03.01.2015 Aufrufe

PDF-Datei herunterladen (ca. 1 MB) - Gemeinschaft evangelischer ...

PDF-Datei herunterladen (ca. 1 MB) - Gemeinschaft evangelischer ...

PDF-Datei herunterladen (ca. 1 MB) - Gemeinschaft evangelischer ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

122<br />

BEITRÄGE<br />

über die Aufteilung der Lebensmittelkarten. In Hilmsen<br />

waren wir bei der sehr netten Rektorenfamilie Mohr im<br />

Schulhaus untergebracht, die uns ihr großes Schlafzimmer<br />

überließen. Meine Mutter hatte schon 1945 Passierscheine<br />

für die britische Zone zu ihrer Schwester nach Hamburg<br />

erwirkt. Als wir uns damit auf den Weg machten, rückten<br />

die Russen 150 km weiter nach Westen vor. Wir kamen nur<br />

bis Aschersleben, nicht mehr weiter ... „Der Eiserne Vorhang<br />

ist heruntergelassen” , hieß es schon damals. Ich habe<br />

mir das ganz wörtlich so vorgestellt.<br />

1946, ein weiterer V ersuch, in den Westen zu gelangen.<br />

Als Bäuerin mit einer Kiepe verkleidet hat meine Mutter<br />

die Grenze schwarz überquert, um eine Zuzugsgenehmigung<br />

für uns in die amerikanische Zone zu den Großeltern<br />

zu erwirken. Diese waren nach ihrer Flucht aus Schlesien<br />

schließlich in einer Flüchtlingssiedlung in Wehrmachtskasernen<br />

in Wertheim angekommen. Nach vier Wochen erhielten<br />

wir die ersehnte Zuzugsgenehmigung in die amerikanische<br />

Zone. Fünf Tage brauchten wir im November<br />

1946 von Hilmsen nach Wertheim mit Grenzübertritt bei<br />

Eisenach. Ein Lageraufenthalt blieb uns erspart, da meine<br />

Mutter eine Fürsorgerin kannte, die uns die Papiere für den<br />

Übergang in die Westzonen ohne Lageraufenthalt besorgte.<br />

Mir hatten schon die Übernachtungen in den Riesenschlafsälen<br />

der Bahnhofsmission mit all den unvermeidbaren Geräuschen<br />

gereicht. Ich habe aufgeatmet, als wir nach fünf<br />

Tagen schließlich in Wertheim morgens um 6 Uhr angekommen<br />

waren. Es gab frische Brötchen in einer Bäckerei.<br />

Mit dieser Stärkung ließ sich auch der Aufstieg auf den<br />

Reinhardshof bewältigen. Wir sind dann bei den Großeltern<br />

in deren Küche untergekommen und haben dort gut drei<br />

Jahre gelebt. Die drei Ami-Pritschen für uns haben fast<br />

vollständig den Raum ausgefüllt.<br />

IV. Wilde und organisierte Vertreibungen<br />

Neben der Flucht aus den Reichsgebieten jenseits der Oder/<br />

Neiße gab es „wilde” und „organisierte” Vertreibungen. Nach<br />

dem Potsdamer Abkommen sollte es „geordnete und humane<br />

Umsiedlungen” geben. In Wirklichkeit waren die Vertreibungen<br />

seit drei Monaten bereits im Gange. Die polnische<br />

Regierung war auf die Planung der Aussiedlung nicht vorbereitet.<br />

Es gab keinen Plan fiir das schnelle Sammeln und<br />

Transportieren von Millionen von Menschen. Die Transporte<br />

von Deutschen aus Danzig begannen im April 1945 und<br />

waren eher freiwillig als erzwungen. Das wurde anders im<br />

Juni, als militärische Direktiven die Vertreibung der deutschen<br />

Bevölkerung anordneten. Teilweise gab es Vorschriften,<br />

dass nur 20 kg Gepäck mitgeführt werden durfte. Pferde<br />

und Ochsenkarren wurden an der Grenze beschlagnahmt. Es<br />

war eine Prozession des Elends. „Während der 5 Wochen auf<br />

der Straße lebten wir nur von Kartoffeln und Feldfrüchten,<br />

die wir selbst ausgruben”, so ein Flüchtlingsbericht (zit. nach<br />

R. M. Douglas: Ordnungsgemäße Überfiihrung, S. 143). Neben<br />

den Plünderungen wurde auch den Frauen Gewalt angetan.<br />

Andere Vertreibungen wurden in Güterwaggons durchgeführt,<br />

nach einem Bericht mit 98 Personen in einem Waggon,<br />

14 Tage auf der Fahrt nach Berlin, die hygienischen und humanitären<br />

Umstände waren unbeschreilich.<br />

V. Die Internierungslager<br />

Tausende improvisierte Internierungslager fiir Deutsche<br />

entstehen in Mitteleuropa in den Wochen nach dem Rückzug<br />

der Wehrmacht: in der Tschechoslowakei, in Polen,<br />

Jugoslawien, Ungarn und Rumänien. Viele KZ des Nazi-<br />

Regimes wurden erst gar nicht geschlossen, sondern dienten<br />

noch jahrelang als Internierungslager für Deutsche, so<br />

z.B. Majdanek und Theresienstadt. In Auschwitz lagen<br />

zwischen der Befreiung der letzten überlebenden Häftlinge<br />

und der Ankunft der ersten deutschen Häftlinge keine zwei<br />

Wochen. Das Lager Linzervorstadt wird von Douglas als<br />

typisch für tausende improvisierte Internierungslager bezeichnet,<br />

die in ganz Mitteleuropa entstanden. Es war während<br />

des Krieges vom Reichsarbeitsdienst genutzt. Einige<br />

Verwalter und Lagerwachen waren vor kurzem noch selbst<br />

Häftlinge in deutschen KZ gewesen, andere waren 15-18<br />

jährige jungeMänner, die als „Partisanen” bezeichnet wurden.<br />

Über dem Lagertor von Linzervorstadt stand das<br />

Motto: „Auge um Auge, Zahn um Zahn”. Neuankömmlinge<br />

wurden nackt ausgezogen und durch Schläge mit Gummiknüppeln<br />

ins Lagerleben „eingeführt”. Ein katholischer<br />

Priester hatte einem Sterbenden die Sakramente gegeben,<br />

dafür erhielt er zweimal 50 Schläge mit einem daumendikken<br />

Stahldraht auf Rücken, Brust und Gesäß.<br />

Nach einem anderen Bericht fanden die Torturen zumeist<br />

zwischen 21 und 22 Uhr statt. Auch wurden frühere<br />

Gefangene in die Waschräume eingeladen, um diejenigen<br />

zu verprügeln, „gegen die sie aus früherer Zeit einen Groll<br />

verspürten.” Das Lagersystem war vielgestaltig und ausgedehnt.<br />

In Mittel- und Südosteuropa zeigte sich viel Improvisation.<br />

Lokale Behörden, Volksmiliz oder selbsternannte<br />

Bürgerkomitees richteten Internierungslager ein, und zwar<br />

auch in Sportstadien, verlassenen Fabriken, Kirchen oder<br />

Wohnhäusern. Klare Kriterien für eine Internierung lassen<br />

sich nicht feststellen. Anweisungen, dass Alte, Schwangere<br />

oder Behinderte ausgenommen werden sollten, wurden fast<br />

immer ignoriert. Auch Opfer des NS-Regimes internierte<br />

man, ebenso 2-3000 Juden, die sich einmal als Deutsche<br />

hatten registrieren lassen. Andere hatten als politische Gefangene<br />

den Krieg ganz oder teilweise in KZ zugebracht<br />

und wurden ebenfalls interniert. Selbst das blonde Haar eines<br />

14-jährigen Niederländers genügte, um ihn als „deutsch”<br />

einzustufen und ihn nach Auschwitz III zu schicken.<br />

Es gab aber auch Kinderlager wie z.B. im ehemaligen<br />

KZ Bunzlau wo 1200 Jungen im Alter zwischen 12 und 15<br />

Jahren als Zwangsarbeiter für den Straßenbau eingesetzt<br />

wurden. Douglas fasst sein Kapitel über die Lager dahingehend<br />

zusammen, dass 1945 für internierte Menschen das<br />

höchste Risiko bestand, an vermeidbaren Krankheiten zu<br />

sterben, gefoltert oder hingerichtet zu werden. Auch die<br />

Zahl der sexuellen Übergriffe war sehr hoch. Zahlen sind<br />

sehr schwer zu ermitteln. Douglas formuliert: „Während<br />

die Gefangenenzahl der deutschen Konzentrationslager<br />

Anfang 1945 mit 700.000 ihren Höhepunkt erreichte,<br />

könnte die Zahl der in Europa in ähnlichen Einrichtungen<br />

eingesperrten Menschen am Ende des Jahres noch höher<br />

gelegen haben.” (Ordnungsgemäße Überführung, S. 174).

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!