AlltAg im RheinlAnd - Institut für Landeskunde und ...
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essen<br />
Bittere <strong>und</strong> süße gedanken -<br />
essen <strong>und</strong> he<strong>im</strong>at<br />
von Johannes J. Arens<br />
„Man denkt an das Essen <strong>und</strong> daran, dass<br />
das schöne Zeiten waren. Ein bitterer <strong>und</strong><br />
süßer Gedanke.“<br />
So lautet die Antwort einer aus der Türkei<br />
stammenden Kurdin auf meine Frage, welche<br />
Rolle das Essen ihrer He<strong>im</strong>at <strong>im</strong> nunmehr<br />
deutschen Alltag spiele. Ein bitterer<br />
<strong>und</strong> ein süßer Gedanke – eine Metapher<br />
die das komplexe Beziehungsgeflecht von<br />
Esskultur, Erinnerung <strong>und</strong> He<strong>im</strong>at in wenigen<br />
Worten zusammenfasst. Essen wird<br />
nicht geschmeckt, sondern gedacht. Der<br />
authentische Geschmack ist untrennbar mit<br />
der Vergangenheit, mit den schönen Zeiten<br />
in einer nicht mehr verfügbaren He<strong>im</strong>at<br />
verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> somit <strong>für</strong> einen Flüchtling<br />
unwiderruflich verloren. Gleichzeitig bringt<br />
sie die Schnittmengen zwischen Erinnerung<br />
<strong>und</strong> Geschmack auf den Punkt. Denn der<br />
Gedanke selbst, die Erinnerung an den<br />
Verlust, wird zu einer sensorischen Empfindung<br />
– bitter <strong>und</strong> süß zugleich.<br />
He<strong>im</strong>at<br />
Aber He<strong>im</strong>at ist mehr als Gefühl, He<strong>im</strong>at<br />
ist nicht nur eine persönliche, sondern auch<br />
eine gesellschaftliche <strong>und</strong> eine politische<br />
Projektionsfläche, wie die Geschichte des<br />
Begriffs <strong>im</strong> Nachkriegsdeutschland – zwischen<br />
den Erfolgen süßlicher He<strong>im</strong>atfilme<br />
<strong>und</strong> heftiger ideologischer Debatten um<br />
36<br />
Flucht <strong>und</strong> Vertreibung – deutlich macht.<br />
Unter He<strong>im</strong>at verstehe ich <strong>im</strong> Folgenden<br />
den Ort, der in der eigenen Biografie als<br />
prägend empf<strong>und</strong>en wird. Ein mentales Gebilde<br />
aus Raum, Zeit <strong>und</strong> Empfindungen,<br />
das sich <strong>im</strong> Rahmen der Reflektion der eigenen<br />
Biografie zu einem metaphysischen „locus<br />
amoenus“ verdichten kann. Ein Ort, an<br />
dem die Dinge so sind, wie sie sein sollten.<br />
He<strong>im</strong>at <strong>und</strong> Esskultur<br />
Die Erinnerung an Essen <strong>und</strong> Trinken sind<br />
unverzichtbare Bestandteile dieser virtuellen<br />
Verortung. Es genügt ein kurzer Blick auf<br />
die eigenen Kindheitserinnerungen – Personen,<br />
Situationen <strong>und</strong> Orte sind vielmals<br />
mit best<strong>im</strong>mten Produkten <strong>und</strong> Gerichten,<br />
mit Gerüchen oder einem best<strong>im</strong>mten Geschmack<br />
verb<strong>und</strong>en. Aus der Erinnerung an<br />
Ernährung lassen sich also Schlüsse ziehen,<br />
deren Tragweite weit über persönliche Befindlichkeiten<br />
hinausreicht.<br />
Bringt man nun He<strong>im</strong>at <strong>und</strong> Esskultur<br />
zusammen, wird schnell deutlich, dass die<br />
Interaktion dort am größten ist, wo der<br />
Zugang zu einer physischen He<strong>im</strong>at verloren<br />
gegangen, beziehungsweise nur noch<br />
deutlich eingeschränkt vorhanden ist. Vor<br />
allem dort, wo Menschen dauerhaft ihren<br />
geografischen Lebensmittelpunkt verlagern<br />
oder verlagern müssen, entstehen deutliche