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Materialsammlung - Theater Marburg

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erwünscht oder unerwünscht gelten. Freundschaft ist weitgehend individualisiert und damit<br />

bilaterale Verhandlungssache. In traditionalen Gesellschaften dagegen können Freundschaften im<br />

Hinblick auf die Auswahl der Freunde, die mit der Beziehung verbundenen Pflichten oder ihre<br />

(zeremonielle oder symbolische) Darstellung gegenüber Dritten, aber auch hinsichtlich ihrer<br />

instrumentellen und expressiven Funktionen in sehr viel höherem Maße sozial normiert sein.<br />

Differenzen im Verständnis von Freundschaft lassen sich auch zwischen einerseits<br />

individualistisch, andererseits kollektivistisch geprägten Kulturen erwarten. Im Hinblick auf diese<br />

(nicht unumstrittene) Unterscheidung haben Monika Keller und Michaela Gummerum (2003)<br />

Besonderheiten des Freundschaftsverständnisses von chinesischen und isländischen Kindern (u.a.<br />

direkt bezogen auf das Freundschaftsdilemma) untersucht. Hier einige ihrer Resultate:<br />

• Unter den Gesichtspunkten, die Freundschaft für ein chinesisches Kind zu einer besonders<br />

erstrebenswerten Beziehung machen, steht die soziale Definition des Individuums in<br />

vorderster Reihe: ohne Freundschaft hat das Leben keinen Sinn, ohne Freundschaft steht<br />

man allein im Leben, ohne Freunde hat man keinen festen Platz in der Gesellschaft.<br />

• Freunde sind unentbehrlich, um moralisch leben zu können: ein Mensch ohne Freundschaft<br />

ist kein guter Mensch; ohne Freunde weiß man nicht, was zu tun richtig oder falsch ist;<br />

Freunde hindern einen, das Falsche zu tun; oder sie helfen einem, die falsche Handlung zu<br />

korrigieren und die Verantwortung für sie zu tragen.<br />

• Chinesische Kinder zeigten im Unterschied zu isländischen Kindern (und allgemein Kindern<br />

in individualistischen Kulturen) eine sehr hohe Übereinstimmung zwischen moralischem<br />

Urteil (im Freundschaftsdilemma z.B. das Einhalten des Versprechens) und Verhalten (z.B.<br />

der Entscheidung, zur Freundin zu gehen). Allgemein werten Entwicklungspsychologen die<br />

Konsistenz zwischen Urteil und Verhalten als Zeichen moralischer Reife.<br />

• In den Begründungen ihrer Urteile greifen isländische Kinder über alle Altersstufen hinweg<br />

zu egoistischen Argumenten (z.B. begründen sie ihre Entscheidung, mit dem neuen Kind ins<br />

Kino zu gehen, damit, dass das mehr Spaß macht), während chinesische Kinder prosozial<br />

(altruistisch) argumentieren (z.B. würden sie, eigenen Aussagen nach, mit dem neuen Kind<br />

ins Kino gehen, weil es sich fremd fühlt und Unterstützung braucht).<br />

• In ihrem Konfliktlösungsverhalten tendieren chinesische Kinder deutlich zu einem (durch<br />

Kommunikation zu erzielenden) Konsens, während die isländischen Kinder häufig<br />

strategisch agieren (z.B. zu Lügen greifen, um einen Konflikt zu vermeiden oder zu ihren<br />

Gunsten zu lösen).<br />

Keller und Gummerum weisen darauf hin, dass sich die interkulturellen Unterschiede zwischen den<br />

von ihnen untersuchten Kindern im Entwicklungsverlauf abschwächen und z.T. auch verschwinden.<br />

Die Freundschaftskonzepte jüngerer Kinder unterscheiden sich also deutlicher als die älterer.<br />

Die zugrundeliegende Unterscheidung zwischen individualistischen und kollektivistischen Kulturen<br />

findet auch in weiteren Beziehungsaspekten ihren Niederschlag, z.B. in der Bewertung der<br />

Konkurrenz, der Zuschreibung von Verantwortung oder im Ausdruck von Emotionen. Die Vermutung<br />

liegt nahe, dass die in einer eher kollektivistischen Kultur vorherrschende Orientierung an<br />

Gruppenbeziehungen die Intensität und Intimität von Freundschaften eher behindert, umgekehrt<br />

aber altruistische Orientierungen und moralische Reife fördert. Das wechselseitige Zugeständnis<br />

von Autonomie, das Selman zufolge das höchste Niveau der Freundschaft kennzeichnet, erscheint<br />

dabei aus kollektivistischer Sicht nur bedingt erstrebenswert.<br />

Für das Philosophieren mit Kindern aus unterschiedlichen Herkunftskulturen könnte es eine<br />

spannende und lohnende Aufgabe sein, interkulturelle Unterschiede im Freundschaftsverständnis<br />

aufzuspüren und zu thematisieren – lohnend u.a. darum, weil so Erwartungsunterschiede der<br />

Kinder für diese selbst verdeutlicht und die Kommunikation über Beziehungen angeregt und<br />

sprachlich instrumentiert werden kann.

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