zur Freundin<br />

zu gehen, als notwendig und richtig begriffen wegen des Versprechens, wegen der Beziehung und<br />

wegen der situationsspezifischen Bedürfnislage der Freundin. Die Gründe für die Einhaltung des<br />

Versprechens gegenüber der Freundin resultieren einerseits aus dem Konzept einer allgemeinen<br />

moralischen Glaubwürdigkeit und andererseits aus übergreifenden Beziehungserwartungen, in<br />

denen Vertrauen und Verlässlichkeit eine besondere Bedeutung haben. Allerdings führt die<br />

Entscheidung, zur Freundin zu gehen, auch zu Schuldgefühlen gegenüber dem neuen Kind, das als<br />

jemand gesehen wird, der Anspruch auf Hilfe hat. Die persönliche Beziehung Freundschaft steht in<br />

einem weiteren moralischen Zusammenhang, die moralische Identität endet nicht an den Grenzen<br />

der Freundschaft. Der Bruch eines Versprechens gegenüber der Freundin wird aber als Zerstörung<br />

von Vertrauen und Intimität schwerer gewichtet als die Verletzung der allgemeinen Pflichten<br />

gegenüber dem fremden Kind. Zusammen mit dem dritten Kind ins Kino zu gehen, bedürfte der<br />

begründbaren Zustimmung der Freundin. Auch die Freundin müsste sich in die Lage des im<br />

Entscheidungskonflikt stehenden Freundes versetzen und die goldene Regel anwenden.<br />

Allgemeines Verständnis von Versprechen:<br />

Versprechen gelten als persönlich verbindlich. Während auf dem vorangegangenen Niveau die<br />

Nichteinhaltung von Versprechen im Hinblick auf die Folgen für den Betroffenen bewertet wurde,<br />

steht auf diesem Niveau die Bedeutung der Nichteinhaltung für die eigene moralische Integrität im<br />

Vordergrund (man möchte zu seinem Wort stehen). Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit<br />

gelten als generelle Basis von Beziehungen. Zugleich wird aber gesehen, dass es moralisch<br />

zulässige Gründe dafür geben kann, dass man ein Versprechen nicht hält.<br />

Allgemeines Verständnis von Beziehungen:<br />

Beziehungen definieren sich über die wechselseitig geltenden Normen der Verlässlichkeit und des<br />

Vertrauens. Die gefühlsmäßige Bindung basiert auf Intimität und Verständnis (füreinander da sein,<br />

intime Probleme miteinander besprechen, sich Rat geben) sowie auf emotionaler Verlässlichkeit<br />

(zueinander halten, sich in jeder Situation aufeinander verlassen können). Vertrauen ist ein<br />

zentrales Merkmal aller enger Beziehungen. In Freundschaften ist es zudem wichtig, dass man in<br />

Meinungen oder Einstellungen grundsätzlich übereinstimmt.<br />

Interkulturelle Unterschiede im Freundschaftsverständnis<br />

Bislang gibt es nur wenige systematische Untersuchungen zu den interkulturellen Unterschieden<br />

im kindlichen Verständnis der Freundschaft, zur sozialen Bedeutung der Freundschaft, zu ihren<br />

Formen und zu ihrer Entwicklung (siehe J. Dunn, 2004, und Alisch/Wagner, 2006). Darauf, dass es<br />

solche Unterschiede gibt, deuten sowohl unabhängig voneinander durchgeführte Studien zu<br />

Freundschaftsbeziehungen in verschiedenen Ländern als auch allgemein kulturvergleichende<br />

Forschungen hin. So existieren in modernen westlichen Gesellschaften keine ausdrücklichen<br />

Vorschriften darüber, wer mit wem befreundet sein darf oder sein sollte und was Freunden in ihrem<br />

gegenseitigen Verhalten erlaubt, geboten oder verboten ist. Beispielsweise kann die Äußerung von<br />

Kritik unter Freunden sowohl als Ausdruck des freundschaftlichen Verhältnisses als auch einer<br />

unfreundschaftlichen Illoyalität oder Feindseligkeit gedeutet werden und entsprechend als eher


erwünscht oder unerwünscht gelten. Freundschaft ist weitgehend individualisiert und damit<br />

bilaterale Verhandlungssache. In traditionalen Gesellschaften dagegen können Freundschaften im<br />

Hinblick auf die Auswahl der Freunde, die mit der Beziehung verbundenen Pflichten oder ihre<br />

(zeremonielle oder symbolische) Darstellung gegenüber Dritten, aber auch hinsichtlich ihrer<br />

instrumentellen und expressiven Funktionen in sehr viel höherem Maße sozial normiert sein.<br />

Differenzen im Verständnis von Freundschaft lassen sich auch zwischen einerseits<br />

individualistisch, andererseits kollektivistisch geprägten Kulturen erwarten. Im Hinblick auf diese<br />

(nicht unumstrittene) Unterscheidung haben Monika Keller und Michaela Gummerum (2003)<br />

Besonderheiten des Freundschaftsverständnisses von chinesischen und isländischen Kindern (u.a.<br />

direkt bezogen auf das Freundschaftsdilemma) untersucht. Hier einige ihrer Resultate:<br />

• Unter den Gesichtspunkten, die Freundschaft für ein chinesisches Kind zu einer besonders<br />

erstrebenswerten Beziehung machen, steht die soziale Definition des Individuums in<br />

vorderster Reihe: ohne Freundschaft hat das Leben keinen Sinn, ohne Freundschaft steht<br />

man allein im Leben, ohne Freunde hat man keinen festen Platz in der Gesellschaft.<br />

• Freunde sind unentbehrlich, um moralisch leben zu können: ein Mensch ohne Freundschaft<br />

ist kein guter Mensch; ohne Freunde weiß man nicht, was zu tun richtig oder falsch ist;<br />

Freunde hindern einen, das Falsche zu tun; oder sie helfen einem, die falsche Handlung zu<br />

korrigieren und die Verantwortung für sie zu tragen.<br />

• Chinesische Kinder zeigten im Unterschied zu isländischen Kindern (und allgemein Kindern<br />

in individualistischen Kulturen) eine sehr hohe Übereinstimmung zwischen moralischem<br />

Urteil (im Freundschaftsdilemma z.B. das Einhalten des Versprechens) und Verhalten (z.B.<br />

der Entscheidung, zur Freundin zu gehen). Allgemein werten Entwicklungspsychologen die<br />

Konsistenz zwischen Urteil und Verhalten als Zeichen moralischer Reife.<br />

• In den Begründungen ihrer Urteile greifen isländische Kinder über alle Altersstufen hinweg<br />

zu egoistischen Argumenten (z.B. begründen sie ihre Entscheidung, mit dem neuen Kind ins<br />

Kino zu gehen, damit, dass das mehr Spaß macht), während chinesische Kinder prosozial<br />

(altruistisch) argumentieren (z.B. würden sie, eigenen Aussagen nach, mit dem neuen Kind<br />

ins Kino gehen, weil es sich fremd fühlt und Unterstützung braucht).<br />

• In ihrem Konfliktlösungsverhalten tendieren chinesische Kinder deutlich zu einem (durch<br />

Kommunikation zu erzielenden) Konsens, während die isländischen Kinder häufig<br />

strategisch agieren (z.B. zu Lügen greifen, um einen Konflikt zu vermeiden oder zu ihren<br />

Gunsten zu lösen).<br />

Keller und Gummerum weisen darauf hin, dass sich die interkulturellen Unterschiede zwischen den<br />

von ihnen untersuchten Kindern im Entwicklungsverlauf abschwächen und z.T. auch verschwinden.<br />

Die Freundschaftskonzepte jüngerer Kinder unterscheiden sich also deutlicher als die älterer.<br />

Die zugrundeliegende Unterscheidung zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen<br />

findet auch in weiteren Beziehungsaspekten ihren Niederschlag, z.B. in der Bewertung der<br />

Konkurrenz, der Zuschreibung von Verantwortung oder im Ausdruck von Emotionen. Die Vermutung<br />

liegt nahe, dass die in einer eher kollektivistischen Kultur vorherrschende Orientierung an<br />

Gruppenbeziehungen die Intensität und Intimität von Freundschaften eher behindert, umgekehrt<br />

aber altruistische Orientierungen und moralische Reife fördert. Das wechselseitige Zugeständnis<br />

von Autonomie, das Selman zufolge das höchste Niveau der Freundschaft kennzeichnet, erscheint<br />

dabei aus kollektivistischer Sicht nur bedingt erstrebenswert.<br />

Für das Philosophieren mit Kindern aus unterschiedlichen Herkunftskulturen könnte es eine<br />

spannende und lohnende Aufgabe sein, interkulturelle Unterschiede im Freundschaftsverständnis<br />

aufzuspüren und zu thematisieren – lohnend u.a. darum, weil so Erwartungsunterschiede der<br />

Kinder für diese selbst verdeutlicht und die Kommunikation über Beziehungen angeregt und<br />

sprachlich instrumentiert werden kann.


Literatur<br />

Lutz-Michael Alisch, Jürgen Wagner (Hrsg.), Freundschaften unter Kindern und Jugendlichen.<br />

Interdisziplinäre Perspektiven und Befunde, Weinheim, München 2006<br />

William Damon, Zur Entwicklung der sozialen Kognition des Kindes, in: Wolfgang Edelstein, Monika<br />

Keller (Hrsg.), Perspektivität und Interpretation. Beiträge zur Entwicklung des sozialen Verstehens,<br />

Frankfurt/M. 1982, S. 110–145<br />

Judy Dunn, Children's Friendships. The Beginnings of Intimacy, Malden, Oxford, Carlton 2004<br />

Monika Keller, Freundschaft und Moral. Zur Entwicklung der moralischen Sensibilität in<br />

Beziehungen, in: Hans Bertram (Hrg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie,<br />

Frankfurt/M. 1986<br />

Monika Keller, Moralische Sensibilität. Entwicklung in Freundschaft und Familie, Weinheim 1996<br />

Monika Keller, A Cross-Cultural Perspective on Friendship Research, ISBBD Newsletter, Serial No.<br />

46(2), 10–11, 14<br />

Monika Keller, Michaela Gummerum, Freundschaft und Verwandtschaft. Beziehungsvorstellungen<br />

im Entwicklungsverlauf und im Kulturvergleich, sozialer sinn, 1/2003, 95–121.<br />

Lothar Krappmann, Amicitia, drujba, shin-yu, philia, Freundschaft, friendship: On the cultural<br />

diversity of a human relationship, in: William M. Bukowski et al. (Hrsg.), The company they keep.<br />

Friendship in childhood and adolescence, Cambridge 1996, S. 19–40<br />

Robert Selman, Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Entwicklungspsychologische und<br />

klinische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1982<br />

Robert Selman, The Child as a Friendship Philosopher, in: Steven Asher, John Gottman (Hrsg.), The<br />

development of children's friendship, Cambridge 1981, S. 242–272<br />

Harald Uhlendorff, Soziale Integration in den Freundeskreis. Eltern und ihre Kinder, Max-Planck-<br />

Institut für Bildungsforschung, Materialien aus der Bildungsforschung Nr. 52, 1995<br />

Karin Wehner, Freundschaften unter Kindern, in: Karl Lenz, Frank Nestmann (Hrsg.), Handbuch<br />

Persönliche Beziehungen, Weinheim 2009, S. 403–422<br />

http://www.ki-p.de/print/content/Das-Freundschaftsverst-ndnis-von-Kindern


FREUNDSCHAFT<br />

Kulturtasche: Zoran, ein großes Thema deiner Bücher ist Freundschaft. Wodurch zeichnet sich<br />

für dich persönlich Freundschaft aus?<br />

Ich bin ja nicht gerade ein Familienfreund. Meine Eltern und mein Familienzusammenhalt waren<br />

nicht das, was man als blendend bezeichnen würde. So dass sich bei mir alles auf meine Freunde<br />

verlagert hat. Freundschaften haben meine Familie ersetzt und das führt auch dazu, dass ich den<br />

Deal mit meinem Freund Gregor gemacht habe. Obwohl Gregor und ich uns damals kaum gekannt<br />

haben, warfen wir unser Geld in einen Topf. Gregor fuhr Taxi für mich, damit ich schreiben konnte.<br />

Meine Stipendien hielten ihn zwischenzeitlich über Wasser. Wir glaubten aneinander. Ohne die uns<br />

angeborene Naivität hätten wir das nie getan.<br />

Es gibt Freundschaften, da ist einfach alles da. Da kannst du machen, was du willst. Wenn du<br />

Scheiße baust, dann ist das o.k. Diese Freundschaften gehen für mich viel weiter als diese<br />

Familienbanden, in denen "alle zusammenhalten müssen", das stimmt einfach nicht. Familien<br />

können genauso kaputt gehen wie Freundschaften. Und ich fühle mich mit Freundschaften einfach<br />

wohler.<br />

Können Freundschaften umgekehrt nicht genauso beklemmend werden wie die Familie?<br />

Nee. Ich kann ja nur von meinen Freundschaften reden. Ich hab zwar wenig Freunde, vielleicht eine<br />

Handvoll, aber diese Leute sind für mich alles. Es kann nicht beklemmend werden, weil sie viel von<br />

mir wollen und das ist die Basis einer Freundschaft - jemand will was von dir, er will dich, wie du bist<br />

und mit allen Träumen, Hoffnungen und Ängsten. Was willst du schon von der Familie oder die<br />

Familie von dir? Da bist du eine Selbstverständlichkeit. Eben Familie. Da verlangt man von dir das<br />

übliche – mach die Schule, finde einen Ehepartner, arbeite vernünftig und stirb friedlich. Ich hasse<br />

das Traditionelle, weil ich finde, jede Generation muss ihren eigenen Weg gehen und eine eigene<br />

Tradition aufbauen.<br />

http://www.rossipotti.de/ausgabe16/kulturtasche.html


Warum brauchen Kinder Freunde?<br />

Renate Valtin und Reinhard Fatke<br />

Was Experten meinen<br />

Fachleute aus Psychologie, Soziologie und Pädagogik sind sich darin einig, dass Freundschaft<br />

für die kognitive, soziale und moralische Entwicklung des Kindes eine wichtige Rolle spielt<br />

und eine wesentliche "Sozialisationsinstanz" darstellt (Youniss 1982, Krappmann 1987). Bei<br />

der notwendigen Ablösung der Kinder von den Eltern sind die Gleichaltrigen, speziell die<br />

Freunde, von großer Bedeutung, weil die besondere Struktur dieser Beziehung auch besondere<br />

Herausforderungen an das Kind stellt. Während die Beziehung des Kindes zu seinen<br />

Eltern durch Über- und Unterordnung, durch Autorität und Gehorsam charakterisiert ist, sind<br />

Freundschaftsbeziehungen - in denen sich in der Regel Gleichaltrige des gleichen Geschlechts<br />

zusammenfinden – eher durch Gleichheit, Gleichrangigkeit und Gegenseitigkeit gekennzeichnet.<br />

Freundschaftsbeziehungen<br />

• geben Anstöße zur kognitiven Entwicklung, indem sie mithelfen, den Egozentrismus des<br />

• Kindes zu überwinden ,<br />

• sind ein Ort der Herausforderung und ein Übungsfeld für sich entwickelnde soziale<br />

Verhaltensweisen,<br />

• liefern aufgrund der Ähnlichkeit und Gleichrangigkeit der Kinder Verhaltens- und<br />

Bewertungsstandards<br />

• und bieten damit eine Orientierungssicherheit,<br />

• sind eine Quelle der Anerkennung, aber auch der Kritik und Zurückweisung und ermöglichen<br />

• dem Kind, ein realistisches Selbstbild zu entwickeln,<br />

• tragen dazu bei, sich Maßstäbe zu erarbeiten und Normen vereinbaren zu können, und<br />

• helfen dem Kind, moralische Standards zu entwickeln, die an den Prinzipien der Gleichheit,<br />

• Wechselseitigkeit und Fairness orientiert sind.<br />

Was Kinder und Jugendliche meinen<br />

Vivian (5 Jahre): „Freunde braucht man, sonst kann man zum Geburtstag auf einmal keinen<br />

einladen.“<br />

Jörg (8 Jahre): „Wenn einer mit mir stänkert und so, und ich will was bauen, und er macht mir<br />

das alles kaputt, dann hilft der Freund mir bei, den zu kloppen. Wenn’s zwei sind, dann hilft<br />

er mir.“<br />

Ali (18 Jahre): „Na, wenn es irgendwie Streitereien gibt mit anderen oder so, dann kann man<br />

mit denen wenigstens, mit denen was unternehmen und so was alles.“ Und auf die Frage, was<br />

es denn heiße, etwas unternehmen, erläutert er: „Weggehen, Scheiße bauen ... Wenn sich irgend<br />

jemand mit mir schlagen will und ich schaff’s nicht, dass der mir dann hilft.“<br />

Dies sind beispielhaft einige Äußerungen von Kindern aus einer größeren Studie zu<br />

Freundschaftskonzepten.<br />

Befragt wurden rund 100 Kinder und Jugendliche in Einzelgesprächen von<br />

jeweils 30 bis 45 Minuten Dauer. Die offen formulierten Fragen (nach Selman 1984) konzentrierten<br />

sich auf folgende Bereiche: Wie entstehen Freundschaften? Welche Motive liegen der<br />

Freundschaft zugrunde? Wodurch zeichnet sich ein idealer Freund/eine ideale Freundin aus?<br />

Gibt es Streit in der Freundschaft? Wie entsteht er, und wie wird er geschlichtet? Welche<br />

Rolle spielt Vertrauen. Wodurch gehen Freundschaften auseinander? Welche Beziehungen<br />

existieren zwischen Freundschaft und Liebe?<br />

Im Folgenden analysieren wir unsere Daten genauer nach Anzahl und Geschlecht der Freunde,<br />

Persönlichkeitsmerkmalen der Freunde und vor allem nach Motiven und Bedeutung der


Freundschaft. Da sich die Studie auch auf Erwachsene bezog, sollen sie an einigen Stellen<br />

ebenfalls zu Wort kommen, um zu illustrieren, wie die Entwicklung der Freundschaftskonzepte<br />

verläuft (detaillierte und ausführliche Auswertungen dazu in Valtin/Fatke 1997).<br />

Anzahl und Geschlecht der Freunde<br />

Die Frage „Hast du einen besten Freund/eine beste Freundin?“ bejahten - mit verschwindend<br />

geringen Ausnahmen - alle befragten Personen. Die Kinder haben in der Regel die meisten<br />

Freunde, nehmen es aber nicht so genau. Jens (6 Jahre) sagt: „Viel, viel, sehr viele ... kann ich<br />

gar nicht alle nennen.“ Kerstin (6 Jahre) nennt eine bunte Mischung von Freunden: „Thorsten,<br />

Katharina, nochmals Katharina, zwei Katharinas. Dann, wir haben ‘ne Erzieherin, die heißt<br />

Hanna, die ist ganz nett. Und Mutti und Papi und unsere Katze.“ - Freunde sind für Kinder<br />

offenbar alle die Menschen (oder auch Tiere), die zu ihnen nett sind. Bei diesem Kriterium ist<br />

es nicht verwunderlich, wenn Freunde rasch wechseln.<br />

Mit steigendem Alter nimmt die Zahl der Freunde zunächst ab. Die Acht-, Zehn- und insbesondere<br />

die Zwölfjährigen nennen in der Regel nur noch einen „besten Freund“ (und dazu mehrere andere<br />

Freunde), strikt begrenzt auf das eigene Geschlecht. - Jugendliche zwischen<br />

16 und 18 Jahren geben in der Mehrzahl der Fälle wieder mehrere Freunde an, die häufig eine<br />

zusammengehörige Freundesgruppe (Clique) bilden und meist dem eigenen Geschlecht angehören.<br />

Eine Ausschließlichkeit der Freundschaftsbeziehung ist nicht gegeben; die richtet sich<br />

jetzt vielmehr bereits auf die ersten Liebesbeziehungen.<br />

Ähnlich oder verschieden?<br />

Was sind das für Menschen, die man zu Freunden wählt? Gibt es Differenzmuster? In dem<br />

Sprichwort „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ ist offenbar die Lebenserfahrung gebündelt,<br />

dass Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen - hinsichtlich Alter, Herkunft, Interessenlage,<br />

Einstellungen - für das Zusammenkommen von Freundschaftsbeziehungen ausschlaggebend<br />

sind. Ihr entgegen steht allerdings die andere Lebenserfahrung, die in dem Sprichwort „Gegensätze<br />

ziehen sich an“ ausgedrückt ist. Ist Verschiedenheit in den genannten Bereichen das<br />

haltbarere Fundament für Freundschaftsbeziehungen - in dem Sinne, dass nur sie die Chance<br />

zu einer spannungsvollen Lebendigkeit und zur gegenseitigen Erweiterung der eigenen<br />

Lebensmöglichkeiten bieten?<br />

Für Kinder ist die Frage ganz klar: Freunde sind vor allem solche Gleichaltrigen, die genauso<br />

sind wie sie selbst. Anja wünscht sich ihre Freundin „klein ... so wie ich, damit wir uns<br />

gegeneinander verstehen.“ Oder Markus meint: „Mein Freund soll so sein, wie ich bin. Er muss<br />

mit mir spielen ... Playmobil, das ist mein liebstes Spielzeug.“ Die Jugendlichen streichen ebenfalls<br />

die Gemeinsamkeiten heraus, jedenfalls zunächst: Gleiche Interessen, gleiche Hobbys, gleiche<br />

Wellenlänge werden genannt; Ulli (17 Jahre) meint: „Wenn man gleiches Alter ungefähr hat, gleiche<br />

Interessen, vielleicht auch die gleichen Probleme, dann findet man halt zueinander.“ - Sunny (18<br />

Jahre) drückt ihre Ansicht folgendermaßen aus: „Und man muss möglichst viel zusammen<br />

machen können, also die Eigenschaften müssen übereinstimmen, die Interessen.“ - Axel (28 Jahre)<br />

meint: „Na, weil Interessenlagen ja irgendwie in gleicher Richtung sein müssen. Ja.<br />

Interessenlagen. Einstellungen zu irgendwelchen politischen Tages-, ja tagespolitischen oder<br />

sportlichen oder sonst was – Einstellung muss irgendwo gleich sein.“ Viele Jugendliche<br />

differenzieren jedoch zumeist gleich im Anschluss an solche Überlegungen. Ulli (17 Jahre)<br />

beispielsweise fährt fort: „Ich finde also irgendwie, gleiche Eigenschaften wie ich selbst, das ist<br />

irgendwie langweilig. Ich finde, er sollte das machen, was ihm halt Spaß macht. Wenn’s gut ist,<br />

interessier’ ich mich auch dafür. Aber er soll so sein, wie er ist.“ Und Friederike (17 Jahre) meint: „...<br />

dass wir halt viele Gemeinsamkeiten haben, gemeinsame Ansichten vielleicht. Das muss aber nicht<br />

so sein. Es kann auch sein, dass man konträre Ansichten hat oder dass man sich irgendwie ergänzt<br />

..., dass man sich nicht miteinander langweilt.“ Hier tritt bereits der Aspekt der Ergänzung hervor -<br />

einer Ergänzung, die als notwendig empfunden wird, einerseits um der Eintönigkeit und Langeweile


zu entgehen, die sich bei allzu großer Übereinstimmung einzustellen droht; andererseits aber um<br />

Anregungen durch andere Ansichten, Widerspruch, Korrekturen zu erhalten, die allein zur<br />

Erweiterung des eigenen Horizonts wie auch zur Bereicherung der Lebenserfahrung führen können.<br />

Dieser Aspekt steht bei den Erwachsenen noch stärker im Vordergrund. Stellvertretend sei<br />

Christine (34 Jahre) zitiert: „Ich würde nicht mal sagen, dass er oder sie unbedingt so sein<br />

muss wie ich. Ganz im Gegenteil, ich finde, er oder sie sollte auch gewisse Bereiche ergänzen,<br />

wo ich vielleicht unsicher bin. Zwei meiner Freundinnen, die leben ein vollkommen anderes<br />

Leben als ich. Und da finde ich eigentlich immer eher anregend, muss ich sagen, mich<br />

auch mal mit dem auseinander zu setzen, dass die eben ganz andere Ansichten, über Familie<br />

und Kinder und so was, haben. Von daher, glaube ich, muss so eine Freundschaft, um überhaupt<br />

vital zu sein, irgendwo auch so’n bisschen kontrastreich sein.“ In dieser Äußerung wird deutlich,<br />

dass Freunde auch Gegenpart sein können und sollen, weil dies eine produktive Spannung ergibt,<br />

die zur Erweiterung der Identität, zur Sicherung des Selbst führen kann. Gleichwohl wird an einer<br />

Übereinstimmung in Grundlagenfragen und Grundansichten festgehalten. In den Präferenzen für<br />

die Persönlichkeitsmerkmale der Freunde sind auch bereits Hinweise auf die Bedeutung enthalten,<br />

die Freundschaft für das Leben im Ganzen und die Entwicklung der Persönlichkeit im Besonderen<br />

hat. Solche Hinweise sind in den Äußerungen der befragten Personen vielfach eher verschlüsselt<br />

oder indirekt vorhanden, als dass sie explizit gemacht würden.<br />

Motive der Freundschaft<br />

Um die von den befragten Personen genannten Bedeutungen von Freundschaft zu ordnen,<br />

scheint es sinnvoll, vier Aspekte zu unterscheiden, die sich zwar in der Realität häufig überlagern;<br />

manche Freundschaften aber haben jeweils in einem dieser Aspekte ihre wesentliche<br />

Begründung: 1. ein pragmatisch-utilitaristischer Aspekt, 2. ein sozialer Aspekt, 3. ein personaler<br />

Aspekt und 4. ein emotionaler Aspekt. Diese Aspekte haben eine je unterschiedliche<br />

Gewichtung und je verschiedenartige Inhalte auf den jeweiligen Altersstufen.<br />

Pragmatisch-utilitaristische Gesichtspunkte sind für die jüngeren Kinder das wichtigste<br />

Motiv für eine Freundschaft. Alle Fünfjährigen und fast alle Sechsjährigen sagen, einen<br />

Freund brauche man zum Spielen. Von acht Jahren an wird der Freund auch als Helfer in<br />

schwierigen Situationen wichtig, zum Beispiel, wenn man von anderen bedroht oder verhauen<br />

wird, wenn man eine schwere Tasche tragen muss, wenn man seine Schularbeiten nicht bewältigt<br />

oder sonstwie in der Klemme steckt. Kinder nennen häufig körperliche Notlagen,<br />

Jugendliche und Erwachsene seelisch-moralische Problemsituationen, in denen sie vom<br />

Freund Beistand und Unterstützung erwarten. Dennoch finden sich manchmal auch noch bei<br />

Jugendlichen zum Beispiel ganz konkrete Motive pragmatisch-utilitaristischer Natur.<br />

Beim sozialen Aspekt geht es zunächst einmal um den Freund als Gesellschafter und Unterhalter<br />

und als Mittel gegen das Alleinsein. Vor allem die Sechsjährigen betonen: „Es ist so<br />

langweilig, allein zu sein oder allein zu spielen; deshalb brauche ich einen Freund.“ - Bei den<br />

Jugendlichen spielt dieser Gesichtspunkt ebenfalls eine große Rolle, sie äußern sich jedoch<br />

eher allgemein und pauschal: „Sonst ist man so allein und weiß nie, was man machen soll.“<br />

„Freunde braucht man einfach, damit man nicht allein durchs Leben gehen muss.“<br />

Alleinsein - das ist insbesondere im Jugendalter, eine existentielle Grunderfahrung. Im Alleinsein<br />

wird sowohl das eigene Einmalig-Sein als auch Einsamkeit erfahren. In der Polarität<br />

von Selbsterfahrung als Individuum und einer zukunftsgerichteten Gemeinsamkeit entfaltet sich<br />

nun die besondere Freundschaft im Jugendalter. - Bei den Erwachsenen sind es vor allem die<br />

Frauen, die auf dieses Einsamkeitsmotiv verweisen. Offenbar sind sie eher als Männer bereit, sich<br />

(und der Interviewerin) diese Gefühle einzugestehen. Ferner geht es beim sozialen Aspekt der<br />

Freundschaft darum, dass ein oder mehrere Freunde einen geschützten sozialen Nahraum bieten,<br />

der Sicherheit, Verlässlichkeit und Stabilität garantiert. Auf jeder Altersstufe wird dieser Nahraum<br />

anders konzipiert. Für die Fünf- und Sechsjährigen sind vor allem die äußeren Verhaltensweisen<br />

des Freundes wichtig: Der Freund soll vor allem „nett“ sein, in dem Sinne, dass er keine aggressiven


Verhaltensweisen zeigt (Sebastian: „Nicht böse, nicht hauen“; Guido: „Nicht rumtoben oder alle<br />

Sachen so ‘rumschmeißen„; Robert: „Nicht so grantig, nicht wie Theo, der faucht mich immer an„;<br />

Mirra: „Nicht immer stänkern“). Auch Achtjährige wünschen sich in den meisten Fällen einen<br />

„netten“ Freund, der ihren Bedürfnissen dient. Die häufigsten Erwartungen an den Freund lauten:<br />

„Er muss lieb zu mir sein; er soll immer zu mir kommen, mich abholen und spielen, was ich<br />

möchte.“ Bei den Zehn- und Zwölfjährigen drückt sich die vom Freund erwartete Sicherheit und<br />

Verlässlichkeit darin aus, dass er einerseits freundlich, hilfsbereit, verträglich und umgänglich und<br />

andererseits verschwiegen sein soll: Er darf nicht petzen und keine Geheimnisse verraten. Vor allem<br />

Jungen betonen diesen Gesichtspunkt des Zusammenhaltens und Dichthaltens, die<br />

Komplizenschaft: Alexander (12 Jahre) führt aus: „Er soll keine Geheimnisse verbreiten, dass er zu<br />

einem hält, irgendwie treu muss er schon sein. Dass er zu einem hält, wenn man etwas anstellt,<br />

dass er es nicht einfach verrät. Und dass man, wenn es irgendwie herauskommt, auch zugibt, dass<br />

man dabei war. Und dass man sich nicht einfach drückt und sagt, der hat das alleine gemacht –<br />

Freunde, die eigentlich gar nicht zu einem halten, von denen halte ich nicht viel.“ Für die Mädchen<br />

unserer Stichprobe ist die Freundin eine verschwiegene, verständnisvolle Gesprächspartnerin, der<br />

sie Probleme anvertrauen können, die sie nicht mit anderen, zum Beispiel mit der Mutter,<br />

besprechen möchten. Im Gegensatz zu den Jungen, für die eher die komplizenhafte Solidarität<br />

zählt, betonen die Mädchen also die Verlässlichkeit im Austausch persönlicher Belange. Für<br />

Jugendliche und Erwachsene bedeutet die Freundschaft einen Rückhalt in ihrem Leben, „eine<br />

Stütze im Leben“; sie verleiht ihnen Sicherheit und Stabilität. Viele betonen, dass es nicht so<br />

wichtig sei, dass Freunde konkret etwas für einen tun, sondern wichtiger sei das Gefühl, dass sie<br />

einfach nur da sind, dass man auf ihre Zuverlässigkeit zählen könne. Sabine (36 Jahre) meint:<br />

„Also, ich brauche einfach Freunde um mich herum. Ich könnte nicht nur mit einem Partner leben.<br />

Das würde mir nicht reichen. Ich brauche einfach Leute um mich, bei denen ich mich sicher und<br />

wohl fühle. Das gibt so eine Sicherheit, die ich im Hintergrund habe.“<br />

Parallel zu den unterschiedlichen Auffassungen, wie sich der sichere soziale Nahraum herstellen<br />

lässt, entwickelt sich der Begriff von Vertrauen. Während fünfjährige Kinder mit<br />

diesem Wort noch gar nichts anfangen können, beziehen sich Sechs- und Achtjährige eher auf<br />

äußere Verhaltensweisen: Erich sagt zum Beispiel: „Vertrauen ist, wenn du viel Geld dabei<br />

hast und keine Tasche und der Freund eine große Tasche hat, und du gibst es ihm, und er gibt<br />

es dir hinterher wieder.“ - Und Günther mit seinen 35 Jahren sagt: „Ich würde ihm mein neues<br />

Motorrad leihen. weil ich weiß, er behandelt es so gut, wie ich es tue.“<br />

Vertrauen, das vom Alter mit zwölf Jahren an als wichtigste Voraussetzung für Freundschaft<br />

begriffen wird, bezieht sich mit wachsendem Lebensalter auf unterschiedliche Bereiche: Bei<br />

den Zwölfjährigen ist es das Bewahren von Geheimnissen, bei Jugendlichen und Erwachsenen<br />

das Nicht-Weitersagen intimen Wissens. Zugleich differenziert sich das Konzept, so dass neben<br />

dieser Verschwiegenheit für Jugendliche und Erwachsene zunehmend die Zuverlässigkeit<br />

und Loyalität des anderen wichtig wird („Er steht zu seinem Wort und hält zu mir“). Beim<br />

personalen Aspekt der Freundschaft geht es darum, dass Freundschaft eine Intimsphäre<br />

schafft, die der Identitätsfindung und Identitätssicherung dient. Diese Momente gewinnen<br />

erst bei den Jugendlichen und Erwachsenen an Bedeutung: Dem Austauschen von intimen<br />

Gedanken, Gefühlen, Ängsten, Sorgen wird hauptsächlich von den Jugendlichen eine<br />

psychohygienische Bedeutung zugemessen („sich alles von der Seele reden können“). Thomas (18<br />

Jahre) meint: „Es ist wichtig, einen Freund zu haben, weil man nicht immer alles in sich<br />

‘reinfressen kann. Man muss sich mal mit jemandem unterhalten können.“ Und Friederike (17 Jahre)<br />

sagt: „Also, irgendwie erlebt man den ganzen Tag ziemlich viel, und irgendwem musst du das ja<br />

auch erzählen. Na ja, also sonst würdest du manchmal platzen.“ Der wechselseitige Austausch<br />

intimer Gedanken und Probleme enthält ferner die Chance zur Selbsterkenntnis und zur<br />

persönlichen Weiterentwicklung. Aus den Aussagen vieler Jugendlicher wird deutlich, dass eine<br />

Freundschaftsbeziehung zur Identitätssicherung und Persönlichkeitsentfaltung beitragen kann.<br />

Unterstrichen wird dies durch Äußerungen wie „Ich kann so sein, wie ich bin, und der andere kann


so sein, wie er ist.“ Wenn man bedenkt, dass Jugendliche in diesem Alter - nach Auflösung der<br />

vorher geltenden, an den Eltern gebildeten Orientierungen – noch auf der Suche nach einer neuen,<br />

eigenen Identität sind, dann ist dies zugleich ein Hinweis darauf, dass ein persönlicher und sozialer<br />

Raum gesucht wird, in dem ein neues Selbstsein ausprobiert werden kann, ohne Angst davor haben<br />

zu müssen, sich Blößen zu geben. Die Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit sind in dieser<br />

Entwicklungsphase ganz besonders groß. Um so wichtiger ist es, jemanden zu haben, der einen<br />

voll und ganz akzeptiert. Emotionale Aspekte, die die Freundschaft begründen und begleiten,<br />

spielen auf jeder Altersstufe eine Rolle. Sie kommen zum Ausdruck in Wendungen wie „sich<br />

mögen, sich gern haben, sympathisch sein“ und Ähnliche. Während bei Kindern diese positiven<br />

Gefühle überwiegend daran gebunden sind, dass die Freunde ihnen ähnlich sind und hauptsächlich<br />

das tun, was sie gern möchten - das ist der Prüfstein, ob der/die andere als „nett“ eingeschätzt wird<br />

-, entwickeln sich im Jugendalter tiefergehende Gefühle von Zuneigung und Bindung. Diese bilden<br />

einerseits ein Gegenmittel gegen die bereits erwähnte Einsamkeitserfahrung und sind andererseits<br />

mit Verletzlichkeit verknüpft und von Verlustängsten begleitet. Dabei geht es nicht nur um die<br />

bange Frage, ob man von anderen akzeptiert und gemocht wird, sondern auch darum, ob und wie<br />

man selbst in der Lage ist, einem anderen Zuneigung entgegenzubringen und die eigenen Gefühle<br />

in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und manchmal auch Widersprüchlichkeit offen zu zeigen. Einer<br />

Person vom gleichen Geschlecht gegenüber emotionale Zuwendung auszudrücken, ohne sich in<br />

homoerotischen Irritationen zu verfangen, ist anscheinend genauso schwierig, wie einer Person<br />

vom anderen Geschlecht Zuneigung zu offenbaren, ohne gleich in Liebeswirrungen zu stürzen. Für<br />

die Differenzierung der Gefühle, so lässt sich sagen, leisten Freundschaften einen unentbehrlichen<br />

Dienst. Zweifellos sind sie in diesem Sinne auch, zumindest im Jugendalter, so etwas wie ein<br />

Übungsfeld für Liebesbeziehungen. Die meisten Jugendlichen sind der Meinung, dass für sie die<br />

Liebe alles das enthält, was auch in der Freundschaft wichtig ist – und was sie zunächst darin<br />

erfahren haben –, und außerdem noch etwas Entscheidendes hinzukomme, die körperliche<br />

Intimität. Zwar sagen die Jugendlichen in der Mehrzahl, dass sie ihre Freundschaften nicht<br />

aufgeben, wenn sie eine Liebesbeziehung eingehen, aber dass jene doch deutlich hinter diese<br />

zurücktreten und an Bedeutung verlieren. Der/die Partner/in in der Liebe erfüllt nun die wichtigsten<br />

Funktionen, die vormals die Freunde erfüllt haben; außerdem wird die Zeit zur Pflege der<br />

Freundschaften jetzt knapp, und schließlich tauchen auch immer wieder Probleme auf, wenn<br />

die Freunde die Partnerin oder den Partner nicht akzeptieren oder umgekehrt.<br />

Alterstypische Grundmuster<br />

Betrachten wir zusammenfassend die Bedeutung der Freundschaft für die Befragten unserer<br />

Stichprobe, so ergeben sich altersabhängig jeweils typische Grundmuster: Für die Fünf- und<br />

Sechsjährigen begründet sich Freundschaft im momentanen Miteinander-Spielen, und vom Freund<br />

oder der Freundin wird im wesentlichen verlangt, dass er oder sie nett sei und gut spielen könne.<br />

Für die Achtjährigen ist die Freundschaft eine einseitige, zweckorientierte Beziehung: der oder die<br />

andere soll möglichst das spielen oder tun, was ich möchte, und muss nett zu mir und verträglich<br />

sein. Bei den Zehn- und Zwölfjährigen ist die Freundschaft eher eine wechselseitige Beziehung, die<br />

der Verfolgung gemeinsamer Aktivitäten und der gegenseitigen Unterstützung in Notlagen dient.<br />

Freunde sollen deshalb im wesentlichen vertrauenswürdig, solidarisch und verträglich sein. Bis zu<br />

diesem Alter ist der Freund eher durch äußere Verhaltensweisen gekennzeichnet: besondere<br />

Charaktereigenschaften werden von ihm nicht verlangt. Erst bei unseren Jugendlichen, die<br />

Freundschaft als wechselseitigen Austausch von intimen Gedanken und Problemen ansehen,<br />

gewinnt der Freund auch eine charakterliche Kontur: Er soll ehrlich, zuverlässig, vertrauenswürdig,<br />

taktvoll und sensibel sein. - Bei einigen Erwachsenen deutet sich eine Konzeption von Freundschaft<br />

an, die Raum lässt für Autonomie und Distanz und auf diese Weise als Medium der Erweiterung des<br />

eigenen Lebenspotentials betrachtet wird. Herbert (51 Jahre) sagt: „Zur Freundschaft gehört auch,<br />

dem anderen seinen Freiraum, seine Autonomie zu lassen.“ Die schon im Jugendalter zu<br />

beobachtenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden mit zunehmendem Alter noch


deutlicher, wobei sich auch Differenzen zwischen Personen aus Ost- und Westdeutschland<br />

abzeichnen (Valtin/ Fatke 1997).<br />

Literatur:<br />

Krappmann, L.: Kinder lernen mit und von Gleichaltrigen - auch in der Schule?, Die<br />

Grundschulzeitschrift 2, 1987, 42-46<br />

Selmann, R. L.: Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Entwicklungspsychologische und<br />

klinische Untersuchungen. Frankfurt 1984<br />

Valtin, R./Fatke, R.: Freundschaft und Liebe. Persönliche Beziehungen im Ost/West- und im<br />

Geschlechtervergleich. Donauwörth: Auer 1997<br />

Youniss, J.: Die Entwicklung und Funktion von Freundschaftsbeziehungen. In: Edelstein, W./<br />

Keller, M. (Hrsg.): Perspektivität und Interpretation. Frankfurt 1982<br />

http://www.familienhandbuch.de/cms/Erziehungsfragen-Freunde.pdf


Entwicklungspsychologie "Freunde sind Entwicklungshelfer"<br />

Die Psychologin Maria von Salisch erforscht Kinderfreundschaften. Im Gespräch mit Claudia<br />

Wüstenhagen erklärt sie, wie durch frühe Bindungen das moralische Bewusstsein gebildet wird.<br />

ZEIT Wissen: Ab wann nehmen Kinder einander als Freund wahr?<br />

Maria von Salisch: Den Begriff verwenden sie schon relativ früh, etwa mit drei bis vier Jahren.<br />

ZEIT Wissen: Was für ein Verständnis haben sie da von Freundschaft?<br />

von Salisch: Freundschaft bedeutet zunächst einmal Nähe, nicht im psychologischen Sinne,<br />

sondern im Sinne von nahe wohnen und oft spielen. Und wenn Kinder sagen: »Gestern war Max<br />

mein Freund, aber heute nicht«, dann zeigt das, dass sie ein sehr verhaltensbezogenes Konzept<br />

von Freundschaft haben: Freunde sind nett. Und wenn jemand mal nicht nett ist, dann kann er<br />

logischerweise kein Freund sein. Aber das ändert sich schnell wieder. Gerade junge Kinder sind<br />

Meister der Versöhnung.<br />

Maria von Salisch ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Leuphana Universität<br />

Lüneburg. Schon seit ihrer Promotion erforscht sie Kinder- und Jugendfreundschaften.<br />

ZEIT Wissen: Welchen Einfluss haben die Freunde der Kindheit auf die Persönlichkeitsentwicklung?<br />

von Salisch: Sie bieten eine gute Möglichkeit, Sozialkompetenz und ein moralisches Bewusstsein<br />

zu entwickeln. Denn Freunde stellen einander vor moralische Probleme – sie tun nicht immer das,<br />

was sie aus Sicht des anderen tun sollten. Manchmal halten sie eine Verabredung nicht ein oder<br />

treffen sich lieber mit einem anderen Kind, obwohl ihr lang bewährter Freund vielleicht gerade in<br />

Not ist. Es gibt also Dilemmata: Was ist richtig oder falsch? Was ist fair? Was verletzt den anderen?<br />

Wie kann ich etwas wiedergutmachen? An diesen Fragen reifen Kinder.<br />

ZEIT Wissen: Ist es für die Entwicklung wichtig, dass Jungs auch mit Mädchen befreundet sind und<br />

umgekehrt?<br />

von Salisch: Sicher, solche Freundschaften erweitern das Verhaltensspektrum und die<br />

Möglichkeiten, das andere Geschlecht zu verstehen. Ich glaube schon, dass Jungen, die mal einen<br />

Puppenwagen geschoben haben, nicht die schlechtesten Väter werden.<br />

ZEIT Wissen: Ab wann kann so etwas wie die Freundschaft fürs Leben entstehen?<br />

von Salisch: Das ist sehr unterschiedlich. Manche bilden sich tatsächlich schon im Sandkasten.<br />

Aber Kinder denken ja noch gar nicht darüber nach, wie wichtig Freundschaften sind. Sie merken<br />

das oft erst durch einen Verlust, etwa wenn ein Freund wegzieht.<br />

ZEIT Wissen: Wie schwerwiegend ist das?<br />

von Salisch: Ich würde das schon ernst nehmen, vor allem bei älteren Kindern. Zwar sind alle<br />

zunächst traurig, aber Jüngeren gelingt es noch eher, sich umzuorientieren. Jugendlichen fällt das<br />

schwerer.


ZEIT Wissen: Woran liegt das?<br />

von Salisch: Sie hängen an ganz bestimmten Freunden und deren besonderer Persönlichkeit.<br />

Gerade in der Jugend sind Freunde bedeutende »Entwicklungshelfer«. Das ist ja eine Zeit der<br />

emotionalen Turbulenzen, in der es viel zu bewältigen gibt: den körperlichen Umbau, kognitive<br />

Reifeprozesse und die Geschlechterrollenentwicklung. Freunde sind da ganz wich-tig, mit ihnen<br />

kann man sich über Gefühle austauschen. Die Gespräche sind vertraulicher. Das hilft den<br />

Jugendlichen dabei, ihre Meinung und Identität zu festigen.<br />

ZEIT Wissen 1/2011


Jahreszeiten: Wenn die Tage kürzer oder länger werden von Andreas Fischer<br />

Die Erde dreht sich bekanntlich in 24 Stunden einmal um die eigene Achse, weshalb es morgens<br />

hell und abends dunkel wird. Außerdem dreht sie sich innerhalb eines Jahres um die Sonne. Wie<br />

hängt das alles mit den Jahreszeiten zusammen und weshalb sind manche Tage länger als<br />

andere? Was ist die Sonnenwende - und warum wird es in den nördlichen Regionen Skandinaviens,<br />

Finnlands und dem Baltikum zur Zeit des "Mittsommers" Ende Juni selbst nachts überhaupt nicht<br />

oder nicht richtig dunkel?<br />

Nicht nur dafür, dass es morgens hell und abends dunkel wird,<br />

sondern auch für die Jahreszeiten und Klimazonen ist die Stellung der Erde zur Sonne<br />

verantwortlich: Die Erde dreht sich einmal am Tag um ihre eigene Achse und einmal im Jahr um die<br />

Sonne. (Quelle: Joujou | Pixelio.de) Vom "Sonnenstand" hängt auf der Erde Einiges ab - zum<br />

Beispiel die Jahreszeiten, die Klimazonen und die Temperaturen. Wie wir alle wissen, zieht die Erde<br />

innerhalb eines Jahres in einer ellipsenförmigen (eiförmigen) Bahn um die Sonne. Außerdem dreht<br />

sich die Erde täglich um ihre eigene Achse - diese müssen wir uns als Gerade vorstellen, die durch<br />

die Erde verläuft und drei Punkte, nämlich den Nordpol, den Südpol und den Erdmittelpunkt,<br />

miteinander verbindet. Die Drehung um die eigene Achse ist für den Wechsel zwischen Tag und<br />

Nacht zuständig: Wir wenden uns der Sonne am Abend ab, befinden uns nachts auf der zur Sonne<br />

abgewandten Seite und drehen uns gegen Morgen wieder in Richtung Sonne – deshalb scheint es<br />

so, als ob die Sonne am Himmel aufgeht und im Verlauf des Tages "wandert". Wenn bei uns die<br />

Nacht hereinbricht, beginnt in anderen Regionen der Erde - zum Beispiel in Neuseeland – schon<br />

der nächste Tag.<br />

Die Jahreszeiten: Der Sonne zu- oder abgeneigt<br />

Jahresverlauf der Erde um die Sonne: Ganz links ist die<br />

Ausrichtung der Erde zur Sonne dargestellt, wenn es Sommer auf der Nordhalbkugel ist, ganz<br />

rechts, wenn es auf der Nordhalbkugel Winter ist. (Quelle: tau'olunga) Jedoch hätten wir keine<br />

Jahreszeiten, sondern ungefähr gleich bleibende Temperaturen, wenn die Achse der Erde<br />

senkrecht zu ihrer Umlaufbahn um die Sonne stehen würde. Doch wie wir wissen, gibt es auf der<br />

nördlichen und auch auf der südlichen Erdhalbkugel unterschiedliche Jahreszeiten - wenn bei uns<br />

auf der nördlichen Halbkugel der Winter einbricht, ist es in Regionen der Südhalbkugel – zum<br />

Beispiel in Südafrika – warm und sommerlich. Wie genau kommen die verschiedenen Jahreszeiten<br />

zustande? Die Achse der Erde hat einen Neigungswinkel von 23,5 Grad zur Senkrechten. Da die<br />

Erde sich um die Sonne dreht, ist die Stellung der Erdachse nicht immer gleich: Einen Teil des<br />

Jahres ist die Nordhalbkugel mehr der Sonne zugeneigt als die Südhalbkugel und umgekehrt. Je<br />

senkrechter die Sonneneinstrahlung in einer Region gerade ist, desto wärmer sind die


Temperaturen - denn je "gerader" und damit direkter die Strahlen auf die Erde treffen, desto<br />

weniger Energie haben sie auf ihrem Weg durch unsere Atmosphäre verloren. Zur warmen<br />

Jahreszeit steht die Sonne am Mittag auch höher am Himmel und die Tage sind insgesamt länger.<br />

In den kälteren Jahreszeiten treffen die Strahlen in einem schrägeren Winkel auf die<br />

Erdoberfläche, dadurch legen sie einen weiteren Weg zurück und verlieren an Energie und somit an<br />

Wärme. Je näher eine Region am Äquator liegt - dieser befindet sich auf dem nullten Breitengrad<br />

genau in der Mitte zwischen dem Nord- und dem Südpol -, desto weniger ausgeprägt sind die<br />

Jahreszeiten. Denn am Äquator macht sich die Neigung der Erde kaum bemerkbar, deshalb sind<br />

auch die Tage und Nächte stets ungefähr gleich lang. In diesen Regionen der Erde, in welchen die<br />

Sonnenstrahlen nahezu senkrecht auftreffen, ist es das gesamte Jahr über warm. In den Regionen<br />

nahe den Polen herrschen dagegen stets eisige Temperaturen, da die Sonnenstrahlen hier immer<br />

im flachen Winkel einfallen.<br />

Sonnenwende: Wenn die Tage kürzer oder länger werden<br />

Den nördlichen Wenn es bei uns Frühling ist, ist die Nordhalbkugel der Erde auf ihrer Bahn der<br />

Sonne wieder mehr zugeneigt als zur kalten Jahreszeit. (Quelle: Katrin Weyermann Bötschi |<br />

Pixelio.de) Wendepunkt hat die Sonne am 21. Juni erreicht - sie ist dem nördlichen Teil der Erde<br />

dann besonders zugeneigt. Dieses Datum wird auch als "Sommersonnenwende" (Sommeranfang)<br />

bezeichnet: Nun erleben wir den "längsten Tag" des Jahres, die Sonne scheint fast senkrecht über<br />

dem nördlichen Wendekreis der Erde zu stehen.<br />

Nach dem früheren Julianischen Kalender hat man die Sommersonnenwende am 24. Juni, am Tag<br />

des Geburtstags von Johannes dem Täufer, gefeiert – Sonnenwend- und Johannistag fielen also<br />

zusammen. Noch heute werden rund um die Sommersonnenwende und den Johannistag viele<br />

Feste veranstaltet: Es finden Sonnenwendfeuer statt, und auch am Johannisfest werden<br />

Feuerwerke veranstaltet und Feuer entfacht, die als Symbol für die Sonne und im christlichen<br />

Glauben für Jesus Christus stehen. In vielen Ländern ist es Tradition, zum Johannisfest ums Feuer<br />

zu tanzen oder darüber zu springen, was Glück bringen soll.<br />

In der kälteren Jahreszeit treffen die Sonnenstrahlen in einem<br />

schrägeren Winkel auf die Erdoberfläche, dadurch verlieren sie auf ihrem Weg an Energie und<br />

somit an Wärme. (Quelle: Michael Lieder | Pixelio) Danach werden die Tage allmählich wieder kürzer<br />

und die Nächte länger. Bei der Wintersonnenwende am 21. oder 22. Dezember nimmt die<br />

Sonnenhöhe mittags am Himmel nicht mehr weiter ab, sondern die Sonne steigt wieder langsam<br />

empor - von nun an werden die Tage wieder länger. Überall auf der Welt feierten alte Völker nun die<br />

"Wiedergeburt" der Sonne.<br />

Wenn es bei uns auf der Nordhalbkugel Winter ist, ist es auf der Südhalbkugel warm - von der<br />

Südhalbkugel aus gesehen sind Sommer- und Wintersonnenwende genau vertauscht, die<br />

Sommersonnenwende fällt daher auf den 21. oder 22. Dezember. Jeder von uns kennt<br />

wahrscheinlich den kleinen Vers "Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im<br />

Westen will sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehn." Ganz anders sieht es allerdings aus,<br />

wenn man auf dem südlichen Teil der Erdkugel lebt - hier ist die Sonne hingegen im Süden nicht zu<br />

sehen.


Mittsommer: Wenn die Nacht zum Tag wird<br />

Ein Sankt-Hans-Feuer in Dänemark, auf welchem traditionell<br />

eine Strohhexe verbrannt wird (Quelle: User:EPO/ Wikipedia)Als Mittsommer in den nördlichsten<br />

Ländern Europas wie Finnland, Norwegen und Schweden wird die Zeit um Ende Juni herum<br />

bezeichnet, zu der die Sonne der nördlichen Hemisphäre (Nordhalbkugel) zugewandt ist. Zu dieser<br />

Zeit ist es bei uns sommerlich warm und Badewetter angesagt. Durch die Neigung der Erde wird es<br />

in den nördlichsten Teilen dieser Länder selbst nachts nicht oder zumindest nicht richtig dunkel -<br />

man spricht deshalb auch von den "Weißen Nächten" im Norden: Die Sonnenstrahlen dringen über<br />

den Nordpol hinweg im hohen Norden auch zu der Seite der Erde vor, auf der gerade Nacht ist. In<br />

den Gebieten nördlich des nördlichen Polarkreises - zum Beispiel auf der norwegischen Insel<br />

Spitzbergen - geht die Sonne um die Sommersonnenwende herum überhaupt nicht mehr unter<br />

und ist nachts noch vollständig sichtbar, dies wird als "Mitternachtssonne" bezeichnet.<br />

Diese Zeit wird in den skandinavischen und nordischen Ländern ausgiebig gefeiert - das<br />

Mittsommerfest ist dort eines der wichtigsten Feste des Jahres: In Schweden wird der<br />

"Midsommar" immer an dem Samstag gefeiert, der zwischen dem 20. und dem 26. Juni liegt. Die<br />

Häuser werden mit Laub und Blumen verziert und es werden geschmückte Baumstämme<br />

aufgestellt. Die Menschen veranstalten dann zusammen Feste mit Tanz und volkstümlichen<br />

Liedern. Zu Essen gibt es Jungkartoffeln, die meist zusammen mit Hering und Sauerrahm serviert<br />

werden.<br />

Mittsommerfest in Årsnäs in Schweden: Es wird ein<br />

geschmückter Baumstamm aufgestellt und die Menschen feiern und tanzen. (Quelle: Mikael<br />

Häggström) In Dänemark und Norwegen wird am 23. Juni, am Vorabend des Johannistages, zum<br />

"Sankt-Hans-Fest" ein großes Feuer veranstaltet. Die Dänen verbrennen oft auch eine Strohhexe -<br />

als Symbol für die "bösen Kräfte", die ferngehalten werden sollen. In Estland wird das<br />

Mittsommerfest, das als wichtigster Feiertag des Landes gilt, vom Abend des 23. bis in den<br />

Morgen des 24. Juni hinein gefeiert. Zu dieser Zeit sind die Städte fast menschenleer, da das<br />

bedeutende Fest auf dem Land gefeiert wird. Auch in Finnland ist das Mittsommerfest eines der<br />

wichtigsten Feste im Jahr - "Juhannus" fällt immer auf den Samstag zwischen dem 20. und dem<br />

26. Juni. In dieser Nacht wird ausgelassen gefeiert, getanzt und gesungen und es werden riesige<br />

Feuer entfacht - meist am Strand oder auf Lichtungen. Dem traditionellen Glauben nach vertrieb<br />

man durch die Feierlichkeiten "böse Geister" und sorgte für eine gute Ernte.


Jahreszeiten: Übersicht über die Linien der Erdbahn und die Stellung der Erde zur Sonne zur Zeit<br />

des Beginns von Frühling, Sommer, Herbst und Winter (Quelle: Horst Frank)<br />

Der Frühling von Tanja Lindauer<br />

Die Jahreszeiten unterteilen das Jahr in unterschiedliche Abschnitte - jede Jahreszeit hat dabei<br />

bestimmte Merkmale, die sie von den anderen unterscheidet. So freuen sich viele Menschen im<br />

Frühling, dass die Tage wieder länger werden, die Sonne sich öfter zeigt, die Vögel zwitschern und<br />

die ersten Blumen in Blüte stehen. Was machen die verschiedenen Jahreszeiten in unserer<br />

Klimazone aus und welche Veränderungen kann man beim Menschen und in der Natur<br />

beobachten? Was ist typisch für die Zeit des Frühlings?<br />

Der Frühling beginnt auf dem Kalender um den 20. März herum<br />

und meteorologisch schon am 1. März. Langsam wird es wieder wärmer und nach dem Vorfrühling<br />

beginnen die ersten Pflanzen zu blühen. (Quelle: Joujou/ Pixelio.de)Wenn die Temperaturen nach<br />

dem langen Winter langsam wieder steigen, freuen sich viele Menschen auf den Frühling, in dem<br />

die Natur "zu neuem Leben erwacht". Ein untrügliches Zeichen dafür, dass es bald Frühling wird,<br />

sind die Schneeglöckchen, deren Blüten sich ihren Weg auch schon durch den Schnee kämpfen.<br />

Die vier Jahreszeiten, die es bei uns gibt, kennst du natürlich: Frühling, Sommer, Herbst und<br />

Winter. Aber dies gilt nur für gemäßigte Klimazonen. Es gibt nämlich auch Länder, die nur zwei<br />

Abschnitte kennen, in den Tropen gibt es nur eine Trockenzeit und eine Regenzeit. Man<br />

unterscheidet zwischen dem Nord- und Südfrühling - je nachdem, in welcher Hemisphäre (auf der<br />

Südhalb- oder Nordhalbkugel) er herrscht. Die Meteorologen, also die Wetter- und Klimaforscher,<br />

haben den Frühlingsanfang auf den 1. März eines Jahres gelegt. Denn die Wetterkundler ordnen die<br />

Jahreszeiten nur vollen Monaten zu – Frühling ist demnach im März, April und Mai. Astronomisch -<br />

also durch die Wissenschaft von den Himmelskörpern - betrachtet beginnt der Frühling jedoch erst<br />

mit der so genannten "Frühlingstagundnachtgleiche". Das bedeutet, zu diesem Datum sind Tag<br />

und Nacht ungefähr gleich lang. Auf der Nordhalbkugel, auf der auch die europäischen Länder<br />

liegen, fällt diese auf den 20. oder 21. März und der Frühling endet am 21. Juni mit der<br />

"Sommersonnenwende" - das ist der Zeitpunkt, ab dem die Tage wieder kürzer werden. Bis 2011<br />

begann der Frühling am 21. März, von 2012 bis 2048 beginnt er am 20. März, im Anschluss dann<br />

abwechselnd am 19. oder 20. März. Erst ab 2102 fällt der Frühlingsanfang wieder auf den 21. März.<br />

Auf der Südhalbkugel hingegen beginnt der Frühling am 22. oder 23. September und endet am 21.<br />

oder 22. Dezember. Wenn also auf der einen Erdhalbkugel Frühling ist, herrscht auf der anderen


Herbst und umgekehrt. Doch abgesehen von diesen vorgeschriebenen Daten kann man den<br />

Frühling natürlich auch in der Natur beobachten. Wir wissen, dass die Schneeglöckchen die ersten<br />

Vorboten sind. Es gibt noch viele weitere Anzeichen für den "Lenz", wie der Frühling auch genannt<br />

wird. In Mitteleuropa unterscheidet man dabei drei Phasen.<br />

Die drei Phasen des Frühlings<br />

Viele Narzissen blühen jetzt und lassen die Landschaft fröhlich<br />

und bunt erscheinen. Ende Februar oder Anfang März macht sich allmählich der Vorfrühling<br />

bemerkbar. Die Schneeglöckchen, Haselnüsse und Weidenkätzchen blühen, und auch die Tage<br />

werden wieder länger. Es wird wärmer und auch die Sonne zeigt sich wieder. Der Vorfrühling dauert<br />

so lange, bis sich die zuvor weißen Weidenkätzchen gelb verfärben, dann setzt der so genannte<br />

"Erstfrühling" ein. In dieser Zeit blühen weitere Pflanzen und Bäume, wie etwa die Stachelbeere<br />

oder Birnbäume. Daran schließt sich das Blühen der Apfelbäume an, ein untrügliches Zeichen<br />

dafür, dass nun der Vollfrühling beginnt. Besonders schön an dieser Jahreszeit ist, dass viele<br />

Pflanzen jetzt in voller Blüte stehen – wie zum Beispiel der Flieder, der einen angenehmen Duft in<br />

der Luft verteilt, oder auch die Ebereschen. Die einzelnen Phasen des Frühlings sind dabei<br />

abhängig von der Lage: In den kühleren Bergregionen lässt der Frühling etwas länger auf sich<br />

warten als in den Tälern auf dem Land, was vor allem mit den unterschiedlichen Temperaturen<br />

zusammenhängt. Innerhalb von Europa beginnt der Frühling zum Beispiel in früher als in<br />

Deutschland - bei uns setzt er wiederum früher ein als in Schweden oder anderen Ländern<br />

Skandinaviens.<br />

Der Lenz ist da: März, April und Mai<br />

Jeden Frühling wird auch Ostern gefeiert. Es werden Ostereier<br />

versteckt, die man dann in Garten suchen kann. (Quelle: Gerd Altmann/ Pixelio.de) In drei Monaten<br />

im Jahr ist offiziell Frühling. Aber woher haben die Monate überhaupt ihren Namen? Der März ist<br />

der dritte Monat des Gregorianischen Kalenders. Im 16. Jahrhundert beschloss Papst Gregor XIII.,<br />

die Monate und Tage neu einzuteilen und seit 1582 gilt in christlich geprägten Ländern der<br />

Gregorianische Kalender. Der März hat bekanntlich 31 Tage - sein Name geht auf den römischen<br />

Kriegsgott Mars zurück. Früher, als der römische Kalender galt, war der März (man nannte ihn<br />

Martius) der erste Monat des Jahres. Und in Deutschland hieß er früher einmal Lenzmond.<br />

Der vierte Monat des Kalenders ist der April, der seinen Namen vom lateinischen Begriff "aperire"<br />

hat. Das bedeutet "öffnen", denn im April öffnen sich viele Knospen und es blüht überall. Früher<br />

wurde dieser Monat in Deutschland auch "Ostermond" genannt. Diesen Namen verlieh Karl der<br />

Große dem vierten Monat im Jahr - vermutlich, weil Ostern im April gefeiert wird. Der erste Tag des


Aprils ist ein ganz besonderer Tag, denn man "schickt" seine Mitmenschen "in den April". Man<br />

macht dann einen Scherz oder tischt jemandem eine einfallsreiche Lügengeschichte auf - der<br />

"Aprilscherz" hat sogar in den Medien wie Tageszeitung, Radio und Fernsehen Tradition, die dann<br />

gezielt lustige, fantastische und abwegige Falschmeldungen verbreiten. Der Mai wurde nach der<br />

römischen Göttin der Erde, Maia, getauft. In Deutschland wurde er auch "Wonnemonat" genannt,<br />

da es nun endlich warm ist, die Vögel und viele andere Tiere wieder richtig aktiv sind und die Natur<br />

in prächtiger Blüte steht. Doch der Schein kann trügen, denn im Mai wird es für kurze Zeit oft auch<br />

noch einmal richtig kalt - besonders nachts herrscht zum Teil sogar Frost. Zwischen dem 11. und<br />

15. Mai kommen die "Eisheiligen". Diese kleine Winterzeit wandert von den Polargebieten aus über<br />

Europa hinweg und sorgt dafür, dass die Luft kalt und trocken ist. Daher warten viele Menschen<br />

und Hobbygärtner erst das Ende der Eisheiligen ab, bis sie draußen die ersten Pflanzen setzen<br />

oder Samen aussäen. Jedem dieser kalten Tage der Eisheiligen ist ein Heiliger zugeordnet:<br />

Mamertus, Pankratius, Servatius, Bonifatius und Sophie.<br />

Wieso Frühjahrsmüdigkeit?<br />

Einige Menschen leiden zu Beginn des Frühlings unter Frühjahrsmüdigkeit,<br />

denn der Körper muss sich hormonell erst auf die wärmeren und helleren Tage einstellen.<br />

(Quelle: Benjamin Thorn/ Pixelio.de) Wenn die Sonne endlich wieder mehr Kraft hat, die Blumen in<br />

bunten Farben blühen und die Vögel zwitschern, bekommen auch viele Menschen richtig gute<br />

Laune und freuen sich über das schöne Wetter. Wir können nun wieder im Park oder in den Feldern<br />

spazieren, draußen spielen, Sport treiben oder Unternehmungen machen. Viele Menschen<br />

beklagen sich aber gerade jetzt, dass sie so müde und kraftlos seien. Sie quält die so genannte<br />

"Frühjahrsmüdigkeit": Man ist müde, hat irgendwie keine Lust auf irgendetwas, leidet vielleicht<br />

sogar unter Stimmungsschwankungen und manchen ist auch schwindelig. Aber wenn doch nun<br />

alles um einen herum zum Leben erwacht, warum geht es dann vielen Menschen so? Das hat<br />

mehrere Gründe, denn zwar wird nun, da die Tage wieder länger werden, ein besonderes Hormon<br />

vom Körper in größeren Mengen ausgeschüttet: das "Glückshormon" Serotonin, das für die gute<br />

Laune zuständig ist. Aber gleichzeitig ist von den dunklen Wintermonaten noch ein anderes<br />

Hormon vermehrt vorhanden, das "Schlafhormon" Melatonin. Und das wird nun erst nach und nach<br />

verringert. Vielen Menschen machen auch die Temperaturunterschiede in den Frühlingsmonaten<br />

zu schaffen. Ein weiterer Grund liegt in der Ernährung: Im Winter essen wir oft fettreicher und<br />

nehmen viele Kalorien zu uns, im Frühling benötigt der Körper aber nun viele Vitamine, die erst<br />

einmal fehlen. Da der Körper sich hormonell umstellt, benötigt er auch mehr Vitamine.


Frühlingsgefühle und "Schmetterlinge im Bauch"<br />

Frühlingsgefühle und Schmetterlinge im Bauch: Der Frühling ist auch die<br />

Jahreszeit, in der sich viele Menschen verlieben. (Quelle: Alexandra H./ Pixelio.de) Die Müdigkeit<br />

verschwindet aber meist bald schon wieder und bei vielen Menschen machen sich um diese<br />

Jahreszeit dann Glücksgefühle breit. Da die Tage nun länger werden, wird Melatonin in geringeren<br />

Mengen ausgeschüttet. Denn dieses wird vom Körper vermehrt produziert, wenn es dunkel wird.<br />

Der Frühling ist auch die Jahreszeit, in der sich viele Menschen verlieben: Die so genannten<br />

Frühlingsgefühle erwachen nun zum Leben. Die Kleidung wird luftiger, es ist heller und wir sind<br />

häufiger an der frischen Luft. Damit steigt auch die Laune und Lebenslust vieler Menschen.<br />

Es heißt, dass nun auch unser Hormonhaushalt kräftig "durcheinandergewirbelt" wird und dies<br />

zusätzlich für gute Stimmung sorgt. Hier streiten sich aber die Forscher: Manche Wissenschaftler<br />

glauben, dass es beim heutigen Menschen im Frühling keine ausgeprägten Hormonveränderungen<br />

mehr geben würde, da man ja zum Beispiel auch im Winter viel künstliches Licht einsetzt und<br />

nicht schon dann ins Bett geht, wenn es dunkel wird. Andere wiederum sind der Meinung, dass<br />

auch heute noch die Hormone eine wichtige Rolle für die "Frühlingsgefühle" spielen. Sie meinen,<br />

dass das ein Überbleibsel sei, wie man es bei vielen Tieren findet. Fest steht: Einige Menschen<br />

haben im Frühjahr regelrecht "Schmetterlinge im Bauch". Viele Dichter haben ihre<br />

Frühlingsgefühle zu Papier gebracht und Gedichte oder Liebesbriefe geschrieben. Zu den<br />

bekanntesten Frühlings-Gedichten gehört Eduard Friedrich Phillip Mörikes Gedicht "Er ist's":<br />

Frühling läßt sein blaues Band<br />

Wieder flattern durch die Lüfte;<br />

Süße, wohlbekannte Düfte<br />

Streifen ahnungsvoll das Land.<br />

Veilchen träumen schon,<br />

Wollen balde kommen.<br />

Horch, von fern ein leiser Harfenton!<br />

Frühling, ja Du bist's!<br />

Dich hab' ich vernommen!<br />

Das Frühjahr in der Tierwelt<br />

Der Star ist einer der ersten Zugvögel, die im Vorfrühling aus


dem Süden zurückkehren. Sie und andere Vögel beginnen schon bald mit der Balz und suchen<br />

einen Nistplatz. (Quelle: segovax/ Pixelio.de) Der Frühling kündigt sich in der Tierwelt an, wenn<br />

viele Vogelschwärme ab Ende Februar am Himmel zu sehen sind. Die Zugvögel, die die kalte<br />

Jahreszeit in wärmeren Ländern verbracht haben, kehren allmählich zu uns zurück. Im Vorfrühling<br />

erreichen uns zum Beispiel die ersten Stare und Bachstelzen, gefolgt von Nachtigallen und<br />

Mauerseglern. Und viele weitere Zugvögel fliegen ebenfalls in ihre Heimat zurück. Zudem<br />

erwachen im Frühling viele Tiere aus dem Winterschlaf, der Winterruhe oder -starre, wie zum<br />

Beispiel der Igel und das Eichhörnchen. Sie werden zwischen März und April wieder richtig munter<br />

und gehen auf Nahrungssuche. Auch in der Tierwelt wird nun "geflirtet" beziehungsweise gebalzt.<br />

Ab März beginnt die Paarungszeit der Vögel, die sich schon bald auf die Suche nach einem<br />

geeigneten Nistplatz machen. Wir hören nun morgens und am Abend den Gesang von Amseln und<br />

anderen Vögeln - sie sind viel aktiver als in der kalten Jahreszeit und besingen oft auch schon in<br />

der Dunkelheit den herannahenden Morgen. Im Frühling ist es auch wieder warm genug für die<br />

verschiedensten Insekten und bald schwirren, brummen, krabbeln und summen sie umher. Zu den<br />

bekanntesten Frühlingsboten in der Insektenwelt zählen sicherlich der Maikäfer und der<br />

Marienkäfer, der ab März aus seiner Winterstarre erwacht. Aber auch andere Insekten kann man<br />

nun wieder öfters sehen, wie Bienen, Schmetterlinge oder Hummeln. Die kleinen Tiere haben eine<br />

sehr wichtige Aufgabe zu erfüllen: Sie fliegen zu den Blüten, um zum süßen Nektar zu gelangen,<br />

und sorgen dabei für die Bestäubung der Pflanzen. Die Männchen zeigen sich im Tierreich nun von<br />

ihrer besten Seite und wollen so Weibchen anlocken. Sie führen Tänze auf, sie singen oder plustern<br />

sich auf, tragen Kämpfe mit ihren Rivalen aus und lassen nichts unversucht, um sich paaren zu<br />

können. Auch Kröten, Frösche und Molche kommen wieder hervorgekrochen und begeben sich auf<br />

eine lange Wanderschaft, um in einem Gewässer zu laichen, also ihre Eier abzulegen. In dieser Zeit<br />

ist es für viele von ihnen sehr gefährlich, da sie auch oft Straßen überqueren. Daher sind viele<br />

Straßenränder mit einer Absperrung versehen, damit die kleinen Amphibien nicht überfahren<br />

werden. Die Absperrungen leiten sie zu kleinen Tunneln, die sie sicher auf die andere Straßenseite<br />

bringen.<br />

Pflanzen erwachen zu "neuem Leben"<br />

Bäume bilden neue Triebe aus, Pflanzen stehen in Blüte und<br />

viele Insekten wie der Marienkäfer schwirren im Frühling wieder durch die Lüfte. (Quelle: Katrin<br />

Weyermann Bötschi/ Pixelio.de) Im Frühling fangen auch die Pflanzen wieder an zu wachsen und<br />

zu blühen. Immer öfters sieht man jetzt Narzissen, Krokusse und Tulpen. Aber was führt dazu,<br />

dass die Pflanzen nun Knospen ausbilden und wieder blühen? Wenn es langsam wärmer wird, die<br />

Tage länger werden und die ersten Sonnenstrahlen die Pflanzen "kitzeln", dann ist dies ein Signal<br />

für sie, dass es Frühling ist. Damit sie sich vermehren können, müssen sie bestäubt werden und<br />

das funktioniert nur, wenn sie genügend Insekten anlocken. Für diesen Zweck bilden die Pflanzen<br />

zum Beispiel ganz verschiedenfarbige, bunte Blüten aus oder sie locken mit einem verführerischen<br />

Duft. Jede Pflanze hat ein eigenes Lockmittel, wodurch sie für Insekten unwiderstehlich wird.<br />

Auch in den Wäldern sind große Veränderungen zu beobachten, denn nun bekommen immer mehr<br />

Bäume neue Blätter und alles erstrahlt bald in einem schönen Grün. Und so entsteht ein schönes,<br />

neues Dach über dem Wald. Schon allein eine Buche erhält 600.000 neue Blätter. Sobald die<br />

ersten Sonnenstrahlen im Frühling eintreffen, setzt das Wachstum der Bäume ein. Dafür haben


viele Bäume bereits vor Monaten "Winterknospen" angelegt, aus denen sich bald Blätter, Zweige<br />

und Blüten bilden. Die Bäume müssen zum Wachstum aber mithilfe ihrer Wurzeln und den<br />

Tracheen, das sind besondere Zellen im Stamm, Wasser und Nährstoffe aus der Erde ziehen und<br />

nach oben transportieren. Wann sich die ersten Triebe bilden, hängt von der Beschaffenheit der<br />

Böden, vom Wetter und damit auch von den Temperaturen und der Feuchtigkeit ab. Weiterhin spielt<br />

die Baumart eine Rolle - nicht jeder Baum wird zur gleichen Zeit grün. Während unter den<br />

Laubbäumen zum Beispiel Ahorn, Birke, Buche oder Linde im Frühling recht früh austreiben,<br />

müssen andere Bäume wie Eiche, Esche, Kastanie oder Ulme erst einen neuen Jahresring<br />

ausbilden. Denn sie nutzen für den Transport von Wasser im Gegensatz zu anderen Bäumen nur<br />

den äußersten und den jüngsten Jahresring.<br />

Feiertage und Bräuche im Frühling<br />

Zum Maifest am 1. Mai stellt man in vielen Regionen einen<br />

Maibaum auf, der Fruchtbarkeit und Leben symbolisiert. (Quelle: Walter J. Pilsak, Waldsassen) Zu<br />

früheren Zeiten, als Strom, Supermärkte oder eine Heizung noch Zukunftsmusik waren, sehnten<br />

die Menschen den Frühling besonders herbei. Im Winter war es dunkel, kalt und die Vorräte, die<br />

man angelegt hatte, neigten sich dem Ende zu. Daher versuchte man den Winter regelrecht zu<br />

vertreiben und es entstanden viele verschiedene Bräuche, die sich teils bis heute gehalten haben.<br />

In Südbaden gibt es zum Beispiel den Brauch, dass ein Junge sich als schwarzer Mann, der den<br />

Winter symbolisiert, verkleidet und von einem Mädchen mit Frühlingszweigen durch das Dorf<br />

gejagt wird. Oftmals soll der Winter durch ein Feuer vertrieben werden, das für Wärme und<br />

Lebenskraft steht - wie etwa das Maifeuer. Mit dem Maifest wird aber auch gleichzeitig die wärmere<br />

Jahreszeit begrüßt und die Fruchtbarkeitsbräuche stehen im Vordergrund. So steht der Maibaum<br />

für Fruchtbarkeit und Leben und auch der "Tanz in den Mai", der in der Nacht auf den ersten Mai<br />

ausgelassen gefeiert wird, drückt Lebensfreude aus. Auch eines der wichtigsten christlichen Feste<br />

überhaupt findet jedes Jahr im Frühling statt: Ostern. Ebenso der Muttertag ist ein Feiertag im<br />

Frühling, denn er fällt in Deutschland und einigen anderen Ländern immer auf den zweiten<br />

Sonntag im Mai. In der Kunst werden die Jahreszeiten auch oftmals symbolisch verarbeitet - so<br />

stehen sie in vielen Bildern und literarischen Werken für die verschiedenen Abschnitte des<br />

menschlichen Lebens. Der Frühling ist dann ein Bild für das Aufblühen des Lebens, für die Jugend.<br />

In der Malerei wird er daher oft mit vielen Blumen und jungen Mädchen dargestellt. Zu den<br />

berühmtesten Bildern, die den Frühling darstellen, gehört Botticellis "La Primavera" (das ist das<br />

italienische Wort für Frühling).<br />

Der Sommer von Tanja Lindauer<br />

Wenn sich der Frühling langsam dem Ende zuneigt und es draußen noch wärmer wird, dann<br />

endlich steht der Sommer vor der Tür! Es ist die wärmste Zeit im Jahr: Schwimmen im Freibad, Eis<br />

essen und die großen Ferien stehen nun auf dem Programm. Astronomisch gesehen beginnt die<br />

beliebte Jahreszeit mit der "Sommersonnenwende", das ist der "längste Tag des Jahres", denn<br />

jetzt steht die Sonne senkrecht über dem nördlichen Wendekreis. Was macht den Sommer aus und<br />

in welche Phasen wird er unterteilt? Was kennzeichnet die Tier- und Pflanzenwelt im Sommer und<br />

welche Feste oder Bräuche fallen in die warme Jahreszeit?


Der Sommer beginnt kalendarisch am 21. Juni, Wetterkundler hingegen teilen den Jahreszeiten<br />

ganze Monate zu, so dass für sie der Sommeranfang schon auf den 1. Juni fällt. Im Frühsommer<br />

im Juni stehen die Rosen in voller Blüte. Wie schon beim Frühling unterscheidet man auch beim<br />

Sommer zwischen Nord- und Südsommer. Damit meint man einfach nur den Sommer auf der<br />

jeweiligen Halbkugel. Auf der nördlichen Halbkugel ("Hemisphäre") beginnt der Sommer jährlich<br />

am 21. Juni und dauert bis zum 22. oder 23. September. Auf der südlichen Halbkugel beginnt der<br />

Sommer am 21. oder 22. Dezember und endet am 20. oder 21. März. Der Sommer im Norden ist<br />

dabei immer etwas milder als der Südsommer. Aber woran liegt das? Ganz einfach: Die Sonne ist<br />

von der Nordhalbkugel etwas weiter entfernt und damit haben die Sonnenstrahlen einen weiteren<br />

Weg zurückzulegen. Wetterkundler teilen die Jahreszeiten nur kompletten Monaten zu. Der<br />

Sommer umfasst daher "meteorologisch" gesehen die Monate Juni, Juli und August. Der Juni ist<br />

der sechste Monat des Gregorianischen Kalenders und umfasst 30 Tage. Dieser Monat wurde nach<br />

der römischen Göttin Juno benannt, die Göttin der Ehe und die Beschützerin von Rom. In<br />

Deutschland wurde der Juni früher auch als Brachmond bezeichnet, da im Mittelalter jetzt die<br />

Brache (der noch unbearbeiteter Acker) intensiv bearbeitet wurde. Um ihn besser vom nächsten<br />

Monat unterscheiden zu können, sagt man häufig auch "Juno". Denn der darauffolgende Juli hat<br />

einen ähnlich klingenden Namen. Dieser Monat wurde nach dem römischen Kaiser Julius Cäsar<br />

benannt. Der alte deutsche Name lautet "Heuet" oder auch "Heumonat", weil man nun das erste<br />

Heu ernten konnte. Und auch der letzte Sommermonat wurde nach einem römischen Kaiser<br />

benannt: nach Kaiser Augustus, denn dieser trat im August sein erstes Konsulat (das höchste zivile<br />

und militärische Amt) an. Der altdeutsche Name ist "Erntemond", da nun die Erntezeit begann.<br />

Auch den Sommer kann man in drei Phasen unterteilen. Mit dem Ende des Vollfrühlings beginnt<br />

der Frühsommer. Auf den Wiesen blühen viele bunte Blumen und die Insekten fliegen von Blüte zu<br />

Blüte, um den süßen Nektar darin aufzusaugen. Auf den Getreidefeldern wachsen jetzt die Ähren.<br />

Es wird immer wärmer und im Hochsommer werden für gewöhnlich die Höchsttemperaturen des<br />

Jahres erreicht. Im Juli und August kann es auch in Deutschland richtig heiß werden und wir<br />

erleben richtige "Tropen-" oder "Hitzetage", an denen die Temperatur 30 Grad Celsius erreicht oder<br />

noch höher steigt. In den so genannten "Tropennächten" sinken die Temperaturen nicht unter 20<br />

Grad. Im Hochsommer sind viele Früchte reif, wie Erdbeeren oder Kirschen, und auf den Feldern<br />

kann das Getreide geerntet werden. Mit dem Spätsommer verabschiedet sich die heiße Jahreszeit<br />

dann allmählich, es wird wieder etwas kühler, und viele weitere Obst- und Gemüsesorten sind nun<br />

langsam reif – wie Äpfel, Birnen oder Tomaten.<br />

Die Schafskälte und der Siebenschläfertag<br />

Die Schafskälte hat ihren Namen von den geschorenen<br />

Schafen auf der Weide, die im Frühsommer ohne ihre dicke Wolle noch ganz schön frieren können.<br />

(Quelle: Gabriele Planthaber/ pixelio.de)Auch wenn es im Sommer eigentlich schön warm ist, kann<br />

es anfangs auch noch einmal richtig kalt werden, und zwar Anfang Juni. Man spricht dann von der<br />

so genannten Schafskälte. Darunter versteht man einen Kaltlufteinbruch aus dem Nordwesten.<br />

Dies muss nicht jedes Jahr auftreten, aber wenn die Schafskälte einbricht, dann kann es noch<br />

einmal richtig ungemütlich werden - oft begleitet von viel Regen und sogar Schnee in den<br />

Bergregionen. Der Name Schafskälte leitet sich von den armen Schafen ab, die in dieser Zeit schon<br />

geschoren sind und dann auf den Weiden ohne ihre Wolle auch mal ganz schön frieren müssen.


Am 27. Juni ist der so genannte Siebenschläfertag. Einer Bauernregel zufolge wird das Wetter, das<br />

an diesem Tag herrscht, auch in den nächsten sieben Wochen so bleiben. Wenn es also am 27. Juni<br />

viel regnet, so würde es auch in den nächsten sieben Wochen immer wieder Regenschauer geben.<br />

Ein Spruch lautet etwa: "Das Wetter am Siebenschläfertag sieben Wochen bleiben mag." Früher<br />

gab es noch keine genauen technischen Geräte wie heute, mit denen man das Wetter vorhersagen<br />

konnte, und so mussten sich die Menschen auf ihre Beobachtungsgabe verlassen. Sie erkannten,<br />

dass es bestimmte Tage im Jahr gibt, an denen man das zukünftige Wetter angeblich ableiten<br />

konnte. Noch heute sind nicht wenige Menschen der Ansicht, dass die Regeln zum<br />

Siebenschläfertag erstaunlich zutreffend sind. Aber woher hat der Tag seinen Namen? Mit dem<br />

gleichnamigen Nagetier hat der Siebenschläfertag überhaupt nichts zu tun. Der Name geht<br />

vielmehr auf eine Legende zurück, die besagt, dass sieben Brüder, nämlich Serapion, Martinianus,<br />

Dionysius, Constantinus, Maximus und Malchus, vor der Christenverfolgung im Jahr 251 unter<br />

Kaiser Decius in eine Höhle bei Ephesus flohen. Sie wurden aber von ihren Verfolgern<br />

eingeschlossen und erst nach ungefähr 200 Jahren wurde die Höhle wieder ausgegraben -<br />

angeblich am 27. Juni 446. An diesem Tag sollen die Brüder aus ihrem Schlaf erwacht sein.<br />

Blütenpracht in der heißen Jahreszeit<br />

Die Sonnenblume ist eine typische Sommerpflanze. Sie reckt<br />

ihren Kopf immer in Richtung Sonne. (Quelle: Lupo/ pixelio.de) Der Juni steht ganz im Zeichen der<br />

"Königin der Blumen", denn dieser Monat gilt als Rosenmonat. Es gibt sie in vielen verschiedenen<br />

Farben und Formen und seit jeher fasziniert die Rose die Menschen. Bereits im alten Rom wurde<br />

diese Pflanze in Gewächshäusern gezüchtet, damit sie auch im Winter den Menschen zur<br />

Verfügung stand. Sie wurde außerdem als Heilpflanze genutzt, aber aufgrund ihrer Schönheit und<br />

Blütenpracht gilt sie nach wie vor als Symbol der Liebe. Eine andere Blume, die man sofort mit<br />

dem Sommer verbindet, ist die Sonnenblume. Ihr Name soll sich von der griechischen Mythologie<br />

ableiten lassen: Einer Legende zufolge verliebte sich ein Mädchen namens Clytia in den Gott des<br />

Lichtes Apollon, der aber kein Interesse an ihr hatte. Clytia bekam fürchterlichen Liebeskummer,<br />

setzte sich nackt auf einen Felsen, weinte bitterlich und weder aß noch trank sie. Sie schaute in<br />

den Himmel und beobachte Apollon. Nach neun Tagen wurde sie gelb und braun und verwandelte<br />

sich in eine Sonnenblume. Ihre Blüten wandte sie fortan immer in Apollons Richtung. Die<br />

Sonnenblumen lieben bekanntlich das Licht und richten ihre Köpfe zur Sonne aus. Es gibt aber<br />

noch viele weitere wunderschöne Sommerblumen, die – im Gegensatz zu den eher zarten<br />

Frühlingsblumen – oft kräftige, geradezu beladene Blütenblätter haben: so zum Beispiel Gladiolen,<br />

Nelken, Rittersporn oder viele Wicken- und Windenarten, deren trichterförmige Köpfe in<br />

leuchtenden Farben blühen. Je nachdem, ob man sich hoch in den Bergen, an Hängen oder im Tal<br />

befindet, kann man im Sommer ganz verschiedene Blumen und Gräserarten bewundern. Das hängt<br />

zum einen mit der Beschaffenheit des Bodens zusammen - damit, ob er feucht oder eher trocken<br />

ist. Auch die Temperaturen sind nicht überall gleich - in den Bergen ist es kühler und windiger, im<br />

Tal hingegen staut sich die Hitze schneller. Natürlich spielt auch eine Rolle, ob sich die Wiese in<br />

einer eher sonnigen oder schattigen Lage befindet. Typische Wiesenblumen im Sommer sind etwa<br />

Margeriten, Hahnenfuß, Mohnblumen oder Lichtnelken.


Eine Natur voller Leben: Tiere im Sommer<br />

Überall summt und krabbelt es im Sommer - zum Beispiel hier<br />

auf einer Knöterich-Blüte, auf der ein Grünwidderchen-Schmetterling und mehrere Tanzfliegen<br />

Platz genommen haben und vom süßen Nektar naschen. (Quelle: Luise/ pixelio.de) Für viele ist es<br />

im Sommer einfach herrlich, entspannt auf einer Wiese zu liegen und die Sonne zu genießen.<br />

Wenn man einmal genauer hinsieht, kann man zur warmen Jahreszeit ganz schön viel entdecken -<br />

nicht nur die vielen verschiedenen Vögel am Himmel und in den Bäumen, sondern auch am Boden<br />

auf einem kleinen Stück Wiese: Hier tummeln sich Käfer, Raupen, Schmetterlinge, Ameisen,<br />

Wespen, Bienen oder auch Heuschrecken, die regelmäßige Konzerte veranstalten. Es ist auf jeden<br />

Fall mächtig was los im Sommer, denn jetzt kriechen, flattern und summen überall kleine<br />

Tierchen! Die Vögel zwitschern vor sich hin – für viele von ihnen hat im Frühsommer die zweite<br />

Brutphase begonnen: Die Weibchen legen ein zweites Mal in diesem Jahr Eier und ziehen – oft<br />

gemeinsam mit den Männchen – ihre Jungen auf. Im Sommer sind die meisten Vogeljungen dann<br />

"flügge" und können sich ihre Nahrung selbst besorgen. Weiterhin sehen wir in der warmen<br />

Jahreszeit oft Igel in den Gärten, die auf Nahrungssuche sind, sich paaren und ihre Jungen<br />

aufziehen. Für einige Tiere ist nicht der Frühling, sondern der Sommer die Zeit der Paarung. So<br />

paaren sich zum Beispiel Rehe im Hochsommer. Die Weibchen tragen ihre Jungen über den Winter<br />

hinaus aus und gebären sie erst im nächsten Frühling. Im Sommer sind vor allem die Insekten sehr<br />

aktiv, die im Frühling aus ihrer Winterstarre erwacht oder erst "auf die Welt gekommen" sind. Denn<br />

viele Insekten sterben im Winter - so zum Beispiel die Wespen. Viele Bienen, Käfer oder<br />

Schmetterlinge überwintern zwar an einem geschützten Ort, aber auch unter ihnen überleben<br />

längst nicht alle die kalte Jahreszeit. Die Bienen und Hummeln sind nun fleißig am Sammeln von<br />

Blütenstaub und in den Bienenstöcken werden die geschlüpften Larven versorgt, aus denen später<br />

einmal neue Arbeiterbienen, Drohnen (männliche Bienen) und Königinnen werden.<br />

Einige Insekten wie Wespen, Mücken oder Zecken können uns zur warmen Jahreszeit auch sehr<br />

lästig werden: Sie stechen, saugen unser Blut und übertragen manchmal sogar gefährliche<br />

Krankheiten. Weibliche Mücken und Zecken saugen das Blut von Säugetieren und Menschen, um<br />

anschließend ihre Eier zu legen. Aber da sich Zecken auch von Blut ernähren, können wir ebenso<br />

von männlichen Zecken "gebissen" werden. Wespen toben sich vor allem im Spätsommer noch<br />

einmal richtig aus und fressen mit Vorliebe von unseren Speisen, bevor sie in der kalten Jahreszeit<br />

sterben. Besonders vor Zecken sollte man sich unbedingt schützen und in hohem Gras lange<br />

Kleidung tragen. Außerdem gibt es spezielle Cremes oder Sprays, die lästige Insekten abwehren.<br />

Pralle Sonne und kalte Getränke? - besser nicht!<br />

Sommerzeit ist natürlich Badezeit! Im Freibad kann man sich


ei den heißen Temperaturen gut abkühlen. (Quelle: Faßbender, Julia/ Das Bundesarchiv)Da im<br />

Sommer die großen Sommerferien sind, nutzen viele Menschen die Zeit, um in den Urlaub zu<br />

fahren. Aber auch zu Hause kann man den Sommer so richtig genießen und zum Beispiel Baden<br />

gehen oder im Garten oder auf dem Balkon entspannen. Dabei muss man aber auch vorsichtig<br />

sein, denn zu viel Sonne kann zu einem lästigen Sonnenbrand führen und die Haut schädigen. Die<br />

Folgen von zu viel Sonnenstrahlung können im schlimmsten Fall sogar Hautkrebs sein.<br />

Nach den langen Wintermonaten muss unsere Haut sich erst nach und nach wieder an die Sonne<br />

gewöhnen und man sollte sich lieber im Schatten aufhalten. Besonders hellhäutige Menschen<br />

sollten die direkte Sonne meiden. Zwischen elf und 15 Uhr sollte man sich generell nicht in die<br />

Sonne legen. Zu dieser Zeit bietet selbst der Schatten keinen völligen Schutz mehr vor der<br />

intensiven UV-Strahlung. Die Haut kann zusätzlich mit geeigneten Sonnenschutzcremes<br />

eingerieben werden - aber Vorsicht, denn die Creme ist nicht dafür da, um bedenkenlos in der<br />

Sonne "braten" zu können. Und zu viel Sonnenschutzcreme ist schädlich und reizt unsere Haut.<br />

Im Sommer ist es bekanntlich heiß und man schwitzt viel. Die Folge ist, dass der Körper mehr<br />

Flüssigkeit braucht und man öfter Durst verspürt. Trinken ist nun besonders wichtig für uns, denn<br />

die verlorene Flüssigkeit muss wieder zugeführt werden. Am besten eignen sich Wasser und<br />

dünner, ungesüßter Kräuter- oder Früchtetee. Auch Obst und Früchte können dem Körper<br />

Flüssigkeit spenden, wie zum Beispiel Tomaten oder Wassermelonen. Cola, Limo oder<br />

zuckerhaltiger Nektar sind hingegen nicht geeignet, um den Durst wirklich zu stillen. Zwar essen<br />

nun viele Menschen gerne Eis und trinken eisgekühlte Getränke, die als besonders erfrischend<br />

empfunden werden. Aber gerade wenn wir viel schwitzen, ist es sinnvoll, nun etwas Warmes wie<br />

Tee zu trinken - brühend heiß muss er nicht sein, aber ruhig noch schön warm. Kaum zu glauben,<br />

aber man schwitzt dann sogar weniger. Das liegt daran, dass der Körper warme Getränke auf die<br />

eigene Temperatur herunterkühlen muss, während eiskalte Getränke, die im ersten Moment<br />

erfrischen, dem Körper deutlich mehr abverlangen: Die Flüssigkeit muss auf die eigene Temperatur<br />

erwärmt werden, wofür der Körper viel mehr Energie aufbringen muss. Deshalb kommt man nach<br />

einiger Zeit erst so richtig in Schwitzen. Dabei verlieren wir auch Mineralstoffe und "Elektrolyte" -<br />

das sind in Körperflüssigkeiten aufgelöste wichtige Stoffe wie zum Beispiel Calcium und<br />

Magnesium. Das kann man zum Beispiel mit einer warmen Gemüsebrühe gut ausgleichen, die dem<br />

Körper diese Stoffe wieder zuführt.<br />

Feste und Bräuche im Sommer<br />

Zur Sommersonnenwende am 21. Juni werden viele Feste veranstaltet, um den längsten Tag im<br />

Jahr zu feiern. Oft wird dabei ein "Sonnwendfeuer" entzündet. Gerade im Sommer finden überall<br />

Festivals und Straßen- oder Stadtfeste statt. Denn nun sind auch die Abende noch so warm, dass<br />

man draußen feiern kann. Neben den herrlichen Düften der Pflanzen liegt oft noch ein ganz<br />

anderer Duft in der Luft: Es wird immer Sommer nämlich gerade bei uns viel gegrillt - egal, ob man<br />

nun Feste feiert oder einfach nur zusammen draußen sitzt. Ob Fleisch, Fisch, Tofu, Käse oder<br />

Gemüse, fast ein jeder freut sich auf die Leckereien vom Grill. Der Kohlegrill ist der Klassiker unter<br />

den Grills. Man kann ihn überall hin mitnehmen, dafür muss man lange warten, bis er die richtige<br />

Temperatur erreicht, und es entsteht jede Menge Rauch. Die gesundheitsschädigenden Stoffe der<br />

Kohle können auch auf das Gegrillte übergehen. Ein Elektrogrill benötigt Strom und somit kann<br />

nicht überall in der Natur gegrillt werden. Er ist dafür aber umweltfreundlicher und es entstehen<br />

deutlich weniger Schadstoffe als beim Verbrennen von Kohle und Holz. Zur Sommersonnenwende<br />

am 21. Juni werden vielerorts Feiern abgehalten. Sowohl in verschiedenen Glaubensrichtungen als<br />

auch ohne religiösen Hintergrund wird der "längste Tag des Jahres" ausgiebig gefeiert und oft wird<br />

abends ein großes Feuer entzündet, das die Kraft der Sonne symbolisiert. Schon frühere Kulturen<br />

wie die alten Kelten oder Germanen haben die Sonnenwende als einen mystischen Tag betrachtet<br />

und ihn mit bestimmten Ritualen gefeiert. Eine besondere Bedeutung hat diese Zeit im Norden<br />

Europas, wo es während der "Weißen Nächte" selbst nachts nicht mehr dunkel wird. In


skandinavischen Ländern wird um die Zeit der Sonnenwende herum das "Mittsommerfest" gefeiert<br />

– die Menschen sind fröhlich, speisen zusammen und singen und tanzen bis in die Nacht hinein. In<br />

Schweden ist "Midsommar" das zweitgrößte Fest nach Weihnachten. Es wird ein geschmückter<br />

Baumstamm aufgestellt, um den die Menschen tanzen. Am 24. Juni wird auch die Geburt von<br />

Johannis dem Täufer gefeiert, indem man ein Feuer, das so genannte Johannisfeuer, anzündet<br />

und um dieses tanzt. Es ist vielerorts Brauch, über das Feuer zu springen, denn das soll Glück<br />

bringen. Oft werden am Johannistag Stadtfeste veranstaltet und es gibt große Feuerwerke zu<br />

bewundern. Das Johannisfest geht auf heidnische (nicht christliche) Rituale zurück, mit denen<br />

böse Dämonen vertrieben werden sollten. Nach dem Julianischen Kalender war am 24. Juni<br />

übrigens auch der Tag der Sommersonnenwende. Dies hat sich erst mit der Einführung des<br />

Gregorianischen Kalenders, unseres heutigen Kalendersystems, geändert. Mit der Herbst-<br />

Tagundnachtgleiche am 22. oder 23. September endet der Sommer schließlich. An diesem Tag<br />

sind der Tag und die Nacht etwa gleich lang, es ist also zwölf Stunden lang hell und zwölf Stunden<br />

lang dunkel.<br />

http://www.helles-koepfchen.de/artikel/3467.html


Amsel, Drossel, Fink und Star – Wer bleibt da?<br />

So überleben Vögel den kalten Winter<br />

Ruhig wird es, wenn es kälter wird. Wo vorher munterer Vogelgesang erklang, ist es nun still. Denn<br />

Mauersegler, Nachtigall und Zilpzalp sind genauso in den warmen Süden gezogen wie unsere<br />

Störche. Doch gibt es sie, die Vögel, die der Kälte trotzen und bei uns bleiben. Sie halten auch nicht<br />

wie einige Säugetiere Winterschlaf, sondern sind wach und mobil. Aber welche Vögel sind das? Wie<br />

schaffen sie es, sich den harten Bedingungen wie Nahrungsmangel und Minusgraden zu<br />

widersetzen und warum bleiben sie überhaupt hier?<br />

Verschiedene Anpassungsstrategien<br />

Als "Federball" verringert das Rotkehlchen den Wärmeverlust am besten.<br />

Als gleichwarme Tiere wie der Mensch, müssen Vögel versuchen ihre Körpertemperatur, die<br />

zwischen 38 und 42 Grad Celsius liegt, aufrecht zu erhalten. Dazu haben sie die Fähigkeit, ihr<br />

Gefieder so stark aufzuplustern, dass sie wie eine Federkugel wirken. Diese Form ist kein Zufall,<br />

denn die Kugel ergibt im Verhältnis zum Körpervolumen die geringste Oberfläche, über die<br />

demnach auch die wenigste Wärme verloren geht. Wie eine Daunenjacke mit einem<br />

Warmluftpolster wirkt das Gefieder.<br />

Ein spezielles Wärmeaustauschsystem verhindert, dass die Vögel über ihre meist nackten Beine<br />

Wärme verlieren. So gibt das abwärtslaufende Blut seine Wärme rechtzeitig an das in den Körper<br />

zurückfließende Blut ab und kühlt die Beine so auf fast null Grad. Nur so kann es gelingen, dass<br />

zum Beispiel Enten nicht auf dem Eis eines Gewässers anfrieren und ihre Füße trotzdem nicht<br />

absterben.<br />

Außerdem können Vögel „Sonne tanken“. Dies tun sie vor allem mit ihren dunklen Gefiederpartien,<br />

die nicht einmal 20 Prozent der Sonnenstrahlen reflektieren und den Vogel so tatsächlich wärmen.<br />

In besonders kalten Nächten können Vögel ihre Körpertemperatur auch künstlich herunterfahren.<br />

Sie fallen dann in eine Art Starre, die den Stoffwechsel und damit den Energieverbrauch erheblich<br />

reduziert.


Energie sparen und Energie tanken<br />

Vogelbeeren bieten im Winter vielen Vogelarten, wie auch dem Grünfink, vitaminreiche Kost.<br />

Zum Aufrechterhalt der Körperwärme ist jedoch in erster Linie die Energiezufuhr über die Nahrung<br />

notwendig. Viele Vögel, die eigentlich Insektenfresser sind, wie Meisen oder Kleiber, nehmen nun<br />

auch gezielt Samen, Nüsse und Körner in ihren Speiseplan auf, denn diese stellen fettreiche und<br />

damit energiereiche Nahrung dar. An Bäumen und Sträuchern sind im Herbst auch Beeren und<br />

Hülsenfrüchte gereift und stehen nun noch lange Zeit der hungrigen Vogelwelt zur Verfügung.<br />

Auch kleine Spinnen und Insekten, sowie deren Eier und Larven, lassen sich noch unter Baumrinde,<br />

zwischen Wurzeln oder auch in Komposthaufen erbeuten. Da im Winter erschwerenderweise auch<br />

die Tage kürzer und die Nächte länger sind, steht für die Vögel auch weniger Zeit zur<br />

Nahrungssuche zur Verfügung. Aus diesem Grund legen viele Arten Vorratsspeicher an:<br />

Eichelhäher vergraben Eicheln im Boden, Sumpf-, Tannen- und Haubenmeisen verstecken Samen<br />

und Kerne in Rindenspalten.<br />

Hierbleiben oder Wegziehen – Dazwischen gibt’s auch was<br />

Enten weichen bei Kälteeinbrüchen auch auf entferntere eisfreie Gewässer aus.<br />

Nicht alle Vögel, die wir jetzt beobachten, sind jedoch das ganze Jahr über in ihrer Brutheimat. Der<br />

Haussperling oder die Spechte gehören zwar zu diesen sogenannten „Standvögeln“, doch gelten<br />

zum Beispiel Enten, Meisen und Finken als „Strichvögel“, die ungünstigen Witterungszonen nur<br />

kleinräumig ausweichen. Als „Teilzieher“ gelten zum Beispiel Amsel und Rotkehlchen. Einige<br />

Individuen oder Populationen ziehen aufgrund ihrer erblichen Veranlagung, andere bleiben.<br />

Es können im Winterquartier somit verschiedene Populationen zusammen überwintern, oder die<br />

nördlichen Artgenossen überfliegen die Daheimgebliebenen aus südlichen Populationen. Aus dem<br />

Norden und Osten kommen jedoch auch Vögel, die bei uns überwintern. Zu Ihnen gehören<br />

Seidenschwanz, Saatkrähe und Bergfink.


Während strenge Winter für die Natur zum einen eine Ruhephase darstellen, wirken sie auch als<br />

Auswahlmechanismus. Schwache Tiere einer Population, die den Winter nicht überstehen, machen<br />

Vögeln von anderswo Platz, die widerstandsfähiger sind und sich erfolgreich fortpflanzen können.<br />

Mitunter gibt es in strengen Wintern so starke Bestandseinbrüche, wie zum Beispiel beim Eisvogel<br />

oder der Bartmeise, dass die Bestände Jahre brauchen um sich wieder zu erholen.<br />

Doch trotz dieser unbarmherzigen Effekte lässt sich nicht behaupten, dass Zugvögel besser dran<br />

wären. Denn zum einen kostet der oft über tausende Kilometer weite Flug sehr viel Zeit und<br />

ebenfalls sehr viel Energie und zum anderen birgt er viele Gefahren: Habitatveränderungen im<br />

Wintergebiet, Schlechtwettereinbrüche auf dem Zug und der illegale Vogelfang in Südeuropa und<br />

Nordafrika machen jenen Arten mitunter schwer zu schaffen.<br />

Zugvögel werden zu Standvögeln<br />

Aufgrund der milderen Winter bleibt der Star immer öfter bei uns.<br />

Die zunehmende Erderwärmung und Besiedlung von Städten haben dazu geführt, dass immer<br />

mehr Zugvögel kürzere Strecken ziehen oder sogar zu Standvögeln werden. Viele Kraniche<br />

überwintern in Frankreich statt in Südspanien. Die Flugroute hat sich im Vergleich zu früher um ein<br />

Drittel verkürzt. Andere Arten ziehen mitunter gar nicht mehr oder weichen der Kälte kurzfristig aus.<br />

Diese Tendenz lässt sich bei Staren, Singdrosseln, Rotmilanen, Kiebitzen, Feldlerchen und<br />

Mönchsgrasmücken beobachten.<br />

Für die tatsächlichen Langstreckenzieher, die genetisch viel stärker an ihre Jahresperiodik<br />

gebunden sind, kann dies aber zum Problem werden: Bevor sie aus Afrika in den Brutgebieten<br />

eintreffen, sind die besten Nistplätze oft durch die daheimgebliebene Konkurrenz schon besetzt.<br />

http://www.nabu.de/tiereundpflanzen/voegel/wissenswertes/11787.html


Die fünfte Jahreszeit<br />

Die schönste Zeit im Jahr, im Leben, im Jahr? Lassen Sie mich nachfühlen.<br />

Frühling? Dieser lange, etwas bleichsüchtige Lümmel, mit einem Papierblütenkranz auf dem Kopf, da stakt er<br />

über die begrünten Hügel, einen gelben Stecken hat er in der Hand, präraffaelitisch und wie aus der Fürsorge<br />

entlaufen; alles ist hellblau und laut, die Spatzen fiepen und sielen sich in blauen Lachen, die Knospen knospen<br />

mit einem kleinen Knall, grüne Blättchen stecken fürwitzig ihre Köpfchen ... ä, pfui Deibel! ... die Erde sieht aus wie<br />

unrasiert, der Regen regnet jeglichen Tag und tut sich noch was darauf zugute: ich bin so nötig für das<br />

Wachstum, regnet er. Der Frühling –?<br />

Sommer? Wie eine trächtige Kuh liegt das Land, die Felder haben zu tun, die Engerlinge auch, die Stare auch; die<br />

Vogelscheuchen scheuchen, dass die ältesten Vögel nicht aus dem Lachen herauskommen, die Ochsen<br />

schwitzen, die Dampfpflüge machen Muh, eine ungeheure Tätigkeit hat rings sich aufgetan; nachts, wenn die<br />

Nebel steigen, wirtschaftet es noch im Bauch der Erde, das ganze Land dampft vor Arbeit, es wächst, begattet<br />

sich, jungt, Säfte steigen auf und ab, die Stuten brüten, Kühe sitzen auf ihren Eiern, die Enten bringen lebendige<br />

Junge zur Welt: kleine piepsende Wolleballen, der Hahn – der Hahn, das Aas, ist so recht das Symbol des<br />

Sommers! er preist seinen Tritt an, das göttliche Elixier, er ist das Zeichen der Fruchtbarkeit, hast du das gesehn?<br />

und macht demgemäß einen mordsmäßigen Krach ... der Sommer –?<br />

Herbst? Mürrisch zieht sich die Haut der Erde zusammen, dünne Schleier legt sich die Fröstelnde über,<br />

Regenschauer fegt über die Felder und peitscht die entfleischten Baumstümpfe, die ihre hölzernen Schwurfinger<br />

zum Offenbarungseid in die Luft strecken: Hier ist nichts mehr zu holen ... So sieht es auch aus ... Nichts zu<br />

holen ... und der Wind verklagt die Erde, und klagend heult er um die Ecken, in enge Nasengänge wühlt er sich ein,<br />

Huuh macht er in den Stirnhöhlen, denn der Wind bekommt Prozente von den Nasendoktoren ... hochauf spritzt<br />

brauner Straßenmodder ... die Sonne ist zur Kur in Abazzia ... der Herbst –?<br />

Und Winter? Es wird eine Art Schnee geliefert, der sich, wenn er die Erde nur von weitem sieht, sofort in Schmutz<br />

auflöst; wenn es kalt ist, ist es nicht richtig kalt sondern naßkalt, also naß ... Tritt man auf Eis, macht das Eis<br />

Knack und bekommt rissige Sprünge, so eine Qualität ist das! Manchmal ist Glatteis, dann sitzt der liebe Gott, der<br />

gute, alte Mann, in den Wattewolken und freut sich, dass die Leute der Länge lang hinschlagen ... also, wenn sie<br />

denn werden kindisch ... kalt ist der Ostwind, kalt die Sonnenstrahlen, am kältesten die Zentralheizung – der<br />

Winter –?<br />

»Kurz und knapp, Herr Hauser! Hier sind unsere vier Jahreszeiten. Bitte: Welche –?« Keine. Die fünfte.<br />

»Es gibt keine fünfte.«<br />

Es gibt eine fünfte. – Hör zu:<br />

Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein<br />

ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es – wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und<br />

der frühe Herbst noch nicht angefangen hat –: dann ist die fünfte Jahreszeit.<br />

Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an; an andern Tagen atmet sie unmerklich aus leise wogender Brust. Nun ist<br />

alles vorüber: geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist – nun ist es vorüber. Nun sind da<br />

noch die Blätter und die Gräser und die Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in<br />

der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. Es ruht.<br />

Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht, im Licht sind wirklich schwarze Töne, tiefes Altgold liegt unter den<br />

Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen ... kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still. Blank sind die Farben, der See<br />

liegt wie gemalt, es ist ganz still. Boot, das flußab gleitet, Aufgespartes wird dahingegeben – es ruht.<br />

So vier, so acht Tage –<br />

Und dann geht etwas vor.<br />

Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts<br />

geändert – und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft – es ist etwas geschehen; so lange hat sich der<br />

Kubus noch gehalten, er hat geschwankt ... , na ... na ... , und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist<br />

alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher ... aber nun ist alles anders. Das Licht ist hell,<br />

Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist<br />

gebrochen – nun geht es in einen klaren Herbst. Wie viele hast du? Dies ist einer davon. Das Wunder hat vielleicht<br />

vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören. Es ist die Zeit, in der ältere Herren<br />

sehr sentimental werden – es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung,<br />

eine fröhliche Erkenntnis des Endes. Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine<br />

ganz kurze Spanne Zeit im Jahre.<br />

Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.<br />

Kaspar Hauser (Kurt Tucholsky), Die Weltbühne, 22.10.1929


Die 5. Jahreszeit: FASTNACHT<br />

Die Fastnacht bezeichnete anfangs den Abend vor Beginn der Fastenzeit, seit dem 13. Jahrhundert<br />

auch ein paar Tage davor. Früher wurde ein heidnisches Fruchtbarkeitsfest in der Fastnacht<br />

gefeiert, das es vermutlich schon gegeben hat, lange bevor die Fastnacht im 12. Jahrhundert von<br />

der katholischen Kirche auf die Zeitspanne vor dem Beginn der Fastenzeit eingeschränkt wurde.<br />

Aus diesen Fruchtbarkeitsriten hat sich vorzugsweise im alemannischen Sprachraum, der sich bis<br />

weit in die Schweiz, nach Vorarlberg und in das westliche Tirol erstreckt, die Freude am Maskieren,<br />

am Verstecken der eigenen Person und Identität hinter Masken aus Holz bewahrt. Die Masken<br />

tragen oft groteske und angsteinflößende Züge. In der Überlieferung von Fastnachtsritualen<br />

erkennt man oft Spuren heidnischer Bräuche, in denen die Angst des Menschen vor dem kalten<br />

grausigen Winter und seine Sehnsucht nach dem warmen fröhlichen Frühling spürbar werden.<br />

Historische Entwicklung der Fastnacht<br />

In Europa entwickelten sich die für die Fastnacht typischen Formen in den Städten. Schon im<br />

Mittelalter sind Gelage und Tanz bezeugt. Im 15. Jahrhundert organisierten die Verbände der Zünfte<br />

und der Patrizier weitere Fastnachtsbräuche, wie beispielsweise Maskenumläufe mit kunstvollen<br />

Tier-, Teufels- und Hexenmasken. Im 16. Jahrhundert entstanden Schauvorführungen der Zünfte;<br />

unter anderem die von Schulen ausgehenden Schauspiele, meist mit biblischen und<br />

moralisierenden Stoffen. Hieraus entwickelten sich die berühmten Fastnachtsspiele vieler Orte, die<br />

übrigens die früheste Gattung des weltlichen Dramas in deutscher Sprache darstellen - ihren<br />

künstlerischen Höhepunkt erlebte diese Gattung durch den Meistersinger und Dichter Hans Sachs<br />

(1494-1576) in Nürnberg, der mehr als 80 Fastnachtsspiele verfasste.<br />

Im Spätbarock und Rokoko kamen vermehrt farbenfrohe Maskierungen und Schauzüge auf. Von


dieser Zeit an gewann, vor allem im Alpenraum, auch die ländliche Fastnacht an Bedeutung, mit<br />

eigenen Formen scherzhafter Rügespiele, der Verlesung von Narrenbriefen u.a.m. In den<br />

Großstädten entwickelten sich im frühen 18. Jahrhundert Redouten und Bälle unter der von Italien<br />

her übernommenen Bezeichnung Karneval.<br />

1823 begründete die Kölner Bürgerschaft eine neue Tradition des rheinischen Karnevals mit einem<br />

prächtigen Rosenmontagsumzug. In München hatte der Fasching mittlerweile starke Impulse von<br />

der Künstlerschaft empfangen, und hier wie an vielen anderen Orten werden Politiker und andere<br />

Prominente von bekannten Schauspielern durch den Kakao gezogen. Restformen der im Mittelalter<br />

meist am Aschermittwoch speziell den Frauen zugestandenen Festlichkeit leben u.a. im Tanz der<br />

Münchner Marktfrauen weiter.<br />

In manchen Orten wird die Fastnacht noch rituell begraben. Symbolisch ersetzt wird dieser Vorgang<br />

im Allgemeinen beim Kehraustanz der Ballveranstaltungen.<br />

Etymologie<br />

Das Wort "Fasching" ist die ursprünglich bayerisch-österreichische Bezeichnung für die Fastnacht<br />

und kommt vom mittelhochdeutschen "vaschang" oder "Fastschank" und bezieht sich auf das<br />

Ausschenken des Fastentrunks vor Beginn der Fastenzeit.<br />

Seit dem 18. Jahrhundert wird im deutschsprachigen Raum auch der Begriff Karneval statt<br />

Fasching oder Fastnacht benutzt. Dieser Begriff stammt vom italienischen "carnevale", was<br />

vielleicht eine volksetymologische Umdeutung von mittellateinisch "carne vale" ("Fleisch, lebe<br />

wohl!") oder von mittellateinisch "carrus navalis" ("Schiffskarren", "Schiff auf Rädern" bei<br />

Festumzügen) darstellt.<br />

Eine weitere Ableitung geht zurück auf die "dominica ante carnes tollendas" ("Sonntag vor der<br />

Fleischenthaltung"). Der "Karneval" ist also im engeren Sinn der Sonntag vor Aschermittwoch,<br />

ursprünglich der Tag vor der vorösterlichen Fleischenthaltung. Später wurde der Karneval dann auf<br />

eine längere Zeit erweitert, in der man einem gesteigerten Lebensgenuss frönte, bevor die Zeit des<br />

Fastens kam.<br />

Narren und Harlekine<br />

Als Narr (von Althochdeutsch Narro ) bezeichnet man einen Spaßmacher der im Mittelalter für<br />

Unterhaltung und Belustigung sorgen sollte und dabei meist auffällig gekleidet war.<br />

Als Narren werden noch heute verkümmerte Früchte genannt. Da Gott laut der Bibel den Menschen<br />

nach seinem Ebenbild erschaffen hatte wurden verkrüppelte Menschen als Narren bezeichnet da<br />

sie nicht dem Normbild Gottes entsprachen. Sie wurden als "natürliche Narren" spezifiziert da sie<br />

dem damaligen Glauben nach "innen hohl" waren also keine Seele hatten ebenso wie eine<br />

verkümmerte Frucht.<br />

Aus dem 12. Jahrhundert stammen Psalterillustrationen die bei Psalm 52 meist ein Figur zeigen die<br />

einem König gegenübersteht. Diese Figur ist oft nackt schwingt eine Keule oder isst ein Brot. Diese<br />

Figur soll einen Narren einen Unweisen (lat. insipiens) darstellen der den weisen König David<br />

verhöhnt der für Glauben steht und als Vorläufer Christi gilt. Der Anfang des Psalmes lautet: "Dixit<br />

insipiens in corde suo: Non est ("Es spricht der Narr in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott"). Der<br />

Narr war also keineswegs eine Figur die nur Späße machte sondern eine negative Gestalt. Da der<br />

Gottesleugner ebenso nicht dem Ebenbild Gottes entsprechen konnte da er nicht an Gott glaubt<br />

wurde er als "künstlicher Narr" bezeichnet da er äußerlich der Norm entsprach ihr aber im Denken<br />

widersprach.<br />

Dadurch stand der Narr dem Teufel nahe der für den Ursprung aller Narrheit stand. Durch seine<br />

Gottesferne und seine Nähe zum Teufel stand der Narr später (14. 15. und 16. Jahrhundert) für


vanitas (lat. Vergänglichkeit ) also für den Tod. Somit sollten Hofnarren ursprünglich ihren Herrn<br />

nicht belustigen sondern ihn als ernste Figur ständig daran erinnern dass auch er vergänglich ist<br />

und sterben muss.<br />

Der Narr hatte durch diese Allegorien den Einzug in die mittelalterliche Fastnacht gefunden in der<br />

er heute noch eine große Rolle spielt. Hier sollte er ebenfalls als negative Gestalt in der negativen<br />

Zeit (der österlichen Fastenzeit ) seine Rolle als Gottesleugner Teufel und Tod spielen. Die<br />

Illustrationen in Psalterhandschriften kann jedoch nicht beweisen dass es die Figur des Narren bzw.<br />

Hofnarren nicht schon viel früher gegeben hat.<br />

Im frühen Hochmittelalter waren es vor allem körperlich Behinderte Kleinwüchsige usw. die wie<br />

Raritäten z. T. in Käfigen gehalten wurden. Die Herrscher machten sich einen Wetbbewerb daraus<br />

wer den spektakulärsten Narren in seiner Sammlung hatte. Im späten Mittelalter und in der frühen<br />

Neuzeit waren es zunehmend Menschen die sich nur dumm stellten oder über besonderes<br />

künstlerisches/humoristisches Talent verfügten die als Unterhalter engagiert wurden. Teilweise gab<br />

es an Höfen Narrenausbilder die auffällige Kinder aus der Umgebung zusammensuchten und diese<br />

zu Hofnarren ausbildeten. In der frühen Neuzeit waren es nicht selten durchaus intelligente und<br />

intrigante Strippenzieher die ihren Posten als Hofnarr ausnutzten um sich ein schönes Leben bei<br />

Hofe zu machen z. B. die französische Närrin Marthurine die sich zusätzliches Geld damit verdiente<br />

dass sie Hofklatsch drucken ließ und eigenhändig auf der Pont Neuf in Paris ans gemeine Volk<br />

verscheuerte.<br />

Narren fanden sich sowohl im ritterlichen Gesinde als auch an Fürstenhöfen . Für die dort tätigen<br />

Hofnarren galt die Narrenfreiheit die es ihnen ermöglichte ungestraft Kritik an den bestehenden<br />

Verhältnissen zu üben. Auch die Parodierung von Adeligen war den Hofnarren erlaubt.<br />

Manche Städte unterhielten so genannte Stadtnarren die zur allgemeinen Belustigung Späße<br />

treiben durften. Ihre Entlohnung bestand meist aus erbettelten Gaben. Ein bekannter Stadtnarr war<br />

zum Beispiel Till Eulenspiegel .<br />

Der klassische "Hofnarr" kann sich jedoch spätestens seit dem 14. Jahrhundert von der<br />

allgemeinen zu unterscheiden. Das eine ist eine Stellung bei Hofe die eines Entertainers eines<br />

Spaßmachers und Zeitvertreibers. Das andere ist eine religiöse/philosophische Anschauung<br />

dernach der Narr allgemein (spätestens seit dem 12. Jahrhundert) für Gottesferne sündhaftes<br />

Leben und Vergänglichkeit steht. Jedoch gilt als gesichert dass der Hofnarr für seinen Herrn auf die<br />

religiöse Deutung als Erinnerer an die Vergänglichkeit zurückgeht. Im 14. Jahrhundert kam jedoch<br />

mehr und mehr in Mode sich neben den "natürlichen Narren" auch Spaßmacher zu halten. Als<br />

Beispiel dient hier der Lieblingshofnarr Kaiser Maximilians (gestorben 1519) Kunz von der Rosen ein<br />

intelligenter Mann der es verstand sich durch seine Späße und seine Anmerkungen nicht selten<br />

zum Nachdenken anregte: So wurde er ein mal vom Rat des Kaisers befragt was er von einem<br />

Friedensangebot halte. Von der Rosen antwortete darauf mit der Frage wie alt er geschätzt werde.<br />

Nach einigen Versuchen sagte er dass er schon über 200 Jahre alt sei da er schon mindestens zwei<br />

Friedensangebote in Kraft treten hätte sehen die beide über 100 Jahre abgeschlossen wurden.<br />

Nichtsdestotrotz hielten sie die Fürsten auch weiterhin "natürliche Narren". Hierbei kann ein Narr<br />

namens Claus Narren von Rannstedt genannt werden einem stiernackigen verwirrten Mann der an<br />

verschiedenen Höfen in der Gegend des heutigen Sachsens mehr oder weniger "herumgereicht"<br />

wurde.<br />

Der Harlekin, dieser lustige Spaßmacher im buntscheckigen Gewand galt bisher für italienischen<br />

Ursprungs, sein eigentlicher Name sollte Arlecchino gewesen sein, der sich in Paris zum Harlequin<br />

französiert habe. Freilich gab es keinen Beweis für diese Annahme, deshalb hat neuerdings ein<br />

deutscher Forscher Dr. O. Driesen das "kulturgeschichtliche Problem" der Harlekinfrage einer<br />

gründlichen, scharfsinnigen Untersuchungen unterzogen, und es scheint richtig festgestellt,<br />

daßder spaßhafte Harlekin die letzte Wandlung einer uralten mythischen Figur vorstellt, des wilden


Jägers nämlich, der mit seinem Gefolge von gespenstischen Sündern, Gewalttätern und<br />

ungetauften Kindern in wilden Sturmnächten durch die Lüfte fuhr und gute Christen erschreckte.<br />

"Herlekin" nannte ihn das Volk und sein Gefolge "Herlekinsleute". Von da bis zum Teufel ist es nicht<br />

weit, als solchen betrachteten denn auch die Kirche den ganzen Heidenspuk dieser nächtlichen<br />

Luftfahrer, doch konnte sie nicht verhindern, daß die unheimlichen Dämonen, die Herlekinsleute,<br />

allmählich in der Volkssage einen freundlicheren Anstrich gewinnen und auch als Gefolge guter<br />

Feen in den frühesten altfranzösischen Dichtungen anzutreffen sind.<br />

Dann verwandte sie das mittelalterliche Mysterienspiel als komische Teufel, und sobald mit dem<br />

Beginn des 14. Jahrhunderts die weltliche Komödie erscheint, wird der dämonische Bösewicht<br />

"Herlekin" zur lustigen, rüpelhaften Figur voll grober Späße und übermütiger Streiche. Aber die<br />

häßliche schwarze Teufelsfratz mit dem dicken Wollhaar und den Hörneransätzen auf der Stirn<br />

behielt er noch lange bei; die letzten Reste davon zeigt sogar eine ganz moderne Harlekinfigur aus<br />

Epinal.<br />

Der Teufel war also zum <strong>Theater</strong>klown geworden, an seinen früheren Beruf mahnten aber immer<br />

noch die scheinbar übermenschlichen Behendigkeit im Springen, die rollenden Augen, die<br />

ausgestreckte Zunge und die boshafte Schadenfreude über die von ihm Geprellten und<br />

mißhandelten. Auch das bekannte bunte Harlekingewand läßt sich stufenweis zurückverfolgen bis<br />

zur grauen Trikothülle des Teufels Herlekin.<br />

Dieser wurden einzelne bunte Fetzen wild und wüst aufgeheftet, die den Springenden umflatterten.<br />

Allmählich mehrten sich diese Flicken und wurden der grauen Teufelshaut ordentlich aufgenäht,<br />

zuletzt als regelmäßige Dreiecke. Die schwarze Teufelsmaske zog sich zur eleganten kleinen<br />

Halbmaske zusammen, und in diesem Kostüm übernimmt dann die italienische Komödie den<br />

Arlecchino, der bald durch seine improvisierten Späße, Prügelszenen, durch seine lustigen Tänze<br />

und Klownkünste zur unentbehrlichen Figur und zum Liebling des Publikums wurde.


Als typische Fastnachtsgestalten gelten neben Narren die Hexen, eine Personifizierung alles<br />

Ungestümen und Garstigen. Ein alter Brauch ist die Verbrennung einer Hexe aus Stroh: damit<br />

wollten und wollen die Menschen ein Zeichen der Wende vom Winter zum Frühjahr setzen.<br />

In vielen Regionen beginnt die Fastnacht offiziell (nicht aber in der Praxis) am 11.11. 11.11 Uhr – der<br />

eigentliche Beginn aber wird auf den Dreikönigstag datiert (6. Januar). Beendet wird das bunte<br />

Treiben am Aschermittwoch. Der Höhepunkt der Fastnacht umfaßt lediglich einen Zeitraum von 6<br />

Tagen: vom "Gumpigen Donnerstag" bis zum Aschermittwoch. Vielerorts nennt man diesen<br />

Donnerstag nicht "Gumpigen", sondern "Schmutzigen Donnerstag". "Schmutzig" im Sinne von<br />

alemannisch "Schmutz" (=Schmalz, Fett), da an diesem Donnerstag Fastnachtskuchen in<br />

schwimmendem Fett zubereitet werden.<br />

Zwischen 1450 und 1582 wurde die Fastnacht auf drei Tage vor Aschermittwoch beschränkt. Im 19.<br />

Jahrhundert erstreckten sich die Tanz- und Maskenfeste vom Dreikönigstag bis Aschermittwoch.<br />

Für "Fastnacht" sind regional unterschiedliche Wortformen überliefert, die aber im Prinzip dasselbe<br />

bezeichnen, nämlich die Zeitspanne vor der Fastenzeit, in der der Hunger nach leiblichen Genüssen<br />

gestillt werden konnte, bevor die lange Zeit der Askese kam: Fas(s)nacht, Fasenacht, Fasinacht,


Fasnet, Fosnat, Faschang und Fasching. Die Bezeichnung Karneval 1 für das ausgelassene Treiben<br />

im Zeitraum vor der Fastenzeit findet man besonders im Rheinland und im norddeutschen Raum.<br />

Die Fastnachtsbräuche:<br />

Die typischen Formen der Fastnachtsbräuche nahmen ihren Ausgang in den Städten. Zu den<br />

ältesten Bräuchen zählen üppige Gastmähler und Tanzfeste. Im 14. Jahrhundert gesellten sich zu<br />

diesem bunten Treiben noch Pferderennen. Im 15. Jahrhundert kamen dann Maskenumzüge auf,<br />

die von zünftischen Verbänden organisiert wurden. Die Menschen versteckten sich hinter Hexen-,<br />

Tier- und Teufelsmasken. Oftmals war dieses Spektakel von zügellosen, obszönen<br />

Ausschweifungen geprägt. Diese Art des Festens rief den Unmut der Obrigkeit hervor:<br />

einschränkende Dekrete oder auch strenge Verbote ließen den Versuch spüren, dem deftigen<br />

Treiben Schranken zu setzen. Das 16. Jahrhundert zeichnete sich durch gemäßigtere Formen des<br />

Fastnachtstreibens aus: es wurden Fastnachtsspiele und vielerlei Tänze aufgeführt. Im 16./17.<br />

Jahrhundert erlebten die Umzüge mit ihren lustig-bunten Maskierungen eine große Blüte - eine<br />

1 Das lateinische carne vale bedeutet soviel wie „Abschied vom Fleisch“. Damit sind die Wochen zwischen dem<br />

Dreikönigstag (6. Januar) und dem Osterfasten gemeint. Nach dem Karneval beginnt im katholischen Glauben die 40tägige<br />

Fastenzeit. Katholische Christen dürfen in dieser Zeit Fleisch und auch einige andere Lebensmittel nicht essen.


Tradition, die noch heute weiterlebt. Zunehmend gab es - vor allem in den Großstädten - großartge<br />

Bälle, rauschende Feste und prächtige Umzüge.<br />

Der Faschingsumzug ist der wohl bekannteste und weitverbreitetste Brauch. Bis zu ca. 100<br />

Maskengruppen ziehen durch die Straßen, die von unzähligen, oft verkleideten Zuschauern<br />

gesäumt sind. Jede Narrengruppe hat ihren eigenen Ruf, z.B. "Narri-Narro". Wenn die Maskenträger<br />

"Narri" rufen und der engagierte Zuschauer "Narro" antwortet, bekommt er ein Bonbon (Kinder<br />

bekommen natürlich auch ohne "Narro" zu rufen eine Süßigkeit oder etwas anderes). Antwortet<br />

man aber nicht, so wird man mit Sägemehl überhäuft. Den musikalischen Rahmen dieser Umzüge<br />

bilden Musikgruppen, meistens Blasorchester, Fanfaren- oder Schalmeienzüge.<br />

Neben diesen recht allgemeinen Bräuchen existieren noch "speziellere", regional unterschiedliche:<br />

zum Zeichen der angebrochenen Narrenzeit wird ein Narrenbaum gesetzt, die Schlüssel des<br />

Rathauses werden vom Bürgermeister dem Narrenvorstand übergeben (ein symbolischer Akt der<br />

Amtsübergabe), einige ziehen von Haus zu Haus und trinken dort Schnaps.<br />

Literaturnachweise: Künzig, J.: Die alemannisch-schwäbische Fasnet. Freiburg 1989. / Pfeifer W. u. a.: Etymologisches<br />

Wörterbuch des Deutschen. München 1997. / Tries, H., Otto, W.: Fasnet. Freiburg 1990. / Brockhaus-Enzyklopädie, 24<br />

Bde., 19., völlig neubearb. Aufl. von 1986, Mannheim (Band 7). / Bildernachweis: Mezger, W.: Narretei und Tradition - Die<br />

Rottweiler Fasnet. Stuttgart 1984.<br />

http://www2.germanistik.uni-freiburg.de/dafphil/internetprojekte/internetprojekte/projekte/fastna.htm<br />

http://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Narr.html


Tabubruch hinter der Maske von Carolin Ströbele<br />

Wieso und seit wann feiern wir eigentlich Karneval? Ein Gespräch mit dem Ethnologen Wolfgang<br />

Kaschuba von der Berliner Humboldt-Universität<br />

Angsteinflößende Masken in Schwaben, verrückte Jecken am Rhein – die "fünfte Jahreszeit" wird<br />

auch in diesem Jahr rauschend gefeiert. Doch wieso und seit wann feiern wir eigentlich Karneval?<br />

Ein Gespräch mit dem Ethnologen Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba vom Institut für Europäische<br />

Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.<br />

ZEIT ONLINE: Karneval hat eine lange Tradition in Deutschland. Was sind die historischen Wurzeln<br />

dieses Brauches?<br />

Wolfgang Kaschuba: Verkleidungs- und Vermummungstraditionen gab es schon im<br />

Spätmittelalter, im 11. bis 13. Jahrhundert. Es wurden sogar richtige Vermummungsspiele<br />

veranstaltet: Die Person, die man unter seiner Verkleidung als Letztes erkannte, hatte gewonnen. In<br />

den kleinen bäuerlichen Gemeinden war das gar nicht so leicht. Mit dem Karneval begrüßte man<br />

freudig den Frühling. Die Menschen machten sich in regelrechten Gelagen über die<br />

Nahrungsmittelreserven aus dem Winter her, bevor die christliche Fastenzeit begann.<br />

ZEIT ONLINE: Die traditionellen Natur-Masken der schwäbisch-alemannischen Fastnacht sind bis<br />

heute erhalten. Sie machen aber keinen freudigen, sondern einen sehr unheimlichen Eindruck.<br />

Kaschuba: Die Feiern hatten sowohl belustigende, als auch erschreckende Elemente. Man bastelte<br />

Figuren, die böse Geister darstellen sollten, zündete Fackeln an und verkleidete sich auch selbst.<br />

Diese mittelalterliche "Mummerei" steht bei der schwäbisch-alemannischen Fastnacht noch immer<br />

im Vordergrund. Nicht nur das Aussehen, sondern auch die Herstellung der Masken aus einfachen<br />

Naturstoffen geht auf diese sehr alte Tradition zurück.<br />

ZEIT ONLINE: Wie unterscheidet sich demgegenüber die bekannteste deutsche Feierkultur, der<br />

rheinische Karneval?<br />

Kaschuba: Der rheinische Karneval geht auf die Tradition zurück, sich einige Tage im Jahr<br />

ungehemmt über die Obrigkeit lustig machen zu dürfen. Doch auch die Obrigkeit selbst, die seit der<br />

Urbanisierung in den Städten herrschte, begann im 16. Jahrhundert, den Karneval zu feiern. Sie<br />

zelebrierte die Pracht ihrer Städte, die reichen Bürger und Adelsfamilien veranstalteten<br />

Maskenbälle, ähnlich wie man sie aus Venedig kennt.<br />

ZEIT ONLINE: Wieso wurden gerade die Städte am Rhein so für ihre Karnevalstradition bekannt?<br />

Kaschuba: Diese Gegend war schon immer katholisch geprägt. Nach der konfessionellen Spaltung<br />

im 16. Jahrhundert war die Religionszugehörigkeit das entscheidende Merkmal des Karnevals.<br />

Karnevalist zu sein, hieß katholisch zu sein, während man als Protestant demonstrativ nicht mehr<br />

teilnahm. Daher verlor dieser Brauch in den protestantischen Gebieten an Bedeutung.<br />

Darüber hinaus hat die besondere Ausrichtung des Karnevals im Rheinland mit der Besetzung der<br />

Region durch Napoleon im 19. Jahrhundert zu tun. Denn die Franzosen wurden hier zur<br />

Karnevalszeit von den Narren auf der Straße ironisch dargestellt. Die französischen Perücken und<br />

Essgewohnheiten lieferten dabei eine gute Angriffsfläche. Auch das Militärische, das wir von den<br />

heutigen Umzügen kennen, geht auf diese Zeit zurück. Damals fingen die Frauen an, sich als<br />

Soldaten zu verkleiden, um das zeitgenössische Geschehen zu kommentieren.<br />

ZEIT ONLINE: Ist Karneval heute auch noch politisch?<br />

Kaschuba: So bewusst-provokant und sarkastisch wie damals ist man nicht mehr. Während heute<br />

eher die symbolische Kritik im Vordergrund steht, wurde damals schon einmal ein Adliger von<br />

einem Schauspieler mit entblößtem Hintern dargestellt – ein Tabu-Bruch! Heutzutage wird Kritik im<br />

Mainstream betrieben. Wirklich skandalös wird es nie.<br />

Die Fragen stellte Nina Pauer.<br />

http://www.zeit.de/online/2009/08/karneval-interview/komplettansicht?print=true


Maskerade: Rollentausch auf Zeit<br />

Als Leiter einer Schule in der Karnevalshochburg Köln ist Wolfgang Oelsner geradezu verpflichtet,<br />

sich zu maskieren. Und alle Jahre wieder kommt er sich dämlich dabei vor. Wenn er dann aber auf<br />

der Straße die maskierte Stadt sieht, ist er jedes Mal erleichtert und froh, selbst verkleidet zu sein<br />

und dazuzugehören. Seit Jahren erforscht der Kinderpsychologe die Psyche der Narren hinter der<br />

Maske und hat mehrere Bücher über das Fest der Sehnsüchte und die Lust an der Maskerade<br />

geschrieben.<br />

Planet Wissen (PW): Herr Oelsner, warum verkleiden sich Menschen?<br />

Wolfgang Oelsner (W.O.): Weil wir Menschen eigentlich nicht auf Probe leben können. Es sei denn,<br />

der Mensch spielt. Spielen können Schauspieler und Kinder, aber der normale, etablierte Bürger<br />

kann das sonst nicht. Bis auf die wenigen legitimierten und ritualisierten Tage im Jahr, zu denen<br />

die Gesellschaft sagt: "Ja, wir verkleiden uns. Wir machen mal was anderes." Dann kann man sich<br />

selbst in einer anderen Rolle begegnen, man kann der Welt in einer anderen Rolle begegnen und<br />

kann sich dann mit der Welt auch einmal anders unterhalten.<br />

PW: Welche unterschiedlichen Verkleidungstypen gibt es?<br />

W.O.: Man kann nicht wirklich sagen, wie die Frau im Krankenschwesterkostüm charakterlich<br />

gestrickt ist. Das sind oft Tagesbefindlichkeiten, obwohl es natürlich ganz unterschiedliche<br />

Richtungen gibt. Man verkleidet sich gerne als das, was das Gegenteil zum normalen Leben<br />

darstellt oder auch umgekehrt, man möchte die Realität überhöhen: sich eine Feder an den Hut<br />

stecken und Prinz sein für einen Abend oder ein Eishockeyspieler mit Riesenmuskeln.<br />

Das Kostüm gibt die Möglichkeit, eine neue Seite an sich auszuprobieren. Da ist man dann nicht<br />

mehr der schüchterne Schmitz, sondern der Rambo, der den Macho raushängen lassen kann, ohne<br />

sich ständig fragen zu müssen: Kann ich das? Darf ich das? Was sagen die Kollegen dazu? Man<br />

riskiert mal was, tut, was man sich sonst nicht traut. Die brave Angestellte trägt dann das Röckchen<br />

mal ganz kurz, rollt als neckisches Miezekätzchen niedlich das Schwänzchen. Das sind solche<br />

Gesten, die man sich aber im Alltag nicht auszuführen traut, wobei man immer sagen muss: Ich<br />

rede von Erwachsenen. Jugendliche haben da eine ganz andere Schwelle und in den Diskotheken<br />

ist eigentlich das ganze Jahr Ausnahmezustand, Karneval.<br />

PW: Aber es gibt ja nicht nur die schönen Maskeraden, sondern auch ganz grässliche und<br />

hässliche.<br />

W.O.: Mit unseren Verkleidungen ist es wie mit unseren Träumen: Sie sind nie eindeutig. Wir<br />

träumen ja sowohl das, was wir wünschen, als auch das, was wir fürchten. Beides ist eine<br />

spielerische Begegnung mit dieser anderen Welt, sodass ich mir das Gewünschte hole oder das,<br />

was ich fürchte, auf Probe schon mal bewältige, vielleicht auch das Böse zulasse. Die süddeutsche<br />

Fastnacht zum Beispiel ist beherrscht von Geister- und Horrormasken. Ursprünglich sollten diese<br />

Gestalten den Winter vertreiben. Aber es ist auch ein Spiel mit dem Horror an sich, ein<br />

Ausprobieren: Wie fühlt es sich an, mit wilden Kerlen, Unholden, Kobolden herumzuziehen und<br />

anderen Angst zu machen?<br />

Es gibt Geisterzüge, zum Beispiel in Blankenheim, bei denen ein ganzes Dorf mit Bettlaken über<br />

dem Kopf herumzieht und etwas durchspielt, was ja im normalen Leben etwas sehr Gruseliges ist.<br />

Das ist wie Pfeifen im dunklen Wald. Die Psychologen nennen das auch die Identifikation mit dem<br />

Aggressor. Das, was mir eigentlich Angst macht, spiele ich nach. Das kann die Hexe sein, die alte<br />

Möhne, der Bettler oder die immer beliebten Todesmasken: Sensenmann, Skelett, Geist. Das ist<br />

einerseits wieder das Spiel mit dem Schrecken, andererseits aber auch der Wunsch, sich den Tod<br />

oder das Alter zum Freund zu machen, nach dem Motto: Besiegen durch Umarmen.<br />

PW: Wie verändert sich der Mensch im Kostüm?<br />

W.O.: Wir bewegen uns anders, wir gehen anders, wir verkleiden unter Umständen sogar unsere<br />

Stimme. Ich habe das mal sehr intensiv am eigenen Leib erlebt, als ich bei einer Kindergartenfeier


meines Sohnes im Männerballett mittanzen musste. Es war ein sehr merkwürdiges Gefühl, sich in<br />

diesen hohen Schuhen, in Strumpfhosen, mit Tutu-Röckchen zu bewegen - alle sprachen auch<br />

plötzlich viel höher und weiblicher. Das war ein Spiel, bei dem man dem anderen Geschlecht mal<br />

kurz sehr nahegekommen ist. Man konnte nachempfinden, wie das wohl sein mag. Und alle waren<br />

froh, als sie die Klamotten dann wieder los waren. Aber man verändert sich auch darüber hinaus.<br />

Wir kennen das doch alle: Sie stehen im Alltag an der Supermarktkasse und plötzlich merken Sie,<br />

dass Sie beobachtet werden. Da steht ein Vertreter des anderen Geschlechts und lächelt Ihnen zu.<br />

Fortan ist der Tag ein besserer. Sie packen anders ein, Sie fahren anders, Sie glauben wieder an<br />

sich. Man trägt aus solchen Momenten etwas mit in die andere Welt. So ist das auch im Karneval.<br />

Natürlich legt man das Kostüm wieder ab. Aber etwas von den Erfahrungen, die man darin<br />

gesammelt hat, von den Gefühlen, die man durchlebt hat, nimmt man mit in den Alltag und<br />

verändert sich dadurch unter Umständen auch ein kleines Stück. Die Erfahrung "ich könnte auch<br />

jemand anders sein" behalte ich über den Aschermittwoch hinaus - oder auch über den<br />

Discobesuch, den Empfang im Smoking oder eine andere Gelegenheit in besonderer Kleidung, denn<br />

wir verkleiden uns ja in gewisser Weise auch im Alltag immer wieder.<br />

PW: Welche Rolle spielt die Erotik beim Verkleiden?<br />

Über das Minikleid-Mädchen oder das Kätzchen, das Flirtbereitschaft signalisiert, haben wir ja<br />

schon gesprochen. Aber der Maskenflirt ist viel vielschichtiger: Der Flirt ist ja eigentlich ein<br />

Phänomen von Distanz und Nähe. Und durch den Ausnahmezustand, der im Verkleiden steckt, sind<br />

die alten Grenzen, die alten Codes aufgelöst. Je nach Verkleidung kann man dann den Flirtfaktor<br />

einsetzen, ohne dass es brenzlig wird. Der bis zur Unkenntlichkeit geschminkte Lappenclown zum<br />

Beispiel ist zunächst mal ein asexuelles Wesen. Man kann oft nicht erkennen, ob sich ein Mann<br />

oder eine Frau darin verbirgt. Dann kann man auch einmal Nähe riskieren, ohne dass direkt Erotik<br />

ins Spiel kommt und kann immer noch gucken, ob es funkt, ob man den Hebel noch umlegt oder ob<br />

man es einfach mal so genießt. Eine richtig schauerliche Hexe ist so unnahbar, dass sie ihr<br />

Gegenüber provozieren kann, ohne dass das gleich als Anmache erscheint. Das ist ein Spiel mit<br />

eingebauter Bremse, wenn man in Mann-Frau-Konstellationen denkt. Durch die Maskierung kann<br />

ich nicht wissen, mit wem ich es wirklich zu tun habe. Bei den alten höfischen Maskenbällen sah<br />

man darum der Demaskierung, dem Moment, in dem die Masken fielen, mit einer gewissen Angst<br />

entgegen: Auf wen hatte man sich da eingelassen? Wenn man den ganzen Abend mit einem als<br />

Frau verkleideten Mann getanzt und vielleicht sogar geschmust hätte, wäre das für einen Mann in<br />

der damaligen Zeit ausgesprochen peinlich gewesen.<br />

PW: Die Maskerade geht gern mit Anarchie und Regelverstößen einher. Andererseits gibt es aber<br />

auch Kostüme, die mit einem Haufen Regeln und Auflagen versehen sind. Die Uniformierten,<br />

Gardisten und Grenadiere der Züge und Karnevalsvereine beugen sich doch einer hohen<br />

Disziplin. Wie passt das zusammen?<br />

W.O.: Das sind kompensatorische Rangordnungen. In unserer freiheitlichen, demokratischen<br />

Gesellschaft gibt es keinen Uniformkult mehr. Aber es gibt nach wie vor eine Sehnsucht der<br />

Menschen, sich über die Uniform zu definieren, auch etwas darzustellen, was ich sonst mit meiner<br />

Person vielleicht nicht so ganz hergebe – ein sehr kindlicher Wunsch, aber wir können ihn nicht<br />

leugnen. Für mich ist da der Karneval oder auch das Schützenwesen ein wunderbares Ventil, wie<br />

man dieser Sehnsucht nachgeben kann, ohne dass es auch nur entfernt in der Wirklichkeit<br />

gefährlich werden könnte. Und es ist das bewusste Bekenntnis zur Persiflage. Dass das von einigen<br />

Garden so nicht eingehalten wird, die sich dann wirklich militaristisch gebärden, ist eine andere<br />

Geschichte. Es läuft immer unter dem Oberbegriff: Wir machen eine Persiflage auf das Militär.<br />

Deswegen sind Bräuche so etwas Tolles.<br />

Interview: Barbara Garde, 2009<br />

http://www.planet-wissen.de/kultur_medien/brauchtum/masken/interview.jsp<br />

erstellt von Eva Bormann, Dramaturgie Junges <strong>Theater</strong>, August 2012

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