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BEITRÄGE 121<br />

Flucht und Vertreibung als individuelles und kollektives Schicksal<br />

GOTTHARD SCHOLZ-CURTIUS<br />

Den nachfolgenden Beitrag hat der Verfasser als Vortrag<br />

im Rotary Club DA-Kranichstein am 22. März 2013 gehalten.<br />

In aller Knappheit fasst er die wesentlichen Aspekte<br />

des gestellten Themas zusammen und gibt anhand sorgfältiger<br />

Literaturrecherche Auskünfte, die des Nachdenkens<br />

lohnen. Im Wesentlichen bezieht er sich auf die nachfolgend<br />

genannten Publikationen: Stefan Aust und Stephan<br />

Burgdorff (Hg): Die Flucht, dtv München 2005; R. M. Douglas:<br />

Ordnungsgemäße Überführung, München 2012; Ian<br />

Kershaw: Das Ende, 2. Aufl. München 2011. (Anm. d. Red.)<br />

Vorbemerkung<br />

Hitlers Politik und Krieg hat zu Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen<br />

größten Ausmaßes in den von der Wehrmacht<br />

eroberten Gebieten geführt. Die Zahl wird mit etwa 10 Millionen<br />

ausländischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener<br />

beziffert. Diese Politik war zunächst im „Generalplan Ost”,<br />

später umfassender im „Generalsiedlungsplan” mit einer<br />

kalkulierten Verlustquote von 32 Mio. Russen zusammengefasst.<br />

Dazu kam die Vertreibung und Zwangsumsiedlung bis<br />

zur physischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im<br />

ganzen von Hitler besetzten Europa. Ich möchte dies bewusst<br />

an den Anfang setzen, bevor ich auf die Flucht und<br />

Vertreibung in den Jahren 1944-47 aus den damaligen<br />

Reichsgebieten jenseits der Oder/Neiße zu sprechen komme.<br />

I. Aufbruch aus Frankenstein/ Schlesien<br />

Am 24. Januar 1945 begann unsere Flucht aus Frankenstein.<br />

Wir waren zu dritt, meine Mutter, mein Bruder (4)<br />

und ich (5½). Wir hatten schon den Vortag bei einigen Grad<br />

Kälte auf dem Bahnhof verbracht, ohne dass es uns gelungen<br />

war, in einen Zug zu gelangen. Der Bahnsteig war<br />

schwarz von Menschen. Schließlich konnten wir am Abend<br />

einen Zug besteigen, dessen Fensterscheiben zerbrochen<br />

waren. Er brauchte bis Königszelt die ganze Nacht, eine<br />

Strecke, die man normalerweise in 50 Minuten zurücklegt.<br />

Wir gelangten nach Lauban (etwa 140 km), wo wir bei<br />

Verwandten unterkamen. Infolge der eiskalten, zugigen<br />

Nachtfahrt wurden wir alle drei erst einmal krank.<br />

Lauban war bereits mit Flüchtlingen überfüllt, die aus<br />

Breslau evakuiert worden waren. Wenige Tage später kam<br />

meine Tante, die in der Sparkasse arbeitete, mittags nach<br />

Hause mit der Nachricht: „Russische Panzer bei Bunzlau.<br />

Frauen und Kinder sollten sofort die Stadt verlassen.” Das<br />

taten wir dann auch, obwohl mein Bruder noch fieberte. In<br />

Falkenberg wieder 4-5 Stunden Aufenthalt. Meine Mutter<br />

mit dem kranken Bruder im Bahnhofsgebäude, ich musste<br />

das Gepäck auf dem Bahnsteig bewachen. – Soweit der<br />

Bericht meiner Mutter vom Beginn unserer Flucht, den sie<br />

25 Jahre später verfasst hat. An viele Einzelheiten kann ich<br />

mich selbst noch gut erinnern.<br />

II. Flucht und Vertreibung als kollektives Schicksal<br />

Am 21. Oktober 1944 überschritten sowjetische Panzer die<br />

Grenze von Ostpreußen. Damit begann der Exodus der<br />

deutschen Bevölkerung aus den östlichen Reichsgebieten.<br />

Die ländliche Bevölkerung floh zumeist in Planwagen in<br />

endlosen Trecks über verschneite Straßen und unter Beschuss<br />

aus der Luft. Ein Teil nimmt den Weg über das vereiste<br />

Haff, um die Häfen an der Ostsee zu erreichen. Bekannt<br />

ist der Untergang der „Gustloff” durch die Torpedos<br />

eines sowjetischen U-Boots mit heute geschätzten 9000 Toten,<br />

von der Zahl derOpfer her die größte Schiffskatastrophe.<br />

Über die maritime Evakuierung sind zwischen 1-2<br />

Millionen Flüchtlinge nach Westen transportiert worden.<br />

Auch die in ostpreußischen Nebenlagern des KZ<br />

Stutthof festgehaltenen jüdischen Menschen erlebten und<br />

erlitten „kaum vorstellbare Tage des Schreckens” (Jan<br />

Kershaw: Das Ende, S. 266). Auf ihrem Marsch durch Eis<br />

und Schnee, „gekleidet in wenig mehr als Lumpen und<br />

Holzpantoffeln” und bewacht von SS und Mitgliedern der<br />

Organisation Todt, sollten sie schließlich in einen stillgelegten<br />

Bergwerksschacht getrieben und der Eingang versiegelt<br />

werden. Der Grubendirektor weigerte sich jedoch, die<br />

Schächte zu öffnen. Sie wurden am Ende auf das Eis und in<br />

das eiskalte Wasser getrieben und mit Maschinengewehrsalven<br />

niedergemäht. Von ursprünglich 7000 Gefangenen<br />

überlebten 200.<br />

Eine besondere Rolle bei der Flucht spielte Gauleiter<br />

Erich Koch, der eine rechtzeitige Evakuierung von Ostpreußen<br />

strikt verbot. Seine Ehefrau und Sekretärin ließ er<br />

jedoch in Sicherheit bringen. Die meisten Familien griffen<br />

zur Selbsthilfe. Für viele war es dann schon zu spät.<br />

Ein eigenes Schicksal hatte auch Breslau, die schlesische<br />

Hauptstadt. Sie war von Hitler zur Festung erklärt<br />

worden und sollte bis zum letzten verteidigt werden. Anfang<br />

April 1945 ging der Flugplatz Gandau verloren. Somit<br />

konnte die Stadt nicht mehr aus der Luft versorgt werden.<br />

Da wurden mit Planierraupen ganze Straßenzüge abgeräumt,<br />

um eine Notlandebahn zu schaffen. Am 2. April<br />

löschten ununterbrochene Luftangriffe fast die ganze Innenstadt<br />

aus. Gauleiter Hanke lehnte es ab, sich zu ergeben.<br />

Wegen seiner persönlichen Führung ehrte Hitler ihn mit<br />

dem Goldenen Kreuz des Deutschen Ordens. Am 4. Mai –<br />

wenige Stunden vor der Kapitulation Breslaus – verließ der<br />

„Held” die Stadt mit einem Fieseler Storch, wahrscheinlich<br />

dem einzigen Flugzeug, das von der Notlandebahn in der<br />

Stadt abhob. (Jan Kershaw: Das Ende, S. 442/3).<br />

III. Weitere Flucht bis zur Ankunft im Westen<br />

Wir sind nach unserem Aufbruch aus Frankenstein über<br />

fünf Stationen ( Mertendorf, Könnern, Salzwedel, Aschersleben<br />

und Hilmsen ) schließlich nach knapp zwei Jahren im<br />

November 1946 in der amerikanischen Zone in Wertheim<br />

gelandet. Ich habe noch die brennenden Leunawerke und<br />

den stark beschädigten Leipziger Hauptbahnhof in Erinnerung.<br />

Jedes Mal, wenn wir in Leipzig unsere Kinder und<br />

Enkel besuchen, kommen die Eindrücke von der Flucht<br />

wieder hoch. Einige Monate haben wir bei Verwandten in<br />

Mertendorf im Pfarrhaus gewohnt, mit einigen Konflikten

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