AlltAg im RheinlAnd - Institut für Landeskunde und ...
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essen<br />
Identität durch Mangel<br />
Beide Gewährsgruppen verneinen die Frage,<br />
ob sie in best<strong>im</strong>mten Krisenmomenten<br />
des Alltags, beispielsweise bei akuten<br />
He<strong>im</strong>wehgefühlen, ein best<strong>im</strong>mtes Gericht<br />
zubereiten oder essen. Die Erinnerungskultur<br />
funktioniert also offensichtlich nicht<br />
über ein Plus an best<strong>im</strong>mten Lebensmitteln<br />
oder Speisen, sondern vielmehr über einen<br />
ganz konkreten Mangel. Dieser lässt sich in<br />
zwei Kategorien zusammenfassen. Zum einen<br />
geht es um einen fassbaren Mangel an<br />
konkreten Zutaten, die <strong>für</strong> die Zubereitung<br />
von best<strong>im</strong>mten Gerichten aus der He<strong>im</strong>at<br />
notwendig sind, zum anderen um die fehlende<br />
Authentizität in Beschaffenheit <strong>und</strong><br />
Geschmack der vorhandenen Produkte. Die<br />
Ostpreußinnen nennen frisches Gänseblut,<br />
welches zur Zubereitung des regionaltypischen<br />
Gänseschwarzsauers notwendig sei,<br />
als eine Zutat, die gar nicht oder nur schwer<br />
zu bekommen sei.<br />
Die Stadtteilmütter erzählen von einer best<strong>im</strong>mten<br />
Sorte Lab zur Käsezubereitung<br />
oder einem aus Traubenkernen hergestellten<br />
Säurungsmittel, das <strong>im</strong> arabischen Raum<br />
verbreitet ist.<br />
Authentizität der Produkte<br />
Hinsichtlich eines unzulänglichen Geschmacks<br />
beklagen die ostpreußische Frauen,<br />
dass sich der verfügbare Speck nicht<br />
zur Herstellung von „Spirgel“ (ausgelassene<br />
Speckwürfel die beispielsweise zu Kartoffelpüree<br />
verzehrt wurden) eignen würde, da<br />
er zu viel Feuchtigkeit enthalte. Für die aus<br />
Königsberg stammende Frau Becker ist der<br />
in Deutschland erhältliche Majoran nicht<br />
mit dem ihrer Kindheit in Ostpreußen zu<br />
vergleichen.<br />
40<br />
„Leberwurst mit viel Majoran – da träume<br />
ich heute noch von. Den Majoran, den sie<br />
heute kaufen können, der riecht zwar, aber<br />
dann schmeckt er letztendlich nach nichts.“<br />
Für die aus Tilsit stammende Frau Krielke<br />
ist ihre Kindheit in Ostpreußen mit der Erinnerung<br />
an selbstgebackenes <strong>und</strong> dick mit<br />
Käse belegtes Brot verb<strong>und</strong>en. Den heute<br />
unter der Bezeichnung Tilisiter verkauften<br />
Käse findet sie „ein Grauen“, weil er nicht<br />
geruchsintensiv genug sei.<br />
Türkischer Imbiss am Kottbusser<br />
Tor in Berlin-Kreuzberg.<br />
Änliche Empfindungen äußern auch die<br />
Stadtteilmütter. Frau L. verwendet ausschließlich<br />
Gewürze <strong>und</strong> Kräuter aus ihrer<br />
libanesischen He<strong>im</strong>at. Auf diese Weise stellt<br />
der Mangel von authentischen Produkten<br />
gewissermaßen eine physische Verbindung<br />
in die He<strong>im</strong>at her, die <strong>im</strong> Falle von Frau L.,<br />
die von ihrem Vater selbstgezogenen Thymian<br />
<strong>und</strong> Pfefferminze aus dem Libanon<br />
geschickt bekommt, noch einmal besonders<br />
emotional aufgeladen ist.<br />
Als Gründe <strong>für</strong> die als minderwertig empf<strong>und</strong>ene<br />
Qualität der gegenwärtig erhältlichen<br />
Lebensmittel nennen die Frauen aus