Materialsammlung - Theater Marburg
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Tabubruch hinter der Maske von Carolin Ströbele<br />
Wieso und seit wann feiern wir eigentlich Karneval? Ein Gespräch mit dem Ethnologen Wolfgang<br />
Kaschuba von der Berliner Humboldt-Universität<br />
Angsteinflößende Masken in Schwaben, verrückte Jecken am Rhein – die "fünfte Jahreszeit" wird<br />
auch in diesem Jahr rauschend gefeiert. Doch wieso und seit wann feiern wir eigentlich Karneval?<br />
Ein Gespräch mit dem Ethnologen Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba vom Institut für Europäische<br />
Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.<br />
ZEIT ONLINE: Karneval hat eine lange Tradition in Deutschland. Was sind die historischen Wurzeln<br />
dieses Brauches?<br />
Wolfgang Kaschuba: Verkleidungs- und Vermummungstraditionen gab es schon im<br />
Spätmittelalter, im 11. bis 13. Jahrhundert. Es wurden sogar richtige Vermummungsspiele<br />
veranstaltet: Die Person, die man unter seiner Verkleidung als Letztes erkannte, hatte gewonnen. In<br />
den kleinen bäuerlichen Gemeinden war das gar nicht so leicht. Mit dem Karneval begrüßte man<br />
freudig den Frühling. Die Menschen machten sich in regelrechten Gelagen über die<br />
Nahrungsmittelreserven aus dem Winter her, bevor die christliche Fastenzeit begann.<br />
ZEIT ONLINE: Die traditionellen Natur-Masken der schwäbisch-alemannischen Fastnacht sind bis<br />
heute erhalten. Sie machen aber keinen freudigen, sondern einen sehr unheimlichen Eindruck.<br />
Kaschuba: Die Feiern hatten sowohl belustigende, als auch erschreckende Elemente. Man bastelte<br />
Figuren, die böse Geister darstellen sollten, zündete Fackeln an und verkleidete sich auch selbst.<br />
Diese mittelalterliche "Mummerei" steht bei der schwäbisch-alemannischen Fastnacht noch immer<br />
im Vordergrund. Nicht nur das Aussehen, sondern auch die Herstellung der Masken aus einfachen<br />
Naturstoffen geht auf diese sehr alte Tradition zurück.<br />
ZEIT ONLINE: Wie unterscheidet sich demgegenüber die bekannteste deutsche Feierkultur, der<br />
rheinische Karneval?<br />
Kaschuba: Der rheinische Karneval geht auf die Tradition zurück, sich einige Tage im Jahr<br />
ungehemmt über die Obrigkeit lustig machen zu dürfen. Doch auch die Obrigkeit selbst, die seit der<br />
Urbanisierung in den Städten herrschte, begann im 16. Jahrhundert, den Karneval zu feiern. Sie<br />
zelebrierte die Pracht ihrer Städte, die reichen Bürger und Adelsfamilien veranstalteten<br />
Maskenbälle, ähnlich wie man sie aus Venedig kennt.<br />
ZEIT ONLINE: Wieso wurden gerade die Städte am Rhein so für ihre Karnevalstradition bekannt?<br />
Kaschuba: Diese Gegend war schon immer katholisch geprägt. Nach der konfessionellen Spaltung<br />
im 16. Jahrhundert war die Religionszugehörigkeit das entscheidende Merkmal des Karnevals.<br />
Karnevalist zu sein, hieß katholisch zu sein, während man als Protestant demonstrativ nicht mehr<br />
teilnahm. Daher verlor dieser Brauch in den protestantischen Gebieten an Bedeutung.<br />
Darüber hinaus hat die besondere Ausrichtung des Karnevals im Rheinland mit der Besetzung der<br />
Region durch Napoleon im 19. Jahrhundert zu tun. Denn die Franzosen wurden hier zur<br />
Karnevalszeit von den Narren auf der Straße ironisch dargestellt. Die französischen Perücken und<br />
Essgewohnheiten lieferten dabei eine gute Angriffsfläche. Auch das Militärische, das wir von den<br />
heutigen Umzügen kennen, geht auf diese Zeit zurück. Damals fingen die Frauen an, sich als<br />
Soldaten zu verkleiden, um das zeitgenössische Geschehen zu kommentieren.<br />
ZEIT ONLINE: Ist Karneval heute auch noch politisch?<br />
Kaschuba: So bewusst-provokant und sarkastisch wie damals ist man nicht mehr. Während heute<br />
eher die symbolische Kritik im Vordergrund steht, wurde damals schon einmal ein Adliger von<br />
einem Schauspieler mit entblößtem Hintern dargestellt – ein Tabu-Bruch! Heutzutage wird Kritik im<br />
Mainstream betrieben. Wirklich skandalös wird es nie.<br />
Die Fragen stellte Nina Pauer.<br />
http://www.zeit.de/online/2009/08/karneval-interview/komplettansicht?print=true