Materialsammlung - Theater Marburg
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Vorgänge, in denen Informationen verarbeitet werden. Im Alltag würden wir von Denken in einem<br />
weiten Sinn sprechen. Allerdings umfassen Kognitionen auch unbewusste Vorgänge der<br />
Informationsverarbeitung, beispielsweise das Wiedererkennen eines Gesichts oder den (womöglich<br />
falschen) Schluss von einem beobachteten Fall auf alle Fälle gleichen Typs. Soziale Kognitionen<br />
sind Kognitionen, die Aspekte sozialer Beziehungen, z.B. die Erwartungen, Eigenschaften oder<br />
Einstellungen anderer Menschen, zum Gegenstand haben, uns also erlauben, andere Menschen<br />
einzuschätzen und zu verstehen. Sie sind eine Voraussetzung für kompetentes soziales Verhalten.)<br />
Das Kind als Freundschaftsphilosoph (Entwicklungsstufen)<br />
Sozialpsychologen, Erziehungswissenschaftler und Soziologen beschäftigen sich schon seit<br />
einigen Jahrzehnten mit der Freundschaft zwischen Kindern und mit ihrer Bedeutung für deren<br />
moralische und sozialkognitive Entwicklung. Ein wichtiges Resultat der ersten, ab Mitte der 1970er<br />
Jahre veröffentlichten Untersuchungen war, dass sich das kindliche Verständnis von Freundschaft<br />
im Entwicklungsverlauf in vorhersagbarer Weise verändert. Die noch immer interessantesten<br />
Arbeiten zu dieser Veränderung stammen von Robert Selman, einem in Harvard lehrenden Sozial-<br />
und Entwicklungspsychologen (*1942). Erklärtes Ziel seiner Forschungen war, in der Entwicklung<br />
des Freundschaftsverständnisses von Kindern eine "Logik" zu identifizieren. Seine Annahme: Das<br />
kindliche Freundschaftsverständnis lässt sich durch bestimmte soziale Kompetenzen beschreiben,<br />
die sich im Lauf der Entwicklung stetig erweitern und differenzieren. Rückblickend stellt diese<br />
Entwicklung sich dar als eine Abfolge von Kompetenzstufen wachsender Komplexität, deren höhere<br />
(spätere) die niedrigere (frühere) integriert. Mit dieser Annahme orientierte sich Selman an den für<br />
die Entwicklungspsychologie richtungsweisenden Arbeiten Jean Piagets.<br />
Selman ging aus von dem zunächst widersprüchlichen Befund, dass wir einerseits über einen<br />
anspruchsvollen Begriff idealer Freundschaft verfügen – wie er insbesondere in der europäischen<br />
Literatur seit der Antike immer wieder beschrieben, ja besungen wurde –, dass andererseits aber<br />
schon kleine Kinder häufig von ihren Freunden reden, ohne sich auch nur annähernd diesem<br />
Freundschaftsideal gemäß zu verhalten. Eine nahe liegende Reaktion darauf wäre, Kindern das<br />
Verständnis für und damit auch die Fähigkeit zur Freundschaft abzusprechen und ihre Äußerungen<br />
als irrelevant zu disqualifizieren. Faktisch entspricht dies (mit wenigen Ausnahmen) der Haltung der<br />
Psychologie bis in die 1970er Jahre. Eine klügere Reaktion ist die Vermutung, dass sich zwischen<br />
den Gedanken eines Kindes und denen Aristoteles' oder Schillers zur Freundschaft eine Kontinuität<br />
feststellen lässt, dass wir es vielleicht sogar mit einer gesetzmäßigen Entwicklung im Verständnis<br />
von Freundschaft zu tun haben könnten, die sich nicht nur beschreiben, sondern auch auf ihre<br />
Einflussfaktoren hin untersuchen und womöglich fördern ließe. Eine erwünschte Nebenwirkung<br />
dieser Sichtweise wäre, dass der Freundschaftsbegriff nicht allein auf unterschiedliche<br />
Entwicklungsstadien, sondern auch auf unterschiedliche Kulturen hin relativiert werden kann. Dazu<br />
am Ende noch ein paar Worte.<br />
Was also verstehen Kinder wann unter Freundschaft? Selman konnte fünf Freundschaftskonzepte<br />
von Kindern unterscheiden. Dabei ist deren wachsende Fähigkeit, die eigene Perspektive und die<br />
Perspektive des Freundes zusammenzudenken, das von Selman favorisierte Kriterium zur<br />
Charakterisierung dieser Konzepte als Stufen einer Entwicklung. Unter Perspektive verstehen<br />
Sozialpsychologen nicht nur und nicht in erster Linie die visuelle Wahrnehmung einer Situation,<br />
sondern im übertragenen Sinn auch und vor allem deren Bewertung, wobei diese Bewertung von<br />
Bedürfnissen und Interessen abhängt und sich vornehmlich in Gefühlen und Absichten äußert. Die<br />
Fähigkeit zur so genannten Perspektivenübernahme erschöpft sich nicht im Verständnis der<br />
Perspektive des Anderen (was denkt, fühlt und will der Andere), sondern schließt auch die Fähigkeit<br />
und Bereitschaft ein, die verstandene Perspektive im eigenen Handeln gleichgewichtig zu<br />
berücksichtigen und dabei mit der eigenen Perspektive zu koordinieren (im einfachsten Fall im<br />
Sinne eines Wie-du-mir-so-ich-dir: Ich bin nett zu dir, wenn du nett zu mir bist, ich schenke dir was,<br />
wenn du mir was schenkst).