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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Inhalt<br />

<strong>Wolfgang</strong> <strong>Prabel</strong><br />

<strong>Neue</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>braucht</strong> <strong>das</strong> Land<br />

Die deutsche Kulturrevolution 1890 bis 1933<br />

Erklärungsnöte der Geschichtswissenschaft Seite 2<br />

Wetterleuchten Seite 14<br />

Die Kulturrevolution im Spätkaiserreich Seite 22<br />

Der ständegesellschaftliche Überhang Seite 102<br />

Die Novemberrevolution und die Nationalversammlung Seite 130<br />

Die Inflationszeit Seite 198<br />

Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ Seite 226<br />

Endzeitstimmung Seite 284<br />

Fazit Seite 338<br />

Zeittafel des Reformismus und Elitarismus Seite 361<br />

1


Erklärungsnöte der Geschichtswissenschaft<br />

Daraus geht hervor, wie notwendig es ist, <strong>das</strong>s jedermann, der nach<br />

wahrer Erkenntnis strebt, die Definitionen früherer Autoren überprüft;<br />

und sie entweder korrigiert, wo sie nachlässig formuliert sind, oder<br />

selber neue erarbeitet. Denn die Fehler in den Definitionen vervielfachen<br />

sich im Fortgang der Berechnungen und verleiten die <strong>Menschen</strong> zu<br />

Unsinnigkeiten, welche sie zwar endlich erkennen, aber nicht vermeiden<br />

können, ohne von Anfang neu zu rechnen.<br />

Hobbes, Leviathan<br />

Für eine neue Sichtweise auf die Vorgeschichte des Dritten Reiches<br />

So wie Jaques-Louis David vor der französischen Revolution den Schwur der Horatier malte, um an<br />

die Ideale der römischen Republik zu erinnern und diese idealisierten republikanischen Ideale der<br />

überschuldeten Monarchie vorzuhalten und entgegenzustellen; so wie vor dem Ersten Weltkrieg der<br />

Auszug der Jenenser Studenten als Ausdruck eines idealistischen jugendlichen Aktivismus rezipiert<br />

wurde; so wie vor der Revolution von 1989 „Die hab ich satt“ gesungen wurde, so wurde vor Hitlers<br />

Machtergreifung dem Elitarismus, dem <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> als Übermenschen und Führer, dem<br />

germanischen Blut, dem heimischen Boden, den deutschen Waldgewächsen, dem tradierten<br />

Brauchtum, den vorchristlichen Naturidolen, der Männlichkeit, dem Antikapitalismus, dem<br />

Antisemitismus, dem jugendbewegten Aktivismus und der Gewaltanwendung gehuldigt. Und zwar<br />

nicht nur von Nationalsozialisten, sondern von der ganzen jugendbewegten Intelligenz. Der Glaube an<br />

bevorstehende Gesellschafts- und Naturkatastrophen und der Unglaube an Vernunft, Rationalität und<br />

Demokratie einte die deutschen Eliten. Es gibt keine politische Umwälzung auf der Welt, die nicht eine<br />

kulturrevolutionäre Vorbereitungsphase hatte.<br />

Es ist an der Zeit, die Periode zwischen 1890 und 1933 scharf zu analysieren, weil sich die<br />

Geschichte zu wiederholen scheint. Die Bundesrepublik Deutschland beginnt nach der Periode des<br />

Wirtschaftswunders, der Etablierung der parlamentarischen Demokratie und politischer Aufklärung<br />

zurückzufallen in eine vielfach abgestufte ökonomische Ständegesellschaft 1 , antidemokratische<br />

Denkweisen und kulturellen Obskurantismus. Fast alle totgeglaubten Gespenster des Kaiserreichs<br />

und der Weimarer Republik sind am Erwachen. Wie vor 100 Jahren glaubt sich jener Teil der<br />

deutschen Intelligenz, welcher die Medien und den Kulturbetrieb kontrolliert, im Besitz globaler<br />

Weisheit; egal ob es sich um den Weltfrieden, den Welthandel oder <strong>das</strong> Weltklima handelt. Ähnlich<br />

wie vor hundert Jahren verteilt die deutsche Intelligentsia anderen Eliten der westlichen und dritten<br />

Welt politische Zensuren. Deutschland ist wie vor 100 Jahren Exportweltmeister bei Maschinen und<br />

idealistischen Ideologien. Und es ist wie vor 100 Jahren dabei, sich außenpolitisch zwischen alle<br />

Stühle zu setzen. Fast meint man, am deutschen Wesen solle wieder die Welt genesen. In der<br />

Gewissheit, die Stimmung einer Bevölkerungsmehrheit auszudrücken, sprach Altbundeskanzler<br />

Schröder 2002 vom deutschen Weg, den er beschreiten würde und wählte soweit eine Metaphorik wie<br />

sie von der wilhelminischen Epoche bis zum Ende des Dritten Reichs häufig zur Kenntnis genommen<br />

werden konnte.<br />

Wer auf diesen deutschen Weg zurück will, muß die Schlüssel zu den Schatzkammern der Erinnerung<br />

in seine Gewalt bringen; er muß die Geschichtswissenschaft auf deutsche Linie bringen; er muß alles<br />

menschenmögliche tun, um die Zusammenhänge zwischen Nietzsches Gewaltsphilosophie und der<br />

expressionistischen Kulturrevolution einerseits mit dem Sieg des Nationalsozialismus andererseits zu<br />

verschleiern. Er muß den Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Korporatismus und der<br />

tradierten deutschen Planwirtschaft mit dem politischen Erfolg des Nationalsozialismus leugnen. Er<br />

muß antidemokratische und antiparlamentarische Haltungen der kulturellen und wirtschaftlichen Eliten<br />

relativieren. Auf diesem deutschen Weg der Geschichtsaneignung sind wir ein gutes Stück<br />

vorangekommen.<br />

Die Forschung zur Entstehung des Dritten Reiches befindet sich in einer Krise, die durch<br />

Rücksichtnahmen auf mächtige Interessengruppen und Konsenzseligkeit verursacht ist. Insbesondere<br />

wird seitens der Wissenschaft auf die Interessen des Kulturbetriebs, die in Deutschland traditionell<br />

1 Mit Angestellten mit und ohne Kündigungsschutz, mit und ohne Mindestlohn, Eurojobbern, geringfügig<br />

Beschäftigten mit und ohne Rentenanspruch, Selbständigen und Scheinselbständigen, AG´s und Ich-AG´s,<br />

Beamten und Wahlbeamten, Freiberuflern und Kaufleuten, Handwerkern mit und ohne Befähigungsnachweis,<br />

Landwirten mit und ohne Milchquote, Organvertretern usw.<br />

2


sakrosankt sind, soviel Rücksicht genommen, <strong>das</strong>s die wissenschaftliche Ehrlichkeit darunter leidet.<br />

Die kulturrevolutionäre Vorbereitung des Nationalsozialismus wird von öffentlich besoldeten<br />

Historikern geleugnet; die banale Wahrheit ist: es gibt fast keinen Schriftsteller, Maler, Dichter des<br />

Spätkaiserreichs, der sich nicht für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begeistert hat. Es gibt nur<br />

eine Handvoll Künstler, die in der fraglichen Zeit die parlamentarische Regierungsform akzeptiert oder<br />

unterstützt haben. Es gab auch in der Weimarer Zeit keinen konsequent demokratisch orientierten<br />

Kulturbetrieb. Bei den Muster-Vernunftsdemokraten Thomas Mann und Kurt Tucholsky findet man nur<br />

sehr sporadisch eine hilfreich ausgestreckte Hand für jene parlamentarischen Kräfte, die am Erhalt<br />

des politischen Status Quo interessiert waren. Die Kraftkerle der Moderne waren in der ganz<br />

überwiegenden Zahl elitaristische Antidemokraten. Es ist trotz eines zu erwartenden Sturms der<br />

inzenierten Entrüstung an der Zeit, die Karten, mit denen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

gespielt wurde, aufzudecken.<br />

Wer die kulturellen Wurzeln des Nationalsozialismus leugnet, der muß zu anderen Erklärungen seine<br />

Zuflucht suchen. In den Geschichtsbüchern für die deutschen Gymnasien führen die Auswirkungen<br />

der Weltwirtschaftskrise zur Machtergreifung Hitlers, ohne daß der Wirkungsmechanismus ganz<br />

konsistent dargestellt wird; da ist eher alles etwas schwammig und neblig-wabernd formuliert, zurück<br />

bleibt jedoch der Eindruck, die damalige Verelendung hätte den Nationalsozialismus herbeigeführt.<br />

Es ist nicht nur dieser banale Vulgärmaterialismus, auf den sich die deutsche Geschichtswissenschaft,<br />

Politik und Kultur als Erklärung für die Entstehung des Nationalsozialismus letztlich geeinigt hat. Hans<br />

Mommsen hat die Verelendungstheorie mit einer Verschwörungstheorie verknüpft: „Es ist irreführend,<br />

anzunehmen, <strong>das</strong>s die Bildung des Kabinetts der nationalen Konzentration 2 <strong>das</strong> zwangsläufige<br />

Resultat der durch die Wirtschaftskrise geschürten inneren Konflikte gewesen sei. (...) Nicht <strong>das</strong><br />

Versagen der republikanischen Politiker, sondern <strong>das</strong> Zusammenspiel der Gegner des demokratischparlamentarischen<br />

Systems in Wirtschaft, Armee, Bürokratie und Justiz ... riefen die Endkrise des<br />

parlamentarischen Systems hervor“ 3 Diese zweite Erklärung für die Machtübernahme ist ebenso<br />

falsch, denn sie benennt jene Hauptgegner der Weimarer Republik nicht, die einen noch größeren<br />

Einfluß hatten als Industrielle, Militärs, Bürokraten und Richter zusammen; jene, die <strong>das</strong> intellektuelle<br />

Klima prägten: Redakteure, Schriftsteller, Dichter, Maler, Bildhauer, Politiker, die Vorstände von<br />

wirtschaftlichen pressure groups und nicht zuletzt die allmächtigen Medienzaren. Der populärste und<br />

produktivste Maler war Fidus, die potentesten Medienmogule waren Hugenberg, Mosse, Ullstein und<br />

Münzenberg. Diese hatten einen hundertmal größeren Einfluß auf die deutsche Befindlichkeit als von<br />

Seeckt, Groener, Thyssen, Krupp und Stinnes zusammen. Das Lichtgebet von Fidus hing in jeder<br />

vierten Wohnung, und fast ebensoviele Abonnenten lasen jeweils Hugenbergs, Münzenbergs, Mosses<br />

und Ullsteins Gazetten.<br />

Ohne deren Einfluß kann man weder den deutschen Imperialismus, den Ersten Weltkrieg, die<br />

Novemberrevolution noch die Machtergreifung Hitlers wirklich erklären. Viele andere Länder als<br />

Deutschland waren in der Weltwirtschaftskrise genauso verelendet wie Deutschland oder noch<br />

wesentlich ärmer und sie errichteten keine nationalsozialistische Diktatur, ja viele Länder haben nicht<br />

einmal einen Politiker hervorgebracht, der Hitler annähernd vergleichbar war. Allenfalls Rußland,<br />

Italien und Fiume haben ähnlich strukturierte Personen in der fraglichen Zeit als Staatsoberhäupter<br />

beschäftigt. Die Wahrheit ist: die übrigen Länder standen nicht im selben Maße unter dem Kuratell<br />

aggressiver intellektueller Gewaltjunkies, sie waren weniger reformistisch und hatten in Wirtschaft und<br />

Politik demokratischere Traditionen. Letztlich ist <strong>das</strong> Ausnehmen der kulturellen Eliten aus der<br />

politischen Verantwortung die erste Ableitung einer vulgärmaterialistischen Anschauung, weil es<br />

vulgärmaterialistischen Lehren adäquat entspricht, für alle Fehlentwicklungen allein die Wirtschaft und<br />

nicht auch die Kultur verantwortlich zu machen.<br />

So wie die kulturellen Eliten den Nationalsozialismus antrieben, so gibt es die Mitwirkung der<br />

deutschen Wirtschaft bei der Errichtung der nationalsozialistischen Herrschaft, allerdings mit einer<br />

völlig anderen Motivation, als von der kulturellen Intelligenz behauptet. Nicht die Aussicht auf<br />

Kriegsprofite machte den Nationalsozialismus für Kleinkrämer, Handwerker, Landwirte und Industrielle<br />

attraktiv, sondern die Aussicht auf ein staatlich abgesichertes Auskommen ohne Anstrengung, ohne<br />

Konkurrenz und ohne Gewerkschaften, eben jener verhießene Rückfall in <strong>das</strong> tradierte deutsche<br />

Zunftwesen, welches im ideologischen Rückspiegel anvisiert wurde und den meisten deutschen<br />

Unternehmern ideal erschien. Wegen des geringeren Grades dezidierter Rückwärtsgewandheit waren<br />

2 Mommsen meint hier die Hitler-Regierung<br />

3 Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar, Propyläen 2001, S. 642f<br />

3


die Großindustriellen bei der Förderung Hitlers weit weniger eifrig, als Landwirte, Handwerker,<br />

Freiberufler, Künstler, Kleingewerbetreibende und Krämer.<br />

Die Wahrheit ist: sowohl ökonomische, wie auch kulturelle Traditionen haben den Nationalsozialismus<br />

in seiner Entstehung begünstigt. Die ökonomischen Ursachen werden jedoch über- und die kulturellen<br />

unterbewertet. Und der Zusammenhang zwischen Ökonomie und Kultur wird nicht konsequent<br />

benannt: Große Teile der deutschen Wirtschaft hatten <strong>das</strong> Ende der zünftigen Monopole und die<br />

Auflösung der ländlichen Bindungen, seien sie feudaler oder genossenschaftlicher Natur, nicht wirklich<br />

angenommen. Moderne Wirtschaftsformen waren im Gefolge der napoleonischen Eroberungen nach<br />

Deutschland verschleppt worden und nicht verinnerlicht worden. Die Fortschritte wie Gewerbefreiheit<br />

und Judenemanzipation waren durch französische Plünderungen, Einquartierungen,<br />

Brandschatzungen, Säkularisierungen von Klosterbesitz und andere Gewaltexzesse diskreditiert.<br />

Der romantische Konservatismus war als Replik auf Napoleon ein zünftiger und bäuerlicher egalitärer<br />

Traditionalismus, der als Gegensatz zum modernen Industrialismus begriffen wurde, und damit auch<br />

als Gegensatz zum Marxismus. Der Marxismus wurde nicht vehement abgelehnt, weil er egalitär war,<br />

sondern weil er ohne die Symbiosen mit der Industrie und dem Kapitalismus nicht hätte überleben<br />

können. Dieser konservative aus dem Heiligen Römischen Reiche tradierte Sozialismus der Zünfte,<br />

Gilden und Genossenschaften beherrschte als Modeströmung <strong>das</strong> ökonomische und kulturelle<br />

Denken des Spätbiermeiers, des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Der kulturelle<br />

Antikapitalismus war die Kehrseite des ökonomischen Antikapitalismus.<br />

In diese restaurative Stimmung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts platzte Nietsche mit seiner<br />

archaischen Blut- und Bodenphilosophie. Nietzsche stellte die Frage nach der Umweltverträglichkeit<br />

der modernen industriellen Gesellschaft und verneinte diese, stellte die menschliche Vernunft selbst in<br />

Frage und geißelte <strong>das</strong> Christentum, welches die ursprünglichen germanischen Naturidole weitgehend<br />

verdrängt hatte. Die deutschen Aborigines sollten die römischen Priester zum Tempel herausjagen,<br />

um Waldschraten und Elfen ihren angestammten Platz zu verschaffen.<br />

Bei der Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Die<br />

vulgärmaterialistische Verelendungslehre muß von ihrem brüchigen Sockel herabgestürzt werden. Ein<br />

neues Modell, welches neben der Wirtschaft die Kultur in die Betrachtung einbezieht, kann die<br />

Verwerfungen dieser Zeit besser erklären: einerseits beherrschte eine überalterte Führungsschicht,<br />

die gedanklich in der Zeit der späten Aufklärung zu Hause war, tradierte Parteien und Gewerkschaften<br />

des Kaisereichs und der Weimarer Republik; auf der anderen Seite durchsetzten die jungen<br />

expressionistischen Heißsporne des Kulturbetriebs die bündischen Gremien, Gazetten und<br />

Institutionen, eskortiert von Funktiokraten der korporatistischen Wirtschaftsverbände.<br />

Worin zeigt sich heute kultureller Obskurantismus? Die ersten 50 Jahre nach 1945 gab es hinsichtlich<br />

der jüngeren Geschichte einige rote Linien, die nicht überschritten werden durften, und <strong>das</strong> war nicht<br />

immer schlecht so. Im neuen Jahrtausend werden diese historisch bedingten Tabus in einer<br />

gegenläufigen Tendenz in immer kleinere politische Reservate zurückgedrängt. Im Radio wird <strong>das</strong><br />

camice nero, <strong>das</strong> Schwarze Hemd besungen. Theaterregisseure, Architekten, Galeristen und<br />

Ballettänzer gehen kaum noch ohne schwarzes Hemd auf die Gasse. Der Vorsitzende einer großen<br />

Partei unterschied im Bundestagswahlkampf 2005 mit seiner Heuschreckenkampagne in einem<br />

Rückfall in altkonservativ-alttestamentarische Kampfbegriffe letztlich in raffendes und schaffendes<br />

Kapital und verhinderte damit eine desaströse Wahlniederlage seiner Partei. Der ehemalige<br />

stellvertretende Vorsitzende einer kleineren Partei beklagte den Einfluß der Juden auf die deutsche<br />

Außenpolitik und gewann damit im Jahr 2000 Stimmen in Nordrhein-Westfalen. Ein Ex-Bundeskanzler<br />

schürte im darauffolgenden Bundestagswahlkampf 2002 planvoll den Antiamerikanismus und gewann<br />

noch mehr Stimmen. Eine kleine Partei schickt Mitglieder mit Eselsmasken über die Marktplätze, die<br />

<strong>das</strong> Schild tragen "Ich Esel glaube noch, daß die USA Frieden, Demokratie und Freiheit bringen" und<br />

sitzt seither in 2 Landtagen und 3 Berliner Bezirksversammlungen.<br />

Ein Generalsekretär einer Volkspartei vergleicht Unternehmer mit Tieren, und zwar mit Nutz- und<br />

Lasttieren. Ein ehemaliger Vorsitzender der SPD verwendete im Bundestagswahlkampf 2005 <strong>das</strong><br />

etwas belastete Wort Fremdarbeiter für arbeitswillige Mitbürger aus der EU. Prompt hängte die NPD<br />

Plakate gegen Fremdarbeiter auf. Vor den vorletzten Landtagswahlkämpfen in Sachsen, Brandenburg<br />

und Mecklenburg zeigten <strong>das</strong> öffentlich-rechtliche und <strong>das</strong> private Fernsehen mehrmals und fast<br />

täglich jeden braunen Hut, der in Sebnitz, Eberswalde oder Ueckermünde auf der Stange über den<br />

Platz getragen wurde und <strong>das</strong> öffentlich-rechtliche wiederholte mehrmals Ausschnitte aus einem<br />

DVU-Werbespot, in dem Ministerpräsident Platzeck mit vor Angst klappernden Zähnen in seiner<br />

4


Kanzlei sitzt. Viele neu errichtete Gebäude sehen aus wie <strong>das</strong> casa del fascio in Como, <strong>das</strong> 1932-36<br />

errichtet wurde. In den Kaufhäusern nimmt die Zahl der Braun- und Erdtöne unserer Bekleidung über<br />

einen längeren Zeitraum betrachtet zu. Immer wenn im deutschen Umfeld eine Regierung gewählt<br />

wird, die der SPD nicht passt, pöbelt Martin Schulz: Italien, Dänemark, Polen, <strong>das</strong> Vereinigte<br />

Königreich, Tschechien, Estland, Litauen, Österreich und die Niederlande standen bzw. stehen unter<br />

politischer Beobachtung. Die Außenpolitik wurde unter Kanzler Schröder zur Dienerin der Innenpolitik.<br />

Das kann Deutschlands Stellung langfristig nicht dienen, da es Europa spaltet und die Rache der<br />

geschulmeisterten Nationen herausfordert. Daß die Franzosen der europäischen Verfassung nicht<br />

zugestimmt haben, war ein innenpolitisch motiviertes Eigentor. Daß die Niederländer sie abgeleht<br />

haben, war politische Vergeltung. An eine Zustimmung bei einer Volksabstimmung zum europäischen<br />

Vertrag in Großbritannien oder Polen ist nach der Zerstörung Europas durch Kanzler Schröder<br />

garnicht zu denken. Der Umgang Deutschlands mit seinen Nachbarn erinnert an die Bülow-Affäre vor<br />

hundert Jahren, als Kaiser Wilhelm den Wahrheits- und Weltmachtanspruch Deutschlands gegenüber<br />

einer englischen Zeitung bekräftigt hatte, mit den bekannten Folgen für die europäischen<br />

Bündnissysteme vor dem ersten Weltkrieg.<br />

Es gibt auf den Wühltischen mehr braune Socken als früher. Nach einer Meinungsumfrage aus dem<br />

Jahr 2005 meinen 38 % der Bundesbürger, daß der Nationalsozialismus wieder die Macht ergreifen<br />

wird. Die Umfrage ließ leider offen, ob sie die nächste Machtübernahme erwarten oder befürchten.<br />

Wie kommt es zu dieser Krise des demokratischen Bewußtseins? Wie die obigen Beispiele zeigen,<br />

begeben sich die Medien und die sogenannte Enkelgeneration der Politik in eine größere Nähe zu<br />

tradierten deutschen Überzeugungen, als <strong>das</strong> ihre Großväter getan hätten. Der Emigrant Willy Brandt<br />

hätte nicht von Fremdarbeitern gesprochen, Konrad Adenauer hätte Israel nicht wegen<br />

<strong>Menschen</strong>rechtsverletzungen kritisiert und Ludwig Erhardt hätte nach dem Krieg für jede Heuschrecke<br />

ein Empfangskommitee engagiert. Hans-Georg Kiesinger und Hans Filbinger haben sich in Bayreuth<br />

geflissentlich nicht sehen lassen.<br />

Auf Präsident Kennedy, der sich in den Vietnam-Krieg verhedderte, reagierte die deutsche<br />

Öffentlichkeit eher euphorisch als hysterisch. Alle diese Einstellungen der späten 50er und der frühen<br />

60er Jahre waren für deutsche Verhältnisse nicht normal und nicht tradiert. Normal und tradiert waren<br />

Überheblichkeit gegenüber anderen entwickelten Nationen, Antisemitismus, verbunden mit einem<br />

übersteigerten Kulturstolz, Antiklerikalismus, Antikapitalismus und Antiamerikanismus; und <strong>das</strong> nicht<br />

nur im Dritten Reich, sondern auch im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der DDR. 1967/68<br />

begann der schleichende ideologische Rückweg in die deutsche Vergangenheit: Die NPD wurde<br />

damals mit bis zu 10 % in sieben deutsche Landesparlamente gewählt und verfehlte 1969 den Einzug<br />

in den Bundestag nur knapp; gleichzeitig wurden Antikapitalismus und Antisemitismus in der<br />

Studentenrevolte wiederbelebt. Man demonstrierte für Mao Tse Tung´s Kulturrevolution und die<br />

Avantgarde ließ sich in nahöstlichen Terrorlagern ausbilden. Es fehlte noch die Wiederauferstehung<br />

der totgeglaubten Lebensreform. Sie erfolgte mit geringem zeitlichen Abstand in der Mitte der 70er<br />

Jahre. Der erste grüne Barde im Deutschen Bundestag war der Niedersachse Gruhl, bald folgten<br />

grüne Wahlerfolge in Bremen und Baden-Württemberg. Seither nehmen die Allergien jedes Jahr zu,<br />

weil man sich einerseits vor Elektrosmog, Feinstaub, Ekelfleisch, Waldsterben, Erderwärmung,<br />

Genreis, Verkehrslärm, spanischen Paprika, chinesischem Spielzeug und Radioaktivität fürchtet,<br />

andererseits immer mehr Wasser und Gel unter der Dusche verplempert.<br />

Eine Bewegung wie die Lebensreform, die zwischen 1890 und 1945 <strong>das</strong> politische, wirtschaftliche und<br />

kulturelle Leben geführt und bestimmt hatte, auf deren ideologischen Krücken die politisch Lahmen<br />

und Blinden in Deutschland jahrzehntelang gehumpelt waren, konnte durch <strong>das</strong> Wirtschaftswunder<br />

nicht auf Dauer einfach wegradiert oder in den Sumpf ewigen Vergessens abgesäuft werden. Alte<br />

Kader und junge Spontis ergriffen bei der ersten Gelegenheit, nämlich während einer ersten<br />

Abflachung der Wachstumskurve ab 1965, die Chance zum kulturellen roll back. Anders als im<br />

Kaiserreich und in der Weimarer Republik regte sich jedoch immer wieder auch ernst zu nehmender<br />

Widerstand gegen die Renaissance der Jugendbewegung und der Lebensreform. Die Lehre von der<br />

Erschaffung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> blieb durch die Judenvernichtung, die Euthanasie, den verlorenen<br />

Weltkrieg und den Stacheldraht an der Zonengrenze diskreditiert. Viele kulturelle Erscheinungen der<br />

Jugendbewegung und Lebensreform wie zum Beispiel der Rassismus und der Antisemitismus<br />

konnten nur mit Mühe und Verfremdungseffekten wieder aufgegriffen werden, andere Erscheinungen<br />

wie Vegetarismus, Bodenkult, Naturschutz, Antikapitalismus, Antiamerikanismus und<br />

Expressionismus hatten es einfacher, weil neben Tätern und Mitläufern immer auch Verfolgte der NS-<br />

Periode als Blutzeugen der ideologischen Unbeflecktheit der jeweiligen Sekte vorgewiesen wurden.<br />

5


Die Taktik derer, welche die belastete Lebensreform und den abgewirtschafteten Idealismus<br />

wiederbeleben wollten, war denkbar einfach: Erstens die Verfolgten des NS-Regimes würdigen, auch<br />

dann wenn sie wie Graf Schenk von Stauffenberg vom alten System retten wollten, was zu retten war.<br />

Zweitens die nationalsozialistischen Nachkriegs-Wendehälse geißeln, drittens die Geschichte von<br />

hinten nach vorn neu schreiben: Beginn mit der bedingungslosen Kapitulation 1945 und Ende mit der<br />

Machtergreifung 1933. Es gab zwischen 1933 und 1945 viele Gegner und Opfer des<br />

nationalsozialistischen Schönheitsstaates, die Hitler vor 1933 auf die politischen Beine geholfen<br />

hatten. Einige davon erhielten nach 1968 politische Heiligenscheine, andere nicht. Viele Wegbereiter<br />

Hitlers mussten 1933 <strong>das</strong> Land fluchtartig verlassen; für andere wäre es gesünder gewesen, dieses<br />

rechtzeitig getan zu haben.<br />

Es geht um eine konsistente Erklärung der Entstehung des Nationalsozialismus. Darum erzählt dieses<br />

Buch die Geschichte anders herum: Beginn im 19. Jahrhundert bis zum Frühjahr 1933. Dabei werden<br />

Perspektiven freigelegt und rekonstruiert, die die Zeitgenossen wirklich hatten und haben mußten,<br />

wenn sie sich politisch, wirtschaftlich oder kulturell für ein nationalsozialistisches System entscheiden<br />

wollten. Eine Logik der Entscheidungen und Langfristigkeit von Überzeugungen wird deutlich, die bei<br />

der üblichen rückwärtigen Betrachtung verloren geht. Verbindungsknoten zwischen verschiedenen<br />

Lebensreformansätzen werden gesucht, gefunden und dargestellt, ebenso wie die Berührung oder<br />

Verknüpfung mit nationalsozialistischen Überzeugungen.<br />

Ein beiläufiger Untersuchungsgegenstand des Buches ist die bisher weitgehend ungelöste Frage,<br />

warum die völkische NSDAP und die bolschewistische KPD oft so eng beieinander liegen; warum sich<br />

die beiden Parteien in Fragen des Antikatholizismus, Antikapitalismus, Antisemitismus,<br />

Antiamerikanismus, der Gesellschaftskonzeption, der Führungspraxis und –philosophie, der<br />

ästhetischen Anschauungen, der <strong>Menschen</strong>haltung in Lagern sowie in außenpolitischen Fragen sehr<br />

ähnlich sind. Es ist, wie wir sehen werden, die gemeinsame Herkunft aus dem konservativen Geist<br />

des Romantizismus und der Schwabinger Jugendbewegung. Lenin entwickelte 1901 in Schwabing<br />

unter dem Einfluß des deutschen Elitarismus in seinem Werk "Was tun?" die bolschewistische<br />

Führerpartei mit einer neuen antimarxistischen Definition des Verhältnisses von Führung und Masse;<br />

Hitler begann 1920 von Schwabing aus seine nationalsozialistische Führerpartei aufzubauen.<br />

Gleichermaßen beeinflußt von Friedrich Nietzsche wie die aktivistische Jugendbewegung ist auch <strong>das</strong><br />

Bild vom anzustrebenden <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>, einmal als Weltproletarier, ein andermal als<br />

Weltgermane.<br />

Die Zentren der Avantgarde wie Schwabing waren durchaus keine linken Hochburgen per se, wie man<br />

es vermuten könnte, wenn man Berichte über Ausstellungen der Avantgarde sieht. Neben<br />

Ästhetizisten, Anarchisten und Sozialisten gab es genausoviele Antisemiten, Rassisten,<br />

Deutschtümler und Germanenschwärmer. Bis zum Ersten Weltkrieg handelte es sich um ein<br />

gemeinsames Biotop, in welchem sich die Reformbewegung versammelte, ohne eine Trennung in<br />

links und rechts. Ob in Worpswede, in Schwabing, in Weimar, in Friedrichshagen oder im Brücke-<br />

Atelier in Dresden: immer teilten sich spätere Anarchisten, Ästhetizisten, Bolschwisten und<br />

Nationalsozialisten die Kunstzeitschrift, <strong>das</strong> Dach und die Konkubinen. Aus dem Weimarer Bauhaus,<br />

dem Werkbund und den <strong>Neue</strong>n Sachlichen gingen nicht nur Bolschewisten, sondern auch<br />

Nationalsozialisten hervor. Einige konvertierten, waren erst Bolschewist, später Nationalsozialist,<br />

andere umgekehrt. Einige Maler, deren Bilder in der Ausstellung "Entartete Kunst" hingen, zum<br />

Beispiel Emil Nolde und Peter Röhl, waren Mitglieder der NSDAP. Es ist heute kaum zu glauben, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> möglich war. Eine Randnotiz aus dieser Olympiade des Ignorierens war auch die persönliche<br />

Anwesenheit von Erich Kästner bei der Verbrennung seiner eigenen Bücher im Mai 1933 in Berlin. Er<br />

wurde bei dem Großereignis zwar erkannt, aber ansonsten nicht weiter behelligt. Eine wahrlich<br />

kleinkarierte Stadt, wo „Emil und die Detektive“ dem nationalsozialistischen Scheiterhaufen Nahrung<br />

gaben.<br />

Dieselben Probleme, die die Darstellung der Machtergreifung als durch Unterfinanzierung der<br />

Sozialsysteme bedingten historischen Betriebsunfall bereitet, finden sich auch bei der Anwendung der<br />

konventionellen Theorie auf die Novemberrevolution von 1918. War es eine demokratische<br />

Revolution? Wo waren da, abgesehen von den Kieler Matrosen und den nach Hause flutenden<br />

Soldaten, die Demokraten? Wie ist <strong>das</strong> Andauern der Revolution über Mitte November 1918 hinaus zu<br />

erklären, wenn die Parlamentarisierung vor Ausbruch der Revolution erfolgte, die Einsetzung von<br />

Friedrich Ebert als Reichskanzler, die Ausrufung der Republik und <strong>das</strong> Stinnes-Legien-Abkommen mit<br />

der Einführung der 40-Stunden-Woche, alle in der ersten und zweiten Revolutionswoche in trockenen<br />

Tüchern waren?<br />

6


Die Revolution von 1918 erscheint ab der dritten Novemberwoche in einem anderen Licht; ab da war<br />

sie eine reaktionäre Revolte gegen die parlamentarische Demokratie und gegen die Angleichung der<br />

deutschen Verhältnisse an den fortgeschritteneren Westen. Es war eine reaktionäre Bewegung vor<br />

allem derer, die den Ersten Weltkrieg herbeigesehnt, herbeigedichtet, herbeigemalt, herbeigebaut,<br />

herbeigeschrieben, herbeigeschossen und herbeigeredet hatten. Man kann fast von einem<br />

Revanchistentreffen sprechen, wenn man von den Arbeiter- und Soldatenräten der ersten zwei<br />

Wochen einmal absieht. Die Soldaten waren Mitte November bei ihren Familien zu Hause oder auf<br />

dem Wege dorthin. Übrig blieben die Münchner Bohéme, zum Beispiel der ewige Junggeselle Adolf<br />

Hitler, einige Berufsrevolutionäre wie Karl Liebknecht, der faschistoide „Rat geistiger Arbeiter“, die<br />

Freichors und die Funktionäre von USPD und KPD. Um den Idealismus als Gegenbild zum angloamerikanischen<br />

Kapitalismus über die deutsche Niederlage zu retten, wurde Rußland von einem Teil<br />

der Intellektuellen als letzte siegreiche Bastion des Antikapitalismus und Idealismus erkannt und zum<br />

Leitbild erwählt, die anderen bereiteten den Zweiten Weltkrieg vor, um die Siegwürdigkeit der<br />

Deutschen Ideologie ein zweites Mal zu testen.<br />

Begriffe wie Kapitalismus, Bürgertum, Faschismus, Sozialismus und Marxismus werden im<br />

allgemeinen Sprachgebrauch, in der Publizistik, ja selbst in der Geschichtswissenschaft sehr unscharf<br />

definiert. Die peinlichsten Erklärungsversuche entstehen z.B. durch die gedankenlose Anwendung<br />

eines metaphysischen Begriff des "Kapitalismus", wo England, die USA, Deutschland, Frankreich,<br />

Italien, Skandinavien, <strong>das</strong> vorrevolutionäre Russland, <strong>das</strong> Venedig des 17. Jahrhunderts und vielleicht<br />

sogar der nahe und ferne Osten über einen gemeinsamen kapitalistischen Leisten geschlagen<br />

werden. Eine abstruse Konsequenz dieser schwammigen grundungenauen Begrifflichkeiten war der<br />

sozialdemokratische Kinderglaube, die industriellen Verbandsmonster der Weimarer Republik<br />

demokratisieren, politisieren und auf diesen wilden ökonomischen Tigern unfallfrei durch die Pforten<br />

des demokratischen Sozialismus reiten zu können.<br />

Die intellektuellen Schwierigkeiten können leicht gelöst werden, wenn die internationalen<br />

Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung und -verfassung zum Vergleich herausgestellt werden, die<br />

für die objektive Entwicklung der Volkswirtschaften wie die Eigenwahrnehmung der Bewohner<br />

verschiedener Staaten entscheidend waren. Wenn man <strong>das</strong> alte und <strong>das</strong> neue Deutschland verstehen<br />

will, so muß man den unbändigen Drang zu wirtschaftlichen Korporationen als Rückgriff auf die Kultur<br />

der Zünfte erkennen. Der Gedanke dieser durch Verbände repräsentierten Wirtschaft ist in<br />

Deutschland und Italien noch heute so lebendig wie in fast keinem anderen europäischen Staat, und<br />

<strong>das</strong> war von 1890 bis 1945 noch stärker ausgeprägt als heute. Der korporatistische Zunftgeist wurde<br />

zum Leitbild erhoben und weitgehend aufrechterhalten, und wo er der Zeit nicht standgehalten hatte,<br />

nach der Machtübernahme Mussolinis und Hitlers rekonstruiert.<br />

Das Überstülpen der Klassenstruktur aus dem Kommunistischen Manifest auf die Weimarer<br />

Verhältnisse war, soweit es denn überhaupt stattfand, sehr weit hergeholt, hatte teilweise abstruse<br />

Fehleinschätzungen zur Folge: Die "<strong>Neue</strong>n Blätter für den Sozialismus" behaupteten ebenso wie die<br />

"Rote Fahne", daß jüdische Zeitungsverleger mit deklassierten nationalsozialistischen Kleinbürgern<br />

gemeinsame Sache gegen die revolutionäre Arbeiterklasse machen würden. In Wirklichkeit paktierte<br />

die KPD mit der NSDAP gelegentlich, zum Beispiel beim Hitler-Stalin-Pakt.<br />

Die marxistische Klassenanalyse war für ein Land der Zunftler und der Stände nicht gemacht worden<br />

und Karl Marx hatte sie auf Preußen, geschweige denn auf Deutschland seit den 50er Jahren des 19.<br />

Jahrhunderts nicht mehr angewendet, weil er wusste, daß sie auf ein weitgehend vorbürgerliches<br />

Land, auf ein Land mit weitgehend korporatistischen Strukturen und Träumen nicht paßt.<br />

Es ist an der Zeit, zum Ausgangspunkt der Analyse des Entstehens des Nationalsozialismus eine<br />

Betrachtung elitaristischer Grundstömungen und korporatistischer Rückerinnerungen zu machen, statt<br />

den „Faschismus“ als Sieg des Monopolkapitals über die Arbeiterklasse zu werten oder als<br />

Auswirkung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus im allgemeinen. Genauso falsch ist es, den Sieg des<br />

Nationalsozialismus als Déja-vu des Kaiserreichs zu erkennen. Er ist ein Erfolg der elitaristischen<br />

Jugendbewegung, die sich im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ungestört ausbreiten konnte,<br />

die kulturellen Fundamente des Staats unterwühlen konnte, ohne vor 1933 jedoch die totale politische<br />

Macht zu erobern.<br />

Es ist ein Paradigmenwechsel bei der ökonomischen Analyse Deutschlands erforderlich. Für <strong>das</strong><br />

Deutschland in der Epoche des Imperialismus ist selbst die Wirtschaftstheorie der Historischen Schule<br />

zielführender beim Rätsellösen, als die des Kapitalismus der freien Konkurrenz. Viele Erscheinungen<br />

des deutschen Wirtschaftslebens und der Wirtschaftsverfassung lassen sich mit einem geologischen<br />

7


Schichtenmodell, in dem sich mehrere ältere und neuere Gesellschaftsformationen überlagern und<br />

durchdringen, besser abbilden, als mit einer allgemeingültigen globalen Kapitalismustheorie. Die<br />

Schwierigkeit beim Begreifen dieses Systems aus alten und neuen Formationen und des Triumphs<br />

eines uralten zünftig-korporatistischen Gesellschaftssystems über ein moderneres kapitalistisches<br />

werden darin liegen, daß man nicht gewöhnt ist, zu akzeptieren, daß die Geschichte nicht ein Rad ist,<br />

<strong>das</strong> sich immer metaphysisch nach vorwärts auf ein Ziel hin drehen muß; zum Beispiel auf <strong>das</strong> Ziel<br />

des Sozialismus oder <strong>das</strong> Ziel individueller Freiheit. So zielführend ist Geschichte nicht. Sie beinhaltet<br />

immer auch Traditionalismus und dadurch bedingte Rückfälle. Zwischen zwei historischen Punkten ist<br />

selten die Gerade der wirklich zurückgelegte Weg, manchmal ist es <strong>das</strong> Labyrinth oder die Spirale.<br />

Nur Geschichtsbücher lesen sich oft so, als wäre es eine Gerade gewesen. Das Dritte Reich ist in<br />

solchen Darstellungen rückblickend als Betriebsunfall auf dem linearen Weg der Höherentwicklung der<br />

Gesellschaft betrachtet worden. Das ist nachträgliche Geschichtsbereinigung, die uns ein Zerrbild des<br />

Kaiserreiches und der Weimarer Republik vermittelt. Das Dritte Reich ist eine Konsequenz und kein<br />

Unfall. Um <strong>das</strong> zu erkennen, muß man richtig analysieren und sich vom Vulgärmaterialismus und<br />

einer kritiklosen Einordnung Deutschlands in ein allgemeingültiges globales Kapitalismusmodell<br />

befreien. Mit einem globalen Kapitalismusmodell, angewendet auf Deutschland, weiß man zum<br />

Schluß über nichts alles und über alles nichts.<br />

Dieses Buch wirbt für den Einstieg in ein Gesellschaftsmodell aus kulturellem Magma und erkalteter<br />

politischer Kruste, in ein ökonomisches Sedimentationsmodell verschiedener aufeinanderfolgender<br />

Gesellschaftsformationen zum systematischen Erkennen. Nur systematisches Erkennen ist eben<br />

Wissenschaft.<br />

Drei Bausteine der Machtergreifung?<br />

„Eine genaue Schilderung dessen zu geben, was nie passiert ist, ist die eigentliche Aufgabe des<br />

Historikers“, höhnte Oskar Wilde. „Nur wenig gibt es, <strong>das</strong> sich nicht mittels einer gedachten<br />

Geschichte darstellen lässt“, schrieb Hobbes in seinem „Leviathan“. Der populärste Erfinder und<br />

Propagandist einer gedachten Geschichte über Hitler war Sebastian Haffner. Er malte <strong>das</strong> Bild der<br />

Weimarer Republik mit dem Malkasten der frühen Bundesrepublik. Das erhöhte zwar die<br />

Verständlichkeit für die Leser, sie verstanden aber Unsinn. Das Ergebnis seiner historischen Diskurse<br />

verstellt den Blick auf die Spezifik der Zwischenkriegszeit.<br />

Die Ursachen für <strong>das</strong> Abrutschen in den Nationalsozialismus waren anscheinend so banal. "Die Not<br />

war der erste Grund, der Hitler die Massen zutrieb" schrieb Sebastian Haffner in seinem Rückblick<br />

"Von Bismarck zu Hitler". Den zweiten Grund sah er in einem plötzlich wiedererstarkten<br />

Nationalismus, und den dritten Grund in Hitlers Person selbst, dem größeren politischen Format,<br />

verglichen mit allen anderen, die damals auf der politischen Bühne standen.<br />

Wenn die Rezeptur für den Nationalsozialismus tatsächlich aus Not, Nationalismus und einem für<br />

seine abwegigen Zwecke talentierten Mann besteht, hätte es denn nicht ein bißchen weniger<br />

Tabubruch sein können, hätte es nicht ein Mussolini sein können, oder ein "aufgeklärter" Dutzend-<br />

Diktator, wie er in den zwanziger und dreißiger Jahren in Europa vorherrschend und der Brauch war?<br />

Nationalismus gab es zu dieser Zeit doch auch in Frankreich, in Rußland, in Jugoslawien, in Polen, in<br />

der Tschechoslowakei und in Italien. Not gab es während der Weltwirtschaftskrise fast überall. Warum<br />

überlebte die Demokratie in Frankreich, England, den Vereinigten Staaten, Australien, Kanada,<br />

Tschechien und Skandinavien? Nur weil der Mann fürs Grobe fehlte?<br />

In Saudi-Arabien beträgt <strong>das</strong> pro-Kopf-Einkommen ein Vielfaches des Einkommens von vielen<br />

anderen Ländern Arabiens und der Erde. Ebenso gehörte <strong>das</strong> Deutschland der Epoche von 1890 bis<br />

1945 nicht zu den Elendsgebieten Europas oder gar der Welt. Deutschland war um 1900 ein Land,<br />

<strong>das</strong> zunehmenden Wohlstand in allen Schichten zu verzeichnen hatte. Trotzdem zählen <strong>das</strong><br />

Deutschland um 1900 und <strong>das</strong> Saudi-Arabien um 2000 nicht zu den Ankern für den Weltfrieden, nicht<br />

zu den Oasen der Toleranz und nicht zu den Musterländern der Demokratie. Daß Wohlstand<br />

unmittelbar und automatisch bessere Gesellschaftszustände schafft, ist eben Unsinn, entspricht einer<br />

vulgär-mechanistischen Auffassung, nach der der Transfer von Talern in die Taschen der Werktätigen<br />

den Weg ins irdische Paradies ebnet. Wenn man betrachtet, wer ab 1930 NSDAP wählte, so kann<br />

man die Wohlstandskinder von 1900 nicht übersehen. Der Anteil der Arbeitslosen an Hitlers<br />

Anhängern wird dagegen überschätzt. Pointierend zugespitzt und provokativ könnte man die<br />

Hypothese aufstellen, daß die Kulturkrise der Jahrhundertwende und der aus ihr resultierende<br />

Nationalsozialismus mehr eine Wohlstands- und weitaus weniger eine Elendskrankheit war.<br />

8


Reichen Not, Nationalismus und der richtige Mann am richtigen Platz schon aus? Sebastian Haffner<br />

war seine eigene Erklärung aus diesen drei Faktoren zu billig und er gab die Antwort selbst: "Schon<br />

1918 und 1919 hatten sich viele Deutsche einen solchen Mann, wie Hitler ihn jetzt darstellte, als<br />

Wunschziel ausgemalt. Es gibt aus dieser Zeit ein Gedicht von Stefan George, in dem er die Hoffnung<br />

ausspricht, daß die Zeit<br />

Den einzigen, der hilft, den mann gebiert...<br />

Der sprengt die ketten, fegt auf trümmerstätten<br />

Die ordnung, geisselt die verlaufnen heim<br />

Ins ewige recht, wo grosses wiederum gross ist,<br />

Herr wiederum herr, zucht wiederum zucht. Er heftet<br />

Das wahre sinnbild auf <strong>das</strong> völkische banner.<br />

Er führt durch sturm und grausige signale<br />

Des frührots seiner treuen schar zum werk<br />

Des wachen tags und pflanzt <strong>das</strong> <strong>Neue</strong> Reich." 4<br />

George war, wie wir sehen werden, nur einer von Millionen, die nach dem Führer Ausschau hielten.<br />

Wir werden dieser von George herbeigesehnten treuen Schar auf den Fersen bleiben und den<br />

grausigen Signalen im Sturm der Weimarer Republik lauschen. Sebastian Haffner hat angedeutet,<br />

daß es da noch etwas gab außer Vulgärökonomie, Nationalismus und einem talentierten Fachmann<br />

für theatralische Aufzüge, mitreißende Reden, erfolgreiche Wahlkämpfe, respekteinflößende<br />

Uniformen und feierliche Weihen. Haffner beschrieb <strong>das</strong> tiefere, kulturelle Problem mit dem<br />

Gedichtzitat sehr subtil, um sich Ärger mit der herrschenden Meinung zu ersparen.<br />

Der Lauf der Geschicke der Weimarer Republik ist mit der Politik Adolf Hitlers aufs Engste verwoben,<br />

so daß jede bisherige Geschichtsbetrachtung diesen Aspekt mit einschloß, und so wird es auch in der<br />

überschaubaren Zukunft bleiben. Umstritten ist jedoch Hitlers Rolle. Blutrünstiger Lakai des<br />

Großkapitals oder terroristischer Todfeind der goldenen Internationale, der Warenhäuser und der<br />

Plutokratie? Rechte Randfigur oder ein Mann aus der Mitte der Gesellschaft? Geistersegler gegen den<br />

großen Wind oder Wellenreiter des Zeitgeists? Antreiber der Moderne oder Blockierer des Rads der<br />

Geschichte? Reaktionär oder Revolutionär? Obskurantist oder Rationalist? Alle diese Fragen lassen<br />

sich nur auf der Grundlage von soliden demokratischen Koordinaten und unter Beachtung der 10<br />

Gebote richtig beantworten.<br />

Kam Hitler aus einer herrschenden vorgefundenen Stimmungslage heraus an die Macht, erzeugte er<br />

die Stimmung, die ihn nach oben trieb oder war er einfach nur ein Virtuose auf dem Klavier latenter<br />

Stimmungen?<br />

Wir werden am Ende sehen, daß es zweifellos ein ganzes Lebensgefühl war, <strong>das</strong> von Hitler<br />

aufgefangen wurde. Joachim Fest bezog sich in seiner Hitler-Biografie auf Jacob Burkhardt`s<br />

"Weltgeschichtliche Betrachtungen", in denen die Bestimmung der Größe des Politikers sich daraus<br />

ergibt, "daß sie einen Willen vollzieht, der über <strong>das</strong> Individuelle hinausgeht" und die "geheimnisvolle<br />

Koinzidenz" zwischen dem Ego des Einzelnen und dem Gesamtwillen voraussetzt. 5 Nicht die<br />

dämonischen, sondern die exemplarischen, normalen Eigenschaften hätten Hitler seinen Weg<br />

ermöglicht, meinte Joachim Fest. Die Theorien, die Hitler im prinzipiellen Gegensatz zur Epoche<br />

begriffen, seien fragwürdig und ständen unter Ideologieverdacht. Hitler war weniger der große<br />

Widerspruch der Zeit als ihr Spiegelbild. In die Person Hitlers ging nichts ein, was nicht schon<br />

vorhanden war. 6<br />

Kulturelles Magma und politische Kruste<br />

Eine systematische Betrachtung der Weimarer Republik fordert die zusammenfassende Betrachtung<br />

von Politik, Wirtschaft und Kultur. Dieser Anspruch wird zunächst vorangestellt und<br />

vorweggenommen.<br />

4 Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler, Knaur, S. 217 ff<br />

5 Joachim Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 31<br />

6 s.o. S. 34 ff.<br />

9


Die politische, die äußere Geschichte ist die kurzatmige Geschichte des taktischen Denkens und<br />

Handelns, der Finten, Charaktere, Motivationen, Aufstände, Skandale und Tricks, die Geschichte aus<br />

der Sicht der Tagesschau. Mommsen, Haffner und tausende wissenschaftliche Zuträger haben jeden<br />

Brief, jede Reichstagsrede und jedes Parteitagsprotokoll aufgespürt und analysiert. Jeder Gedanke<br />

von Brüning, von Hindenburg, von Schleicher und von Papen ist erschlossen, aber der Nutzen dieser<br />

Kenntnisse ist begrenzt und fast geich Null, da die äußere Geschichte auf die Zwangsläufigkeit oder<br />

Zufälligkeit von Hitlers Diktatur keine Antwort gibt und geben kann.<br />

Die kulturell bedingte innere Geschichte ist die Geschichte der langfristigen Überzeugungen, die<br />

Geschichte der Traditionen, die Geschichte der hartnäckigen Vorurteile, die Geschichte der<br />

Grundtugenden und Grunduntugenden. Quellen sind zeitgenössische Lehrbücher, Bildbände,<br />

Kochbücher, Plastiken, Gemälde, Filme, Fuilletons, Schlager, Romane und Gedichte von namenlosen<br />

und prominenten Autoren. Die kulturelle Geschichte ist die Geschichte des Zeitgeists, des<br />

mainstream.<br />

Die politische äußere Geschichte ist nicht sinnvoll denkbar und nicht überzeugend erzählbar ohne die<br />

kulturelle innerliche Geschichte.<br />

Jedes politische Vorpreschen der Akteure der äußeren Geschichte wird durch die inneren kulturellen<br />

Beharrungskräfte weitgehend zunichte gemacht. Zehn Schritte vorwärts, neun Schritte zurück, jede<br />

Revolution frißt ihre Kinder. Bismarck schrieb, daß man die politische Fahrkarte von Berlin bis<br />

Insterburg (am Ende von Ostpreußen) lösen müsse, um wenigstens in Küstrin (kurz hinter Berlin)<br />

anzukommen. Robespierre, der mit seinem Kult des höheren Wesens als Religionsstifter etwas völlig<br />

neues geschaffen hatte, muß sich am Schluß gewundert haben, daß die vielen abgetrennten, über<br />

<strong>das</strong> Straßenpflaster rollenden Köpfe gegen ihn Recht behielten. Kommissar Trotzki wunderte sich wie<br />

ein Kind über die Erfolge von Josef Stalin, der ständig fester im bolschewistischen Sattel saß, obwohl<br />

er "vom Marxismus keine Ahnung" hatte.<br />

Den politischen Darstellern der Weimarer Republik hingen tonnenschwere kulturelle und ökonomische<br />

Brocken als Bremsklötze am gesetzgebenden Bein und als Ballast am regierenden Hals: neue<br />

industrielle und alte Handwerksarbeit, technischer Fortschritt und seine kulturelle Verarbeitung,<br />

Preußentum, Traditionalismus und Romantizismus, der wirtschaftliche Korporatismus mit Verbänden<br />

und Gewerkschaften als Fortbildungen der Markgenossenschaft, des Zunftwesens und der<br />

Gesellenvereine, die Lebensreform und ihr <strong>Menschen</strong>bild, der vom Darwinismus angetriebene<br />

Biologismus und Rassismus, neue Körperkonzepte sowie neuheidnische Religionen. Wenn sie den<br />

Wunsch gehabt hätten, etwas zu ändern, sie wären mit zahlreichen Traditionen in Konflikt geraten. Die<br />

Reformen wären durch zahlreiche Widerstände ein Teilerfolg geworden. Wie wir sehen werden, kam<br />

es jedoch nicht soweit. Reformen wurden, abgesehen von der Abschaffung der Monarchie, garnicht<br />

erst gedacht und nicht versucht.<br />

Wenn davon ausgegangen wird, daß die Kulturgeschichte der politischen Geschichte vorauseilt, so<br />

drängt sich für <strong>das</strong> Deutschland der 20er und 30er Jahre der Verdacht auf, daß kulturelle Rückschritte,<br />

die bereits in der Spätkaiserzeit gemacht wurden, nach 10 Jahren Widerstand ("Verteidigung der<br />

Republik") in politische Rückschritte umgemünzt wurden.<br />

Innere und äußere Geschichte können in ein geologisches Bild gefasst werden. Die innere<br />

Geschichte, die kulturelle Unruhe agiert als flüssige Phase der Erde, als Magma im Untergrund. Die<br />

äußere Geschichte spielt sich institutionalisiert an der erkalteten Oberfläche der Welt ab. Der<br />

Expressionist malt im kulturellen Untergrund <strong>das</strong> Mögliche, während sich der Reichskanzler an einer<br />

Verfassung und deren Unmöglichkeiten abarbeitet. Unten regiert ein Farben- und Formenchaos, oben<br />

wird nach Geschäftsordnungen und Hauptsatzungen agiert. Nun ist es in der Geologie so wie in der<br />

Gesellschaft: unter hohem Druck will <strong>das</strong> heiße Innere an die Oberfläche. Mit Ausbrüchen von<br />

gewaltigem Ausmaß bahnt es sich vulkanisch-revolutionär seinen Weg, um an der Oberfläche - Ironie<br />

der Geschichte – zu erkalten und eine bizarre Form anzunehmen, deren scharfe Kanten der<br />

Bestimmtheit der Wind der Zeit abschleift.<br />

Ein zweites geologisches Phänomen ergibt ein weiteres Bild der politischen Landschaft: In der<br />

Reihenfolge ihrer Sedimentierung haben sich die Formationen, welche die menschliche Gesellschaft<br />

durchlaufen hat, abgelagert und verfestigt. Unten lagern die Schichten der Urzeit, darüber die<br />

Schichten Roms und des Mittelalters, darüber feudale und bürgerliche Schichten. Die Schichten<br />

schwimmen auf der heißen Phase, durch gewaltige Kräfte zerbrechen sie und werden schräg gestellt<br />

oder gefaltet. An den Bruchkanten streichen ältere Schichten aus und werden oberflächlich sichtbar,<br />

10


genauso wie gefaltete Schichten durch Erosion freigelegt werden. So wie nicht immer die jüngste<br />

geologische Schicht oberflächlich ansteht, bleibt auch die jüngste gesellschaftliche Schicht nicht<br />

immer als die bestimmbare an der politischen Oberfläche.<br />

Auf jeden Fall ist die Kultur <strong>das</strong> Magma und <strong>das</strong> politische Tagesgeschäft ist die erkaltete<br />

institutionalisierte Kruste. Noch Karl Marx hatte ökonomische Basis und institutionellen Überbau der<br />

Gesellschaft unterschieden, aber mit der Kultur wusste er nicht recht wohin. Die Priester des<br />

Marxismus-Leninismus nannten <strong>das</strong> Anerkentnis des Primats der ökonomischen Basis als treibende<br />

„flüssige“ Kraft eine materialistische Weltanschauung.<br />

Die Schamanen des Leninismus legten größten Wert darauf, jedem lebenden menschlichen Wesen,<br />

welches in ihre Gewalt geriet, ein klares Bekenntnis zum Materialismus abzupressen. Die<br />

ökonomische Basis habe den Überbau zu bestimmen und Basis sowie Überbau seien objektiv<br />

vorhanden. So lautete kurz <strong>das</strong> Glaubenbekenntnis. Nun ist <strong>das</strong> marxistische Begriffspaar Basis -<br />

Überbau allerdings an individualistische Gesellschaftsstrukturen gebunden, denn es führt sich in<br />

Staatswirtschaften ad absurdum. Wie kann die ökonomische Basis der Gesellschaft den Überbau<br />

bestimmen, wenn jeder ökonomische Handschlag von den Regierenden in einer Planwirtschaft<br />

vorherbestimmt wird? Die Wirtschaft kann man in feudalen und kapitalistischen Gesellschaften<br />

zweifellos zur ökonomischen Basis gehörend darstellen, die Politik und die staatlichen Institutionen<br />

sind im Überbau angesiedelt. Aber je nachdem, wo die Kultur Raum greift, als elisabethanisches<br />

Theater, als comedia del arte, als Alltagskultur in der ökonomischen Basis oder als Priesterkult am<br />

Altar der Macht im Überbau, je nach dieser Zuordnung der Kultur entscheidet sich erst die<br />

Handhabbarkeit eines idealistischen oder materialistischen Ansatzes. Ist die Kultur im ökonomischen<br />

Unterbau beheimatet, bestimmen also die Bürger durch freigiebiges Mäzenatentum oder <strong>das</strong> Entgelt<br />

für Eintrittskarten über die Inhalte der Kultur, so bestimmt die Kultur zusammen mit der Wirtschaft,<br />

quasi als deren Teil den politischen Überbau. Wird <strong>das</strong> Zuhause der Kultur dagegen im Überbau<br />

vorausgesetzt, bestimmen die Machthaber zum Beispiel durch Zeitungs- und Medienbesitz die<br />

Kulturpolitik, machen sie sich Kanalarbeiter im Fernsehen gefügig, subventionieren sie die Theater<br />

oder arbeiten sie mit großzügigen Filmförderinstrumenten, so ist nur mit einem idealistischen Weltbild<br />

einigermaßen Ordnung in die Zusammenhänge zu bringen, dann bestimmt nämlich der Überbau über<br />

die Basis der Gesellschaft. Wir befinden uns dann im Reiche des clausewitz´schen und lenin´schen<br />

Primats der Politik.<br />

Wir werden am Beispiel der Weimarer Republik sehen, <strong>das</strong>s sowohl ein kulturistischer Ansatz, der die<br />

Kultur als entscheidendes Moment der gesellschaftlichen und politischen Veränderung betrachtet, als<br />

auch ein Ansatz, der die reine Wirtschaftsverfassung als konstitutiv für die politische Entwicklung<br />

betrachtet, geradewegs in den Nationalsozialismus führt. Wie die Dualität von Welle und Körper bei<br />

der Erklärung des Lichts funktioniert hier eine Dualität von Kultur und Wirtschaft. Man kann machen,<br />

was man will, man kann es erklären, wie man kann; es kommt unter den gegebenen Weimarer<br />

Umständen immer zwangsläufig Adolf Hitler heraus.<br />

Die Geschichte der Weimarer Republik muß neu erzählt werden, um die Logik der Verschiebungen<br />

der politischen Platten der Weimarer Republik erkennbar zu machen: statt einer Geschichte der<br />

politischen Kruste muß auch die Geschichte des kulturellen und wirtschaftlichen Magmas erzählt<br />

werden, <strong>das</strong> diese Platten trieb. Und von dieser heißen kulturellen Phase muß ohne nachträgliche<br />

„Berichtigungen“ erzählt werden. Wenn tatsächlich „fortschrittliche“ kulturelle Werte geführt hätten, so<br />

wäre der „rückschrittliche“ Adolf Hitler eben nicht an die Macht gekommen. Man möge diese logische<br />

Direktheit verzeihen; aber entweder die kulturellen Werte, die geführt haben, waren wie Adolf Hitler<br />

rückschrittlich oder diese Werte und Adolf Hitler waren gemeinsam fortschrittlich. Daß die kulturellen<br />

Werte einer anderen Entwicklung Vorschub geleistet hätten als dem Machtantritt Adolf Hitlers, ist<br />

einfach unlogisch. Um diese unlogische Lebenslüge aufrechtzuerhalten, ist die kombinierte<br />

Betriebsunfall- und Verschwörungstheorie entwickelt worden, die es ermöglicht, eine vermeintlich<br />

fortschrittliche Kultur mit einem rückschrittlichen Hitler zu versöhnen, kompatibel zu machen.<br />

Das Bildungsbürgertum ist <strong>das</strong> entscheidende Element bei jeder gesellschaftlichen Umwälzung und<br />

<strong>das</strong> weiß auch jeder Despot, behauptete Will Ferguson, und er hat damit mindestens zu 50 % Recht.<br />

Die Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts war scheinbar eine Zeit der Hochkultur. Namen wie<br />

Hermann Hesse, Fidus, Max Beckmann, Walter Gropius, Harry Graf Kessler, Emil Nolde oder Henry<br />

van de Velde sind mit dem Gedanken der Lebensreform, des <strong>Neue</strong>n Weimar und des Bauhauses<br />

untrennbar verbunden. Aber auch <strong>das</strong> Schweben der <strong>Menschen</strong> in geistige Sphären, der Drang in<br />

kulturelle Höhen verhinderte nicht den Fall in gesellschaftliches Tiefland. Ein guter Teil der<br />

11


Reformbeflissenen und mehr noch der Reformmitläufer der Jahre zwischen 1890 und 1930 strandete<br />

in der NSDAP bzw. KPD oder wählte beim Finale der Weimarer Republik dreimal hintereinander<br />

NSDAP und KPD.<br />

Heute wird oft behauptet, daß die kulturelle Betätigung der Jugend und die Bildung vor dem<br />

Radikalismus schützen würden. Diese optimistische Annahme wird durch die Geschichte nicht<br />

gestützt. Unter bestimmten Voraussetzungen sind Kultur und Bildung der Nährboden für radikale<br />

Abenteurer. Pol Pot beispielsweise absolvierte seine Studien an der Sorbonne; Lenin wallfahrtete auf<br />

den Monte Veritá, Adolf Hitler besuchte im Übermaß Museen und die Opern Richard Wagners.<br />

Bildung ist kein Wert an sich. Es muß deutlich mehr über Inhalte von Kultur und Bildung nachgedacht<br />

werden.<br />

Diese Buch ist ein Buch für die Jugend, nicht so sehr, weil es Auskünfte über eine lange vergangene<br />

Zeit liefert, sondern weil es die Lebenslügen unserer heutigen Gesellschaft offen legt. Die heute<br />

behaupteten festen Grenzen zwischen Nationalsozialismus und Faschismus einerseits und<br />

Leninismus und Reformismus andererseits hat es historisch erst seit 1941 gegeben: Seit dem Krieg<br />

gegen die Sowjetunion und seit der Wannseekonferenz. Vorher gab es nicht nur Berührungen,<br />

Übertritte, gegenseitige Sympathien, sondern vor allem eine gemeinsame Herkunft aus der<br />

reformistischen Jugend- und Lebensreformbewegung, aus dem mitteleuropäischen Elitarismus.<br />

Es gibt in der Geschichtswissenschaft die schädliche und schändliche Tendenz, die Geschichte<br />

rückwärts zu schreiben. Von der bedingungslosen Kapitulation über die Gaskammern von Auschwitz,<br />

die Wannseekonferenz, die Ausstellung „Entartete Kunst“ zur Machtergreifung als Betriebsunfall der<br />

Geschichte. Alle jene, die bei der Wannseekonferenz nicht dabei waren, die von Auschwitz nichts<br />

wussten und die einen Platz unter den Entarteten verpasst bekommen hatten, stellten sich mit Hilfe<br />

dieser rückwärtigen Perspektive auf den Nationalsozialismus den Persilschein aus. Thomas S. Kuhn<br />

schreibt über <strong>das</strong> Problem der rückwärtigen Geschichtsbetrachtung: "Die Wissenschaftler sind<br />

natürlich nicht die einzige Gruppe, die dazu neigt, die Vergangenheit ihrer Disziplin sich gradlinig auf<br />

den gegenwärtigen Stand entwickeln zu sehen. Die Versuchung die Geschichte rückwärts zu<br />

schreiben ist allgegenwärtig und dauerhaft." 7 Bei der chronologischen Verfolgung der geschichtlichen<br />

Tatsachen, beim Vorwärtsschreiben der Geschichte fällt auf, <strong>das</strong>s es in Wirklichkeit einen<br />

gesellschaftlichen Minimalkonsenz aller deutschen gesellschaftlichen Gruppen gegeben hat;<br />

gemeinsame convince ordains überzogen alle Parteien und Gruppierungen, die Wissenschaft, die<br />

Wirtschaft und den Weinberg der deutschen Kultur wie Mehltau. Thomas S. Kuhn hat solche<br />

ideologischen Plattformen als Paradigmata bezeichnet: ihre Leistung sei neu genug, um eine<br />

beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, andererseits offen genug, um den Anhängern die<br />

Lösung von ungelösten Problemen zu ermöglichen. So wie heute <strong>das</strong> Paradigma der Senkung der<br />

Lohnnebenkosten als Achse des vermeintlich ökonomisch Bösen von der Linkspartei bis zur FDP alle<br />

in seinen Bann zieht, so war es vor 100 Jahren die Idee der Schaffung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> und<br />

dessen Führung durch Übermenschen, ebenso wie der Ersatz christlicher Nächstenliebe durch Blut-,<br />

Boden- und Gewaltsexistenzialismus. Kuhn schreibt zum ideologischen Gruppenzwang: „Jene, die<br />

ihre Arbeit nicht anpassen wollen oder können, müssen allein weitermachen oder sich einer anderen<br />

Gruppe anschließen.“ 8 Die anderen Gruppen sind, solange sie <strong>das</strong> herrschende Paradigma nicht<br />

durch ein neues ersetzen können, deutlich in der Defensive.<br />

Es heißt so schön: „Wehret den Anfängen“. Das ist ein wertloses und folgenloses Lippenbekenntnis,<br />

wenn man die Geschichte rückwärts betrachtet. Den Anfängen kann man nur wehren, wenn man die<br />

Geschichte des Nationalsozialismus von „vorn“ nach „hinten“ erzählt, von 1890 nach 1933 und nicht<br />

rückwärts von 1945 nach 1933 und davor ist Schluß. Die Zahl der Mitwirkenden ist chronologisch<br />

vorwärts erzählt nämlich mehr als zehnfach so groß, als chronologisch rückwärts betrachtet. Viele<br />

Mitläufer und Wegbereiter des Führers zerstritten sich zwischen 1920 bis 1938 mit dem Hitler und der<br />

Bewegung. Übrig blieben nur die ewigen Jasager und die zahlreichen Opportunisten. Andere<br />

Weggefährten und Brückenbauer des langen Marsches in den Nationalsozialismus hatten 1933 ihre<br />

Erdenbahn bereits abgeschlossen und brutzelten in der völkisch-elitaristischen Hölle. Sie tauchen alle<br />

sang- und klanglos ab, wenn die Geschichte der NSDAP erst 1920 beginnt und die Genossen von<br />

Boden und Blut erst 1933 ihre wirklich große Fahrt aufnehmen. Aufschlussreich waren die Nürnberger<br />

Prozesse, wo einige Größen der NSDAP behaupteten, Wiederstandskämpfer gegen Adolf Hitler<br />

gewesen zu sein.<br />

7 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, suhrkamp, ffm, 1967, S. 149<br />

8 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, suhrkamp, ffm, 1967, S. 33<br />

12


Rückwärts gesehen waren die Hitler-Gegner sehr zahlreich, historisch vorwärts hatte er zahlreiche<br />

Helfer, nämlich alle jene, die seine Grundüberzeugungen vom <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> und vom<br />

Korporatismus teilten und diese als Leitbilder in die Öffentlichkeit transportierten..<br />

Wir leben jetzt 20 Jahre nach der großen osteuropäischen Revolution. Auch jetzt gibt es<br />

Rückerinnerung an <strong>das</strong> alte Deutschland. In der Berliner Republik haben sich Parallelen zu Weimar,<br />

wie zu jeder nachrevolutionären Situation entwickelt, so daß sich Vergleiche aufdrängen.<br />

Die deutsche Hauptstadt befindet sich wie in den zwanziger Jahren wieder im kulturell und politisch<br />

instabilen Berlin. Zwischen Ost und West gibt es wie in den zwanziger Jahren ein deutliches<br />

Wirtschafts- und Kulturgefälle. So wie die Parteien in der Weimarer Republik territoriale Schwerpunkte<br />

hatten, so sind die Parteien der heutigen Bundesrepublik ebenfalls territorial aufgestellt: Die<br />

Linkspartei im Osten, die Grünen im Westen, die CDU/CSU im Süden und die SPD im Norden.<br />

Während in den alten Ländern die demokratischen Parteien dominieren, haben sie in den neuen<br />

Ländern nur die immer knapper werdende Mehrheit. Wie in der Weimarer Republik sind die<br />

demokratischen Parteien untereinander zerstritten, statt dem Kokettieren der Weimarer Konservativen<br />

mit der NSDAP sucht die SPD die Zusammenarbeit mit der Linkspartei. Die Berufsverbände haben<br />

nach wie vor große Macht, die Wirtschaft wird in Kammern gezwungen, eine selbstgerechte<br />

Reformbewegung frißt die Wahrheit mit Löffeln, und seit Möllemann, Müntefering, Lafontaine und<br />

Schröder lebten Antisemitismus, Antikapitalismus, Antiamerikanismus und der Deutsche Weg auf.<br />

Trotzdem ist es noch nicht die nur von den Gedanken Friedrich Nietzsches dominierte Kultur der<br />

Weimarer Republik. Immer öfter jagen jedoch bedenkliche Schatten vorbei und erinnern an<br />

vergangene Zeiten. Kulturell stehen dunkle Wolken am Horizont, die wirtschaftlichen Fundamente<br />

zerfallen langsam, <strong>das</strong> politische System ist nicht mehr so von sich überzeugt wie vor 30 Jahren und<br />

beginnt sich in Frage zu stellen. Das kleine Bonn schützte 40 Jahre lang vor dem Gedanken, daß am<br />

deutschen Wesen die Welt genesen solle oder könne.<br />

13


Wetterleuchten<br />

Die Hep-Hep-Unruhen von 1819<br />

Mit dem Reichsdeputationshauptschluß 1803, einem unter französischem Druck erfolgten widerlichen<br />

Geschacher um Gebiete und Untertanen, waren einige für <strong>das</strong> zünftige deutsche Handwerk und die<br />

traditionelle Krämerei vermeintlich ungünstige, vor allem jedoch ungewohnte Entwicklungen in Gang<br />

gekommen. Die freien Reichsstädte, Reichsdörfer, Reichswälder, Reichsvogteien, die geistlichen<br />

Gebiete, Reichsritterschaften und viele kleine Fürstentümer wurden in größere deutsche<br />

Territorialstaaten eingeliedert, womit die Macht des Staates über <strong>das</strong> Handwerk, die Landwirtschaft<br />

und den Kleinhandel wuchs. Die größeren Territoralstaaten hatten merkantilistische Interessen und<br />

förderten Wirtschaftsformen, die vermehrt Steuern in die Kassen brachten. An Zunfthandwerkern, die<br />

sich selbst und ihre Körperschaften selbstgenügsam erhielten, waren sie dagegen nicht besonders<br />

interessiert. In einigen wenigen Bundesstaaten des Deutschen Bundes, insbesondere in Preußen,<br />

wurde die Gewerbefreiheit eingeführt, in vielen Gebieten, so auch im Königreich Bayern, wurden die<br />

Juden rechtlich gleichgestellt.<br />

Nach der Vertreibung Napoleons hatten Studenten, Turner, Krämer und Handwerker den Wunsch,<br />

<strong>das</strong>s die schöne Zunftherrlichkeit des Heiligen Römischen Reiches wiederkehren würde. Die<br />

gestärkten deutschen Territorialstaaten dachten aber nicht daran, ihre durch Napoleon erlangte Macht<br />

zu beschneiden. Viele rechtliche <strong>Neue</strong>rungen, so auch die Rechte der Juden blieben bestehen. Es<br />

kam deshalb zu antisemitischen Unruhen.<br />

Ihren Namen erhielten die 1819 ausbrechenden Unruhen durch den mehrfachen Hetzruf „Hep" oder<br />

„Hepp“, mit dem die Handwerker, Krämer und Studenten sich sammelten und Juden bedrohten.<br />

Forscher wie Rainer Wirtz glauben daher, zumindest in Süddeutschland sei der Ziegen-Anruf Hep-<br />

Hep bei den Unruhen auf Juden übertragen worden. Denn der gehörnte Ziegenbock war im Mittelalter<br />

Sinnbild oder Reittier des Teufels, mit dem die Juden identifiziert wurden. Jüdische Männer seien<br />

zudem bei den Angriffen häufig an ihren Spitzbärten gezogen worden.<br />

Die Unruhen brachen in Würzburg aus, einer Stadt, die damals erst kurze Zeit zum Königreich Bayern<br />

gehörte. 1813 hatte <strong>das</strong> Königreich Bayern die Juden gleichgestellt und die jüdische Bevölkerung<br />

Würzburgs wuchs in kurzer Zeit von 1813 bis 1819 von Null auf 400 Personen an.<br />

Am Abend des 2. August 1819 begannen die Würzburger Unruhen. Ein Haufen aus Studenten und<br />

Bürgern versammelte sich. Heinrich Graetz schilderte den Hergang wie folgt:<br />

„Plötzlich wurde ein alter Professor Brendel bemerkt, der kurz vorher zugunsten der Juden<br />

geschrieben hatte. Es hieß, er habe dafür von ihnen eine Dose voll Dukaten bekommen. Bei<br />

seinem Anblicke erscholl aus dem Munde der Studenten der unsinnige Ruf 'Hep-Hep!' mit dem<br />

pöbelhaften Zusatz 'Jud' verreck! ... Brendel wurde verfolgt und mußte sich retten. Den Tumult<br />

benutzten brotneidische Kaufleute, welche erbittert darüber waren, daß jüdische Konkurrenten den<br />

Kaffee um einige Kreuzer billiger verkauften, und einige andere, welche etwas gegen einen<br />

geadelten jüdischen Kapitalisten Hirsch hatten. Eine leidenschaftliche Wut bemächtigte sich der<br />

Bevölkerung. Sie erbrach die Kaufläden der Juden und warf die Waren auf die Straße. Und als die<br />

Angegriffenen sich zur Wehr setzten und mit Steinen warfen, steigerte sich die Erbitterung bis zur<br />

Raserei. Es entstand eine förmliche Judenschlacht wie im Mittelalter, es kamen Verwundungen<br />

vor, mehrere Personen wurden getötet.<br />

Etwa vierzig Bürger hatten sich an diesem Judensturm beteiligt. Militär mußte zur Dämpfung der<br />

Erbitterung herbeigeholt werden, sonst wären die Juden niedergemetzelt worden. Tags darauf<br />

stellte die Bürgerschaft die Forderung an die städtische Behörde, daß die Juden Würzburg<br />

verlassen sollten. Und sie mußte sich fügen. Mit Trauer verließen etwa vierhundert Juden jeden<br />

Alters die Stadt und lagerten mehrere Tage in den Dörfern unter Zelten, einer trüben Zukunft<br />

entgegensehend.“<br />

Zeitgenössische Regierungsakten, Zeitungsberichte und die „Würzburger Chronik“ des<br />

Stadthistorikers Leo Günther von 1925 ergänzen und korrigieren diese Darstellung in einigen Details.<br />

Die Angriffe richteten sich vor allem gegen jüdische Geschäftsinhaber. Sie wurden verprügelt, ihre<br />

Läden, Warenlager und Wohnhäuser wurden teilweise zerstört. Fensterscheiben wurden eingeworfen,<br />

Auslagen geplündert, Fassaden demoliert, Firmenschilder abgerissen. Dabei wurden königliche<br />

Wappen meist geschont, um den Eindruck eines staatsfeindlichen Aufruhrs zu vermeiden.<br />

14


Am Folgetag wurden auch Ordnungskräfte angegriffen. Ein Stadtpolizist, der <strong>das</strong> Wohnhaus des<br />

Bankiers Hirsch schützen sollte, erschoss dabei den judenfeindlichen Würzburger Kaufmann Konrad.<br />

Daraufhin eskalierten die Unruhen zu bürgerkriegsartigen Zuständen. Die Bürgerschaft verlangte nun<br />

die sofortige Ausweisung aller Juden. Bayrisches Militär wurde dem Rat zur Hilfe entsandt. Ein<br />

Schuhmacher erschoss einen Wachsoldaten. Erst nach drei Tagen konnte <strong>das</strong> kgl. bayrische Militär<br />

die Situation einigermaßen unter Kontrolle bringen.<br />

In Düsseldorf wurden ab dem 22. August 1819 an jüdischen Wohnhäusern Plakate angeschlagen:<br />

„Schon zu lange hat die Herrschaft der Juden über den Betrieb des Handels gedauert. Mit ruhigen<br />

Augen haben die Christen diesem unerlaubten Unwesen zugesehen, die Zeiten haben sich<br />

geändert. Sind bis 26ten dieses Monats dem Handel und Moral verderbenden Volke, was kein<br />

gesetzmäßiges Oberhaupt anerkennen kann, nicht Schranken gesetzt, so soll ein Blutbad<br />

entstehen, <strong>das</strong> anstatt Bartholomäus-Nacht Salomoni-Nacht heißen soll.“<br />

In Danzig lautete der Aufruf:<br />

„Diese Juden, die hier unter uns leben, die sich wie verzehrende Heuschrecken unter uns<br />

verbreiten, und die <strong>das</strong> ganze preußische Christenthum dem Umsturz drohen, <strong>das</strong> sind Kinder<br />

derer die da schrieen: kreutzige, kreutzige. Nun auf zur Rache! Unser Kampfgeschrei sey Hepp!<br />

Hepp! Hepp! Aller Juden Tod und Verderben, Ihr müßt fliehen oder sterben!“<br />

Zu weiteren Hepp-Hepp-Unruhen kam es in Bamberg, Bayreuth, Regensburg, Pottenstein,<br />

Ebermannstadt, Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg, Breslau, Grünberg, Rotenburg a.d.F., Königsberg,<br />

Lissa, Koblenz, Hamm, Kleve, Dormagen, Frankfurt, Darmstadt, Kreuznach und Hamburg.<br />

Damalige Zeitungsberichte beurteilten die Motive der Krawallanten unterschiedlich. Gebildete<br />

Beobachter sahen religiöse Begründungen für die Unruhen jedoch als vorgeschoben an. Sie machten<br />

„Handelsgeist“ und „Krämerneid“ dafür verantwortlich oder teilten <strong>das</strong> verbreitete Vorurteil, eine<br />

angeblich zu rasche rechtliche Gleichstellung habe <strong>das</strong> „schnelle Emporkommen“ der Juden bewirkt.<br />

Deren gestiegene Konkurrenzfähigkeit wurde also als an sich illegitime Bereicherung auf Kosten der<br />

Allgemeinheit beurteilt. Eine Schrift des Dramatikers Julius von Voß führte jüdische Gewinne darauf<br />

zurück, jüdische Händler seien meist sparsamer und fleißiger und böten hochwertigere Waren<br />

preisgünstiger an als Christen, was diese wiederum anreize, <strong>das</strong> Qualitätsniveau ihrer Waren zu<br />

steigern, und so allen zugute komme. Doch auf dem Hintergrund eines verbreiteten Krisengefühls<br />

erschienen die Juden den Krämern und Handwerkern der Städte als geeignetes Aggressionsobjekt.<br />

Sie wollten zur mittelalterlichen Ständeordnung zurückkehren und versprachen sich von der brutalen<br />

Ausschaltung einer gut 1000 Jahre lang sozialökonomisch diskriminierten Minderheit aus dem<br />

Wirtschaftsleben eine rasche Verbesserung der eigenen Lage. 9<br />

Der Beginn des Kampfs des Einzigen mit der Masse<br />

Ich sage ihnen, <strong>das</strong>s die Kunststücke von heute die Wahrheiten von Morgen sind, behauptete Marcel<br />

Duchamp. Für gewagte ideologische Innovationen trifft <strong>das</strong> genauso zu. Der Übermensch wurde nicht<br />

plötzlich retortenhaft aus der Phantasie von Friedrich Nietzsche gezeugt, wenngleich Nietzsche mit<br />

seinem kraftvollen Ausdruck dem Übermenschen ein einzigartiges Gepräge gab. Dem Übermenschen<br />

ging der "Einzige" voraus.<br />

Ein erstes Aufflackern extremen Selbstbewusstseins von Ausnahmetalenten und solchen, die sich<br />

dafür hielten, hatte es um 1770 bei den Künstlern des Sturm und Drang gegeben. Sie waren von<br />

Rousseau´s Naturrechtsromanen hingerissen und konstruierten ihr persönliches Naturrecht als<br />

künstlerische Aneignung absolutistischer Lebensweise der Fürsten, als hedonistische Heroisierung<br />

des Ichs. In „Die Zwillinge“ behandelte beispielsweise Friedrich Maximilian Klinger den Konflikt<br />

zwischen Naturordnung und Rechtsordnung, den Gegensatz des auf sein Naturrecht pochenden<br />

<strong>Menschen</strong> zu seiner Umwelt. Der jüngere Ausnahmemensch ermordet seinen älteren Bruder,<br />

welchem nach der Rechtsordnung der Vorrang gebührte. „Laß uns die <strong>Menschen</strong> anfallen, wenn <strong>das</strong><br />

Eltern tun. Laß sie sie uns zereißen! Leg deinen Degen weg, und schärfe deine Zähne! Ha, ich werde<br />

wahnsinnig mit dir über <strong>das</strong> Geschick!“ Hier sind bereits alle Elemente des späteren deutschen<br />

Elitarismus vorgezeichnet. Goethes Prometheus, der 1774 begonnen wurde, hatte ähnliche<br />

9 Wikepedia, Stichwort: Hep-Hep-Unruhen<br />

15


Anwandlungen des sich-messens an der göttlichen Ordnung. „Mußt mir meine Erde doch lassen<br />

stehn, und meine Hütte, die du nicht gebaut, und meinen Herd, um dessen Glut Du mich beneidest.“<br />

Allerdings dauerte der Sturm und Drang nur ein Jahrzehnt und die hergebrachte Rechtsordnung<br />

konnte nach 1780 faktisch und ideologisch noch einmal gefestigt werden. Goethe schrieb 1792<br />

rückblickend in „Campagne in Frankreich“:<br />

„Was mir aber noch mehr auffiel, war, <strong>das</strong>s ein gewisser Freiheitssinn, ein Streben nach<br />

Demokratie sich in den höheren Ständen verbreitet hatte; man schien nicht zu fühlen, was alles zu<br />

verlieren sei, um irgendeiner Art zweideutigen Gewinnes zu erlangen.“<br />

Der elitaristische Impuls war nach der französischen Revolution erst einmal eingeschlafen, mit ihm<br />

jedoch, typisch für <strong>das</strong> alte Deutschland, auch der demokratische. Einige Jahrzehnte des Biedermeier<br />

vergingen, ab den 30er Haren des 19. Jahrhunderts bildeten sich neue revolutuionäre Herde.<br />

Friedrich Engels bezeichnete die Zeit um 1840 als den "Ausgang der klassischen deutschen<br />

Philosophie", und zu dieser Zeit, als Marx und Engels auf der einen Seite, Stirner und Bauer auf der<br />

anderen um <strong>das</strong> Erbe der Hegelschen Philosophie rauften, entstand die Spaltung der Junghegelianer<br />

in Egalitaristen und Elitaristen. Beide dieser Richtungen waren auf ihre Art dem Zeitgeist<br />

entsprechend antiautoritär.<br />

Die Elitaristen thematisierten <strong>das</strong> "Selbstbewußtsein" und den "Einzigen". Marx und Engels setzten<br />

dagegen ihre Hoffnungen in die "revolutionäre Masse", ohne sich über die innere Struktur dieser<br />

Masse nähere Gedanken zu machen. Bereits 1845 stand für Marx fest:<br />

"Diese vorgefundenen Lebensbedingungen der verschiedenen Generationen entscheiden auch, ob<br />

die periodisch in der Geschichte wiederkehrende revolutionäre Erschütterung stark genug sein wird<br />

oder nicht, die Basis alles Bestehenden umzuwerfen, und wenn diese materiellen Elemente einer<br />

totalen Umwälzung, nämlich einerseits die vorhandenen Produktivkräfte, andrerseits die Bildung<br />

einer revolutionären Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen<br />

Gesellschaft, sondern gegen die bisherige "Lebensproduktion" selbst, die "Gesamttätigkeit", worauf<br />

sie basierte, revolutionierte, - nicht vorhanden sind, so ist es ganz gleichgültig für die praktische<br />

Entwicklung, ob diese Ideen dieser Umwälzung schon hundertmal ausgesprochen ist - wie die<br />

Geschichte des Kommunismus dies beweist." 10<br />

Der Glaube in die Naturgesetzlichkeit der Triebkräfte der ökonomischen Basis verbot den Gedanken<br />

an Führerschaft, denn der Gedanke der Führung hätte den konkurrierenden Gedanken der<br />

geschichtlichen Gesetzlichkeit der Revolution konterkariert. Wozu benötigte es Führer, wenn die<br />

Massen durch die Entwicklung der Produktivkräfte zu ihrer welthistorischen Mission bestimmt wurden?<br />

In der dritten These über Feuerbach hatte Marx dieses antihierarchische Motiv in der<br />

Auseinandersetzung mit dem Materialismus Feuerbachs bereits entwickelt:<br />

"Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die<br />

Umstände von den <strong>Menschen</strong> verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie (die<br />

materialistische Anschauung Feuerbachs) muß daher die Gesellschaft in zwei Teile - von denen<br />

der eine über die andere erhaben ist - sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände<br />

und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt<br />

und rationell verstanden werden."<br />

Die Feuerbachthesen wurden von Friedrich Engels als Geburtsurkunde des wissenschaftlichen<br />

Sozialismus gepriesen, und diese Urkunde enthielt bereits die Festlegung auf die Masse und die<br />

Polemik gegen eine wie immer auch geartete Erziehungsdiktatur. Wenn die revolutionäre Masse quasi<br />

naturgesetzlich erzeugt würde, so wäre sie führerlos stark genug, die Verhältnisse zu revolutionieren.<br />

Max Stirner dagegen sang <strong>das</strong> Lied des "Einzigen" und schrieb die Worte "ich", "mir", "meinestheils"<br />

und "mich" groß.<br />

"Und nun nehme Ich Mir die Welt als <strong>das</strong>, was sie Mir ist, als <strong>das</strong> Meinige, als Mein Eigenthum."<br />

10 Karl Marx Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 38 f.<br />

16


Marx bemängelte in seiner Kritk Stirners, daß die Welt in Ungebildete (Neger, Kinder, Katholiken,<br />

Realisten...) und Gebildete (Mongolen, Jünglinge, Protestanten, Idealisten...) geteilt würde, wobei die<br />

Gebildeten über die Ungebildeten zu herrschen hätten.<br />

Zu vermerken ist an dieser Stelle, <strong>das</strong>s Stirners Charakteristik der Ungebildeten und der Gebildeten<br />

die späteren Überzeugungen der Jugendbewegung weitgehend vorwegnahm. Die Unterscheidung in<br />

Ungebildete, Neger, Kinder, Katholiken, Realisten einerseits und Gebildete, Mongolen, Jünglinge,<br />

Protestanten, Idealisten andererseits wurde von der Jugendbewegung übernommen, wobei <strong>das</strong> Kind<br />

ab 1900 aus dem Kanon des Negativen herausgenommen wurde und der Jude als Platzhalter des<br />

Kapitalismus herein. Der Jugendwahn und der Idealismus als Leitbild der Führungsschicht reichen in<br />

ihrer Entstehung bis tief ins 19. Jahrhundert zurück. Der Mongole, welchen Stirner meinte, war<br />

vermutlich Lenin.<br />

Zur Religion vermerkte Stirner:<br />

"Ich demüthige Mich vor keiner Macht mehr und erkenne, daß alle Mächte nur Meine Macht sind,<br />

die Ich sogleich zu unterwerfen habe, wenn sie eine Macht gegen oder über Mich zu werden<br />

drohen; jede derselben darf nur eins Meiner Mittel sein, Mich durchzusetzen."<br />

Das ist blanker Hedonismus. Nicht ohne Grund, wegen wirklicher Eignung für antietatistische<br />

Experimente buk Michail Bakunin aus Stirner und Proudhon den Anarchismus. Unter dem Einfluß von<br />

Bakunin schrieb Richard Wagner 1849 in den Dresdner Volksblättern:<br />

„Der eigne Wille sei der Herr des <strong>Menschen</strong>, die eigne Lust sein einzig Gesetz, die eigene Kraft<br />

sein ganzes Eigenthum, denn <strong>das</strong> Heilige ist allein der freie Mensch, und nichts höheres ist, denn<br />

Er.“<br />

Das war anarchistische Nachbeterei, denn Wagner wollte zumindestens in der Revolution „jegliche<br />

Herrschaft des Einen über den Anderen“ zerstört wissen. Das interessante ist: Der anarchistische<br />

Einzige wandelte sich im Laufe der Jahre zum Übermenschen, der als starker Führer begriffen, seinen<br />

starken Willen anderen Individuen zum Kompass machte.<br />

Am Ausgang der klassischen deutschen Philosophie wurde der <strong>Neue</strong> Mensch geboren, jenes<br />

gefährliche Gespenst, <strong>das</strong> 40 Jahre später ein ausgewachsener Flegel geworden war und 100 Jahre<br />

später ein monströser Godzilla, der durch die Welt trampelte. 1843 schrieb Feuerbach an Ruge:<br />

„Wir kommen in Deutschland sobald auf keinen grünen Zweig. Es ist alles in Grund und Boden<br />

hinein verdorben, <strong>das</strong> eine auf diese, <strong>das</strong> andere auf jene Weise. <strong>Neue</strong> <strong>Menschen</strong> brauchen wir.<br />

Aber sie kommen diesmal nicht wie bei der Völkerwanderung aus den Sümpfen und Wäldern, aus<br />

unseren Lenden müssen wir sie erzeugen. Und dem neuen Geschlecht muß die neue Welt<br />

zugeführt werden in Gedanken und Gedicht. Alles ist von Grund auf zu erschöpfen.“<br />

Da war er bereits, der neue Mensch.<br />

Bei der akademischen Rauferei um den Nachlaß Hegels, bei dem die revolutionäre Methode gegen<br />

<strong>das</strong> konservative System Hegels und <strong>das</strong> System gegen die Methode gewendet wurde, hatte sich der<br />

Unterschied zwischen dem marxistischen Egalitarismus und dem Stirnerschen Elitarismus angedeutet<br />

und ausgeprägt. Bis zur Krise der Jahrhundertwende marschierte die egalitär-sozialistische und die<br />

elitaristisch-ständisch-kleinbürgerliche Theorie getrennt. Um die Jahrhundertwende wurde die<br />

Schwäche des Marxismus deutlich: Marx hatte die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte mit dem<br />

festen Glauben an einen gesellschaftlichen Mechanismus (Märchen vom "Rad der Geschichte") in den<br />

theoretischen Hintergrund abgedrängt. Und er hatte die Reife der Marktkräfte und der sogenannten<br />

"Produktivkräfte" überschätzt. Ein gestandener Sensualist hätte ahnen können, daß die wirklichen<br />

<strong>Menschen</strong> auf die vorgefundenen und sich verändernden Produktivkräfte und Verkehrsverhältnisse<br />

mannigfaltiger reagieren, als von den sozialistischen Patriarchen vermutet. Ein gestandener Historiker<br />

hätte dagegen befürchtet, daß die neuen Verkehrsformen nicht alle alten verdrängen und die<br />

althergebrachten sich mit großer Zähigkeit an die neuen Produktionsmittel anheften könnten. Mit den<br />

unzutreffenden Prophezeiungen von Marx wuchs mit jedem Jahr die Schwäche des Marxismus und<br />

mit dieser Schwäche wuchs reziprok die Stärke elitaristischer Gesellschaftskonzepte. Um die<br />

Jahrhundertwende verbanden sich die bis dahin getrennt marschierenden Säulen des kleinbürgerlichständischen<br />

Elitarismus und der Arbeiterbewegung zum Leninismus. Stirner hatte über Marx gesiegt.<br />

17


Schwierigkeiten bei der Parlamentarisierung<br />

Die beschränkte historische Schulweisheit nimmt an, daß repräsentative parlamentarische<br />

Vertretungen in Deutschland von den bürgerlichen Ständen erkämpft worden seien. Das ist ein Irrtum.<br />

In Deutschland kämpfte die monarchistische Obrigkeit gegen hinhaltenden Widerstand der Untertanen<br />

und deren Repräsentanten nicht nur um die Judenemanzipation und die Gewerbefreiheit, sondern<br />

auch um die Einführung der repräsentativen Demokratie.<br />

Anhand der Kommunalordnung des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach und der<br />

Protokollbücher einer sächsisch-weimarischen Gemeinde läßt sich <strong>das</strong> exemplarisch nachvollziehen.<br />

Am 28. März 1840 erschien im Regierungsblatt für <strong>das</strong> Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach<br />

die Bekanntmachung der neuen Gemeindeordnung. "Auf höchsten Befehl Sr. Königlichen Hoheit des<br />

Großherzogs, wird die nachstehende, mit dem getreuen Landtage verabschiedete allgemeine<br />

Landgemeinde-Ordnung hierdurch zur Nachahmung öffentlich bekanntgemacht."<br />

"In der Erwägung, daß eine wohlgeordnete Verfassung der Gemeinden im Staate die<br />

Staatsverwaltung selbst erleichtert und unterstützt, zugleich aber die Wohlfart der Unterthanen<br />

befördert, glauben Wir einem wesentlichen, auch von den Ständen des Großherzogthums<br />

wiederholt anerkannten Bedürfnisse abzuhelfen, indem wir die in einigen Theilen des Landes noch<br />

bestehenden mangelhaften und sehr verschiedenartigen Rechts- und Verwaltungsverhältnisse der<br />

Landgemeinden durch eine allgemeine Landgemeinde-Ordnung zu regeln beschlossen haben."<br />

"Vom 1. Juli 1840 an treten für alle Ortsgemeinden, denen Stadtrecht nicht zusteht, die<br />

Vorschriften der allgemeinen Landgemeinde-Ordnung in gesetzliche Kraft, so daß diejenigen<br />

landesgesetzlichen und ortsgesetzlichen Bestimmungen, Gemeindebeschlüsse und Herkommen,<br />

welche jenen Vorschriften entgegenstehen, vom gedachten Tage an aufgehoben sind."<br />

Der Sinn der neuen Kommunalordnung war es, die Zusammentritte der altgermanischen<br />

Gemeindevollversammlung der männlichen Nachbarn durch ein repräsentativ-parlamentarisches<br />

Gremium, den Gemeindevorstand zu ersetzen. Weiterhin sollten Bekanntmachungen der<br />

Tagesordnung und Ladungsfristen geregelt werden.<br />

"Die Vertretung der Gemeinde und die Besorgung ihrer Angelegenheiten geschieht in der Regel<br />

durch den Ortsvorstand. Eine Versammlung der Ortsnachbarn ist nur noch zulässig und deren<br />

Schlußfassung erforderlich: 1) zur Verkündung der Gesetze und Verordnungen, auch<br />

obrigkeitlicher Befehle, soweit letztere die Gesamtheit der Gemeinde angehen; 2) zur Vorlesung<br />

der Gemeinderechnung; 3) zur Wahl der Gemeindevorsteher; 4) zur Aufnahme nicht<br />

heimathsberechtigter Fremder in die Reihe der Nachbarn; 5) wenn neue oder erhöhete<br />

Gemeindeleistungen oder eine veränderte Umlage derselben beschlossen werden sollen; 6) wenn<br />

ein Verzicht auf Rechte oder Befugnisse, welche bis dahin in der Gemeinde zum Privat=Vortheile<br />

benutzt werden durften, zu Gunsten der Gemeinde in Frage steht; 7) wenn Grundstücke auf<br />

Rechnung der Gemeindekasse durch Kauf, Tausch oder andere Weise erworben oder veräußert<br />

werden sollen; 8) wenn über die Frage, ob ein Neubau auf Kosten der Gemeinde vorzunehmen<br />

sey, zu beschließen ist; 9) wenn es sich um die Aufnahme solcher Darlehen handelt, welche nicht<br />

von den Einkünften des laufenden Jahrs wieder gedeckt werden; 10) in allen Fällen, wo die<br />

Aufsichtsbehörde eine Vernehmung und Schlußfassung der Gemeinde selbst ausdrücklich<br />

vorschreibt".<br />

Auch nach dieser geänderten Ordnung waren die Befugnisse der Gemeindeversammlung aller<br />

Nachbarn wesentlich größer als im heutigen Rechtssystem. Das Ziel war es jedoch einen Teil der<br />

weniger grundlegenden Beschlüsse in einem repräsentativen parlamentarischen Gremium zu treffen.<br />

"Eine Gemeindeversammlung findet nur Statt in Folge einer Zusammenberufung durch den<br />

Schuldheißen..... Die Berufung einer Gemeindeversammlung muß mindestens Tags vorher durch<br />

mündliche Bestellung, zu einer Wahlversammlung aber 8 Tage vorher durch schriftlichen Anschlag<br />

geschehen. Dabei ist der Zweck, die Zeit und der Ort der Versammlung mit bekanntzumachen,<br />

unter Androhung einer angemessenen Gemeindebuße für jeden, welcher ohne hinreichenden<br />

Entschuldigungsgrund ausbleibt oder zu spät erscheint. Zum Behufe bloßer Bekanntmachungen in<br />

Gemeinde=Verwaltungsangelegenheiten darf der Schuldheiß die Ortsnachbarn jederzeit<br />

zusammenrufen, und es bewendet deshalb auch bei der örtlich hergebrachten<br />

Zusammenberufungsweise."<br />

18


Über die Gemeindevorsteher heißt es in der Kommunalordnung:<br />

"Die Gemeindevorsteher sind berufen und verpflichtet, <strong>das</strong> Beste der Gemeinde, als Mitglieder des<br />

Ortsvorstandes und Gehülfen des Schuldheißen, berathend und verwaltend zu wahren und zu<br />

fördern. Sie haben daher in den Versammlungen des Ortsvorstandes ihren Rath nach bestem<br />

Wissen und Gewissen zu ertheilen....Sie sind schuldig, den Schuldheißen bei Ausführung der<br />

zustande gekommenen Beschlüsse zu unterstützen und Aufträge zum Besten der Gemeinde zu<br />

übernehmen und zu vollziehen. Im Falle der Verhinderung des Schuldheißen tritt der erste oder<br />

einer der übrigen Gemeindevorsteher an seine Stelle, in der Ordnung, wie ihre Wahl erfolgt ist."<br />

Der Schuldheiß wurde vom großherzoglichen Oberbeamten ernannt, der Ortsvorstand wurde von den<br />

stimmberechtigten Gemeindegliedern gewählt.<br />

Zum Vollzug der neuen Ordnung gibt im folgenden ein Protokollbuch der Gemeindeversammlungen<br />

Auskunft: "10. März 1848. Der Schultheiß Kotte ließ durch mündliches Hereinfragen die hiesigen<br />

Nachbarn auf heute Abend 7 Uhr ins hiesige Gasthaus zusammenfordern. Selbige hatten sich der<br />

größeren Anzahl eingefunden." Dieses Hereinfragen am selben Tage blieb die Regel über einen<br />

längeren Zeitraum bis mindestens in die siebziger Jahre. Den Grund für die Präferenz der Obrigkeit für<br />

parlamentarische Vertretungen kann man aus der folgenden Notiz erahnen:<br />

"Am 14. März wurden die hiesigen Nachbarn durch mündliche Ladung zur Versammlung gebeten,<br />

um wichtige Bekanntmachungen seiner Königlichen Hoheit anzuhören. Der Schultheiß fuhr hierauf<br />

fort, daß er wie alle guten Staatsbürger sich der gewährten Volkswünsche herzlich freue und hoffe,<br />

daß bei weiser Benutzung derselben durch unsere Volksvertreter der Segen für <strong>das</strong> Land nicht<br />

ausbleiben könne, daß aber auch die neue Bildung unseres jetzigen Staatslebens bloß durch den<br />

Landtag und nicht durch tumultarische Volksversammlung erfolgen könne."<br />

Der Regelfall blieb die tumultarische Vollversammlung der gesamten männlichen Einwohner und<br />

Nachbarn: Jakobi 1848 (25. Juli): "Nach herkömmlichem Gebrauch wurde am heutigen Tage die<br />

hiesigen Nachbarn durch Glockenruf an den gewöhnlichen Versammlungsort im hiesigen Gasthaus<br />

zusammengerufen und sind bis auf W. Schläfer, Katharina Locke und Paul Horlebeck erschienen.<br />

Dem Herkommen gemäß wurde von dem Gemeindekassierer Busch der Stab gehoben und hierdurch<br />

die Versammlung eröffnet. Hierauf wurden die nöthigen Verpachtungen vorgenommen und in <strong>das</strong><br />

dazu vorhandene Gemeindebuch eingetragen, eben dafür wurden aufgenommen Nachbargelder,<br />

Strafen, Tagelöhner, Feuerläufer und Spritzenmannschaft und Spritzenmeister wurden ebenfalls in<br />

<strong>das</strong>selbe eingetragen. Die bei der Versammlung vorzubringenden Geschäfte waren hiermit beendigt<br />

und <strong>das</strong> durch Heben des Stocks der Versammlung angezeigt."<br />

Am 25. Juli 1849 (Jacobi) wiederholte sich zur jährlichen Gemeindeversammlung <strong>das</strong>selbe<br />

räthselhafte Ritual des Stabaufhebens wie genau ein Jahr zuvor. Wieder erfolgte zu dieser<br />

Versammlung die Einladung nicht durch <strong>das</strong> sonst übliche Hereinfragen, sondern durch Glockenruf,<br />

wiederum wurde die Versammlung durch den Gemeinderechnungsführer F. Busch durch Aufheben<br />

des Stabes eröffnet und wieder wurden die nötigen Verpachtungen vorgenommen und in <strong>das</strong> dazu<br />

vorhandene Gemeindebuch eingetragen.<br />

Jahre waren seit der Einführung der Kommunalordnung vergangen und der Gemeindeortsvorstand<br />

hatte noch nicht ein einziges Mal getagt. Alles geschah wie zu Karl des Großen Zeiten in der<br />

Gemeindeversammlung aller Nachbarn und nach alter Tradition wurden die Nachbarn spontan<br />

zusammengetrommelt, ohne Tagesordnung und ohne Ladungsfrist.<br />

1854 wurde wieder die Seite vom Tag Jakobi aus dem Protokollbuch der Gemeinde herausgefischt.<br />

Den Posten des Schultheißen gab es nun nicht mehr, statt dessen regierte der Bürgermeister<br />

Friedrich Gottschalg die Gemeinde, die Nachbarn waren in Ortsbürger umgenannt und die<br />

Landgemeindeordnung von 1840 war durch ein neues Gemeindegesetz ersetzt worden, nur der Stab<br />

spielte immer noch seine alte Rolle:<br />

"Nachdem der Bürgermeister die diesjährige Feier des gesagten Tages Jakobi auf heute<br />

festgesetzt hatte, wurden die hiesigen Ortsbürger nachmittags 1 Uhr durch Glockenton zur<br />

Versammlung gerufen. Die Versammlung wurde im Saal des hiesigen Gasthauses abgehalten.<br />

Nach herkömmlicher Weiße erhob der Bürgermeister den Stab und somit war die Versammlung<br />

eröffnet."<br />

19


Zusammenfassend ergibt sich folgendes Resumee: Seit unvordenklicher Zeit tradiert war die<br />

Vollversammlung der männlichen Einwohner und Nachbarn. Das mittelalterlich-germanische<br />

Zeremoniell mit Stabaufheben, welches in der Kommunalordnung schon seit 1840 nicht mehr vorkam,<br />

war nach der Mitte des 19. Jahrhunderts vor den Toren der Landeshauptstadt Weimar noch in<br />

Gebrauch. Der gewählte Gemeinderat tagte offensichtlich in der fraglichen Zeit von 1840 bis 1860<br />

nicht ein einziges Mal. Die in der Kommunalordnung vorgesehene Berufung der Versammlung einen<br />

Tag vorher wurde nie eingehalten. Die Einwohner wurden immer am Tage der Versammlung<br />

zusammengetrommelt, egal um welche Tagesordnung es ging. Einige Beschlüsse wurden gefaßt,<br />

ohne daß die Gemeindeversammlung beschlußfähig war. Gegen die Gemeindeordnung von 1840<br />

wurde vor Ort systematisch verstoßen. Die Staatsregierung wollte die repräsentative Demokratie<br />

einführen. Das scheiterte in der fraglichen Zeit am sturen Festhalten an mittelalterlichen örtlichen<br />

Traditionen.<br />

Die Umbenennung des Schuldheißen in Bürgermeister deutet nicht wirklich auf den Wind des<br />

Wechsels hin, der möglicherweise an mittelalterlichen Gebräuchen zupfte, sondern hat eher einen<br />

zünftig-traditionalistischen Hintergrund: Der Bürger als quasi Geselle oder Lehrling steht seinem<br />

Meister gegenüber. Diese Bemeisterung der Bürger löste <strong>das</strong> heißen der Schuld durch den<br />

Schuldheißen ab. Im Ausland ist es nur teilweise anders: Der italienische sindaco ist ein Kontrolleur, In<br />

Polen hat man den burmistrz übernommen. Nur der englische und amerikanische mayor ist einfach<br />

ein Häuptling.<br />

Revolution und Konterrevolution 1848<br />

Einerseits hatte die 48er Revolution in Deutschland einen bürgerlich-demokratischen Impuls. Einige<br />

Revolutionäre der ersten Stunde forderten einen Nationalstaat ohne Binnenzölle, demokratische<br />

Rechte und die Volksbewaffnung, teilweise auch die Beseitigung feudaler Lasten und die Republik.<br />

Diese liberalen Forderungen kollidierten relativ schnell mit restaurativen Stimmungen.<br />

Bereits am Vorabend der Revolution war der Schlesische Weberaufstand ausgebrochen und vom<br />

preußischen Staat niedergeschlagen worden. Dieser Weberaufstand wird oft als erster deutscher<br />

Arbeiteraufstand gekennzeichnet. Die schlesischen Weber waren jedoch keine Fabrikarbeiter,<br />

sondern Kleinstlandwirte, die in Heimarbeit für sogenannte Verleger arbeiteten. Es waren abhängige<br />

Handwerker, die mit eigenen Produktionsmitteln am Rande des Ruins wirtschafteten. Es waren zwar<br />

proletaroide Existenzen, jedoch keine Proletarier, weil die Trennung vom eigenen Produktionsmittel,<br />

dem Webstuhl noch nicht stattgefunden hatte. Daher auch die maschinenstürmerischen Tendenzen<br />

der Aufständischen. Der wirkliche Proletarier war historisch nie Maschinenstürmer. Im Weberaufstand<br />

zeigte sich früh <strong>das</strong> deutsche Problem: Das Handwerk war durch die Auflösung lokaler und regionaler<br />

Märkte, eine Art von Globalisierung, unter den Konkurrenzdruck der nichtzünftigen Industrie und der<br />

nichtzünftigen Händler geraten und der Vertrieb funktionierte im beginnenden Eisenbahnzeitalter<br />

überregionaler als mit der altdeutschen Eselskarawane. Gleichzeitig stieg die Produktivität der<br />

Landwirtschaft. <strong>Menschen</strong> wurden für die neuen Industrien freigesetzt, aber diese wirklichen<br />

Proletarier gab es im Überfluß, und folglich waren ihre Lebensbedingungen schlecht. Die politisch<br />

kritische Situation wurde durch zwei Missernten 1846 und 1847 verstärkt.<br />

Kaum hatte die Revolution begonnen, verwüsteten an einigen Orten schon wieder Handwerker und<br />

Krämer den Juden die Häuser.<br />

„Lieber Eduard! (...) hier geht es wieder drüber und drunter, schlimmer als je; (...) den Juden<br />

wurden die Häuser zerschlagen und gänzlich ausgeräumt. (...) Ein unaufhörliches Einschlagen mit<br />

Äxten die ganze Nacht. Wahrscheinlich kommt Militär hierher, denn ohne dies gibt es Mord.“<br />

So beschrieb der Rotenburger Pfarrer Wilhelm Vilmar am 9. Juni 1848 in einem Brief an seinen Sohn<br />

Eduard, der in Hersfeld lebte, die Zustände während der Revolution 1848 im kurhessischen Städtchen<br />

Rotenburg an der Fulda. 11<br />

Während sich <strong>das</strong> zahlenmäßig schwache liberale Bürgertum um die Einreißung der<br />

Marktbeschränkungen und Förderung des Verkehrs bemühte, zogen die zahlreichen Handwerker,<br />

Studenten, Fuhrleute, Krämer und Gastwirte am anderen Ende des wirtschaftlichen Taus und taten<br />

11 Internet-Seite der AG Spurensuche der J.-Grimm-Schule in Rotenburg a.d.F.<br />

20


alles für die Wieraufrichtung traditioneller Wirtschaftsformen und gegen den Bau von Eisenbahnen.<br />

Tatsächlich tagten gleichzeitig mit der Frankfurter Nationalversammlung unsägliche<br />

Handwerkerparlamente in Frankfurt und Berlin, welche unverblümt die Aufhebung der Gewerbefreiheit<br />

forderten. Die preußische Gewerbenovelle von 1849, welche auf diesen zünftigen Druck reagierte,<br />

bestimmte, daß <strong>das</strong> Recht zum Gewerbebetrieb von neuem von der Zugehörigkeit zu einer Zunft<br />

abhängig gemacht wurde. Fürst Bismarck wagte erst im Zusammenhang mit der Bildung des<br />

Norddeutschen Bundes, die Zünfte erneut in die Schranken zu weisen. Auf dem wirtschaftlichen<br />

Gebiet siegte die Konterrevolution 1848/49 auf der ganzen Linie. Und es war nicht die<br />

monarchistische Obrigkeit, die solches bewirkte.<br />

Auch die Voksbewaffnung hatte eine konservative Seite. In der Diskussion darüber wurde auf <strong>das</strong><br />

historische Recht der germanischen Freien Bezug genommen, Waffen zu tragen. Die liberalen<br />

Modernisierer, denen es im Sinne des Bürgertuns darum ging, den Einfluß der Monarchen<br />

einzuschränken, fanden sich in geborgten Argumenten aus der Zeit Karls des Großen. Die<br />

Volksbewaffnung verlief mit der Zeit im märkischen Sande. Nach einigen Wochen Bürgerwehr in<br />

Berlin wurde seitens der durch den Wachdienst gestressten Bürger nach dem Einrücken des Militärs<br />

in die Hauptstadt verlangt.<br />

Das Bildungsbürgertum, darunter die zahlreichen Hofmusikanten, Hofschauspieler, Hofbibliothekare,<br />

Hofmarschälle, Hofdamen, Prinzenerzieher, Bereiter, Zeremonienmeister, Hofprediger, Hofköche und<br />

Hofbaumeister waren allein von ihrer Anzahl ein deutsches Spezifikum. Fast alle von diesen<br />

Hofschranzen verdankten ihre wirtschaftliche Existenz den zahlreichen Kleinstaaten mit ihren Höfen,<br />

Hoftheatern, Hofkapellen und Hofbibliotheken. Sie wären verrückt gewesen, wenn sie die deutsche<br />

Einheit gefordert hätten. Nur in den zahlreichen Residenzen mit ihrem Repräsentationsbedürfnis<br />

konnte sich eine deratig zahlreiche kulturelle Koterie behaupten. Klein- und Mittelstädte wie Weimar,<br />

Schwerin, Meiningen, Detmold, Darmstadt, Altenburg, Neustrelitz, Rudolstadt, Dessau, Bückeburg,<br />

Gera, Arolsen, Sondershausen und Greiz leisteten sich einen an der Bevölkerunszahl gemessen<br />

üppigen Kulturbetrieb. Vom Bildungsbürgertum kam die Forderung nach der deutschen Einheit nicht,<br />

und so blieb Deutschland bis heute ein föderaler Staat.<br />

Wo nationaler Überschwang entstand, vor allem bei den Turnern und Studenten, führte er nicht zu<br />

einem friedfertigen republikanischen Deutschland, welches in sich selber ruhte, sondern zu einem<br />

martialischen, von den turnenden Studenten angefeuerten Koloß, der wild um sich schlug und den<br />

Nachbarn <strong>das</strong> Haus anzündete. Binnen kurzer Zeit kam es zu Kriegen mit Dänemark und den<br />

Aufständischen in Poznan. Welch friedliche und segensreiche Zeit war <strong>das</strong> vielgescholtene<br />

Biedermeier des Fürsten Metternich dagegen!<br />

Die 48er Revolution war die Zäsur zwischen dem selbstbescheidenen Biedermeier und<br />

welthistorischen Aktivitäten Deutschlands. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erweiterte sich<br />

der Bewußtseinshorizont schnell. Das war nicht <strong>das</strong> erste Mal in der Geschichte. Bereits die<br />

Renaissance hatte einen wahren Schub an plötzlicher <strong>Neue</strong>rung bewirkt und kann für schnellen<br />

Wandel beispielhaft betrachtet werden.<br />

21


Die Kulturrevolution im Spätkaiserreich<br />

Renaissancismus und Jugendstil. Die Reformbewegung der Spätkaiserzeit<br />

Durch die Geschichtsbücher geistern die Supermänner der Renaissance: Albrecht Dürer, die Medici<br />

und Galileo Galilei. Die Renaissance beschrieb sich selbst als Wiedergeburt der Antike. Die Antike<br />

wurde als kollossales Vorbild von kollossaler Macht, kollossalen Bauten und kollossalen<br />

Persönlichkeiten gesehen.<br />

Die Renaissance des 16. Jh. war die Folgewirkung eines erschütterten Weltbilds. Die Vorstellung von<br />

der Welt als Kugel, hervorgerufen durch Galileis und Kopernikens Beobachtung des Sternenhimmels,<br />

die Entdeckung Amerikas und die Umsegelung der Welt, die Kunde von der Lage der Erde im<br />

Sonnensystem als bloßer Planet ermunterten nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Abenteurer,<br />

Glücksritter, Phantasten, Betrüger, Gecken und Mörder.<br />

Viele politische und persönliche Grenzüberschreitungen gingen Hand in Hand, der Bauernkrieg, die<br />

Reformation, die Eroberung Amerikas, bis dahin unbekannte Überhebung und Verschwendung.<br />

Neben ambitionierten Fürsten mit bis dahin unerhörten Machtmitteln brachte die Renaissance auch<br />

ihre Künstler, Händler, Finanziers, Kriegsknechte, Baumeister und den Macchiavell hervor. Es war die<br />

Zeit häufiger Lebensmittelvergiftungen in den Fürstenkreisen Nord- und Mittelitaliens, die Zeit<br />

grenzüberschreitender Gold-, Geld- und Handelsströme. Die Zeit, in der man sich lokal und redlich<br />

ernährte, war für ein ganzes Jahrhundert bis zum Ende des Dreißigjährigen Kriegs gegessen. Der<br />

Westfälische Friede nach dem Dreißigjährigen Krieg war für die Renaissance <strong>das</strong>selbe, wie die<br />

Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg für die Lebensreform der Jahrhundertwende vom<br />

19. zum 20. Jahrhundert: ein vorläufiger Schlußpunkt nach der totalen Katastrophe.<br />

Eine Renaissance der Renaissance kam in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh. in Gang. Wieder ging<br />

ein biedermeierliches lokales Weltbild zu Bruch, diesmal durch den Dampf, die Elektrizität, <strong>das</strong> Auto<br />

sowie die Kolonialisierung des letzten Winkels der Erde.<br />

Gleichzeitig wuchs die Zivilisationskritik. Eine große Kluft zwischen Fortschritt und Tradition, zwischen<br />

technischen Möglichkeiten und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz, zwischen den neuen<br />

Produktionsmöglichkeiten und der Betriebs- und Gesellschaftsverfassung tat sich auf. Technische<br />

Möglichkeiten der Neuzeit trafen auf teilweise sehr tradierte Produktionsverhältnisse und verschafften<br />

dem deutschen Reich neue Möglichkeiten der Macht- und Prachtentfaltung. So wie der technische<br />

Fortschritt und seine Träger sich nach einigen halbherzigen Emanzipationsversuchen in den vierziger<br />

und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach der Reichsgründung mit der Monarchie arrangierten,<br />

so ließen sie sich in die Zäune und Wände einer tradierten Wirtschaftsverfassung pferchen. In der<br />

politischen und wirtschaftlichen Verfassung Deutschlands, auf dem Boden der harten politischen<br />

Tatsachen herrschte Stillstand.<br />

Die Unruhe verbreitete sich typisch für Deutschland in den Lüften der Kultur. Eine nervöse<br />

Wechselstimmung verbreitete sich sowohl bei den Anhängern des Kaiserreichs, als auch bei seinen<br />

Gegnern. "Alles muß anders werden". "Die Zukunft Deutschlands liegt auf dem Wasser". "Ich führe<br />

euch herrlichen Zeiten entgegen" tönsten die Agitatoren des Kaisers, die Gegner dieses kaiserlichen<br />

Prunks und Protzes schlüpften in Reformsandalen und stellten nicht nur <strong>das</strong> Kaiserreich, sondern die<br />

ganze bisherige Entwicklung Europas in Frage. Wieder wie in der Renaissance ein<br />

Globalisierungsszenario, wieder ein plötzlicher Wohlstand. Und auch die Macchiavells lagen schon in<br />

Scharen auf der Lauer, hießen sie nun Nietzsche, Lenin oder Hitler.<br />

In einigen Details sind der diese zweite Renaissance begleitende Jugendstil und der Renaissancestil<br />

sehr ähnlich, sehr typisch im floralen Dekor und vor allem im <strong>Menschen</strong>bild. Pflanzen rankten sich die<br />

Fassaden empor, Blätter und Lianen wucherten an Vasen, Gläsern und Kaffeetassen. Vor den<br />

Gebäuden reckten sich nackte Kollosse, Giganten und Sportler mit unverdeckten<br />

Fortpflanzungswerkzeugen. Der nackte Mensch war die Projektionsfläche unerfüllter<br />

Allmachtsphantasien, ob als Amazone oder als Titan. Wie Albrecht Dürer sich selbst bespiegelte, so<br />

tat <strong>das</strong> die neue Generation der Heßlings und Fischers. Ein übersteigertes Ich in einer übersteigerten<br />

Welt der zunächst noch unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten.<br />

22


Gegen die gerade Linie, <strong>das</strong> Dreieck, die Kolonne rebellierte die geschwungene Linie als<br />

Natursymbol. So wie die Grünen die Naturnähe des <strong>Menschen</strong> und der Gesellschaft zelebrieren, so<br />

taten <strong>das</strong> um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert die Eliten der Lebensreform.<br />

Um die Jahrhundertwende traten die Apostel der Lebensreform immer selbstbewußter auf die Bühne.<br />

Die Lebensreform und der mit ihr zeitweise eng verbundene Jugendstil werden oft als<br />

Protestbewegung gegen den kulturellen Traditionalismus, den sogenannten Muff der Kaiserzeit<br />

beschrieben.<br />

Darüber hinausgehend nahm die Reform durch ihre Angriffe auf die Technik und Industrialisierung die<br />

Kinder der in den wirtschaftlichen Strudel der Industrialisierung geratenen alten Schichten der<br />

Handwerkerschaft, der Krämerei, der Fuhrleute und Landwirte mit. Wie es sich mit Protesten oft<br />

verhält: die Protestanten standen fest auf dem Boden des tradierten vorindustriellen Systems und<br />

rebellierten gegen den Vorwärtsgang.<br />

Beispiel Fidus, Umarmung. Für die spätkaiserzeitliche Kunstauffassung ist die Reduktion des Gezeigten auf die<br />

reine Physis sehr typisch. Charaktereigenschaften spielen keine Rolle, beide Akteure zeigen kein Gesicht. Man<br />

ahnt nur jene lebenswichtige Emotion, die dem Fortpflanzungsbestreben beigegeben ist. Die Biologie hatte die<br />

Oberhand über den Verstand gewonnen, <strong>das</strong> Luststöhnen wurde in den bewussten Gegensatz zur tradierten<br />

Moral gestellt, so wollte es Nietzsche, und so malte es Fidus. Beide Akteure der Umarmung waren blond.<br />

Sicher konnte den Reformisten die herrschende junkerliche Kaste auf den Gebieten des<br />

Vegetarismus, des Wassertretens, des Nacktbadens und bei der Esoterik wenig vormachen. Das<br />

Gefühl "alles muß anders werden" verband den Berliner Hof und die Reformer jedoch wieder. Was<br />

Wilhelm sich an <strong>Neue</strong>rungen in der europäischen Außenpolitik leistete, <strong>das</strong> muteten die Reformisten<br />

dem kleinen Territorium ihres Körpers zu: "Der Platz an der Sonne" sollte nicht nur vom Kaiser für <strong>das</strong><br />

Reich erkämpft werden, sondern auch von Krethi und Plethi am Strand.<br />

Deutschlands Zukunft lag auf dem Wasser: betagte Admirale bauten an einer kaiserlichen Marine mit<br />

ständig wachsender Feuerkraft, während die Jugend die Strandbäder entdeckte. In den ganzen<br />

eineinhalb Jahrzehnten von der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Weltkriegs kam kein<br />

einziger demokratischer Impuls von der Lebensreform und vom Jugendstil und ebensowenig<br />

demokratische Impulse kamen vom Kaiser. Vielmehr zeigten die Reformbewegungen monarchische<br />

Tendenzen: So wie der Kaiser mit dem monarchischen Prinzip einen Wahrheitsanspruch verkörperte,<br />

so taten <strong>das</strong> die Reformer mit antidemokratisch-elitären Konzepten auch.<br />

Peter Behrens entwarf 1900 in seiner Schrift "Feste des Lebens und der Kunst. Eine Betrachtung des<br />

Theaters als höchstem Kultursymbol" ein fiktives Festspielhaus:<br />

"Am Saum eines Haines, auf dem Rücken eines Berges soll sich <strong>das</strong> festliche Haus erheben. So<br />

farbenleuchtend, als wolle es sagen: Meine Mauern bedürfen des Sonnenscheins nicht! - Meine<br />

Säulen sind umkränzt, und von sieben Masten wehen lange weiße Fahnen. Auf der hohen Empore<br />

stehen Tubenbläser in glühenden Gewändern und lassen ihre langgezogenen Rufe weit über <strong>das</strong><br />

Land und die Wälder ertönen. Es öffnen sich langsam die großen Thorflügel, und man tritt hinein in<br />

den hohen Raum. Hier sind alle Farben tiefer gestimmt, wie zur Sammlung. Hatten wir unten in<br />

unserer gewohnten Umgebung alles so gestaltet, daß es Bezug auf unser tägliches Leben habe,<br />

auf die Logik unserer Gedanken, auf unser sinnliches Zweckbewußtsein, nun erfüllt uns hier oben<br />

der Eindruck eines höheren Zweckes, ein ins Sinnliche nur übersetzter Zweck, unser geistiges<br />

Bedürfnis, die Befriedigung unserer Übersinnlichkeit....Wir sind geweiht und vorbereitet auf die<br />

große Kunst der Weltanschauung!" 12<br />

Welche Weltanschauung <strong>das</strong> war, kann man an der späteren Karriere von Behrens ablesen. Nach<br />

1933 war Peter Behrens Mitbegründer des führertreuen Verbandes für Deutsche Wertarbeit, der sich<br />

als Nachfolgeorganisation des Werkbunds verstand. 1936 erhielt er durch die Fürsprache Albert<br />

12 Solche Vorstellungen kamen offensichtlich in der Bohème an: In ähnlichen Worten stellte sich 1906 der<br />

15jährige Adolf Hitler sein herrschaftliches Traumhaus vor: Er wählte die Einrichtung, prüfte die Möbel und Stoffe,<br />

entwarf Dekorationsmuster und entwickelte Pläne für ein Leben edler Ungebundenheit und großzügiger Liebe zur<br />

Kunst, <strong>das</strong> von einer grauhaarigen, aber unerhört vornehmen Dame betreut werden sollte, und er stellte sich vor,<br />

wie sie bereits im festlich beleuchteten Treppenhause die Gäste empfangen würde, die zu einem ausgewählten,<br />

hochgestimmten Freundeskreise gehören. (J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 54)<br />

23


Speers den Auftrag für den Entwurf der AEG-Hauptverwaltung in Berlin, der aber nicht mehr<br />

umgesetzt wurde.<br />

Die Reformarchitektur war nicht nur elitär, sondern passend zum Pomp des Kaiserreiches auch<br />

pompös.<br />

Beispiel Fidus-Illustration „Der Tempel der Erde“. So bombastisch wie im gemalten steinernen Walhall wurde<br />

tatsächlich auch gebaut. Das Völkerschlacht- und <strong>das</strong> Kyffhäuserdenkmal, sogar Kirchen weisen Elemente eines<br />

spätwilhelminischen Byzantinismus auf. Zum Beispiel „Der Tempel des Mammons“, die Zentrale der Deutschen<br />

Bank in Berlin 1929. Ähnlich <strong>das</strong> Chile-Haus 1922 in Hamburg. Quelle: Sammlung des Autors<br />

Das Kaiserreich und die Reformbewegung waren auf vielen Gebieten ineinander verschränkt. 13 Wie<br />

viele Wandervögel und Reformer traten als Kriegsfreiwillige in die kaiserliche Armee ein? Wie viele<br />

sahen beim Ausbruch des ersten Weltkriegs endlich eine Chance zum Aufbruch, zur expressiven<br />

Grenzüberschreitung der Körper und Gefühle? Wie viele traten danach in die Freikorps ein? So wie<br />

der Kaiser sich im Überschwang der Gefühle und Stimmungen verlor, so taten es auch die<br />

reformistischen Untertanen.<br />

Diese Stimmungsabhängigkeit des Staatsoberhaupts diagnostizierten viele Zeitgenossen. Bereits<br />

1887 bis 1889, noch vor der Inbesitznahme des Kaiserthrons, hatte es zwischen dem rationalen<br />

Bismarck und dem stimmungsgetriebenen Kronprinzen Wilhelm II Streit über die Rußland-Politik<br />

gegeben. Wilhelm wurde fast ohne Übergänge zwischen dem Gedanken des Präventivkrieges gegen<br />

Rußland und einer Zuneigung zum Zaren hin- und hergerissen, gegensätzlichen Impulsen und<br />

Schwankungen, die Bismarck so schnell und unvermittelt wie sie auftraten, kaum austarieren konnte.<br />

In diesem wilhelminischen Schwarz und Weiß der Affekte litt die Wahrnehmung der Grautöne. "Die<br />

Nuance, die die Seele der Politik ist, war seiner (Wilhelm II.) Art nicht von Natur gegeben." 14<br />

Immer wieder verursachte er durch impulsive Äußerungen internationales Misstrauen. Ob bei seinem<br />

Besuch in Damaskus 1898, wo er sich zum Ärger der in Arabien präsenten Kolonialmächte Frankreich<br />

und Großbritannien als Freund der 300 Millionen Mohammedaner outete oder am 28. Oktober 1908,<br />

als er in "The Daily Telegraph" folgende Erklärung abgab:<br />

„Deutschland ist ein junges und wachsendes Reich. Es hat einen weltweiten, sich rasch<br />

ausbreitenden Welthandel. Ein berechtigter Ehrgeiz verbietet es allen vaterländisch denkenden<br />

Deutschen, diesem irgendwelche Grenzen zu setzen. Deutschland muß eine machtvolle Flotte<br />

haben, um seinen Handel und seine mannigfachen Interessen auch in den fernsten Meeren zu<br />

beschützen. Es erwartet, daß diese Interessen wachsen, und es muß fähig sein, sie machtvoll in<br />

jedem Viertel des Erdballs zu schützen. Deutschland blickt vorwärts, sein Horizont erstreckt sich<br />

weit, es muß gerüstet sein für alle Möglichkeiten im fernen Osten. Wer kann im voraus wissen, was<br />

sich in kommenden Tagen im Stillen Ozean ereignen mag, Tagen, nicht so fern, als man glaubt,<br />

aber Tagen, in jedem Falle, für die alle europäischen Mächte mit fernöstlichen Interessen sich mit<br />

Festigkeit vorbereiten sollten. Siehe den vollendeten Aufstieg Japans. Denken Sie an <strong>das</strong> mögliche<br />

nationale Erwachen von China und dann urteilen Sie über die weiteren Probleme des Stillen<br />

Ozeans. Nur auf die Stimme von Mächten mit starken Flotten wird mit Achtung gehört werden,<br />

wenn die Frage der Zukunft des Stillen Ozeans zu lösen sein wird. Und schon aus diesem Grunde<br />

muß Deutschland eine starke Flotte haben.“<br />

In diesem Überschwang kam von 1890 bis 1914 keine berechenbare und kohärente deutsche<br />

Außenpolitik zustande. Mal hegte man Symphatien zu Russland gegen England, was den Interessen<br />

Österreichs und der Türkei widersprach, die der russischen Weltmacht auf dem Balkan und an den<br />

Dardanellen den Weg verlegten, mal spielte man die Österreichische und Türkische Karte, ohne die<br />

konsequente Annäherung an England zu suchen. Flottenrüstung und Bagdadbahn ärgerten England,<br />

die Rückendeckung für <strong>das</strong> Habsburgerreich und die Türkei ärgerte Russland. Deutschland schuf sich<br />

seine Welt von Feinden, seine Einkreisung selbst durch Übermut, Unüberlegtheit und Ungeschick.<br />

Auch als der Erste Weltkrieg schon begonnen hatte und Bündnispartner wie „Feinde“ feststanden,<br />

hörte <strong>das</strong> geistige Kreuzen und Lavieren nicht auf. Ein Mitarbeiter des Reichskanzler v. Bethmann-<br />

13 So wie Rudi Dutschke in "Versuch Lenin auf die Füße zu stellen" den Leninismus als Umdeutung des<br />

zaristischen Systems und der religiösen Orthodoxie deutete<br />

14 Hermann Oncken: Das deutsche Reich und die Vorgeschichte des ersten Weltkrieges, Zweiter Band, Barth,<br />

Leipzig, 1933, S. 365<br />

24


Hollweg, der junge Kurt Riezler war noch im Winter 1914/15 bereit, die Bündnispartner Habsburg und<br />

Türkei auf dem Altar einer russisch-deutschen Verständigung zu opfern, ja selbst eine russische<br />

Vasallenschaft Deutschlands war es ihm wert, der Amerikanisierung Europas zu entgehen. Zu diesem<br />

Zeitpunkt, als die diplomatischen Karten gelegt waren, zeugt die derzeitige Gedankenakrobatik im<br />

Kanzleramt von Konfusion. 15<br />

Zuweilen schien es, als hätte der Kaiser sich dem Zeitgeist entgegengestemmt. In einigen<br />

Geschmacksfragen spricht der Anschein auch dafür, jedoch ist dieser Eindruck in der Breite der<br />

Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wandlungen irreführend. Neben Beharrungskräften triumphierte<br />

immer wieder die Anpassung an den Zeitgeist. Auch Zeitgenossen fiel dieser Widerspruch auf: "Der<br />

Kaiser, mit seiner beweglichen Mischung sehr rückständiger und sehr moderner Züge, war doch vor<br />

allem ein Repräsentant dieser neudeutschen Modernisierung des Lebens; er war längst dazu gelangt,<br />

die innere Entwicklung ihren eigenen Lebensgesetzen zu überlassen..." 16<br />

Heinrich Mann läßt im "Untertan" den jungen <strong>Wolfgang</strong> Buck als Repräsentanten der Reformideen<br />

schwärmen:<br />

"Jedenfalls sind wir jungen Leute jetzt alle so, wie unser Kaiser, daß wir nämlich unsere<br />

Persönlichkeit ausleben möchten und doch ganz gut fühlen, Zukunft hat nur die Masse."<br />

Heinrich Mann sah <strong>das</strong> Problem des stürmischen Aufbruchs der Jugend sehr scharfsinnig voraus:<br />

Elitäre Kleingruppen entwickelten jahrzehntelang gesellschaftliche Konzepte und die<br />

Massenbewegung der NSDAP sammelte viele dieser Konzepte auf, ohne die Individuen und die<br />

Individualität zu achten.<br />

Hermann Oncken hat sich jahrelang mit der Kriegsschuldfrage befaßt. Natürlich fand er heraus, daß<br />

die Diplomaten aller Länder ihr machtpolitisches Quäntchen zum Kriegsausbruch beigetragen haben.<br />

Als er aber den herrschenden Zeitgeist berührte, streifte er vor allen anderen die Deutschen:<br />

"Das ganze Gebäude dieses wilhelminischen Deutschlands hatte aber auch seine Schwächen und<br />

Kehrseiten. Sie hingen zum Teil mit der allgemeinen geistig-sittlichen Haltung des Zeitalters<br />

zusammen, mit dem Anwachsen oberflächlicher Genußsucht, mit der Verweltlichung und der<br />

Mechanisierung des Lebens. Sie waren auf deutschem Boden darum umso sichtbarer, weil hier<br />

der Umschwung mit am raschesten erfolgt war und in die historischen Werte der deutschen Art am<br />

rücksichtslosesten eingriff. Manche lauten Gesten der Überheblichkeit, die durch alle Klassen<br />

gingen, ließen erkennen, daß die innere politische Selbsterziehung der Nation mit dem äußeren<br />

wirtschaftlichen Aufstieg nicht gleichen Schritt gehalten hatte. Vor allem beunruhigte die Spannung<br />

zwischen den anschwellenden ökonomisch-sozialen Energien, die einen neuen deutschen<br />

<strong>Menschen</strong>typus schufen, und den politischen Formen, in denen sie einen Anteil an der<br />

Entscheidung über die Lebensaufgaben der Nation fanden. Insbesondere war man sich auf den<br />

Höhen des deutschen Lebens sehr wohl bewußt, daß die äußere Macht, die dieser arbeitsame<br />

Emporkömmling zu entfalten verstand, nicht eigentlich einen ihr eigentümlichen Stil des deutschen<br />

Lebens als ein wertvolles Gut trug, und bemühte sich, dem "deutschen Gedanken in der Welt"<br />

einen vertiefteren Inhalt zu geben. Auch die unparteiischen Zuschauer unter den Völkern waren<br />

nicht geneigt, den Deutschen die Gabe zuzubilligen, durch die Geistigkeit und Beherrschtheit ihrer<br />

Machtausübung mit der Tatsache der Macht auszusöhnen." 17<br />

Hermann Oncken beklagte bei seiner Analyse der Ursachen des Ersten Weltkriegs die Unreife der<br />

Deutschen, ihre Unfähigkeit, Erfahrung zu vererben:<br />

"Die außenpolitische Erziehung, der Instinkt für <strong>das</strong> Mögliche und <strong>das</strong> Unmögliche, der Takt in<br />

allen Berührungen mit der Lebenssphäre fremder Völker konnte nicht ererbt, sondern nur erworben<br />

werden; vielleicht nicht in einer Generation, da sich der weltpolitische Horizont so rapide erweitert<br />

hatte". 18<br />

15<br />

Gerd Koenen: Der deutsche Rußland-Komplex 1900 bis 1945, C.H. Beck, S. 79<br />

16<br />

Hermann Oncken: Das deutsche Reich und die Vorgeschichte des ersten Weltkrieges, Zweiter Band, Barth,<br />

Leipzig, 1933, S. 660<br />

17<br />

s.o. S. 659<br />

18<br />

Hermann Oncken: Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkrieges, Zweiter Band, Barth, Leipzig,<br />

1933, S. 711<br />

25


Dieser plötzlich erweiterte Horizont ist vor allem ein Phänomen der Wahrnehmung, der Wahrnehmung<br />

der Individuen genauso wie der ganzen Gesellschaft.<br />

Ein deutscher Sibirienreisender, Alfons Paquet brachte diese Horizontlosigkeit und weltpolitische<br />

Taktlosigkeit in dem Tagebuch einer Mongolei-Reise von 1908 auf den Punkt:<br />

„Ich war Odysseus in den Sandwüsten der Mongolei..., ein Fremdling unter den Mongolen, dem<br />

ritterlichsten und armseligsten der Völker, und warf eine ungeheure Last von mir... Seht doch den<br />

Einzelnen,..., den Entdecker auf eigene Faust, mit der Handvoll Leute, die er um sich hat,<br />

sibirische Fuhrleute und mongolische Reiter... Ihr Führer, losgelöst von der geistigen Masse, der er<br />

entstammt, schwebt in der Luft.“ Es folgen Selbstbeweihräucherung als Herren- und<br />

Willensmensch und <strong>das</strong> Eigenlob einer überlegenen geistigen Haltung, schließlich der Plan eines<br />

Asien-Poems: „Das Soziologische, Motorische und Geistige von allem u. <strong>das</strong> Wirken des<br />

Europäismus, episch ausgedrückt...Homerisch!“ „In Asien geschieht wieder wirkliche Geschichte...,<br />

der Osten zahlt dem Westen seine Gierden heim!... Der Osten aber handelt frei und menschlich<br />

ideenlos unter dem einzigen, alles beherrschenden, zeugungskräftigsten aller Gedanken: dem<br />

Machtgedanken des Vaterlandes und der Rasse... Wir spüren einen Geruch von Schweiß und Blut<br />

und umgewendeter Erde, der von dorten kommt...“<br />

Gerd Koenen zitiert aus den Nachlässen Paquets, um darin die halluzinatorischen Weltgefühle und<br />

die prometheische Vermessenheit einer ganzen Generation zu diagnostizieren, anderesrseits aber<br />

auch die Herkunft der schwülstigen Gedankenschlösser aus dem Blut- und Bodenwerk Nietzsches. 19<br />

Letzlich kulminierten die Ideen Alfons Paquet´s in der Idealvorstellung einer deutschen Weltmission:<br />

„Unsere Weltflucht muß nach vorwärts in die Einsamkeiten, in die Versuchungen und in die Größe<br />

des Weltbürgertums. Es wäre Zeit für einen neuen Orden von wandernden Schülern..., eine<br />

Vergeistigung der Erde durch <strong>das</strong> deutsche Wesen.“ 20<br />

Einfacher als die Diplomaten Oncken und Paquet drückte es der soldatische Kronprinz Wilhelm aus:<br />

„Als ich, bald nach jener Zeit der Arbeit im Reichsmarineamt, mehr und mehr auch in die Probleme<br />

der äußeren Politik des Reiches eindrang, fand ich immer wieder die von mir schon auf meinen<br />

Reisen beobachtete Tatsache bestätigt, <strong>das</strong>s unser Vaterland in der ganzen Welt wenig beliebt,<br />

vielfach geradezu verhaßt war. Abgesehen von der uns verbündeten Donaumonarchei, und etwa<br />

von den Schweden, Spaniern, Türken, Argentiniern mochte uns eigentlich niemand recht leiden.<br />

(...) Aber nicht Missgunst gegen die deutsche Tüchtigkeit allein hat uns die Abneigung der großen<br />

Mehrheit eingetragen; wir hatten es auch verstanden, uns durch weniger gute Eigenschaften, als<br />

Tüchtigkeit ist, missliebig zu machen. Unklug ist es, wenn sich ein Einzelner oder ein Volk in<br />

seinem Vorwärtsstreben über Gebühr vorlaut vordrängt; Misstrauen, Widerstand, Abwehr und<br />

Feindschaft werden dadurch geradezu herausgefordert. In diesen Fehler sind wir Deutschen<br />

amtlich wie persönlich nur zu oft verfallen. Das offenbar herausfordernde, laute Auftreten, <strong>das</strong> alle<br />

Welt bevormundende, fortwährend belehren wollende Gebaren mancher Deutschen im Auslande<br />

fiel den anderen Nationen auf die Nerven. Es richtete im Verein mit Torheiten und<br />

Geschmacklosigkeiten, die sich auf der gleichen Linie bewegten und die im Lande von führenden<br />

Persönlichkeiten oder von leitenden Stellen ausgingen und draußen hellhörig empfangen wurden,<br />

großen Schaden an.“ 21<br />

Was Oncken in der Sprache der Diplomatie festhielt, und der Kronprinz beklagte, war nichts anderes<br />

als <strong>das</strong> Eingeständnis, daß Deutschland weniger an handwerklichen Fehlern im Auswärtigen Amt<br />

scheiterte, sondern mehr an seinem überspannten Lebensgefühl, an seinem zur Schau getragenen<br />

Sendungsbewußtsein und an seiner fehlenden Biegsamkeit im Auftreten. Im internationalen Windpark<br />

des Geistes türmte sich in der Mitte Europens ein Grobian, der mit seinen gigantischen Flügeln lange<br />

Schatten warf und die Umliegenden irritierte.<br />

19<br />

Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, Die Deutschen und der Osten 1900-1945, C.H.Beck 2005, S. 21 und S.<br />

29<br />

20<br />

Alfons Paquet: Li oder Im neuen Osten, Ffm, 1912, S. 290f.<br />

21<br />

Kronprinz Wilhelm: Erinnerungen, J.G. Cotta´sche Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin 1923, S. 75ff.<br />

26


"Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst willen zu tun", ließ Heinrich Mann im "Untertan"<br />

den Heßling bei der Einweihung eines Kaiserdenkmals ausrufen. 22 Diese Heßling-Rede, die<br />

Heinrich Mann aus vielen Versatzstücken des Zeitgeistes zu einem Credo des Kaiserreiches<br />

destilliert hatte, enthielt Hinweise auf die große Zeit, die die Zeitgenossen miterleben dürften, auf<br />

den Ozean, der für Deutschlands Größe unentbehrlich sei, auf <strong>das</strong> Weltgeschäft, welches heute<br />

<strong>das</strong> Hauptgeschäft sei und auf <strong>das</strong> berechtigte Selbstgefühl, <strong>das</strong> tüchtigste Volk Europas und der<br />

Welt zu sein. "In staunender Weise ertüchtigt, voll hoher sittlicher Kraft zu positiver Betätigung,<br />

und in unserer furchtbaren Wehr der Schrecken unserer Feinde, die uns neidisch umdrohen, so<br />

sind wir die Elite unter den Nationen und bezeichnen eine zum ersten Male erreichte Höhe<br />

germanischer Herrenkultur, die bestimmt niemals und von niemandem, er sei wer er sei, wird<br />

überboten werden können!" 23<br />

Einerseits fragt man sich, was propagandistisch am Dritten Reich noch fehlte, andererseits weiß man,<br />

daß es im Dritten Reich noch ein Überbieten gab. Aber <strong>das</strong> Dritte Reich war im Kaiserreich im Keime<br />

angelegt. Heinrich Mann bekannte später, daß ihm beim Schreiben des "Untertan" vom Faschismus<br />

(er meinte konkret nicht den italienischen Faschismus, sondern den deutschen Nationalsozialismus)<br />

der Begriff gefehlt habe, nicht aber die Anschauung.<br />

Vielfach wird behauptet, der Erste Weltkrieg sei die historischen Zäsur zwischen der belle epoche und<br />

der darauffolgenden Barberei. Das ist oberflächlich dahergeplapperter Unsinn. Der Erste Weltkrieg ist<br />

keine wirkliche kulturelle Zäsur, da er die in der Spätkaiserzeit erzeugte Überspannung der deutschen<br />

Nerven und Kräfte nicht beendete, sondern auf den Schlachtfeldern Europas, Afrikas und Asiens noch<br />

steigerte. Auch wird oft wird behauptet, der Jugendstil sei vor oder mit dem Ausbruch des Weltkriegs<br />

beendet worden. Das stimmt für die Architektur teilweise, allein aus Kostengründen konnten im Krieg<br />

und nach dem Krieg die aufwendigen handwerklichen Ausführungen nur noch selten realisiert werden,<br />

für die Malerei, die Illustration und die bildende Kunst mit ihren billigen Reproduktionstechniken<br />

insgesamt trifft <strong>das</strong> nicht zu. Fidus und viele andere arbeiteten nach dem Kriege in unveränderter<br />

Manier weiter, 1918 verherrlichte er den deutschen Frieden im Osten und die deutsche Art, noch<br />

etwas monumentaler als vor dem Kriege. Alle bedeutsamen wirtschaftlichen, kulturellen und<br />

politischen Änderungen, die als Imperialismus, als Lebensreform und als Kulturkrise des Fin de siècle<br />

beschrieben worden sind, traten ab 1885 in Erscheinung und nicht erst im Ersten Weltkrieg und schon<br />

überhaupt nicht erst nach dem Weltkrieg.<br />

Vielfach, exemplarisch bei Sebastian Haffner, wird der Erste Weltkrieg als Quelle der Übel von<br />

Weimar und als Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung angesehen. Der Krieg<br />

habe die <strong>Menschen</strong> verroht und der Zweite Weltkrieg sei die Revanche für den Ersten gewesen.<br />

Warum war dann der Zweite Weltkrieg nicht Ausgangspunkt für den Dritten? Waren die Soldaten des<br />

Zweiten Weltkriegs nicht noch mehr verroht, als die des Ersten? Hatte man nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg nicht mehr Grund zur Revanche, als nach dem Ersten?<br />

Der Erste Weltkrieg ist nicht die Ursache des Zweiten und der Erste Weltkrieg ist auch nicht die<br />

Epochengrenze zwischen dem "langen 19. Jahrhundert" und dem "kurzen 20. Jahrhundert". Die<br />

Epochengrenze zwischen der Zeit der Verbürgerlichung der Gesellschaft mit einhergehender<br />

Individualisierung und der Epoche der Rekorporierung mit Einbindung der <strong>Menschen</strong> in<br />

Großverbände, zwischen individualistischen und korporatistischen Entwürfen muß irgendwo zwischen<br />

der <strong>Romantik</strong> und dem Spätkaiserreich gesucht werden, spätestens um 1890 herum. 1890 ist <strong>das</strong><br />

Jahr, <strong>das</strong> von den Leninisten als Geburtsjahr des Imperialismus gehandelt wurde, es ist jedoch eher<br />

die großkulturelle Ausbreitung des Reformismus und Elitarismus; es markiert den Beginn der<br />

Kulturkrise der Jahrhundertwende ebenso wie den Anfang des industriellen Korporatismus mit seinen<br />

Verbandsmonstern sowie den für den Außenhandel und <strong>das</strong> internationale Bewusstsein schädlichen<br />

Schutzzöllen. Der außenpolitische Lotse Bismarck ging 1890 von Bord, um dem Geistersegler<br />

Wilhelm Platz zu machen. 1890 ist eher <strong>das</strong> Jahr der Zeitenwende, als 1914. Ab 1890 wurde gesät,<br />

1914 bis 1945 hielt der Tod reiche Ernte.<br />

Kaiser Wilhelm II. war ein planloser Wandler zwischen den Welten der alten und der neuen Zeit. Auf<br />

der einen Seite Gottesgnadentum und ein bombastisch-neobarocker Kunstgeschmack, auf der<br />

anderen Seite eine mit den leichtsinnigen und stimmungsvollen Reformideen im Gleichschritt<br />

marschierende Außenpolitik. Wilhelm II. hatte sich für keine Seite der Kulturfront klar entschieden, er<br />

22 H. Mann: Der Untertan, Reclam, Leipzig, 1978, S. 396<br />

23 s.o. S. 393 f.<br />

27


war kein ausgesprochener Reformist, er war aber auch kein traditioneller Konservativer. Wilhelm II.<br />

musste in der Novemberrevolution fliehen, weniger weil er den Krieg mit verursacht hatte, sondern<br />

weil er ihn nicht gewonnen hatte. Auf Grund seines unklaren Schlingerkurses gaben die Reformisten<br />

seinen traditionalistischen Anwandlungen die Schuld für die Niederlage und die Traditionalisten seinen<br />

reformistischen Zügen. Die sich an Bismarck erinnernden Konservativen und die reformistischen<br />

Kriegstrommler, welche inzwischen auf Friedensschalmeien musizierten, sahen diese Indifferenz und<br />

ließen ihn fallen. Der Kaiser war mehr <strong>das</strong> Opfer der reformistischen Novemberrevolutionäre und<br />

Freischärler als <strong>das</strong> der marxistischen Sozialdemokraten, die einige Tage im Begriff waren, sich mit<br />

einer konstitutionellen Monarchie zu arrangieren.<br />

Ein Markenzeichen der Spätkaiserzeit war der Zerfall der protestantischen Glaubensüberzeugungen.<br />

In dem Maße als Wilhelm und zahlreiche protestantische deutsche Fürsten reformistischen<br />

Überzeugungen nachgaben oder diese aktiv förderten, wurden sie als oberste Kirchenherren<br />

unglaubwürdig, denn keinen Reformismaus gab es ohne Atheismus. Die protestantischen Kirchen<br />

kamen in eine unhaltbare Schieflage.<br />

Reflexhaft entstanden ab dem endenden 19. Jh. zahllose Lebensreformansätze, die notwendig immer<br />

eine Ausgestaltung als Heilstheorien erfuhren, von den Nudisten und Wandervögeln über die<br />

Anthroposophen, Okkultisten bis zu den Antisemiten. Gelüftete Schlafzimmer, bequeme Unterwäsche,<br />

Reformkleider, Kneipp-Sandalen, Leibesverrenkungen in Kraftkunstinstituten, Judenvertilgung,<br />

Vegetarismus, Reformhäuser, <strong>Menschen</strong>zucht, Lichttherapien und die Nachrichten vom "Berg der<br />

Wahrheit" im Tessin sollten die Gebrechen der Gesellschaft nicht lindern, sondern heilen. Diese vom<br />

transzendentalen ins irdische verlagerte Heilssucht war die mentale Grundlage für die Popularität<br />

eines ab 1920 in verschiedenen Ländern und Situationen praktizierten Grußes, welcher keineswegs<br />

so deutsch war, wie er sich nannte.<br />

Achim Preiss stellte <strong>das</strong> in seinem Heft "Abschied von der Kunst des 20. Jahrhunderts" zutreffend so<br />

dar:<br />

"Als <strong>das</strong> geeignete Instrument zur Fortschrittsbeherrschung oder - unterwerfung erschienen<br />

Religionssysteme. Es gründeten sich zu diesem Zweck meist jugendoptimistische Vereinigungen,<br />

Bünde, Sekten, die alle an dem Entwurf einer neuen, nicht-chaotischen Lebenskultur arbeiteten<br />

und die ein gemeinsames Feindbild hatten - den nur von Kommerz und Hochtechnologie<br />

angetriebenen Fortschritt. Die praktizierten Formen der neuen Lebenskultur zielten darauf, <strong>das</strong><br />

Gefühl in die Lage zu bringen, den Verstand zu kontrollieren, die Vorherrschaft des Verstandes zu<br />

brechen, um damit die Vormacht der Technik zu beenden. (...) Der Entwurf des verlorenen,<br />

irdischen Paradieses stellte sich als Aufgabe einer reformierten Kunst und Kultur, die sich vom<br />

Diktat der Wissenschaft und Forschung befreit hatte, die sich nicht mehr nur an ein gebildetes<br />

Fachpublikum richtete, sondern an <strong>das</strong> ganze Volk. Um die große Popularität zu erreichen,<br />

entwickelte die Kultur- und Lebensreform unter Ausnutzung der frühen psychologischen<br />

Forschungsergebnisse eine auf Empfindungen, Nachempfindungen ausgerichtete Vermittlung.<br />

Man suchte zu diesem Zweck nach Kontinuität, nach überhistorischen ewig gültigen, immer<br />

gleichbleibenden Ausdrucksformen, Motiven, Proportionsgesetzen und Farbklängen, die sich für<br />

eine Neuformulierung der Kunst verwenden ließen, für eine neue Sprache der Kunst, die sich<br />

hauptsächlich über sentimentale Wirkungen verständlich machen wollte. Es entstanden daher zur<br />

Jahrhundertwende eine ganze Reihe kunsthistorischer und historischer Interpretationssysteme, die<br />

psychologistische, rassistische, biologistische und anthropozentrische Ansätze verfolgten. (...) So<br />

wurden nicht nur die zentralen Ideen des 19. Jahrhunderts, sondern auch die Bedeutung und die<br />

Beweiskraft der Geschichte, der Entwicklung entmachtet. In diesem Zusammenhang wurde die<br />

Geschichtsbetrachtung Friedrich Nietzsches und anderer Lebensphilosophen populär, die der<br />

Geschichte eine materialistische Logik absprachen. Es ging ihnen letzten Endes darum, die<br />

Dynamik der Entwicklung zu brechen und zwar mittels einer völligen Irrationalisierung der<br />

Geschichte, die damit der Stillstandsideologie ausgeliefert wurde. Die unwiederholbaren Ereignisse<br />

verloren auf diesem Weg ihre Bedeutung, und sie sollten keine weiteren Ereignisse mehr<br />

produzieren können. An die Stelle dieser Art Fortschritt traten die ewigen Werte des menschlichen<br />

Seins, die sich seit dem Beginn der Zeiten in der Seele, in den Gefühlen als unabänderliche<br />

Verhaltens- und Empfindungsmuster eingelagert hatten. Diese Werte sollten wieder Gültigkeit<br />

erlangen und die Gegenwart bestimmen. Geschichte war demnach nicht durch dynamische Folge<br />

materieller Problemlösungen bestimmt, sondern durch die menschliche Willkür, nicht durch<br />

28


Verstandesleistungen, sondern durch Gefühlsstärke, nicht durch Technik, sondern durch Kultur,<br />

wenn sie als Medium des starken Willens und der starken Seele diente." 24<br />

Friedrich Naumann erklärte den neuen Seelenzustand der Empfindungssucht mit der Verstädterung.<br />

"Wie steht nun der Stadtmensch im Eisenbahnzeitalter zur Natur, wenn er oberhalb der Not des<br />

Lebens angelangt ist? Er arbeitet elf Monate oder zehn Monate in der Steinwüste und geht dann<br />

einen oder zwei Monate hinaus, um Natur zu genießen. Das Genießen der Natur wird bewußter<br />

Zweck. Man berechnet, ob sich der Genuß gegenüber den Kosten verlohnt. So hat die<br />

vorindustrielle Zeit der Natur nicht gegenübergestanden. Auch die alten <strong>Menschen</strong> genossen die<br />

Natur, aber nicht rationell, sondern so wie man Brot genießt. Sie konnten nicht ohne die Bäume<br />

und Sträucher leben, aber niemand war, der sie Ihnen nehmen wollte. Wenn sie Bilder kauften,<br />

wollten sie Könige und Heilige sehen, aber nicht Apfelbäume und Spargelbeete, denn diese hatten<br />

Sie selber.... Der Großstadtmensch hat in sich in eine tiefe Sehnsucht nach dem Naturleben seiner<br />

Ahnen, eine Art Heimweh nach Sonne und Buchenlaub, ein hoffnungsloses Heimweh, <strong>das</strong> er bei<br />

seinen Künstlern wiedersehen will. Und ein ähnliches Heimweh hat er nach einer Zeit, wo noch<br />

nicht <strong>das</strong> ganze Leben auf glatten Schienen rollte, wo es noch Gefahren, <strong>Romantik</strong>, Räuber, Mord<br />

und tolle Liebe gab. Das Geordnete und Regelmäßige, <strong>das</strong> Brave und Moralische, <strong>das</strong> man fordert<br />

und gar nicht mehr entbehren kann, die Entpersönlichung der Großbetriebsmenschen, die endlose<br />

Sachlichkeit der Hauptbücher und Konferenzen, <strong>das</strong> tägliche Lavieren und Nivellieren, <strong>das</strong><br />

Maschinenmäßige einer höchst kompliziert gewordenen Lebenszustandes läßt im dunklen<br />

Hintergrund der Seelen einen Raum, der gar nicht elektrisch beleuchtet werden will, der sich gar<br />

nicht regeln lassen will, den Raum der verlorenen Leidenschaften und Urgefühle. Aus diesem<br />

Raum steigen Seufzer, Gelächter, Heulen und Gekicher, wortlose und gedankenlose Laute<br />

verworrenster Art auf, ein Chor der gewesenen Jahrtausende drunten in der Nacht der Einzelseele.<br />

Diesen Untergrund hat keine Aufklärungskanalisierung trockenlegen können, und gerade <strong>das</strong><br />

Industriezeitalter hat ihm etwas dumpfe Energie gegeben, indem es ihn unterdrücken wollte. Die<br />

Töne dieses Untergrundes sind es, die wir in unserer Musik und Lyrik oft selbst nicht verstehen. es<br />

verbindet sich die Akkuratesse im Kleinen...mit Gefühlsinhalt der unterdrückten Urseele und<br />

zusammen aus beidem entsteht: Stimmungskunst." 25<br />

Die Aufklärungskanalisierung wurde auch in Deutschland ab 1945 wieder in Betrieb genommen, <strong>das</strong><br />

Seufzen, Gelächter, Heulen und Gekicher wurde wieder unter tradierte Regeln gebannt und die<br />

gedankenlose Laute verworrenster Art vorerst an den Rand der Gesellschaft gedrängt.<br />

Die spätkaiserzeitliche nietzscheanische Auffassung von Fortschritt, Ästhetik und Geschichte rettete<br />

sich über den Ersten Weltkrieg unbeschadet hinweg und überschattete in ihren Auswirkungen die<br />

Republik. Wie sollte auch ausgerechnet im Weltkrieg eine neue Auffassung von der Gesellschaft<br />

entstehen? Waren doch die Vorgeschichte und der Ausbruch des Weltkriegs selbst in ein Klima<br />

irrationalen Brausens und Aufbrausens einzuordnen.<br />

Giorgio de Chirico malte im Sommer 1914 "Geheimnis und Melancholie einer Straße". Ein langer<br />

bedrohlicher Schatten fällt in die Szenerie eines Sommernachmittags. Interessanterweise befindet<br />

sich <strong>das</strong> Vorbild für <strong>das</strong> sonnenbeschienene Gebäude am linken Bildrand im<br />

Katastrophenausgangsort München-Schwabing.<br />

Adolf Hitler hat in "Mein Kampf" die Stimmung am Vorabend des Kriegs mit dem Herannahen eines<br />

unabwendbaren Unwetters verglichen:<br />

"Dann aber kam der Balkankrieg und mit ihm fegte der erste Windstoß über <strong>das</strong> nervös gewordene<br />

Europa hinweg. Die nun kommende Zeit lag wie ein schwerer Alpdruck auf den <strong>Menschen</strong>, brütend<br />

wie fiebrige Tropenglut, so daß <strong>das</strong> Gefühl der herannahenden Katastrophe infolge der ewigen<br />

Sorge endlich zur Sehnsucht wurde: der Himmel möge endlich <strong>das</strong> Schicksal, <strong>das</strong> nicht mehr zu<br />

hemmen war, den freien Lauf gewähren. Da fuhr dann auch schon der erste Blitzstrahl auf die Erde<br />

nieder: <strong>das</strong> Wetter brach los, und in den Donner des Himmels mengte sich <strong>das</strong> Dröhnen der<br />

Batterien des Weltkriegs." 26<br />

24 A. Preiss: Abschied, VDG 1999, S. 195 f<br />

25 F. Naumann, Die Kunst im Zeitalter der Maschine, Verlag der Hilfe, Berlin, 1908<br />

26 A. Hitler, Mein Kampf, S. 173<br />

29


Vielfach wurde der Krieg als ein Läuterungs- und Reinigungsritual ästhetisiert, der italienische<br />

Jugendstil-Dichter D´Anunzio schuf gar "Heilige Gesänge" zur Kriegstreiberei.<br />

Renassancismus und Jugendstil waren also Ausdruck eines überspannten Lebensgefühls. Laßt uns<br />

nun sehen, welche Elemente dieser unruhige Zeitgeist in sich aufnahm.<br />

Quellen und Bestandteile der Reformbewegung<br />

1834 orakelte der weitsichtige Heinrich Heine: „Der Gedanke geht der Tat voraus wie der Blitz dem<br />

Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein deutscher und nicht sehr gelenkig, und kommt<br />

etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch<br />

niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel<br />

erreicht.“ Lasset uns deshalb schauen, welche Gedanken den grundlegenden Philosophien der<br />

Periode zugrunde lagen.<br />

Der Marxismus hatte, wenn man Friedrich Engels folgen will, drei Quellen: die Hegelsche Philosophie,<br />

den utopischen Sozialismus und die klassische englische Ökonomie. Bereits von diesen drei Quellen<br />

hatten zwei eine trübe ideologielastige Flüssigkeit hervorgebracht.<br />

Die Reformbewegung hatte wesentlich mehr Zuflüsse: In den Krisenstrom der Jahrhundertwende<br />

ergoß die ganze Kanalisation von Weimar, Schwabing, Worpswede, Murnau, Friedrichshagen und<br />

Darmstadt ihren stinkenden Unflat. An den insgesamt trüben Quellen der Reformbewegung standen<br />

so schillernde Personen wie Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Turnvater Jahn, Ernst Haeckel und<br />

Helena Blavatsky.<br />

Friedrich Ludwig Jahn stand als einer der Turnväter am Beginn einer thematischen Säule, die den<br />

Gesundheitskult umfaßte und sich im Laufe der Zeit von Turnen, Vegetarismus, Fasten und<br />

Naturheilkunde auf den ganzen Körper ausweitete: Körperreform, Nacktkultur, Leibeserziehung,<br />

Reformkleidung und Tanz.<br />

Jahn war von Anfang an völkisch orientiert.<br />

"Die Kleinstaaterei verhindert Deutschlands Größe auf dem Erdenrund. Wer seinen Kindern die<br />

französische Sprache lernen läßt, ist ein Irrender, wer darin beharrt, sündigt gegen den heiligen<br />

Geist. Wenn er aber seinen Töchtern französisch lehren läßt, ist <strong>das</strong> ebenso gut, als wenn er ihnen<br />

Hurerei lehren läßt. Polen, Franzosen, Pfaffen, Junker und Juden sind Deutschlands Unglück",<br />

So schrieb er bereits 1810 in seinem Buch "Deutsches Volkstum". Seine Turnvereine waren<br />

patriarchalisch und nicht demokratisch organisiert. Die 9 Mitglieder des 1814 gebildeten "Turnraths"<br />

wurden nicht gewählt, sondern von Jahn bestimmt. Weitere 16 Mitglieder wurden wiederum nicht<br />

gewählt, sondern kooptiert. Jahn sprach in einem Brief, den er 1817 an Theodor Müller schrieb, von<br />

gewählten "Worthaltern" als demokratisches Element. Worthalter anstatt Abgeordnete. Abgeordnete<br />

wollte er offensichtlich nicht, <strong>das</strong> wären ja französischen Moden gewesen, statt Abgeordnete wählen,<br />

hätte man nach seiner Logik gleich Hurerei wählen können. 1817 ließ er eine Bücherverbrennung auf<br />

der Wartburg organisieren. 1819 endlich zog ihn die Heilige Allianz im Ergebnis der Karlsbader<br />

Beschlüsse aus dem politischen Verkehr. 27<br />

Nietzsches Gedanken bildeten den Auftakt einer Geistesreformbewegung: Philosophie, religiöse<br />

"Erneuerung", ethische Reform und neue Weltanschauungstheorien. Immer wieder kam er auf <strong>das</strong><br />

Thema die damals noch fast unerforschte Psychologie zur Herrin der übrigen Wissenschaften zu<br />

machen:<br />

„...die Hand fest am Steuer! – wir fahren geradewegs über die Moral weg, wir erdrücken, wir<br />

zermalmen vielleicht dabei unsern eignen Rest Moralität...“ 28<br />

Das Christentum verwarf Nietzsche als Mitleidsduselei von dekadenten Schwächlingen. Mitleid,<br />

Frieden und Solidarität als christliche Tugenden wurden aus dem Reformtempel gejagt, anstelle<br />

27<br />

Ralf Pröwe: Frühe Turnbewegung und Staatsform, Internet-Seite der Humboldt-Uni Berlin, Philosophische<br />

Fakultät, Institut für Geschichtswissenschaften<br />

28<br />

F. Nietzsche: Sämtliche Werke, München 1980, dtv, Bd. 1, S. 275<br />

30


dessen der Übermensch, die Gesundheit, Schönheit, der Elitegedanke, der Boden, <strong>das</strong> Blut und der<br />

Krieg vergötzt.<br />

Diese Ansätze bildeten den Kern der Jugendbewegung und verbanden sich relativ schnell mit Körper-,<br />

Gesundheits- und Erziehungskonzepten.<br />

"Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden <strong>das</strong> Himmlische<br />

und die erlösenden Blutstropfen. (...) Hört mir liebe Brüder auf die Stimme des gesunden Leibes:<br />

eine redlichere und reinere Stimme ist diess."<br />

"Ich gehe nicht euren Weg, ihr Verächter des Leibes! Ihr seid keine Brücken zum<br />

Übermenschen!" 29<br />

Seine Abneigung gegen die Frauen folgte offensichtlich der Erkenntnis, daß Frauen und die Familie<br />

der wirksamste Damm gegen pubertierende und mordende Männerbünde sind, und pubertierende<br />

Männer waren nun einmal seine Zielgruppe.<br />

"Noch ist <strong>das</strong> Weib nicht der Freundschaft fähig: Katzen sind immer noch die Weiber, und Vögel.<br />

Oder besten Falles, Kühe."<br />

Friedrich Nietzsche geißelte die Herdenpsychologie der Demokratie und der modernen<br />

Massengesellschaft. Den "Willen zur Macht" verstand er als Urinstinkt, genauso wie die Herrschaft<br />

"gesunden" Gefühls und Instinkts. Ziel war der "Übermensch", ein höheres Wesen, <strong>das</strong> die Herrschaft<br />

über sich selbst und damit eine höhere Sittlichkeit erreichen sollte. Er leitete eine Revolte gegen den<br />

Empirismus ein, die besonders in den deutschsprachigen Ländern, Paris, Rußland, Katalanien und<br />

Norditalien Einfluß gewann.<br />

Helena Blavatsky schöpfte aus dem Okkultismus und verhalf der Seelenreform zum Durchbruch,<br />

indem sie die Theosophie begründete, aus der sich später die Anthroposophie und die Ariosophie<br />

entwickelten. Auch diese Lehren verbanden sich mit anderen, zum Beispiel mit der<br />

Naturschutzbewegung, mit Erziehungskonzepten und Siedlungsexperimenten. Okkultismus,<br />

Anthroposophie und Ariosophie hatten nur eine geringe Distanz zu rassistischen und antisemitischen<br />

Konzepten, teilweise waren letztere aus ersteren herausdestilliert worden. Beispielhaft dafür ist<br />

Helena Blavatskys Wurzelrassenlehre, die auch von den Anthroposophen übernommen wurde.<br />

Polarier, Hyperboreer, Lemurier, Atlantier und Arier, die sich in indische, persische, ägyptischchaldäische,<br />

römisch-griechische angelsächsische-germanische unterteilten und denen der Jude als<br />

Verkörperung des Tierischen gegenüberstand.<br />

Richard Wagner war der Kunstreformer. Seine Gesamtkunstwerke aus Musik, Sprache, Kostüm und<br />

Bühnenbild stellten alle bisherige Dramaturgie in den Schatten, denn die Dramaturgie rankte sich nicht<br />

mehr um die Musik, sondern die Musik um <strong>das</strong> Drama. Als Schöpfer von dramatischen<br />

Massenaufläufen und von pathetischen Affekten wurde Wagner ein Ideengeber für Hitlers<br />

Massenaufmärsche, er schuf neben D´Annunzio die Grundlagen für die Ästhetisierung der Politik und<br />

war ein recht gehässiger und eifriger Judenhasser. Bereits als Kind hatte er ein "großes" Trauerspiel<br />

entworfen, eine Mischung aus Hamlet und Lear:<br />

"der Plan war äußerst großartig; zweiundvierzig Leute starben im Verlauf des Stückes, und ich sah<br />

mich in der Ausführung genötigt, die meisten als Geister wiederkommen zu lassen, weil mir sonst<br />

in den letzten Akten die Personen ausgegangen wären."<br />

Nachdem er Beethovens Musik zu "Egmont" gehört hatte, faßte er den Gedanken, sein dramatisch<br />

verbrämtes Konjunkturprogramm für die Sargmacherzunft mit selbstgemachter Musik zu umfloren. Es<br />

folgte heftiges Pubertieren mit studentischen Ausschweifungen und revolutionäre Attacken in der<br />

Julirevolution 1830 und im Mai 1849, wo er mit dem Dresdner Zunfthandwerk an den barocken Toren<br />

der sächsischen Macht rüttelte. Der königliche Kapellmeister wurde daraufhin von der Dresdner<br />

Stadtpolizeideputation gesucht und entzog sich der Festsetzung durch Flucht. "Lohengrin" (1850), der<br />

"Tannhäuser" (1861), "Tristan und Isolde" (1865), die "Meistersinger" (1868), "Rheingold" (1869), "Die<br />

Walküre" (1870), der "Ring der Nibelungen" (1876) sowie der "Parsival" (1882) zehren an der<br />

Mythologie verschiedener Germanenreiche bzw. am schönen Mittelalter der Nürnberger Zünfte.<br />

29 F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Erster Theil, Die Reden Zarathustras<br />

31


Die Bekanntschaft mit Friedrich Nietzsche datierte bereits aus dem Jahr 1868. Nach 1849 begann<br />

Wagner kunsttheoretisch zu arbeiten. In seiner Abhandlung "Oper und Drama" begann er seinen<br />

Kampf gegen die Musik als Unterhaltung und die Oper als Unterhaltungsindustrie. In den Mittelpunkt<br />

seiner Arbeit rückte <strong>das</strong> Drama, dem sich die Musik unterzuordnen hatte. Nicht der verderbte<br />

Geschmack des Publikums, sondern <strong>das</strong> Kunstwerk als Selbstzweck und der Künstler als solcher<br />

rückten in den Mittelpunkt des theatralischen Olymps. Der Opernbesucher sollte nicht nach einem Tag<br />

der Arbeit, der Mühe und des Stresses zur Zerstreuung in die Oper eilen, sondern eigens<br />

eingeladene, in Bayreuth verweilende Sommerfrischler sollte nach den Zerstreuungen des Tages<br />

abends im Festspielhaus den Eindruck der Aufführung empfangen.<br />

"So mit frischen, leicht anzuregenden Kräften, wird ihn der erste mystische Klang des unsichtbaren<br />

Orchesters zu der Andacht stimmen, ohne die kein wirklicher Kunsteindruck möglich ist."<br />

Es ist unschwer zu erkennen, und so ist es bis heute, daß der Unterhaltungsanspruch für ein breites<br />

Publikum bewußt aufgegeben wurde und eine elitäre Bande mit hohem Aufwand bespielt wurde. Der<br />

Ersatz der Unterhaltungsmusik durch die E-musik und <strong>das</strong> Primat des Dramas über die Musik ebneten<br />

den Weg in einige elitäre Jahrzehnte.<br />

Ernst Haeckel als unglücklicher Popularisierer von Darwin übertrug die Selektionstheorie bedenkenlos<br />

aus dem Tierreich in die menschliche Gesellschaft und schlug damit <strong>das</strong> Tor in den Sozialdarwinismus<br />

weit auf. Eugenische Konzepte des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik, Hitlers<br />

Vorstellungen vom Vorrecht des Stärkeren, sind kaum begreifbar ohne <strong>das</strong> Herüberschwappen des<br />

Biologismus in die Politik. Vom Biologismus war es nur ein kleiner Schritt zur Rassentheorie, die keine<br />

Erfindung Adolf Hitlers war, sondern sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts weitester Verbreituing<br />

erfreute.<br />

Beispiel Fidus-Plakat für den Kongreß für biologische Hygiene im Oktober 1912. Unter biologischer Hygiene<br />

verstanden die Teilnehmer natürlich vor allem Rassenhygiene, ein Thema war laut Plakattext die Eugenik. Der<br />

blonde, helläugige nordische Mensch ist im Begriff seine Fesseln zu lösen und sich zu den Sternen als Symbol<br />

einer mystisch verklärten höheren Welt zu erheben. Wer ihm die Fesseln angelegt hat? Sind es christliche oder<br />

jüdische Unterdrücker?<br />

Ab 1900 nahm die Reformpädagogik ihren Lauf. Da der Verstand als Quelle allen Übels gerade unter<br />

Beobachtung stand, triumphierte notwendig auch in der Erziehungswissenschaft <strong>das</strong> Gefühl. Dem<br />

Kinde sollte idealtypisch nichts beigebracht werden, sondern <strong>das</strong> dem Kinde vermeintlich inhärente<br />

„eigene Wesen“ sollte entwickelt, <strong>das</strong> „volle starke persönliche Kinderleben“ forderte sein Recht.<br />

Auslöser war <strong>das</strong> 1899 erschienene „Jahrhundert des Kindes“ von Ellen Key. 1905 war es in<br />

Deutschland bereits 26.000 mal verkauft worden. Die Schule sollte Gesamtschule sein, <strong>das</strong> Prinzip<br />

der Ganzheitlichkeit des Lernens mit Herz, Gefühl, Kopf und Hand verkörpern. Bereits 1899 wollte Key<br />

auf Zensuren und Belohnungen verzichten und den obligatorischen Stoff gegenüber den Wahlfächern<br />

einschränken. Mythisierung und Romantisierung des Kindes, <strong>das</strong> Dogma des „Wachsenlassens“<br />

nahmen breiten Raum ein, in die Kinderseele wurde mehr hineingedeutet, als von Natur aus drin war.<br />

Sie wurde leicht zum Zerrspiegel reformpädagogischer Wünsche, was man an in die Schule<br />

mitgebrachtem Wesen zu erkennen wünschte, fand man irgendwie auch, oder man projizierte es in<br />

<strong>das</strong> Kind. Bereits in den dreißiger Jahren kritisierte Heydorn:<br />

„Mit der Befreiung der schöpferischen Natur des Kindes sollte der Mensch befreit werden. Der<br />

Angriff richtete sich gegen <strong>das</strong> Erstarrte, die Buch- und Formenschule, in der Tiefe aber nicht nur<br />

gegen <strong>das</strong> Absterbende, manieristisch-brutale Bewußtsein, sondern gegen alle Bewusstmachung<br />

überhaupt, alles Licht; eine magische Welt des Kindes wird der Welt des produktiven Bewusstseins<br />

gegenübergestellt, eine vorbewusste Welt, die den <strong>Menschen</strong> vor Eintritt in seine Geschichte zeigt<br />

und ihn dort festhalten will...“ 30<br />

Als Hermann Hesse 1901 über seine Kindheit schrieb, schien er Ellen Key bereits gelesen zu haben:<br />

30 <strong>Wolfgang</strong> Keim: Bewegung vom begüterten und rassisch gesunden Kinde, Frankfurter Rundschau, 30.12.1999<br />

32


„Ich wage nicht, von meinen Kinderspielen viel zu reden. Es gibt nichts Wunderbareres und<br />

Unbegreiflicheres und nichts, was uns fremder wird und gründlicher verloren geht als die Seele des<br />

spielenden Kindes.“ 31<br />

Natürlich war Ellen Key, ganz Kind ihrer Zeit, auch Anhängerin der Euthanasie und sie warb für die<br />

Rassenhygiene. Der Reformpädagoge Hermann Lietz, der die ersten deutschen<br />

Landerziehungsheime gründete, war darüber hinaus auch Antisemit. Im Heim Haubinda kam es vor<br />

dem Weltkrieg zum „Haubindaer Judenkrach“, als die Juden aus dem Heim ausgeschlossen wurden.<br />

1919 veröffentlichte Lietz die Schrift „Des Vaterlandes Not und Hoffnung“, in dem er ein<br />

Einwanderungsverbot für Juden und ihren Ausschluß aus der deutschen Gesellschaft empfahl. 32<br />

Bis zum ersten Weltkrieg verbandelten sich die genannten thematischen Säulen häufig miteinander,<br />

sie nahmen gegenseitig Inhalte auf. Das lag vor allem daran, daß die Menschheit alles abschreibt,<br />

auswendig lernt und nachplappert. Der heute vergessene Popularisierer Norbert Grabowsky als<br />

produktivster zeitgenössischer Kompilator und Kompendienschreiber beispielsweise betrieb von 1903<br />

bis 1922 eine regelrechte Bücherfabrik, um jede neue Volte der Reformbewegung unverzüglich unters<br />

Volk zu bringen. "Durch Entsagung und Vergeistigung zum jenseitigen Leben, ein Führer für nach<br />

Vervollkommnung Strebende" (1903), "Die verkehrte Geschlechtsempfindung " (1904), "Die höchsten<br />

Ziele des <strong>Menschen</strong>" (1905), "Der Naturgenuß und sein Wesen" (1905), "Das Recht der geistigen<br />

Bahnbrecher" (1906), "Der Innenmensch: ein Schauspiel philosophischen Erkenntnisgehalts in zwei<br />

Aufzügen" (1909), "Privatbibliotheken volksthümlicher Werke philosophischer Erkenntnis und die<br />

außerordentliche Bedeutung solcher Bibliotheken für den Geistesfortschritt der <strong>Menschen</strong>" (1911),<br />

"Die Anschauungen übersinnlicher Wirklichkeit (1911), "Wahre Bildung: ein Handbuch innerer<br />

Höherentwicklung" (1911), "Die Geheimnisse des Übersinnlichen" (1922). Die Vielfalt der in den<br />

Buchüberschriften behandelten Themenkreise zeigt, daß Grabowsky relativ unkritisch und zeitnah auf<br />

jedes neue Reformbedürfnis einging. Eine anderes Ideologievermanschungsforum entstand um 1900<br />

mit Wilhelm Schwaners "Volkserzieher", einer Zeitschrift, die lebensreformerischen, völkischen und<br />

jugendbündlerischen Strömungen eine recht gut beachtete und breit angelegte Bühne bot und damit<br />

dafür sorgte, daß im Reformlager keine Langeweile aufkam. Infolge Schwaners Wirken wurden<br />

insbesondere die Grenzen zwischen völkischen und sonstigen jugendbündlerischen Auffassungen,<br />

die ohnehin nie fest gewesen waren, ständig neu aufgeweicht. "Der Volkserzieher", "Die Tat" und<br />

andere Monatsschriften fungierten wie ein refomatorisches Tischleindeckdich beim Ausbrüten immer<br />

neuer Konzeptionen.<br />

Von 1909 bis 1939 erschienen 354 Einzelhefte der Tat, die sich zunächst mit Literatur, Kunst,<br />

Wirtschaft, Politik, Geographie und Philosophie beschäftigten. Im Laufe der Zeit wurde die Zeitschrift<br />

ein Organ des aggressiven Elitarismus und der panslawistischen Propaganda, zuletzt wurde <strong>das</strong><br />

Ruder in Richtung NS-Ideologie noch einmal herumgerissen.<br />

Aus der gegenseitigen Beeinflussung der Modeströmungen entstand im allgemeinen keine<br />

Konvergenz der Meinungen, trotzdem wurde gelegentlich aus der Vermengung zweier Heilslehren<br />

eine dritte gezeugt. Ein Beispiel für die Breite der Diskussion läßt sich anhand des Themas<br />

"Siedlungsbewegung" erkennen: Die SPD gab die Broschüre "Sozialdemokratie, Landwirtschaft und<br />

Bodenreform" mit sozialistischen Parolen heraus, Reinhold Hülsen publizierte "Heim-Land: Zum<br />

Eigenheim mit Garten, zu schuldfreiem Erbgut mit zinsfreiem Gelde" (offenbar antikapitalistischjudenfeindlich),<br />

der Werkbündler Hermann Muthesius schrieb unter gestalterischen Aspekten<br />

"Kleinhaus und Kleinsiedlung", Franz Oppenheimer begeisterte sich unter ökonomisch-historischen<br />

Aspekten für "Die Siedlungsgenossenschaft: Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus<br />

durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage" und Rudolf Richter hatte einen<br />

ökologischen Aspekt im Auge, als er "Der neue Obstbau, einfaches, streng naturgemäßes Verfahren"<br />

publizierte. Diese aspektgebundenen Betrachtungen wurden von anderen Autoren aufgebrochen:<br />

Heinrich Driesmann glaubte den Zusammenhang zwischen "<strong>Menschen</strong>reform und Bodenreform"<br />

entdeckt zu haben und der bereits erwähnte Grabowsky verband die Siedlungsfrage mit<br />

Geschlechtsempfindungen, dem seelischen Innenleben, dem Naturgenuß und der Kunst glücklich zu<br />

werden.<br />

Atheismus, Idealismus, Nacktkultur, Rassismus, Vegetarismus und andere Reformimpulse verbanden<br />

sich schnell zu einem reformistisch-elitaristischen Brei: Mit dem traditionell kirchengebundenen<br />

31<br />

Hermann Hesse: Meine Kindheit (1901), abgedrückt in „Der Lateinschüler“, Aufbau Verlag Berlin und Weimar,<br />

1977<br />

32<br />

<strong>Wolfgang</strong> Keim: Bewegung vom begüterten und rassisch gesunden Kinde, Frankfurter Rundschau, 30.12.1999<br />

33


Christentum nämlich wurde auch dessen transzendente Gottesvorstellung verabschiedet, damit aber<br />

auch jeder Glaube an eine Erlösung jenseits der individuellen und volklichen Existenz. Otger Gräff,<br />

völkischer Aktivist und Kriegsteilnehmer, der während des Krieges bereits einen gewichtigen Beitrag<br />

zur Gründung völkisch-religiöser Gemeinden und Siedlungsprojekte geleistet hatte, formulierte:<br />

"So ist deutscher Glaube ein lebendiger Diesseitsglaube, `deutscher Idealismus', der die schöne<br />

reiche Erde, insonderheit die liebe Heimat nicht als ein Jammertal ansieht und auf ein angeblich<br />

besseres Jenseits hofft, über <strong>das</strong> wir nichts wissen können, der vielmehr vor allem hier auf Erden<br />

<strong>das</strong> Gottesreich aufrichten will, <strong>das</strong> Höhere Reich der Deutschen." .... Diesseitig-religiös orientiert<br />

war vor allen aber <strong>das</strong> Selbstverständnis und die Praxis der meisten bürgerlichen<br />

Reformbewegungen (Nacktkultur, Kleiderreform, Antialkoholbewegung, Vegetarismus,<br />

Naturheilverfahren, Landkommunen etc.), an deren Erlösungsversprechen man durch die<br />

Befolgung der richtigen Kleider- oder Essensordnung partizipieren konnte. Die Vergottung des<br />

gesunden Leibes, greifbar im quasi-religiösen Schrifttum der Nackt- und Körperkultur und<br />

wiederum angeregt durch Nietzsches Denken, ist ein weiteres Indiz für die Enttranszendierung<br />

zeitgenössischer Erlösungshoffnungen. Damals ebenso zeitgemäß wie heute waren völkische<br />

Spielarten der Gymnastik- und Tanzbewegung wie etwa Friedrich Bernhard Marbys (1882-1966)<br />

"Runengymnastik" oder "Runen-Yoga", durch deren Übungen man im Kontakt mit dem<br />

Kosmischen auf den "Germanischen Einweihungsweg" geriet, der geradewegs zur vermeintlichen<br />

Selbsterlösung führte.“ 33<br />

Am Ende der Friedensperiode 1914 hatte sich die Lebensreform in ernährungs- und<br />

gesundheitsbezogene, siedlungs- und wohnreformerische, körperbezogene, sexualreformerische,<br />

jugendbündische, frauenrechtliche, sozialreformatorische, erzieherische, rassistische und<br />

antisemitische, völkische, okkulte, religionskritische, philosophische und formgestalterisch-ästetische<br />

Kolumnen zerteilt, aber der größte Teil dieser Themenangebote war wieder durch Unterthemen<br />

zerfasert und atomisiert, bzw. durch teils skurrile Lehrangebote miteinander verwoben worden.<br />

Worüber man sich bei allem Streit, bei aller Abgrenzung und bei aller Konvergenz der Theorien einig<br />

war: "Alles muß anders werden" und: man suchte den <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>.<br />

Fidus hat um 1900 zahlreiche neuheidnische Ritualdarstellungen angefertigt; selten fehlt ein<br />

Hakenkreuz oder die Todesrune am Bildrand.<br />

Die Genese der Lebensreform gleicht nicht einem Baum, wo aus einem Ideenstamm durch<br />

Verzweigung immer ausgefeiltere und differenziertere Ideen herauswuchsen; dieses Bild gilt für<br />

Teilaspekte und deckt die ideengeschichtliche Entwicklung nicht ab, da neben dem nietzscheanischen<br />

Hauptbaum noch andere Bäume wuchsen, wie der des Okkultismus und der des Darwinismus. Ein<br />

verwilderter Garten mit mehreren Bäumen, die ungenießbare Früchte trugen, kommt der Realität jener<br />

bunten Vielfalt schon näher, auch wenn man annimmt, daß Sprosse von verschiedenen Bäumen auf<br />

andere aufgepfropft wurden. Am Schluß der Reformgeschichte ist ein Flussgleichnis angemessener,<br />

wo viele Reformbäche in Flüsse und die großen Flüsse in den braunen Strom oder den roten Fluß<br />

mündeten. Ab 1900 ergossen sich beispielsweise Nebenarme des Marxismus und des<br />

Nietzscheanismus in den Strom des Leninismus, der Leninismus verband sich ein Jahrzehnt später<br />

mit dem traditionellen orthodoxen Etatismus zum Stalinismus. Der völkisch-ökologische, der<br />

vitalistisch-biologistische, der zünftig-korporative und der rassistisch-teutonische Waggon wurden in<br />

einem ideologischen Rangierbahnhof zum NS-Zug zusammengestellt, dessen Lokomotive mit Juden<br />

gefeuert wurde und dessen Räder auf den Schienen des Jugend- und Schönheitskults sowie des<br />

Biologismus rollten. Es bedurfte eklektizistischer Konstrukte, um zu heterodoxen Systemen zu<br />

kommen. Gerade durch den Antiempirismus, den Kult des Willens und des Gefühls wurden diese<br />

Auswüchse des Zeitgeistes erst ermöglicht.<br />

Stanley Payne hat die lebensreformerische Kulturkrise des Fin de siècle vorrangig in den Kernländern<br />

Mitteleuropas ausgemacht: in Deutschland, Österreich-Ungarn, Norditalien und Frankreich. Ergänzen<br />

muß man Rußland, wo Symbolismus, Brutalismus, Funktionalismus, Jugendstil und andere Ismen in<br />

die Metropolen eindrangen. Der deutschsprachige Raum litt an Nietzsche und der Jugendbewegung;<br />

in Italien waren Gabriele d´Annuncio und die Futuristen aktiv, Frankreich litt spiegelbildlich am<br />

Antirationalismus und Vitalismus a la Bergson, der „violence“ eines Sorel, am Kult der Erde und des<br />

Todes (Barrès) und am Bonapartismus als frühe Führerphantasie. Deutschland, die Nachfolgestaaten<br />

33 Herbert Wilhelm-Rotenburg: Deutsche Wiedergeburt und abendländische Sendung in: DER RECHTE RAND<br />

Nr. 15 vom Januar / Februar 1992, S. 6 f.<br />

34


Österreich-Ungarns und Italien entwickelten faschistische, nationalsozialistische und rechtsautoritäre<br />

Regierungssysteme, in Rußland kam es zur elitaristischen Einmannherrschaft, in Frankreich<br />

entstanden immer nur kurzzeitig Parteien und Bewegungen mit Massenbasis, die vergleichbare Ziele<br />

verfolgten; sie entstanden und beispielsweise in den späten dreißiger Jahren waren sie von der<br />

Machtübernahme nicht sehr weit entfernt.<br />

Eric J. Hobsbawn beschrieb die USA der Jahrhundertwende als kulturelles Entwicklungsland: Mark<br />

Twain und Walt Whitmann mussten ausreichen, Henry James wäre wegen der dünnen geistigen<br />

Atmosphäre aus Amerika ausgewandert. Der diagnostizierte kulturelle Notstand hatte natürlich den<br />

Vorteil, <strong>das</strong>s keine Kulturkrise ausbrechen konnte wie in Europa. So wie die Lebensreform sich in den<br />

USA nur punktuell ausbreiten konnte, so der Marxismus und die Arbeiterbewegung. Es fehlte in<br />

Amerika die Tradition der Gesellenvereine und der Zünfte, deren Fortentwicklung die Verkammerung<br />

der Wirtschaft sowie die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung war. Es fehlte alles traditionelle und<br />

rückwärtsgewandte.<br />

Wenn man den Marxismus und die Lebensreform strukturell vergleicht, so kann man <strong>das</strong> an den<br />

Quellen und Bestandteilen festmachen: Der Marxismus hatte angeblich 3 Quellen und 3 Bestandteile.<br />

Die Lebensreform hatte wesentlich mehr Quellen und wesentlich mehr Bestandteile. Sie war<br />

wesentlich heterodoxer und wandlungsfähiger. Das verlieh ihr gegenüber dem Marxismus den Vorteil,<br />

den Viren gegenüber Bazillen haben. Sie sind wandelbarer, unberechenbarer und ekelhafter.<br />

Über die Charakteristika der „wahren“ Lebensreform konnte man im Reformlager durchaus uneins<br />

sein, um doch einige griffige Grundgedanken – zum Beispiel die Überlegenheit von Eliten, den Kult<br />

der Gesundheit oder die Präferenz für die Jugend – miteinander zu teilen. Thomas S. Kuhn hat für<br />

Wissenschaftler festgestellt, <strong>das</strong>s sie in der Identifizierung eines Paradigmas übereinstimmen können,<br />

ohne sich über seine vollständige Interpretation oder abstrakte Formulierungen einig zu sein. Das<br />

Fehlen einer Standardinterpretation oder einer anerkannten Reduzierung auf Regeln hindere ein<br />

Paradigma nicht daran die Forschung zu führen. 34<br />

Ideologen, Künstler und Politiker sind auch nur <strong>Menschen</strong>. Ihre Wahrnehmung unterliegt ähnlichen<br />

Eindrücken und Täuschungen, wie diejenige der Wissenschaftler. Auch die Lebensreform oder die<br />

Jugendbewegung haben niemals eine einheitliche Interpretation der Welt zustande gebracht.<br />

Trotzdem beherrschten die Gebetsformeln der Lebensreform die geistige Auseinandersetzung im<br />

Spätkaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, ja sie hatten in ihrer Vielfalt<br />

eine ideologische Monopolstellung errungen.<br />

Nachts unter hängenden Moscheenlampen mit Kuppeln aus filigranem Messing<br />

Milton bereits beschrieb in „Das verlorene Paradies“ abgefahrene Futuristen:<br />

Doch feiner noch gesittet saßen welche...<br />

Abseits auf einem Berge unter sich<br />

In höheren Gedanken und ergingen<br />

Sich in erhebenden Erörterungen,<br />

Was Vorsehung und was Vorausbestimmung.<br />

Was Wille, Schicksal...<br />

Am 20. Februar 1909 wurden die Begründung und <strong>das</strong> Manifest des Futurismus im Pariser „Figaro“<br />

veröffentlicht. Ganz klar und auf den ersten Blick ist der Futurismus keine deutsche Quelle des<br />

Reformismus. Seine Schöpfer waren Italiener. Der Einfluß des italienischen Futurismus war zunächst<br />

in Deutschland ein begrenzter: Marinetti besuchte 1911 Berlin, Der Frauenmörder Johannes R.<br />

Becher schuf zwei futuristische Gedichte „Lokomotiven“ und „Die neue Syntax“, Lyonel Feininger<br />

malte sächsisch-weimarische Dorfkirchen, welche aus transluzenten durchscheinenden<br />

Pyramidenstümpfen bestanden und die Bauhäusler komponierten den Lauf der Gestirne aus<br />

Zahnrädern und Kometenschweifen.<br />

Der Futurismus hätte sich damit erledigt; totgelaufen wie viele andere Moden hätte er seine<br />

künstlerische Bahn geführt von ältlichen zerknitterten Ciceronen im Museum der Moderne beendet.<br />

34 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Taschenbuch, S. 58<br />

35


Der Futurismus überquerte die Alpen nach 1923 jedoch ein zweites Mal: als kampferprobte siegreiche<br />

ideologische Fundamentierung des für erstaunlich viele „linke“ Intellektuelle vorbildhaften Faschismus.<br />

Tommaso Marinetti war wortgewaltig und seine Fundamentierung des Futurismus eine<br />

Aneinanderreihung starker Bilder:<br />

„Wir blieben all die Nächte auf, meine Freunde und ich, unter hängenden Moscheenlampen mit<br />

Kuppeln aus filigranem Messing, sternbesät, wie unsere Ideen, scheinend wie die gefangenen<br />

Strahlen von elektrischen Herzen. Für Stunden kehrten wir unsere atavistische Trägheit unter<br />

reiche orientalische Teppiche, diskutierend über die letzten Überzeugungen der Logik und<br />

schwärzend viele Bögen mit unserer Wahnsinnsschrift.“<br />

1. Wir wünschen die Liebe zur Gefahr zu besingen, die Gewohnheit der Energie und<br />

Verwegenheit.<br />

2. Kühnheit, Frechheit und Revolte werden grundlegende Elemente unserer Poetik.<br />

3. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat die Literatur eine schwermütige Unbeweglichkeit, Verzückung<br />

und Schlaf gepriesen. Wir wünschen die aggressive Aktion, ein schlafloses Fieber, des Rennpferds<br />

Schritt, die Todesspirale, die Ohrfeige und die Faust zu preisen.<br />

4 Wir behaupten, <strong>das</strong>s der Welt Herrlichkeit durch eine neue Schönheit erreicht worden ist: die<br />

Schönheit der Geschwindigkeit. Ein rasendes Automobil, dessen Karosse mit großen<br />

Auspuffrohren verziert ist, wie Schlangen mit explosivem Atem - ein röhrendes Auto, <strong>das</strong> auf<br />

Weinbeeren zu fahren scheint, ist schöner, als die Siegesgöttin von Samothrace.<br />

5. Wir wünschen den Mann am Steuerrad zu besingen, der die Lanze seines Geistes gegen die<br />

Erde schleudert, entlang dem Zirkel ihres Orbits.<br />

6. Der Dichter muß sich mit Inbrunst, Freigiebigkeit und Edelmut selbst aufopfern, um <strong>das</strong><br />

enthusiastische Fieber der primären Elemente anzufachen.<br />

7. Ausgenommen im Kampf, gibt es keine Schönheit mehr. Kein Werk ohne einen aggressiven<br />

Charakter kann ein Meisterwerk sein. Die Dichterei muß gefasst werden als eine gewaltsame<br />

Attacke auf unbekannte Kräfte, um sie zu verkleinern und niederzuschlagen in Gegenwart von<br />

Männern.<br />

8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! ... Warum sollten wir<br />

zurückschauen, wenn <strong>das</strong> was wir wollen, <strong>das</strong> Niederbrechen der geheimnisvollen Tore des<br />

Unmöglichen ist? Zeit und Raum starben gestern. 35 Wir leben immer im Absoluten, weil wir die<br />

innere, allumfassende Geschwindigkeit erfunden haben.<br />

9. Wir wollen den Krieg glorifizieren – die einzige Hygiene der Welt – Militarismus, Patriotismus, die<br />

zerstörerische Geste der Freiheitsbringer, herrliche Ideen, die es Wert sind dafür zu sterben, und<br />

Verachtung für die Frauen.<br />

10. Wir werden die Museen zerstören, die Bibliotheken, die Akademien aller Art, werden<br />

Moralismus, Weiblichkeit, jede bequeme oder nützliche Feigheit bekämpfen.<br />

11. Wir werden über große Massen, die durch ihr Werk erregt sind singen, im Vergnügen und in<br />

der Ausschweifung; wir werden über die bunten polyphonen Wellen der Revolution in den<br />

modernen Hauptstädten singen; wir werden über <strong>das</strong> schwingende nächtliche Fieber der Arsenale<br />

und Werften singen, die hell erleuchtet sind von gewaltigen elektrischen Monden; von gefräßigen<br />

Bahnhöfen, die von dampfenden Schlangen verschlugen werden; von Fabriken die voll Wolken der<br />

gekrümmten Linien ihres Rauchs hängen; von Brücken, die die Flüsse wie gewaltige Gymnasten<br />

überspannen und in der Sonne aufflammen, mit dem Glanz von Messern; von abenteuernden<br />

Dampfern, die den Horizont wittern; von langbrüstigen Lokomotiven deren Räder auf den Schienen<br />

stampfen, wie die Hufen von riesigen Stahlpferden, deren Röhrenwerk im Zaum gehalten wird; und<br />

vom weichen Flug der Flugzeuge, deren Propeller mit dem Wind schwatzen wie Fahnen und<br />

anzufeuern scheinen wie eine enthusiastische Menge.<br />

35 wahrscheinlich eine Anspielung auf Einsteins Relativitätstheorie.<br />

36


Aus Italien lancieren wir dieses unser gewalttätiges, umstürzlerisches brandstiftendes Manifest in<br />

die Welt. Mit ihm etablieren wir heute den Futurismus, weil wir dieses Land zu befreien wünschen<br />

von seinen stinkenden Kraken von Professoren, Archäologen, Fremdenführern und<br />

Antiquitätenhändlern. Zu lange ist Italien ein Verkäufer von Ge<strong>braucht</strong>waren gewesen....“<br />

Das Manifest endet kämpferisch:<br />

„Du hast Einwände? - Genug, Genug! Wir kennen diese... Wir haben verstanden!...Eure feine<br />

trügerische Intelligenz sagt uns, <strong>das</strong>s wir die Wiedergänger und Seelen unserer Vorfahren sind –<br />

Vielleicht!... Wenn es nur so wäre! – Aber wer sorgt sich? Wir wollen nicht verstehen!... Jammer<br />

über jeden, der uns diese infamen Parolen wieder sagt! Hebt eure Hände! Aufrecht zum Gipfel der<br />

Welt, immer wieder schleudern wir Trotz gegen die Sterne!“<br />

Es dauerte nur historische Sekunden und die deutschen Trotzköpfchen machten sich <strong>das</strong><br />

Vorwärtsstürmen zu eigen; sie kreierten den Aktivismus und den Expressionismus.<br />

Spuren der Reformsandalen auf dem Kriegspfad<br />

Die Kultur des beginnenden 19. Jh. stand trotz einiger Brüche im wesentlichen noch in einer christlichhumanistischen<br />

Tradition. Ab 1835 entstanden Risse in der biedermeierlichen Gesellschaftsfassade.<br />

Intellektuelle wie Ludwig Feuerbach, Max Stirner, Bruno Bauer, Karl Marx, Friedrich List, Arthur<br />

Schopenhauer, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche begannen nicht nur am Putz zu kratzen,<br />

sondern auch die kulturellen Fundamente zu untergraben. Aber zunächst handelte es sich um<br />

Einzelne. Das Ende der Periode der Volksbildung und Aufklärung, des unhinterfragten technischen<br />

Fortschritts und der beginnenden Demokratisierung der Gesellschaft begann sich erst vage<br />

abzuzeichnen.<br />

Eine Angriffsrichtung war die Religion. Nicht nur die Sozialisten verhießen ein gottloses Paradies,<br />

auch in bürgerlichen Kreisen machten Antiklerikalismus, Neuheidentum und Atheismus die Runde.<br />

Das war die eigentliche Katastrophe. Denn der Antiklerikalismus glaubte die 10 Gebote durch neue<br />

Gebote ersetzen zu können. Die Antike, Griechenland oder die germanischen Reiche sollten als<br />

vorchristliche Sittenspender genutzt werden. Die vorchristlichen Religionen enthielten <strong>das</strong> Verbot zu<br />

töten nicht, z.B. durfte man in der Antike unter bestimmten Bedingungen Sklaven töten, Feinde und<br />

Kriegsgefangene. Gladiatorenkämpfe und <strong>Menschen</strong>opfer waren an der Tagesordnung. Während der<br />

Periode des Christentums wurde auch getötet, da es in der menschlichen Natur liegt, aber es war<br />

eigentlich und prinzipiell verboten und man tat es mit schlechtem Gewissen oder mit schlechten<br />

Begründungen. Bereits <strong>das</strong> Verbot, auch wenn es nicht oder nicht immer beachtet wurde, war ein<br />

Fortschritt, und diesen Fortschritt gab man auf. Im Dritten Reich und in Rußland wurde im 20. Jh. ohne<br />

schlechtes Gewissen, mit den allerschlechtesten Begründungen, ohne Mengenbegrenzungen und<br />

ohne alle Hemmungen getötet.<br />

Die Angriffe der reformistischen Ideologen richteten sich nicht nur gegen den Glauben, sondern mit<br />

zunehmendem Wohlstand auch gegen den technischen Fortschritt und die empirische Wissenschaft.<br />

In Deutschland gewann um die Jahrhundertwende Friedrich Nietzsche Einfluß auf<br />

Intellektuellenkreise, die zunächst den Jugendstil und den Expressionismus als Ausdrücke des<br />

Nietzscheanismus entwickelten und vorantrieben. Nietzscheanismus war vor allem Kult des<br />

Natürlichen, Gewaltsverherrlichung und Elitarismus. Seine Angriffe richteten sich auch gegen die<br />

erkennende Wissenschaft, als Zweifel an der Sinnhaftigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis.<br />

"In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernden<br />

ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere <strong>das</strong> Erkennen erfanden.<br />

Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte: aber doch nur eine Minute.<br />

Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte <strong>das</strong> Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben.<br />

So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie<br />

kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt<br />

innerhalb der Natur ausnimmt."<br />

So schrieb er in "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn". Mit der Ablehnung der<br />

Annäherung an die Wahrheit durch langsam voranschreitende Erkenntnis wurde letztlich denen <strong>das</strong><br />

37


Tor weit geöffnet, die unter welchen Vorwänden auch immer die Welt mit wenig erprobten neuen<br />

Gesetzen regieren wollten. Das aufgestoßene Tor eröffnete den Weg auf eine breite Reform- und<br />

Versuchsstrecke, die an ihrem Ende in einer kolossalen Sackgasse endete, an deren Ende große<br />

Öfen standen. Im Kaiserreich lag die Kinderstube der neuen Reformideen, die Jugendzimmer waren<br />

die Unterstände des Weltkriegs, die Weimarer Republik steuerte eine Experimentierküche bei, in der<br />

versucht wurde aus den ungeeigneten Zutaten des Elitarismus ein parlamentarisches Süppchen zu<br />

kochen und im Dritten Reich endlich brach die Kellerperiode des Reformismus an: im Heizungskeller<br />

und in gefliesten Waschräumen wurde mit vollem Dampf auf die lange prophezeite Reinigung<br />

hingearbeitet, die sich als <strong>das</strong> entpuppte, was die Kriegsliteraten vorausgesagt hatten: als<br />

Reinigungskatastrophe.<br />

Die Befindlichkeit der Bildungsbürger des ausgehenden 19. Jahrhunderts und insbesondere der<br />

Lebensreformer war trotz oder gerade wegen der Fortschritte auf allen Gebieten<br />

zivilisationspessimistisch. Dieser Pessimismus wechselte sich oft ohne Übergänge mit Überschwang<br />

ab. So auch bei Nietzsche. Angriffe gegen die Verwissenschaftlichung des Lebens verbunden mit<br />

einem virulenten Kulturpessimismus wechselten sich mit Phantasien vom Übermenschen und einer<br />

neuen Kulturperiode ab.<br />

Solch ein Hin- und Her zwischen Vorwärts und Rückwärts, zwischen schnell und langsam, zwischen<br />

Groß- und Kleinmut, zwischen Macht und Ohnmacht ist Umbruchperioden eigen.<br />

Die von Nietzsche propagierte Umwertung der Werte wurde sicher von Adolf Hitler so verstanden, wie<br />

Nietzsche sein Schlagwort gemeint hatte, als Zeichen zum Großangriff auf den demokratischen Status<br />

Quo. Die Umwertung der Werte stand im selben gesellschaftlichen Umfeld wie Wilhelms "Ich führe<br />

euch herrlichen Zeiten entgegen", „Alles muß anders werden“ oder "Wir wollen niemanden in den<br />

Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne."<br />

Nietzsches Reformhaus führte einige Produkte, die bei der Reformkundschaft gut ankamen. Sie<br />

bedienten ein neues Lebensgefühl der Machbarkeit und des Aufbruchs in große Weiten und große<br />

Zeiten. Zurück zu den Wurzeln war gerade nicht in, fort in kosmogene Weiten, fort in kosmogene<br />

Gedanken, Aufbruch zu neuen Ufern. Der "Übermensch", die "blonde Bestie", die "Sklaven- und<br />

Herrenmoral", <strong>das</strong> "unwerte Leben", der "Wille zur Macht", <strong>das</strong> waren Propagandapässe, die nicht nur<br />

dem Adolf Hitler in den Lauf gespielt wurden. Nietzsche drohte:<br />

"Ich kenne mein Loos: Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas<br />

Ungeheueres anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf der Erden gab, an die tiefste<br />

GewissensCollision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was geglaubt, gefordert<br />

geheiligt worden war...Denn wenn ein Vulkan in Thätigkeit tritt, so haben wir Convulsionen auf<br />

Erden, wie es noch keine gab. ...es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gab". 36<br />

Wer war Nietzsche nun eigentlich? War er der Erfinder des Nationalsozialismus? Seine Philosophie<br />

spiegelte den Zeitgeist, der nach vielen Volten zum Nationalsozialismus führte, am treffendsten. Seine<br />

Schlagworte fokussierten die im Raume umherschwirrenden Gedanken auf einen Punkt. Seine<br />

Ablehnung einer 2000jährigen christlichen Tradition ermöglichte <strong>das</strong> Vorstoßen in längst<br />

zurückgelassene politische und moralische Räume, in mühsam erkämpfte moralische Tabuzonen.<br />

Nietzsche war nicht nur der schöpferische Createur eines unchristlichen Krieges der Starken gegen<br />

die Schwachen, sondern er war <strong>das</strong> Medium der rückständigen deutschen Gesellschaft, in der nicht<br />

die produktiven Kräfte, sondern um mit Marx zu sprechen die zur Illusion privilegierten Stände, die<br />

Ideologen, die Schulmeister, die Studenten und Tugendbündler den Ton angaben.<br />

„Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, <strong>das</strong> überwunden werden soll. Was habt<br />

ihr gethan, ihn zu überwinden?“<br />

„Was ist der Affe für den <strong>Menschen</strong>? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und eben<strong>das</strong><br />

soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.“<br />

"Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!"<br />

36 F. Nietzsche, Fragmente Dez. 1888-Anfang Januar 1889. Kurz nach der Niederschrift fiel er in geistige<br />

Umnachtung.<br />

38


"Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch - ein Seil über einem<br />

Abgrunde."<br />

"Ich sage euch: man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu<br />

können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch."<br />

"Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich<br />

hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang!"<br />

"Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer mit seinem Blute schreibt. Schreibe mit<br />

Blut: und du wirst erfahren, daß Blut Geist ist."<br />

"Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe und der Geist von einer fröhlichen Bosheit: so paßt es gut<br />

zueinander."<br />

"Ihr sollt den Frieden lieben, als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den<br />

langen."<br />

"Der Krieg und der Muth haben mehr große Dinge gethan, als die Nächstenliebe. Nicht euer<br />

Mitleiden, sondern eure Tapferkeit rettete bisher die Verunglückten."<br />

"Ist es nicht besser, in die Hände eines Mörders zu gerathen, als in die Träume eines brünstigen<br />

Weibes?"<br />

"Der Mann soll zum Kriege erzogen werden, und <strong>das</strong> Weib zur Erholung des Kriegers: Alles andere<br />

ist Thorheit."<br />

Systematisch verstieß Nietzsche gegen fast alle Gebote, insbesondere gegen <strong>das</strong> erste, und <strong>das</strong><br />

vierte bis sechste. Der Übermensch war ein extremes Beispiel der Abgötterei und des<br />

Götzendienstes: er selbst sollte mit seiner beschränkten Vernunft die Stelle von Gott einnehmen. Der<br />

Kult der Jugend verstieß gegen <strong>das</strong> Gebot, den Vater und die Mutter zu ehren. Das Gebot, nicht zu<br />

töten, schließt <strong>das</strong> Mitleid mit dem notleidenden Nächsten ein. Hier brach Nietzsche am radikalsten<br />

mit der christlichen Anschauung. Mit dem sechsten Gebot haperte es auch: Statt den von Gott<br />

zugesellten Ehegatten zu ehren, wurde die Frau je nach Gelüst als Katze, Vogel, gefährlichstes<br />

Spielzeug, Gans, geputzte Lüge und Kuh bezeichnet und auf die Erholung des wildgewordenen<br />

Kriegers und <strong>das</strong> Gebären des Übermenschen reduziert. Der Mann sei am Grunde der Seele nur<br />

böse, die Frau aber sei dort unten schlecht. Des Mannes Gemüt wäre tief, <strong>das</strong> der Frau seicht usw.<br />

Über die übrigen Gebote kann man sich seine eigenen Gedanken machen. Es hat nur<br />

verhältnismäßig wenige Krieger gegeben, die nicht in Versuchung geführt worden sind zu stehlen, es<br />

hat auch einige Kriege gegeben, wo wissentlich oder unwissentlich über den Feind falsch Zeugnis<br />

ausgestreut wurde. Oft wurde <strong>das</strong> Haus, die Frau und <strong>das</strong> Vieh des Feindes nicht nur begehrt,<br />

sondern auch angeeignet. Der Krieg ist nicht idealtypisch die Situation, in der es leicht ist, den<br />

Geboten des Herrn umfassend nachzukommen.<br />

Das hauptsächliche Problem war: Nach der Abkehr von Gott hatte der Mensch keine übergeordnete<br />

Instanz mehr, die an guten und schlechten Tagen zur Seite stand: an guten Tagen hatte Gott den<br />

Triumph und Übermut gedämpft; an schlechten die Verzweiflung. Er hatte dem Egoismus Schranken<br />

gesetzt und notwendige Entscheidungen mitgetroffen. Er hatte Geduld und Fleiß eingefordert und Mut<br />

verliehen. Nach dem Tode Gottes war der Mensch auf sich selbst gestellt. Und von der ersten Minute<br />

seines Eigenlebens kam er auf Abwege, da er die ehernen Forderungen Gottes, nämlich alle 10<br />

Gebote ignorierte.<br />

Aus dem Übermenschen wurde der für die Zucht ausgewählte SS-Mann, der Abgrund hieß KZ, die<br />

Abschaffung des Mitleids nannte sich 50 Jahre später Euthanasie, und den begehrten Krieg gab es<br />

gleich im Doppelpack. Der Friede dazwischen wurde nicht sehr geliebt und zur Vorbereitung des<br />

nächsten Krieges benutzt. So wie Nietzsche in Naumburg und im nachklassischen Weimar an einer<br />

neuen Philosophie bosselte, seine Kritik über Empirismus und Vernunft ausgoß, <strong>das</strong> Handwerk, die<br />

Natur und den Übermenschen pries, so hatte in England bereits in den sechziger Jahren der<br />

Phantasyautor und utopische Sozialist William Morris mit der Bekämpfung der "kulturzerstörenden"<br />

Einflüsse der Industrialisierung begonnen. Er belebte alte Handwerkstechniken, um wieder zur<br />

mittelalterlichen Produktionsweise zurückzufinden. Neben seiner handwerklichen Tätigkeit lernte er<br />

<strong>das</strong> Isländische und übersetzte Heldensagen ins Englische. Bei der Produktion seiner Wandteppiche<br />

39


setzte er auf die ornamentale Fülle mittelalterlicher Vorbilder. Morris wird als Vater des Jugendstils<br />

verehrt. 37<br />

Nietzsche und Morris waren die beiden wichtigsten Ideengeber des Jugendstils, der eine schöpfte<br />

aus der griechischen und vorchristlichen Antike, der andere aus isländischen Germanenreichen.<br />

Nietzsches Werk wurde in Weimar verwaltet, Morris Phantasy-Kunsthandwerk war eine Grundlage für<br />

den Jugendstil und <strong>das</strong> Bauhaus in Weimar. In Weimar kreuzten sich die Wege in die vorchristliche<br />

Zeit.<br />

Die Republik wird wegen der Tagung der Nationalversammlung in Weimar nach der Stadt der<br />

deutschen <strong>Klassik</strong> benannt. Diese Deutung ist jedoch oberflächlich. Die Benennung der Republik als<br />

Weimarer Republik ist in ihrer tieferen Schicht mit Anspielungen und Bedeutungen belegt, da die<br />

kulturellen Gegenkräfte der Demokratie von Friedrich Nietzsche, Henry Graf Kessler und Walter<br />

Gropius im nachklassischen Weimar organisiert wurden.<br />

Die regionale Verteilung der Jugendstilbauten in Deutschland ist aufschlußreich. Zentren waren<br />

kleinere Residenzstädte wie Weimar und Darmstadt, wo die Großherzöge viel Geld in<br />

Reformexperimente pumpten. Wo <strong>das</strong> nicht der Fall war, Berlin blieb unter dem Einfluß des Kaisers<br />

bis 1918 dem Neobarock verpflichtet, erblühte auch <strong>das</strong> florale Dekor des Jugendstils nicht so üppig.<br />

In Berlin mit damals 4 Mio. Einwohnern gab es geringfügig mehr Jugendstilbauten, wie in Weimar mit<br />

40.000 Einwohnern. Es handelte sich im wesentlichen um die Staatskunst kleiner mittel- und<br />

süddeutscher Staaten.<br />

Das erklärt auch den plötzlichen Rückgang des gebauten Jugendstils. Mit dem Beginn des Weltkriegs<br />

wurde <strong>das</strong> Baugeld knapp, nach dem Krieg hatten die gekrönten Förderer abgedankt. Nur in<br />

Einzelfällen wie beim monströsen Hamburger Chilehaus war nach dem Krieg noch genug Baugeld<br />

vorhanden. Und in abgelegenen Landstrichen wurden nach dem Weltkrieg noch bescheidene<br />

Jugendstilbauten errichtet: meistens von Bauern und Dorflehrern. Das Bildungsbürgertum wandte sich<br />

unter Sparzwang dem Bauhaus und der Heimatkunst zu.<br />

Die nietzscheanische Kulturrevolution hatte <strong>das</strong> Bildungsbürgertum des Spätkaiserreichs<br />

unterwandert und radikalisiert, antidemokratische Affekte vor und nach dem Ersten Weltkrieg<br />

beweisen <strong>das</strong>: "Der Krieg ist groß und wunderbar" faselte 1914 selbst der sonst so nüchterne Max<br />

Weber, um sich wenige Wochen später wieder zu fangen. Ernst Ludwig, Großherzog von Hessen<br />

schrieb:<br />

"Es war ein unbeschreibliches Gefühl, diese singenden jungen Männerstimmen durch die Nacht zu<br />

hören und dabei zu wissen, sie ziehen ja alle in den Tod."<br />

Georg Simmel erwartete <strong>das</strong> Weichen des Mammonismus zugunsten einer neuen Gemeinschaft.<br />

Friedrich Naumann, Georg Heym, Robert Musil stimmten ein. Thomas Mann litt wie so viele unter dem<br />

manischen spätkaiserzeilichen Waschzwang:<br />

"Krieg!, Es war eine Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung."<br />

"Was die Dichter begeisterte, war der Krieg an sich selbst, als Heimsuchung, als sittliche Not. Es<br />

war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der<br />

Bereitschaft zur tiefsten Prüfung - einer Bereitschaft, einem Radikalismus der Entschlossenheit,<br />

wie sie die Geschichte der Völker vielleicht bisher nicht kannte. Aller innerer Haß, den der Komfort<br />

des Friedens hatte giftig werden lassen - wo war er nun?" (...) "Wie hätte der ...Soldat im Künstler<br />

nicht Gott loben sollen für den Zusammenbruch einer Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt<br />

hatte."<br />

Mann bekannte sich ausdrücklich zum „Gedankendienst mit der Waffe“, um <strong>das</strong> deutsche Wesen zu<br />

verteidigen. Tausende Federkiele begannen Tinte zu schlürfen, und auf unschuldigem Papier dunkle<br />

Spuren zu hinterlassen wie der von Thomas Mann. Der Schriftsteller Rudolf Burchardt sah gar ähnlich<br />

wie Gerhard Schröder den Kampf um die Verwirklichung des deutschen Wesens und der deutschen<br />

Mission ausgebrochen. 38 Friedrich Gundolf aus dem George-Kreis lobte, <strong>das</strong>s die Deutschen endlich<br />

ein Volk geworden seien, „<strong>das</strong> einzig wahrhaftige, echte, männliche (Gundolf hatte kein Interesse an<br />

37 www.bernd-rothe.de/autoren/william_morris.htm<br />

38 H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C.H. Beck, München 2003, S. 14 ff.<br />

40


Frauen), sachliche.“ Diese Land voller Helden habe es mit Gegnern zu tun, die voller Feigheit, Lug<br />

und Gemeinheit steckten. 39 Gustav Sack schrieb in seinem Roman „Der verbummelte Student“:<br />

„Käme der Krieg!...Volk gegen Volk, Land gegen Land, ein Stern nichts denn ein tobendes<br />

Gewitterfeld, eine <strong>Menschen</strong>dämmerung, ein jauchzendes Vernichten-! o, ob dann nicht ein<br />

Höheres -.“<br />

Franz Marc schrieb am 26. September 1914 an seinen ausländischen Freund Wassily Kandinsky vom<br />

Blauen Reiter:<br />

„Der Stall des Augias, <strong>das</strong> alte Europa, konnte nur so gereinigt werden, oder gibt es einen einzigen<br />

<strong>Menschen</strong>, der diesen Krieg ungeschehen wünscht?“ 40<br />

Alfons Paquet deutete Anfang 1914 in seinem im „<strong>Neue</strong>n Merkur“, Heft 1 abgedruckten Aufsatz „Der<br />

Kaisergedanke“ die gewünschte Reinigungskatastrope als Flurbereinigung aus: Das Erlöschen der<br />

römischen Kaiserwürde 1806 habe einen rasenden Wettbewerb der europäischen Imperialismen<br />

ausgelöst, einen anarchischen, kostspieligen und entsittigenden Zustand, der nur durch künftige<br />

Kriege oder auf dem Wege einer großen Flurbereinigung zu lösen sein werde. In der Frankfurter<br />

Zeitung vom 27.08.1914 betonte er, <strong>das</strong>s wir bereit seien mit dem blutroten Stift eine neue Weltkarte<br />

zu zeichnen und <strong>das</strong>s Deutschland bereits den <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> in seinem Schoß trage.<br />

„Vielleicht ist der Gedanke der Verwaltung der Erde dieser Gedanke und gibt dem Zeitalter der<br />

Weltwirtschaft, in <strong>das</strong> wir statt mit Freudenfesten und Verbrüderungen mit blutigen Kämpfen<br />

eingetreten sind, seinen kosmischen Sinn.“<br />

Der Nobelpreisträger Rudolf Eucken verstand den Weltkrieg als „Weltbewährungsprobe deutscher<br />

Innerlichkeit“. Die Vernichtung der deutschen Art würde die Weltgeschichte ihres tiefsten Sinnes<br />

berauben. Der jugendbewegte Paul Natorp, einer der Organisatoren des Freideutschen Jugendtages<br />

von 1913 auf dem Hohen Meißner verstand den Krieg als Aufbruch der Jugend. Der Sinn des<br />

Völkermordens sollte ein idealer sein:<br />

„So möchte der Deutsche allerdings gerne die Welt erobern, doch nicht für sich, sondern für die<br />

Menschheit; nicht um etwas dadurch zu gewinnen, sondern um sich zu verschenken.“ 41<br />

Johannes R. Becher peitschte sich buchstäblich auf Biegen und Brechen durch ungelenkes<br />

verwildertes Wortgestrüpp:<br />

O <strong>das</strong>s doch ein Brand unsre Häupter bewölb<br />

Es rascheln gewitternd Horizonte fahlgelb (...)<br />

Wir horchen auf wilde Trompetdonner Stöße<br />

Und wünschten herbei einen großen Weltkrieg. (...)<br />

Die Nerven gepeitschet, die Welt wird zu enge.<br />

Laßt schlagen uns durch Gestrüpp und Gedränge!“<br />

Am 8. August schrieb der bekannte und umstrittene Publizist Maximilian Harden in seinem Periodikum<br />

„Zukunft“:<br />

„Siegen wollen wir. Siegen müssen wir. Cecil Rhodes hat einem Splitterrichter in die Käsfratze<br />

gebrüllt: <br />

Hämmert in alle Herzen den Satz. Klebet ihn alle Mauern. An die Amtshäuser und Straßenecken<br />

der Städte, der Dörfer auf blutrothem Papier. Schreibet darunter: Das Schwert heraus! Der Fuß<br />

frecher Feinde schändet unseren Boden. Schlagt sie tot! Das Weltgericht fragt euch nach den<br />

Gründen nicht!“<br />

Gottes Weltgericht fragt natürlich nach den Gründen für einen Krieg. Der Glaube an ein atheistisches<br />

Weltgericht, welchem von kriegswütigen Publizisten präsidiert würde, dessen oberste Instanz vielleicht<br />

Herr Harden wäre, war in der Vorkriegszeit sehr verbreitet, besonders natürlich unter Zeitungszaren.<br />

39 zitiert in Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Fischer Taschenbuch Verlag 2004, S. 30<br />

40 Dietmar Elger: Dadaismus, Taschen, S 8f.<br />

41 zitiert in: Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 55<br />

41


Der Ausspruch „Schlagt sie tot! Das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht!“, stammte<br />

originär übrigens von einem preußischen Selbstmörder, Heinrich von Kleist.<br />

Gerhard Hauptmann faselte unter der Überschrift „Komm, wir wollen sterben gehn“:<br />

Diesen Leib, den halt´ ich hin<br />

Flintenkugeln und Granaten:<br />

Eh´ ich nicht durchlöchert bin,<br />

kann der Feldzug nicht geraten.<br />

Ähnlich todessüchtig reimte der Arbeiterdichter Heinrich Lersch im Gedicht Soldatenabschied:<br />

Nun lebet wohl, ihr <strong>Menschen</strong>, lebet wohl!<br />

Und wenn wir für euch und unsre Zukunft fallen,<br />

Soll als letzter Gruß zu euch herüberhallen:<br />

Nun lebet wohl, ihr <strong>Menschen</strong>, lebet wohl!<br />

Ein freier Deutscher kennt kein kaltes Müssen:<br />

Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!<br />

Ob Deutschland wirklich leben müsse, bezweifelte der schwule Wanderer zwischen den Welten,<br />

Walter Flex, der mit gezogenem Säbel auf einem herrenlosen Kosakenpferd seiner Einheit vorausritt,<br />

bis eine Kugel ihn traf:<br />

Wie es dem Manne geziemt, in kräftiger Lebensmitte zuweilen an den Tod zu denken, so mag er<br />

auch in beschaulicher Stunde <strong>das</strong> sichere Ende seines Vaterlandes ins Auge zu fassen, damit er<br />

die Gegenwart desselben um so inbrünstiger liebe; denn alles ist vergänglich und dem Wechsel<br />

unterworfen auf dieser Erde. Oder sind nicht viel größere Nationen untergegangen, als wir sind.<br />

Oder wollt Ihr einst ein Dasein dahinschleppen wie Der ewige Jude, der nicht sterben kann,<br />

dienstbar allen neu aufgeschlossenen Völkern, er der die Ägypter, die Griechen und Römer<br />

begraben hat?<br />

Nein! Ein Volk welches weiß, <strong>das</strong>s es einst nicht mehr sein wird, nützt seine Tage umso<br />

lebendiger, lebt um so länger und hinterlässt ein rühmliches Gedächtnis; denn es wird sich keine<br />

Ruhe gönnen, bis es die Fähigkeiten, die in ihm liegen, ans Licht und zur Geltung gebracht hat,<br />

gleich einem rastlosen Manne, der sein Haus bestellt, ehe denn er dahinscheidet......Der<br />

Gedanke an den Heldentod eines Volkes ist nicht schrecklicher als der Schwerttod eines<br />

<strong>Menschen</strong>. Nur <strong>das</strong> Sterben ist hässlich bei <strong>Menschen</strong> und Völkern.<br />

Aber wenn ein Mann den tödlichen Schuß, der ihm die Eingeweide zerreißt, empfangen hat, dann<br />

soll keiner mehr nach ihm hinsehen. Denn was dann kommt, ist hässlich und gehört nicht mehr zu<br />

ihm. Das Große und Schöne, <strong>das</strong> heldische Leben ist vorüber. So muß es auch sein, wenn ein<br />

Volk seinen Todesstreich empfangen hat, - was danach kommt, darf niemand mehr seinem Leben<br />

zurechnen, es ist kein Teil davon....<br />

Alles was 1945 im Führerbunker über Deutschland noch einmal gedacht wurde, war schon längst<br />

gedacht. Adolf Hitler war noch politischer Quark im Schaufenster, er war noch Gefreiter im<br />

schlammigen Schützengraben, als Flex bereits über <strong>das</strong> Ende Deutschlands philosophierte. 42 Was auf<br />

Seite 7 des Wanderers steht, traf dennoch gerade auf Hitler zu. Dieser nahm später nur den Platz ein,<br />

den ihm die Dichter und Denker angewiesen hatten:<br />

Nur wer beherzt und bescheiden die ganze Armseligkeit der Vielen, ihre Freuden und Gefahren<br />

mitträgt, Hunger und Durst, Frost und Schlaflosigkeit, Schmutz und Ungeziefer, Gefahr und<br />

Krankheit leidet, nur dem erschließt <strong>das</strong> Volk seine heimlichen Kammern, seine Rumpelkammern<br />

und seine Schatzkammern. Wer mit hellen und gütigen Augen durch diese Kammern<br />

hindurchgegangen ist, der ist wohl berufen, unter die Führer des Volks zu treten.<br />

Richard Dehmel, nach dem man heute noch Straßen benennt, goß Nietzsches Gedanken, <strong>das</strong>s nur<br />

Blut Geist ist, in folgendes Kriegsgedicht:<br />

42 Julius Streicher 1945 vor dem Kriegsverbrechertribunal: „...jetzt erkenne ich, <strong>das</strong>s die Juden Entschlossenheit<br />

und Mut haben. Sie werden noch die Welt beherrschen, denken sie an mein Wort! Und ich wäre froh, wenn ich<br />

mithelfen könnte, sie zum Sieg zu führen, weil sie stark und zäh sind.“ Das war vom Standpunkt der<br />

Jugendbewegung konsequent. Nietzsche hatte ja nicht behauptet, <strong>das</strong>s Deutsche die Übermenschen seien, im<br />

Gegenteil hatte er den Juden den Willen zur Macht bescheinigt.<br />

42


Gläubig greifen wir zur Wehre<br />

Für den Geist in unserm Blut;<br />

Volk, tritt ein für deine Ehre,<br />

Mensch, dein Glück heißt Opfermut –<br />

Dann kommt der Sieg,<br />

Der herrliche Sieg!<br />

Ein andermal sah Dehmel Deutschland als moralischen Weltpolizisten:<br />

Der Kaiser, der die Flotte schuf,<br />

der steht mit Gott im Bunde,<br />

denn <strong>das</strong> ist Deutschlands Weltberuf:<br />

es duckt die Teufelshunde.<br />

Richard Dehmel, Arnold Zweig, Herbert Eulenburg, Victor Klemperer, Sammy Gronemann und der<br />

Brücke-Kommunarde Karl Schmidt-Rottluff waren in der Presse- und Propaganda-Abteilung des<br />

Landes Ober Ost eingespannt. Ober Ost war ein militärisches Verwaltungsgebiet unter Leitung der<br />

Generäle Ludendorff und Hindenburg, <strong>das</strong> aus Teilen von Polen, Litauen, Lettland und Weißrußland<br />

bestand. Gronemann schuf ein siebensprachiges Wörterbuch für <strong>das</strong> Herdersche Völkerpanorama<br />

zwischen der Düna und den wolhynischen Sümpfen. Er schrieb rückblickend nach dem Krieg:<br />

„In den ersten Kriegsjahren aber herrschte eitel Jubel und Begeisterung ob der Entdeckung der<br />

Ostjuden als der Wahrer deutscher Art und Sprache. Es entstanden begeisterte Lobgesänge auf<br />

ihre Treue, und eine Reihe deutscher Literaten, beileibe nicht nur Juden, bewiesen in tiefgründigen<br />

Abhandlungen, <strong>das</strong>s die Ostjuden eigentlich echte und rechte Deutsche seien, Träger deutscher<br />

Kultur, die in unerhörter Zähigkeit und Anhänglichkeit ihr germanisches Volkstum durch die<br />

Jahrhunderte slawischer Unterdrückung gewahrt hätten.“ 43<br />

In Wirklichkeit dienten alle oben genannten Künstler objektiv der Kriegspropaganda, die auf die<br />

Zersetzung des russischen Reiches durch Entfachung nationaler Leidenschaften im größten<br />

Völkergefängnis der Welt gerichtet war. Koenen schreibt von „verlogener, aber ernst gemeinter<br />

deutscher Kultivierungslyrik“. Arnold Zweig´s lange nach dem Weltkrieg geschriebener Roman „Der<br />

Streit um den Sergeanten Grischa“ war ein nostalgischer Rückblick auf Ober Ost, wie viele<br />

Propagandisten konnte er sich der Faszination des morastigen Multikulti-Reservats nicht entziehen.<br />

Böse <strong>Menschen</strong> kamen in Zweig´s Roman kaum vor, der vermeintliche russische Spion Grischa<br />

wurde nicht Opfer nationaler Ressentiments, sondern kam als Kollateralschaden einer lahmenden<br />

Bürokratie und Nachrichtenübermittlung ums Leben.<br />

Wie in Berlin, so in Wien: Das Kriegshilfscomitee Bildender Künstler hatte <strong>das</strong> Ziel, die künstlerische<br />

Qualität der Propagandamittel zu verbessern. Zu den Mitgliedern zählten Persönlichkeiten wie Egon<br />

Schiele und Alfred Kubin. Die Literarische Gruppe im Wiener Kriegsarchiv hatte die Aufgabe, aus<br />

Kriegsberichten propagandistische Artikel über "Kriegshelden" zu verfassen. Zu den Mitgliedern<br />

zählten Stefan Zweig, Rainer Maria Rilke, Alfred Polgar und Franz Werfel. Weitere Schriftsteller waren<br />

Schreiberlinge des Kriegspressequartiers, z.B. Egon Erwin Kisch, Robert Musil und Hugo von<br />

Hofmannsthal.<br />

Alfred Henschke, genannt Klabund und der Zeichner Richard Seewald gaben <strong>das</strong> Kleine Bilderbuch<br />

vom Krieg heraus. Klabund wurde wegen seiner Tuberkulose als Kriegsfreiwilliger abgelehnt und<br />

musste sich beim Kriegstraktätchen schreiben <strong>das</strong> reformistische Mütchen kühlen. "Köpfe sausen und<br />

tote Münder schrein", reimte er, und:<br />

Ich will mein Herz mit Haß und Vernichtung tränken<br />

Ich will nur einmal einen englischen Kreuzer versenken<br />

Das war ihm jedoch nicht blutig genug. Noch ein Gedicht:<br />

Riesenvögel fielen über Land<br />

Schwarz mit gelben Schnäbeln,<br />

43 zitiert in: Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 73f.<br />

43


Die sie gleich gekrümmten Säbeln<br />

<strong>Menschen</strong> in den Leib gerannt.<br />

Manche hackten sie wie Brote.<br />

Wehrlos lächelnd dem Verderben<br />

Sah man sanft <strong>das</strong> Abendrote<br />

Sich mit seinem Blute färben.<br />

In den Wettbewerb um <strong>das</strong> englandfeindlichste Gedicht trat Ernst Lissauer in den<br />

Wettbewerb mit Klabund, auch wenn der Reim vor primitivem antikapitalistischem Hass<br />

holperte:<br />

Wir wollen nicht lassen von unserem Haß,<br />

Wir haben alle nur einen Haß,<br />

Wir lieben vereint, wir hassen vereint,<br />

Wir haben alle nur einen Feind: England!<br />

Während England als Reibfläche hochattraktiv war, kam der Haß gegen Frankreich manches Mal<br />

etwas zu kurz.<br />

Was Klabund und Lissauer für England empfanden, <strong>das</strong> wünschte der Theaterkritiker Alfred Kerr dem<br />

russischen Reiche:<br />

Ist Dein Land, Immanuel Kant,<br />

Von den Skythen überrannt?...<br />

Hunde drangen in <strong>das</strong> Haus:<br />

Peitscht sie raus!...<br />

Dürfen uns nicht unterkriegen,<br />

Peitscht sie, daß die Lappen fliegen,<br />

Zarendreck, Barbarendreck -<br />

Peitscht sie weg! Peitscht sie weg!<br />

Heiliges Rußland! Wenn es doch gelänge -<br />

und du kriegtest die verdiente Senge! -<br />

Logisches Vernunftgebot,<br />

scharfe Dresche tut dir not!<br />

Alfred Kerrs Reime gaben die Reibefläche für den Publizisten Karl Krauss ab, der die verlogene<br />

Wandlung vom Kriegstreiber zum hinterher von nichts wissenden Pazifisten am liebsten eben an<br />

Alfred Kerr illustrierte. 1928 klagte Alfred Kerr gegen Karl Kraus ergebnislos und widmete ihm<br />

zusätzlich wiederum ein Gedicht:<br />

Krätzerich, in Blättern lebend,<br />

Nistend, mistend, „ausschlag“-gebend.<br />

Armer Möchtegern! Er schreit:<br />

„Bin ich ä Perseenlichkeit…!“<br />

Alfons Petzold gab 1915 in seinem Gedichtbändchen „Volk, mein Volk - Gedichte der Kriegszeit“,<br />

gedruckt in Jena bei Eugen Diederichs, zu, <strong>das</strong>s der Krieg eine Konsequenz der expressionistischen<br />

Dichterei sei:<br />

"Es war ein unvergeßlicher Triumph des Dichterischen über ein ganzes Volk, jener Anfang des<br />

Augustmonats mit den Kriegserklärungen. Auch der stumpfste der <strong>Menschen</strong> war dem Weinen wie<br />

dem Jauchzen nahe in einer erschütterten Welt...."<br />

Auch um <strong>das</strong> Theater machte die Kriegsbegeisterung keinen Bogen. Ludwig Seelig forderte in seiner<br />

1916 vom Allgemeinen Deutschen Chorsänger-Verband herausgegebenen Schrift „Krieg und<br />

Theater“, die "sittlichen und geistigen Kräfte des Krieges" sollten "in den Frieden hinüber gerettet"<br />

werden. Krieg veredele den <strong>Menschen</strong>.<br />

44


Kreaturen, denen man es entsprechend ihrer Nachkriegssozialisation nicht zugetraut hätte, stimmten<br />

in den Chor der Kriegsbegeisterten ein: Bertold Brecht vermutete, <strong>das</strong>s Großes gegeben werden<br />

müsse, um Großes zu erlangen, deutsche Ehre und Würde seien aller Opfer wert.<br />

Robert Musil freute sich in einem Essay 1914 über die Tugenden, die nun endlich wieder wichtig<br />

waren - Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit. Alfred Döblin, in einem Artikel für die<br />

„<strong>Neue</strong> Rundschau”, verfluchte noch im Februar 1918 alle, die „<strong>das</strong> Wort Frieden” in den Mund nehmen<br />

sollten. 44<br />

Käthe Kollwitz machte ihren Stolz auf den Heldentod ihres Sohnes öffentlich und Franz Marc gelüstete<br />

es, seinen französischen Malerfreund Robert Delaunay vor sein Bajonett zu bekommen. Seine Mutter<br />

war Französin, was bewies, <strong>das</strong>s nicht die rassische Sprache des Bluts ihr Recht einforderte, sondern<br />

<strong>das</strong>s er an den Gebetsmühlen der Jugendbewegung sein bißchen Verstand eingebüßt hatte. Und<br />

konnten sie´s nicht schildern, so brachtens sie´s in Bildern. Der spätere Schnitzer von brutalistischen<br />

Engeln, Ernst Barlach und sein Secessionsfreund Max Liebermann illustrierten eifrig Kriegsflugblätter.<br />

Diese Künstlerflugblätter, begründet und herausgegeben von Paul Cassirer und Alfred Gold<br />

offenbaren <strong>das</strong> who is who der Deutschen Secession: Insgesamt erschienen die Nummern 1-64/65<br />

und ein Sonderheft mit Kriegsbildern von Max Oppenheimer. Zu den fleißigen Illustratoren gehörten<br />

Hans Baluschek, Ernst Barlach, J. Bato, Max Beckmann, P. Behrens, Walter Bondy, Büttner, Ludwig<br />

Danziger, Friedrich Feigl, V. Ferenczy, August Gaul, W. Geiger, Greve-Lindau, Großmann, Otto<br />

Hamel, Franz Heckendorf, Hettner, Dora Hitz, Heinrich und Ulrich Hübner, Otto Hundt, W. Jaeckel,<br />

Heinrich Kaiser, A. Kampf, Georg Kolbe, Alexander Kolde, Käthe Kollwitz, Max Liebermann, M. May,<br />

Hans Meid, J. Arpad Murmann, Oskar Nerlinger, Max Oppenheimer, Oesterle, Carl Olof Petersen, F.<br />

Rhein, Waldemar Rösler, Kurt Schäfer, Slevogt, O. Starke, Helmuth Stockmann, Erich Thum, F.<br />

Tischler, A. u. W. Trübner, Max Unold, Wilhelm Wagner, Karl Walser, E. R. Weiß, Hedwig Weiß und<br />

andere.<br />

Im Oktober 1914 begab sich Max Slevogt freiwillig als Kriegsmaler an die Westfront; nur drei Wochen<br />

später kehrte er erschüttert zurück.<br />

Wer nicht reimen konnte, der schuf Plastiken, und wer nicht bildhauen konnte, der malte: Franz von<br />

Stuck 1914 formte „Feinde von allen Seiten“. Max Klinger gestaltete die Todesanzeigen 1914.<br />

Es gab auch harmlose Fälle: Der Jugendstilmaler Adolf Münzer, der vordem für die Zeitschrift<br />

„Jugend“ blumenumkränzte Schönheiten porträtiert hatte, warb für harmlose Liebesgaben:<br />

Frank Wedekind zerstreute bereits 1892 die Besorgnis, <strong>das</strong>s man bei den Soldaten die köstlichen<br />

kubisch-gepreßten bzw. in Fläschchen gebannten Extrakte der Firma Maggi werde missen müssen.<br />

Maggi´s Kriegsverlängerungssuppen brachte er wie folgt an den Mann:<br />

Vater, mein Vater!<br />

Ich werde nicht Soldat,<br />

Dieweil man bei der Infantrie<br />

Nicht Maggi-Suppe hat.<br />

„Söhnchen, mein Söhnchen!<br />

Kommst Du erst zu den Truppen,<br />

So isst man dort auch längst nur Maggi´s<br />

Fleischkonservensuppen.“<br />

Die lesbische Claire Waldoff sang 1912: „Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren, öffnen die<br />

Mädchen die Fenster und die Türen“ und im Krieg noch zahlreiche Soldatenlieder.<br />

Rilke besang gleich im August 1914 den Kriegsgott und die Leiden, die er einer wartenden Welt<br />

bescheren würde. Am Kriegsbeginn verlangten viele Literaten nach jener Bestrafung, die sie auch<br />

bekamen, ohne später eine eigene Schuld einzugestehen oder auch nur einzuräumen. Nach vier<br />

Kriegsjahren wurden die Schuldigen gesucht und gefunden: Krupp, Stinnes und Thyssen. Die<br />

Kriegstreiber schrien fanatisch „Haltet den Dieb!“ und stahlen sich aus der Verantwortung. Überall auf<br />

44 Die Dichter und der Krieg, Von Michael Jürgs, FAZ.net<br />

45


der Welt verdient die Rüstungsindustrie im Frieden gutes Geld. Noch nie hat eine Waffenschmiede in<br />

einem langdauernden Krieg die Gewinne des Vorkriegs übertreffen können. In jedem auch nur etwas<br />

längerem Krieg wird <strong>das</strong> Geld knapp und die Waffenverkäufer werden gedrückt. Es wurde bei den<br />

Recherchen zu diesem Buch auch nach bellizistischen Zitaten von Krupp und Thyssen aus der<br />

Vorkriegszeit gesucht. Es wurde nichts gefunden.<br />

Hugo Stinnes äußerte sich 1915 gegenüber dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg so:<br />

"Das ganze Volk [...] ist opferwillig bis zum Äußersten. Es erwartet aber, <strong>das</strong>s der Preis des Sieges<br />

[...] dann auch den blutigen Opfern, die gebracht sind, und den wirtschaftlichen Schädigungen, die<br />

ertragen wurden [...] entspricht. Es muss bei Friedensschluss unter allen Umständen [...] dahin<br />

gewirkt werden, <strong>das</strong>s der zu erwartenden außerordentlichen Steuerlast, mit vielen Milliarden an<br />

jährlichen Zinsen, auch Errungenschaften gegenüberstehen, die die Zukunft unseres Vaterlandes<br />

militärisch, politisch und wirtschaftlich sichern. Gegenüber dem Abgeordneten Ludwig Quidde<br />

meinte er: "Ich bin vorm August 1914 der aufrichtigste Anhänger einer friedlichen Verständigung<br />

ohne jede Eroberungswünsche [...] gewesen, würde mich aber heute [... eines] verbrecherischen<br />

Leichtsinns schuldig halten sofern ich nicht, wenn erreichbar, für eine Erweiterung der Grenzen im<br />

Ausmaße der von den wirtschaftlichen Verbänden gekennzeichneten Grenzen einträte". 45<br />

Stinnes sah die Nachteile des Krieges klar und deutlich: Hohe Staatsverschuldung, hohe Steuern,<br />

hohe Zinsen und wirtschaftliche Schäden. Darum gehörte er vor dem Krieg zu den wenigen Pazifisten.<br />

Hans-Ulrich Wehler diagnostizierte in seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" die<br />

Kriegsbegeisterung vor allem im Bildungsbürgertum. In bäuerlichen Schichten und in der<br />

Arbeiterschaft sah er die Alltagsfragen nach der nächsten Ernte, nach der Zukunft des Ernährers und<br />

allgemeine Alltagssorgen überwiegen. Das erscheint logisch, da die Kulturrevolution der<br />

Jahrhundertwende die unteren Gesellschaftsschichten erst Ende der zwanziger Jahre erreichen sollte.<br />

Der Zivilisationsekel, der Überdruß am Wohlstand und die Kritik am Mammon sind auch heute ein<br />

bildungsbürgerliches Privileg, <strong>das</strong> sich die Unterschichten nicht leisten wollen und können.<br />

Die Reformsandalen befanden sich auf dem Kriegspfad. Vor dem Heldenblut wurde zunächst<br />

unschuldige Tinte in Strömen vergossen. Frank Möbus schätzt, <strong>das</strong>s alleine in Deutschland in der<br />

zweiten Jahreshälfte 1914 etwa 1,5 Millionen Kriegsgedichte gereimt worden sind, wovon etwa<br />

100.000 veröffentlicht wurden. Die obige Auswahl zeigt, <strong>das</strong>s fast alle von der nietzscheanischen<br />

Gewaltsreligion unterlagert und mit Gedanken der Jugendbewegung versetzt sind.<br />

Im Oktober 1914 verfaßten der Zweite Bürgermeister von Berlin, Georg Reicke, der Dramatiker<br />

Hermann Sudermann und der Lustspielschreiber Ludwig Fulda einen "An die Kulturwelt" gerichtetes<br />

"Manifest der 93". Der sogenannten „Kulturwelt“ wurde mitgeteilt, <strong>das</strong>s es nicht wahr sei, daß<br />

Deutschland diesen Krieg verschuldet hat.<br />

„Sollten in diesem furchtbaren Kriege Kunstwerke zerstört worden sein oder noch zerstört werden,<br />

so würde es jeder Deutsche beklagen. Aber so wenig wie wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend<br />

jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit<br />

einer deutschen Niederlage zu erkaufen. (...) Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren<br />

sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist. (...) Deutsches Heer und deutsches<br />

Volk sind eins. (...) Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts<br />

mißachtet ... Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten<br />

<strong>das</strong> Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt <strong>das</strong> schmachvolle Schauspiel<br />

bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen."<br />

Gerhart Hauptmann, Engelbert Humperdinck, Max Liebermann, Max Reinhardt, Friedrich Naumann,<br />

Max Planck, Paul Ehrlich und weitere Nobelpreisträger unterzeichneten den reformistischen und<br />

rassistischen Unfug, der in allen großen deutschen Zeitungen in reißerischer Aufmachung<br />

veröffentlicht wurde.<br />

Letzlich musste auch die Wirtschaftswissenschaft ihren Beitrag zur Begründung des deutschen<br />

Anspruchs auf den Sieg herhalten. Der sozialistisch-reformistische Wirtschaftswissenschaftler Werner<br />

45 Gerald D. Feldman: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870 - 1924, München (C.H. Beck) 1998, S.<br />

389<br />

46


Sombart stilisierte den Weltkrieg unter der griffigen Formel „Händler gegen Helden“ zum<br />

Befreiungskrieg gegen den weltbeherrschenden britischen Freihandelskapitalismus. Deutschland sei<br />

der letzte Damm gegen die Woge des Kommerzialismus und den zersetzenden Geist des<br />

Mammonismus. Die mächtige Pflugschar des Krieges, die <strong>das</strong> fruchtbare Erdreich aus den Tiefen der<br />

Seele wieder nach oben befördere, erweise die Deutschen als ein junges Volk. Der Krieg sei<br />

Entscheidungskampf zwischen westeuropäischer Zivilisation und deutschem Barbarentum.<br />

Im bellizistischen Biotop der Reformbewegung war es nach dem beendeten Waffengang relativ leicht,<br />

eine Einstufung als Pazifist zu ergattern. Hermann Hesse erlangte diese Aura sehr wohlfeil: Er<br />

meldete sich unmittelbar nach Kriegsausbruch als Freiwilliger und wurde wegen einem Augenleiden<br />

ausgemustert. Er wurde der deutschen Botschaft in Bern für den Dienst bei der deutschen<br />

Kriegsgefangenenfürsorge in Bern zugewiesen. In diesem Rahmen sammelte und versendete Hesse<br />

Bücher für deutsche Kriegsgefangene. Er wurde Mitherausgeber der „Deutschen Interniertenzeitung“<br />

und Herausgeber des „Sonntagsboten für die deutschen Kriegsgefangenen“. Knapp zwei Monate<br />

nach Kriegsbeginn veröffentlichte er am 3.11.1914 in der NZZ einen Artikel mit der headline „Oh<br />

Freunde, nicht diese Töne“:<br />

„Wohlverstanden, es geht nicht gegen die vaterländische Gesinnung und die Liebe zum eigenen<br />

Volkstum. Ich bin der letzte, der in dieser Zeit sein Vaterland verleugnen möchte, und es würde mir<br />

nicht einfallen, einen Soldaten vom Erfüllen seiner Pflichten abzuhalten. Da man jetzt am Schießen<br />

ist, soll geschossen werden – aber nicht des Schießens und der verabscheuungswürdigen Feinde<br />

wegen, sondern um so bald wie möglich eine höhere und bessere Arbeit wieder aufzunehmen.“<br />

Er war manifest, dieser Glauben, <strong>das</strong>s nach dem Krieg alles besser sein würde. Hesse war kein<br />

Pazifist, sondern eher der Werwolf im Schafspelz. Hermann Hesse schrieb „Der Künstler an die<br />

Krieger”:<br />

„Die ihr draußen in den Schlachten standet / Seid mir Brüder nun und mir geliebt”. 46<br />

„Mein Vorschlag, nach Friedensschluß die Kriegsliteraten einzufangen und vor den Invaliden<br />

auszupeitschen, ist unerfüllt geblieben“ beklagte Karl Kraus nach Kriegsende.<br />

Reformistische Einflüsse in der Literatur der Spätkaiserzeit<br />

Sei nicht mehr die weiche Flöte,<br />

Das idyllische Gemüt –<br />

Sei des Vaterlands Posaune<br />

Sei Kanone, sei Kartaune,<br />

Blase, schmettre, donnre, töte!<br />

Heinrich Heine, 1844<br />

Jedem Krieg gehen Gedanken und Worte voraus. Bevor geschossen wird, wird gedacht, gedichtet<br />

und geschrieben, zum Schluß wird <strong>das</strong> Geschriebene vertont und gesungen. Obige Strophe von<br />

Heine aus dem Gedicht „Die Tendenz“ von 1844 war ironisch gemeint und bezog sich auf<br />

nationalpatriotische Gedichte wie „Der deutsche Rhein“, „Die Wacht am Rhein“ und „Das Lied vom<br />

Hasse“.<br />

„Wohlauf, wohlauf, über Berg und Fluß<br />

Dem Morgenrot entgegen,<br />

Dem treuen Weib den letzten Kuß,<br />

Und dann zum treuen Degen!<br />

Bis unsre Hand in Asche stiebt,<br />

Soll sie vom Schwert nicht lassen;<br />

Wir haben lang genug geliebt<br />

Und wollen endlich hassen!“<br />

So dichtete Georg Herwegh 1841 gegen die Tyrannen, so wie andere im gleichen Stile poetisch über<br />

die Franzosen herfielen. Heinrich Heine machte sich ganz offensichtlich lustig über jene patriotische<br />

Gedanken und Reime, vielleicht mit einer resignativen Ahnung von der Macht des Worts. Die<br />

46 Die Dichter und der Krieg, Von Michael Jürgs, FAZ.net<br />

47


polternden und militanten Vormärzreime waren nur die ersten Zeichen für <strong>das</strong> Ende der<br />

biedermeierlichen Ruhe.<br />

Gleichzeitig entwickelte sich besonders unter dem Einfluß von Arthur Schopenhauer (1788 bis 1860)<br />

die literarisch-philosophische Dekadenz.<br />

„Die lebensmüde, oft lebensfeindliche Untergangsstimmung, die Faszination durch den Verfall in<br />

allen Formen, führten zur Vorliebe für Krankheiten, krankhafte Zustände sowie für den Tod. Die<br />

charakteristischen Figuren der dekadenten Literatur zeichnen sich denn auch durch eine<br />

geschwächte Vitalität aus...Sensibilität wurde kultiviert, Nerven, Nervosität und Hysterie wurden<br />

Schlüsselwörter. Normalität und Natur lehnte man in diesen Kreisen als banal und uninteressant<br />

ab.“ 47<br />

Spielwiesen der nervenkranken Welt waren die Praxen der Psychiatrie, der Hypnose, der Suggestion,<br />

der Triebpsychologie und zuletzt der Psychoanalyse als Königsdisziplin der reformistischen<br />

Traumdeutung.<br />

Die Dekadenz wäre gesellschaftspolitisch nicht so interessant gewesen, wenn mit der Dekadenz nicht<br />

die Angst vor ihr ins Uferlose gewachsen wäre: Viele gesellschaftliche Prozesse wurden als<br />

Dekadenzvorgänge angesehen, der Untergang Roms ebenso wie der Niedergang des Adels. Sowohl<br />

der Nationalsozialismus wie der Stalinismus verstanden sich als Bollwerke gegen dekadente<br />

Niedergangsszenarien. Bereits 1892 schrieb Max Nordau in „Entartung“ „wir stehen mitten in einer<br />

schweren geistigen Volkskrankheit, in einer schwarzen Pest von Entartung und Hysterie.“<br />

An dieser Stelle ist <strong>das</strong> grundsätzliche Verhältnis von Dekadenz und Reformismus zu hinterfragen.<br />

Der Nationalsozialismus stellte sein Programm dem der Dekadenz gegenüber und veranstaltete<br />

Ausstellungen wie „Entartete Kunst“, um diese Abgrenzung dem letzten Trottel in der Provinz zu<br />

verdeutlichen. Stalin befahl mit der selben Zielrichtung den obligaten Sozialistischen Realismus und<br />

polierte am gängigen Gesellschaftsgemälde des dekadenten Kapitalismus.<br />

Nietzsche als Ideengeber des Reformismus war sowohl von Schopenhauer als auch von Paul Bourget<br />

beeinflusst, dessen „Théorie de la Décadence“ 1883 erschienen war. Er setzte sich mit den Gedanken<br />

der Dekadenz kritisch auseinander, ohne ein ganz klares Konzept der Abgrenzung hinterlassen zu<br />

haben. Vielmehr sind die Äußerungen Nietzsches von dessen Tagesform abhängig und<br />

interpretierbar.<br />

„Er, der erste deutsche Analytiker der Dekadenz, fasste sich selbst als ihren Vertreter und<br />

Überwinder auf.“ 48<br />

Diese Unklarheiten hatten bei den Nietzsche-Rezipienten wiederum Folgen. Sowohl jene, die heute<br />

der sogenannten „Moderne“ zugerechnet werden, wie Munch oder Kessler ließen sich von Nietzsche<br />

inspirieren, als auch die Vertreter der unstreitigen Antimoderne, wie Adolf Hitler und W. I. Lenin. Auf<br />

den Zug der Lebensphilosophie sprangen viele ehemalige Dekadente auf und entwickelten manches<br />

Mal einen reformatorischen Eifer, wie er Konvertiten eigen genannt wird.<br />

Überwiegend waren im Spätwerk von Friedrich Nietzsche, insbesondere in „Also sprach Zarathustra“<br />

die Versuche, die Dekadenz zu überwinden und ihr die Philosophie des Lebens gegenüberzustellen.<br />

Zarathustra ruft jedoch zu einem archaischen Leben auf, <strong>das</strong> in seinen sinngebenden Abschnitten aus<br />

Kampf und Blutvergießen besteht und damit den eigenen Lebenserhalt sozusagen um in der<br />

biologistischen Logik zu verweilen „widernatürlich“ gering schätzt.<br />

Der Riß zwischen krankhafter Dekadenz und dem Leitbild des gesunden Volksgenossen ging mitten<br />

durch manche Schriftsteller- und Malerexistenzen: Thomas Mann schilderte minutiös den Verfall einer<br />

Kaufmannsfamilie, und sehnte sich in „Tonio Kröger“ doch nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit.<br />

Ganze Künstlerscharen von Malern, Dichtern, Schriftstellern und Publizisten schworen dem<br />

Stadtleben ab und drängten in die ländlichen Künstlerkolonien nach Murnau, Friedrichshagen und<br />

Worpswede, um sich den Wonnen des Landlebens auszusetzen und an der Kraft des bäuerlichen<br />

Blutes und Bodens zu schmarotzen. In dieser Zeit entstanden erste Verquickungen von Reformismus<br />

und Heimatkunst. Die Franzosen nannten diese Zeit die „große Epoche des Regionalismus“. In den<br />

47 Bengt Algot Sörensen: Geschichte der deutschen Literatur 2, Verlag C.H. Beck, 1997, S. 118<br />

48 s.o. S. 130<br />

48


zwanziger Jahren wurde der Heimatstil populärer und in den Dreißigern hingen seine Gemälde auf<br />

Ausstellungen in der oberen Reihe, für seine literarischen Blut- und Boden-Romane wurden die<br />

Walzen der Druckmaschinen nicht müde umzulaufen.<br />

Eine innige Verbindung von Dekadenz und dem „modernen <strong>Menschen</strong>“ findet sich auch bei Hermann<br />

Hesse. Beim Niederschreiben des Erziehungsromans „Unterm Rad“ hielt es Hesse nur bis zur Seite 2<br />

aus, ohne sich als Nietzsche-Apologet zu outen. Kaum hatte er die Hauptpersonen, Hans Giebenrath<br />

als begabtes Kind und seinen Vater einigermaßen leidlich vorgestellt, so kam er bereits auf <strong>das</strong><br />

Unverhältnis einer kleinen Landstadt zum Elitarismus zu sprechen:<br />

„Ein modern geschulter Beobachter hätte, sich an die schwächliche Mutter und an <strong>das</strong> stattliche<br />

Alter der Familie sich erinnernd, von Hypertrophie der Intelligenz als Symptom einer einsetzenden<br />

Degeneration sprechen können. Aber die Stadt war so glücklich, keine Leute von dieser Sorte zu<br />

beherbergen, und nur die Jüngeren und Schlaueren unter den Beamten und Schulmeistern hatten<br />

von der Existenz des „modernen <strong>Menschen</strong>“ durch Zeitschriftenartikel eine unsichere Kunde. Man<br />

konnte dort noch leben und gebildet sein, ohne die Reden Zarathustras zu kennen;...“<br />

Die Dekadenz blühte im Rahmen der Kulturkrise der Jahrhundertwende weiter auf, in der<br />

Lebensreformbewegung die ebenfalls von dieser Krise angetrieben wurde, entwickelte sich fast<br />

gleichzeitig Widerspruch. In der 1896 gegründeten Zeitschrift „Jugend“ erschien 1898 ein Artikel,<br />

welcher die Überschrift „Anti-Fin de siècle“ trug und sich polemisch gegen die „Müdigkeitsbruderschaft<br />

der Dekadenten“ wandte. 49 Die Auseinandersetzung mit der Dekadenz wurde im Folgenden eine<br />

Konstante der Jugendbewegung. Die Kampfformen waren so heterodox wie diese Bewegung selber:<br />

Ausdruckstanz, Rassismus, Vegetarismus, Nudismus, Krieg, Sport, Euthanasie. Eine kurzlebige<br />

Variante war der Renaissancismus; <strong>das</strong> Theaterblut einer Reihe von Cesare-Borgia-Dramen<br />

überschwemmte die deutschen Bühnen, in den die Zuschauer an blutige Größe und wilde Schönheit<br />

gewöhnt wurden; in den Wohnzimmern der Bildungsbürgerschaft türmten sich Nachahmungen von<br />

italienischen Abgüssen.<br />

Reiterbroncen standen auf dem Rauchtisch im Herrenzimmer, auf dem Weg zur Toilette stolperte man<br />

über ebenerdige nackte Athleten des Franz von Stuck. Die Möbelhandwerker schufen aufwendige und<br />

überladene Renaissancefronten aus Furnier und Schnitzwerk, oft als Meisterstück.<br />

Die expressionistischen Künstler der sogenannten Moderne könnte man nach der Logik Adolf Hitlers<br />

als Erben der Dekadenz und Entartung auffassen. Das ist jedoch etwas zu einfach, da sich Dekadenz<br />

und Lebensphilosophie beeinflussten. Nicht nur die Dekadenz ging in <strong>das</strong> Denken Nietzsches ein, und<br />

wurde ausführlich reflektiert, sondern die Philosophie Nietzsches bestimmte auch <strong>das</strong> Denken und<br />

Handeln der Expressionisten. Insbesondere der Elitarismus, den es vor Nietzsche als Ästhetizismus<br />

bereits gab, wurde im dekadent-expressionistischen Milieu rezipiert und weiterentwickelt. Neben<br />

einem starken Hang zum Elitarismus war es besonders die weitverbreitete Manie, die tradierten Werte<br />

abzulehnen und bewusst umzuwerten, medienwirksame Tabubrüche zu begehen, selbst und gerade<br />

auch um den Preis nicht volkstümlich und massenwirksam zu sein.<br />

Der moderne Ästhetizismus begegnet uns bereits anläßlich der italienischen Reise des Geheimrats<br />

von Goethe.<br />

„Über die bildende Nachahmung des Schönen, unter diesem Titel ward ein Heft von kaum vier<br />

Bogen gedruckt, wozu Moritz <strong>das</strong> Manuskript nach Deutschland geschickt hatte, um seinen<br />

Verleger über den Vorschuß einer Reisebeschreibung nach Italien einigermaßen zu<br />

beschwichtigen“, so leitete Goethe <strong>das</strong> ideologisch heißeste Kapitel seines Buchs ein, nicht ohne<br />

zu erwähnen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Heftel aus Goethes Gesprächen mit Karl Philipp Moritz hervorgegangen sei<br />

und Moritz <strong>das</strong> Gesprochene nach seiner Art benutzt und ausgebildet habe. Wenns gut ist, ist´s<br />

von mir, wenn nicht, hat´s der Moritz schlecht ausgebildet. Das war so ein typischer Goethe. Moritz<br />

hielt den Kult des schaffenden Genius in folgenden Worten Goethes fest: „Der Horizont der<br />

bildenden Kraft aber muß bei dem bildenden Genie so weit wie die Natur selber sein: <strong>das</strong> heißt die<br />

Organisation muß so fein gewebt sein und so unendlich viele Berührungspunkte der<br />

allumströmenden Natur darbieten, <strong>das</strong>s gleichsam die äußersten Enden von allen Verhältnissen<br />

der Natur im großen, hier im kleinen sich nebeneinanderstellend, Raum genug haben, um sich<br />

einander nicht verdrängen zu lassen. (...) All die in der tätigen Kraft bloß dunkel geahndeten<br />

Verhältnisse jenes großen Ganzen müssen notwendig auf irgendeine Weise entweder sichtbar,<br />

49 Bengt Algot Sörensen: Geschichte der deutschen Literatur 2, Verlag C.H. Beck, 1997, S. 129<br />

49


hörbar oder doch der Einbildungskraft fassbar werden; um dies zu werden, muß die Tatkraft, worin<br />

sie schlummern, sie nach sich selber, aus sich selber bilden - ...Allein da unser höchster Genuß<br />

des Schönen dennoch sein Wesen auf unserer eigenen Kraft unmöglich mit in sich fassen kann, so<br />

bleibt der einzige höchste Genuß desselben immer dem schaffenden Genie, daß es hervorbringt,<br />

selber, und <strong>das</strong> Schöne hat daher seinen höchsten Zweck in seiner Entstehung, in seinem Werden<br />

schon erreicht;...“ 50<br />

Diese Gedanken zum Entstehungsprozeß des Schönen sind nicht von der Hand zu weisen, dennoch<br />

nistet sich der Verdacht ein, <strong>das</strong>s der Genius des Genies noch so weit als möglich hochgehandelt<br />

wurde. Für viele kleine Genies ist ohnehin nicht der beste Augenblick, wenn sie „basta!“ rufen, die<br />

elitäre Kreation ihr finish erhalten hat, sondern wenn die Ausstellung eine viertel Stunde alt ist, und der<br />

egalitäre Chorus der Schmeichler sein Werklein gerade beginnt.<br />

Der Ästetizismus blickte ab 1890 in den Spiegel des Nietzscheanismus und vermeinte sich im<br />

Übermenschen wiederzuerkennen. 1892 bekannte sich Stefan George in seinen „Blättern für die<br />

Kunst“ zur „kunst für die kunst“ mit einem Primat für die Schönheit. Sörensen schreibt dazu:<br />

„Dekadenz und Ästhetizismus verbanden sich mühelos miteinander. Der Typus des Ästheten, der<br />

<strong>das</strong> eigene Leben und die Umwelt nicht mit moralischen Kategorien von Gut und Böse, sondern<br />

mit den ästhetischen Begriffen von Schön und Häßlich bemisst, gehört zusammen mit dem Dandy<br />

und dem Dilettanten zu den Lieblingsfiguren der damaligen Literatur.“<br />

In „Algabal“, nach dem pervesesten aller römischen Kaiser aus der Verfallszeit des Reiches genannt,<br />

errichtete George 1892 eine Welt der künstlichen und amoralischen Schönheit:<br />

Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme<br />

Der garten, den ich mir selbst erbaut<br />

Und seiner vögel leblose schwärme<br />

Haben noch nie einen frühling geschaut.<br />

Ohne die Parole von der Umwertung der Werte lässt sich diese Haltung kaum verstehen, vielfach<br />

waren die Werke der Dekadenten nur „Lehrprosa“ und „Lehrlyrik“ zur Nietzeanischen Philosophie.<br />

Der arrivierte Künstler wollte nach der Logik der Herdentiere beweisen, in der neuen Zeit<br />

angekommen zu sein. Das nietzscheanisches Leitmotiv des Kampfs des Starken gegen <strong>das</strong><br />

Schwache berührte Frank Wedekinds Bänkelgesang „Tantenmörder“ (1897):<br />

Ich habe meine Tante geschlachtet .<br />

Meine Tante war alt und schwach.<br />

Ihr aber, oh Richter, ihr trachtet<br />

Meiner blühenden Jugend-Jugend nach.<br />

Auch Rainer Maria Rilke interessierte <strong>das</strong> Thema der Schönheit. In der impressionistischen Novelle<br />

„Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ (1899) wird der Tod des Cornets im<br />

Kampf mit den mohammedanischen Heiden beschrieben. Sein ästhetisierender Stil erinnert an die<br />

Kampfbeschreibungen der Freikorpskommandanten der Revolutionszeit:<br />

„...und die sechzehn runden Säbel, die auf ihn zuspringen, Strahl um Strahl sind ein Fest. Eine<br />

lachende Wasserkunst.“ 51<br />

Mühelos verbanden sich nicht nur Dekadenz und Ästhetizismus miteinander, auch die Dekadenz und<br />

die völkische Bewegung kohabitierten bereits früh miteinander. Viele Ästhetizisten und Dekadente<br />

werden der präfaschistischen Bewegung zugeordnet, insbesondere George und sein Kreis, der junge<br />

Thomas Mann und der junge Heinrich Mann, der es 1894 fertigbrachte, gleichzeitig zwei<br />

Dekadenzromane: „Das Wunderbare“, in der die Schönheit des Verfalls beschrieben wurde, und<br />

„Contessina“ zu schreiben und bei der antisemitisch-völkischen Zeitung „Das Zwanzigste Jahrhundert.<br />

Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“ mitzuarbeiten.<br />

Bedeutung für <strong>das</strong> Einläuten einer neuen Phase der Kunstgeschichte hatten vor allem der italienische<br />

Futurismus und die Kunst der „Primitiven“. Eine Tribüne war die Zeitschrift „Der Sturm“, die von<br />

50 Goethe, Italienische Reise, dtv, 1988 S. 534 ff<br />

51 Die Zitate sind alle der „Geschichte der deutschen Literatur 2 „ entnommen.<br />

50


Herwarth Walden und Kurt Hiller 1910 bis 1932 herausgegeben wurde. 52 Das neue war, <strong>das</strong>s man<br />

sich auf die Faszination der Großstadt einließ. Der rauschgiftsüchtige Mörder Johannes R. Becher<br />

schuf die futuristischen Gedichte „Lokomotiven“ und „Die neue Syntax“; die Dynamik und Technik<br />

fanden Eintritt in den deutschen Kulturtempel. Der Lyriker Ernst Blass forderte, <strong>das</strong>s die modernen<br />

Dichter die Bilder der Großstadt als Landschaften ihrer Seele darstellen, und nicht die Großstadt an<br />

sich. Die Abstraktionstendenz war nicht zu übersehen: nicht der Einzelne, <strong>das</strong> Individuum wurde<br />

dargestellt, sondern der Mensch an sich. Solch eine großstädtische Seelenlandschaft offenbarte Paul<br />

Boldt:<br />

Auf der Terrasse des Café Josty<br />

Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll<br />

Vergletschert alle hallenden Lawinen<br />

Der Straßentakte: Trams auf Eisenschienen<br />

Automobile und den <strong>Menschen</strong>müll.<br />

Die <strong>Menschen</strong> rinnen über den Asphalt,<br />

Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.<br />

Stirne und Hände, von Gedanken blink,<br />

schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.<br />

Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,<br />

Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen<br />

Und lila Quallen liegen – bunte Öle;<br />

Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen.–<br />

Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,<br />

Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.<br />

Der <strong>Menschen</strong>müll wurde wenig später auf den Schlachtfeldern um Verdun entsorgt.<br />

Man kann vermuten, <strong>das</strong>s einerseits die Vermassung des <strong>Menschen</strong> in der Großstadt reflektiert<br />

wurde, andererseits der aktuelle Grad der psychoanalytischen Durchdringung der menschlichen<br />

Seele. Großen Einfluß hatte Siegmund Freud, der den <strong>Menschen</strong> so darstellte und beschrieb, <strong>das</strong>s er<br />

nicht Herr im eigenen Körper sei, sondern seine Psyche von bösen ödipalen Geistern in den<br />

Schläuchen des Körpers umgetrieben würde. Der Kampf mit dem eigenen Vater, der seinem Sohn in<br />

der ödipalen Phase die sexuellen Reize der Mutter vorenthielt, gewann unter Freuds Einfluß gerade<br />

nach 1910 große Bedeutung: Heym, Benn und Becher führten den Kampf mit dem Vater sowohl<br />

persönlich als auch literarisch, in einigen anderen Fällen kam es zum literarischen Vatermord. Walter<br />

Hasenclever gar ließ 1914 in seinem Roman „Der Sohn“ aus nichtigem Anlaß die männlichen<br />

Mitglieder eines Jugendclubs zu den Klängen der Marseilleise den Mord an ihren Vätern beschließen.<br />

Georg Heym träumte 1910 von Barrikaden und Kriegen. Auskunft gab sein Tagebuch:<br />

„Geschähe doch einmal etwas. Würden einmal wieder Barrikaden gebaut. Ich wäre der erste, der<br />

sich darauf stellte, ich wollte mit der Kugel im Herzen den Rausch der Begeisterung spüren. Oder<br />

sei es auch nur, <strong>das</strong>s man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul<br />

ölig und schmierig, wie Leimpolitur auf alten Möbeln.“<br />

Ein Jahr später reimte er schon wieder vom Krieg:<br />

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,<br />

aufgestanden unten aus Gewölben tief.<br />

Eine große Stadt versank in hellem Rauch,<br />

warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.<br />

Aber riesig über glühnden Trümmern steht,<br />

der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht<br />

über sturmzerfetzter Wolken Widerschein<br />

in des toten Dunkels kalten Wüstenein,<br />

52 Walden war in der Weimarer Zeit Kommunist. Er reiste 1932 in die Sowjetunion aus und wurde dort getötet.<br />

51


<strong>das</strong>s er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,<br />

Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.<br />

Von 1910 bis 1914 entstanden Hunderte von Gedichten, Romanen und Bildern, in denen der<br />

bevorstehende Krieg thematisiert und verherrlicht worden ist. 1911 wurde Jakob von Hoddis<br />

„Weltende“ veröffentlicht, <strong>das</strong> die deutschen Gymnasiasten regelrecht elektrisierte:<br />

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,<br />

in allen Lüften hallt es von Geschrei<br />

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei<br />

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.<br />

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen<br />

An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.<br />

Die meisten <strong>Menschen</strong> haben einen Schnupfen.<br />

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.<br />

Hoddis spielte hier mit der Angst vor dem Weltuntergang angesichts des am 18. Mai 1910 im Abstand<br />

von 63 Millionen Kilometern an der Welt vorübergeflogenen Halleyschen Kometen. Das Berliner<br />

Tagblatt berichtete am 19. Mai von stattgefundenen Weltuntergangsparties mit Kometenbowle und<br />

Untergangsmelodien.<br />

Die literarisch-poetische Zerstörungslust, manchmal gar Zerstörungswut, war mit dem Wunsch nach<br />

einer harmonischen schönen <strong>Neue</strong>n Welt verbunden, deren neue <strong>Menschen</strong> aus den alten in einer<br />

Reinigungskatastrophe entstehen würden. Die Technikfeindlichkeit Nietzsches war überwunden,<br />

ansonsten klebte man jedoch an seinen Visionen.<br />

Nach eigenem Bekunden von Gottfried Benn war sein zentrales Bildungserlebnis die<br />

Nietzscheaneignung. Bei der Umwertung der Werte wollte Benn nicht abseits stehen, der Angriff<br />

wurde beispielsweise auf die biblische Schöpfungsgeschichte vorgetragen. Das Tier, welches am<br />

dritten und fünften Tage geschaffen worden war, stellte Benn konsequenterweise vor und über den<br />

<strong>Menschen</strong>, <strong>das</strong> Werk des sechsten Tags: 1912 parlierte Benn:<br />

Der Mund eines Mädchens, <strong>das</strong> lange im Schilf gelegen hatte,<br />

sah so angeknabbert aus.<br />

Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löchrig.<br />

Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell<br />

Fand man ein Nest von jungen Ratten.<br />

Ein kleines Schwesterchen lag tot.<br />

Die andern lebten von Leber und Niere,<br />

tranken <strong>das</strong> kalte Blut und hatten<br />

hier eine schöne Jugend verlebt.<br />

Und schön und schnell kam auch ihr Tod:<br />

Man warf sie allesamt ins Wasser.<br />

Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!<br />

Peter von Rüden 53 hat nach den Gründen und Motiven für den antichristlichen Affekt gesucht und<br />

folgenden Zusammenhang gefunden: Das Christentum als monotheistische Religion habe die<br />

Naturgottheiten bekämpft und von ihrem Sockel gestoßen. Der Bezug der <strong>Menschen</strong> zur Natur sei mit<br />

dem Abgang von Flussgeistern, Fruchtbarkeitsgöttinnen, Waldschraten und Sonnenscheiben verloren<br />

gegangen. Geblieben sei nur die Forderung, sich die Erde untertan zu machen. Er zitiert den grünen<br />

Antisemiten Klages:<br />

„Die Weltfeindschaft, die <strong>das</strong> Mittelalter selbstgeißlerisch im Innern nährte, mußte nach außen<br />

treten, sobald sie ihr Ziel erreicht: den Zusammenhang aufzuheben zwischen dem <strong>Menschen</strong> und<br />

der Seele der Erde.“<br />

Um die Sehnsucht nach diesem metaphysischen Naturgeist, diese vermeintlich in den Untergrund<br />

abgedrängte, verschüttete Volksseele mit ihrem Gefolge von verschmähten Naturidolen zu benennen<br />

53 Peter von Rüden „Über Mensch und Erde, Ludwig Klages Grußwort an den Freideutschen Jugendtag 1913“ in<br />

oekozemtrum.org der Uni Bremen<br />

52


zitiert Peter von Rüden den Vater und Erfinder des neuzeitlichen Naturschutzes in Deutschland, Ernst<br />

Rudorff:<br />

„Was unsere Urväter in Wodans heilige Eichenhaine bannte, was in den Sagen des Mittelalters, in<br />

den Gestalten der Melusine des Dornröschen lebt, was in den Liedern Walters von der Vogelweide<br />

anklingt [...]: immer ist es derselbe Grundton, derselbe tiefe Zug der Seele zu den wundervollen<br />

und unergründlichen Geheimnissen der Natur, der aus diesen Äußerungen des Volksgemüths<br />

spricht.“<br />

Jeder Baum wurde auf seine mythische Vergangenheit, jeder Hügel auf seine germanische<br />

Archäologie und jeder Teich auf seine Nymphen untersucht: Virtuelle Ahnen flogen durch den<br />

mitteleuropäischen Wald, in den Wohnzimmerschränken türmten sich um die Wette Heldensagen und<br />

Märchenbücher.<br />

„Rotkäppchen, der treue Johannes und Schneewittchen bei den sieben Zwergen über den sieben<br />

Bergen nahmen mich in ihren geschwätzigen Kreis. Mein begieriger Sinn erschuf bald aus freier<br />

Kraft Gebirge mit mondglänzenden Elfentanzwiesen, Paläste mit seidenen Königinnen, fabelhaft<br />

tiefe und greuliche Berghöhlen, von Geistern, Eremiten, Köhlern und Räubern abwechselnd<br />

unheimlich bevölkert. Ein schmaler Raum im Schlafzimmer, zwischen zwei Bettstellen, war<br />

vorzüglich der Wohnort schlitzäugiger Kobolde, rußiger Bergmänner, geköpfter Umgänger,<br />

traumwandelnder Totschläger und grünschielender Raubtiere, so <strong>das</strong>s ich eine Zeitlang nur in<br />

Begleitung Erwachsener und noch lange später nur mit äußerster Aufbietung allen Knabenstolzes<br />

daran vorübergehen konnte. Einmal befahl mir mein Vater, von dort seine Pantoffeln zu holen. Ich<br />

ging in <strong>das</strong> Schlafzimmer, wagte mich aber nicht an den Ort des Entsetzens und kehrte kleinlaut<br />

zurück, vorgebend, ich hätte die Schuhe nicht gefunden.“<br />

So berichtete Hermann Hesse 24jährig über seine Kindheit. Als ersten Kindereindruck prägte sich ihm<br />

ein Wiesenland hinter dem Elterhause ein.<br />

„Alle tiefen Gemütserlebnisse, alle <strong>Menschen</strong>, selbst die Porträts meiner Eltern scheinen mir nicht<br />

so früh deutlich geworden zu sein wie diese Wiese mit ihren unzähligen Einzelheiten....Beim<br />

Darandenken ist mir zumut, als wäre alles Kostbare, was ich später mit Augen sah und mit Händen<br />

besaß, und selber meine Kunst , gering gegen die Herrlichkeiten jener Wiese.“<br />

Er erwähnte als gültigen Ausweis seines kindlichen Romantizismus noch ausdrücklich seine Furcht<br />

vor den Pfiffen der fern vorüberfahrenden Eisenbahn. 54<br />

Naturfreundschaft und die Verbundenheit mit geheimnisvollen Kobolden, Feen, Wotan, Freya sowie<br />

den Wald- und Naturgeistern hatte eine antichristliche Spitze, die zuweilen pointierend zugespitzt<br />

einen unmenschlichen Ausdruck fand, wie in der Rattentrauer Benns.<br />

Den Grundstein für diese unheilige Allianz von Atheismus, Elitarismus und Naturschutz hatte Friedrich<br />

Nietzsche als epochale Neudefinition des Frevels selbst gelegt:<br />

„Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt denen nicht, welche euch von<br />

überirdischen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht. Verächter des<br />

Lebens sind es, Absterbende und selber Vergiftete, deren Erde müde ist: so mögen sie<br />

dahinfahren! Einst war der Frevel an Gott der größte Frevel, aber Gott starb, und damit auch die<br />

Frevelhaften. An der Erde zu freveln ist jetzt <strong>das</strong> Furchtbarste und die Eingeweide des<br />

Unerforschlichen höher zu achten, als der Sinn der Erde!“<br />

Der im deutschsprachigen Raum wie sonst nirgends auf der Welt weitverbreitete metaphysische<br />

Ehrfurcht vor der Natur und die kehrseitige Abwertung des menschlichen Lebens hat hier scheinbar<br />

ihre Wurzel. Nietzsche orakelte:<br />

„Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer<br />

zu sein: sondern die sich der Erde opfern, <strong>das</strong>s die Erde einst der Übermenschen werde.“<br />

54 Hermann Hesse: Meine Kindheit (1901), abgedrückt in „Der Lateinschüler“, Aufbau Verlag Berlin und Weimar,<br />

1977<br />

53


Das erste Buch Mose wurde auf den Kopf gestellt. Die Erde wurde so am siebenten Tage geschaffen,<br />

und der Mensch am sechsten. Diese Nichtachtung des <strong>Menschen</strong> hatte im entwickelten<br />

Nationalsozialismus katastrophale Auswirkungen.<br />

1896 hatte Rilke seine Erzählung „Der Apostel“ veröffentlicht, die die nietzscheanische Lehre<br />

literarisch untersetzte. In der menschlichen Seele gäbe es keine schlimmeren Gifte als Nächstenliebe,<br />

Mitleid und Erbarmen, Gnade und Nachsicht. Deshalb geht der "Apostel", <strong>das</strong> Sprachrohr des<br />

Dichters, in die Welt, um die Liebe zu töten. Höhnisch bekennt er:<br />

"Wo ich sie finde, da morde ich sie." Denn <strong>das</strong> christliche Gebot der Nächstenliebe schwächt<br />

diejenigen, die es "blind und blöde" befolgen; und "der, den sie als Messias preisen, hat die ganze<br />

Welt zum Siechenhaus gemacht".<br />

Träger des Fortschritts kann nie die stumpfe Menge sein, sondern nur "der Eine, der Große, den der<br />

Pöbel haßt"; nur er kann rücksichtslos den Weg seines Willens gehen, "mit göttlicher Kraft und<br />

sieghaftem Lächeln". Ein Recht zu leben hat nur der Starke. Der marschiert vorwärts, selbst wenn die<br />

Reihen sich lichten.<br />

"Aber wenige Große, Gewaltige, Göttliche werden sonnigen Auges <strong>das</strong> neue gelobte Land<br />

erreichen, vielleicht nach Jahrtausenden erst, und sie werden ein Reich bauen mit starken,<br />

sehnigen, herrischen Armen auf den Leichen der Kranken, der Schwachen, der Krüppel. Ein<br />

ewiges Reich!" 55<br />

1934 gingen Gottfried Benns Geschäfte als Arzt für Geschlechtskrankheiten derart schlecht (selbst<br />

geschlechtskranke Frauen verabscheuen gewöhnlich Ratten), <strong>das</strong>s er aus freien Stücken in die<br />

nunmehr von der zahlenmäßigen Beschränkung des Versailler Vertrags erlöste Reichswehr eintrat.<br />

Vorher hatte er bereits die „entscheidende anthropologische Wendung“ begrüßt, die mit der<br />

Machtergreifung Adolf Hitlers einherzugehen schien. Der Fall Benn war durchaus kein Einzelfall, er<br />

löste als exemplarischer Vorgang jedoch 1938 die Expressionismusdebatte aus. Alfred Kurella<br />

behauptete, freilich aus dem beschränkten Gesichtskreis der stalin´schen Formalismuskritik, <strong>das</strong>s der<br />

Expressionismus, ganz befolgt, in den Faschismus führe. Kurella vergaß zu bemerken, <strong>das</strong>s der<br />

Expressionismus mindestens genau so oft in den orthodoxen Kommunismus führte. Auch Kurella<br />

gehörte zu jenen, die nicht in der wirklichen Welt nach Ursachen und Wirkungen forschten, sondern<br />

zeitlebens in einer virtuellen Welt der Wünsche und Hoffnungen, wo die Geister der reformistischen<br />

und elitaristischen Urväter ihre Kämpfe im kalten immateriellen Äther des Palastes der ideologischen<br />

Schneekönigin austrugen.<br />

Man fragt sich, wieso im repressiven Spätkaiserreich solche Entgleisungen wie <strong>das</strong> Rattengedicht<br />

möglich waren. Die Rechtssetzung und Rechtsprechung des Spätkaiserreichs wurde zwar als<br />

repressiv angeprangert, war jedoch auf die Ahndung formaler Ausrutscher abgestellt. Frank Wedekind<br />

saß zum Beispiel sieben Monate wegen Majestätsbeleidigung im Zuchthaus, und nicht wegen dem<br />

Tantengedicht. Wegen inhaltlichen Missgriffen gab es so gut wie keine Strafen. Wenn man sich die<br />

Mitgliederliste des Monistenbundes und anderer reformistischen Organisationen anschaut, so fallen<br />

die vielen Gerichtspräsidenten auf. Viele Reichstagsabgeordnete als Gesetzgeber und viele Richter<br />

liefen dem Zeitgeist wie die Majestät selbst hinterher. Die Strafe für die moralische Sorg- und<br />

Nachlässigkeit ließ nicht auf sich warten: Deutschland verhedderte sich in den Weltkrieg, der Kaiser<br />

wurde zum Palast herausgejagt und Adolf Hitler wurde Führer und Reichskanzler.<br />

Eine gewisse Sonderstellung nimmt 1915 bis 1920 der Dadaismus ein, der sich vom Sinn und vom<br />

Ästhetizismus abgrenzte. Er hatte einen pazifistischen und anarchistischen Grundzug. Jolifanto<br />

bambla o falli babla, grossiga m´pfa habla horem, so begann <strong>das</strong> Gedicht “Karawane” von Hugo Ball,<br />

<strong>das</strong> 1917 erschien. Es endete kusagauma ba – umf. Das war auch Umwertung der Werte – hier der<br />

Sprache und des Sinns - fiel in seiner Leichtigkeit aus dem brarmabasierenden Zeitgeist jedoch etwas<br />

heraus. Es fehlte bei einigen Dadaisten <strong>das</strong> Deutscheste - die Bedeutung. Hinsichtlich der Exklusivität<br />

der Mitgliedschaft in der dada-community, der Egomanie einiger Dadaisten, den persönlichen<br />

Querelen und des Umgangs mit Frauen relativiert sich die gerne gesuchte Abgrenzung vom<br />

Expressionismus: man klebte auch bei Dada in den Rastern des Vorkriegselitarismus.<br />

Eine selbstironische Bildergeschichte von Arno Holz und Johannes Schlaf behandelte die ernstere<br />

Lebensphilosophie lockerer und endete mit dem Seufzer:<br />

55 Zitat aus Krogmann: Rilke als „Kulturheld des Jahres“, Ossietzky, Nr. 13, 2003<br />

54


Schon läuten fromm die Morgenglocken,<br />

Man sitzt mit ungekämmten Locken<br />

Und schüttelt sich und spricht voll Ekel:<br />

„Horrgott, ist mir heut fin de siècle!“<br />

Der Beginn der Feindschaft zwischen Heimatkunst und Abstraktion<br />

Feindschaften zwischen Ideologen sind meistens so alt, wie die zugrunde liegenden Ideologien. Die<br />

Feindschaft zwischen Elitarismus und Demokratismus datiert spätestens vom Ausgang der<br />

klassischen deutschen Philosophie, und die zwischen Heimatschutz und Abstraktion trat spätestens in<br />

<strong>das</strong> kulturelle Leben, als diese beiden Pole fertig ausgebildet waren. Ernst Rudorff hatte Wotans<br />

Heiligen Hain 1897 zum Ausgangsbiotop des deutschen Natur- und Heimatschutzes gemacht. Bereits<br />

wenige Jahre später gab es in Deutschland eine kompakte Heimatschutzbewegung, an deren Spitze<br />

Maler, Architekten und Beamte standen. Bereits 1900 wurde der Heimatschutz in <strong>das</strong> sächsische<br />

Baurecht eingefügt, in Preußen wurde 1907 ein Gesetz gegen die Verunstaltung von Ortschaften<br />

verabschiedet. 1904 wurde nach einem Aufruf von Friedrich Schultze-Naumburg der Bund<br />

Heimatschutz gegründet. Nun gab es zunächst den Expressionismus noch nicht, so <strong>das</strong>s in den<br />

Folgejahren der deutschen Dachpappenindustrie die Rolle des Widerparts zufiel. Die<br />

Steinkohlenteerindustrie brachte 1910 eine Petition in den Preußischen Landtag ein, in dem sie die<br />

Wichtigkeit der Dachpappe für den Wohlstand der ländlichen Bezirke und ihre Berechtigung als<br />

nützlichstes Bedachungsmaterial betonte. 1912 wurde ein „Ausschuß zur Beseitigung der Auswüchse<br />

der Heimatschutzbewegung" gegründet. Dagegen wendete ein Leserbriefschreiber der Bauzeitung<br />

ein, <strong>das</strong>s die Starken im Lande die Dachpappenfabrikanten und ihre Gesinnungsgenossen wären, die<br />

Schwachen dagegen, die der Staat zu schützen hätte, wären die Vertreter höherer ästhetischer<br />

Anforderungen. 56 Bei diesem ästhetischen Alleinvertretungsanspruch der Heimatschützer sollte es<br />

nicht bleiben. Zunächst war die Argumentation noch modernistisch: Prof. Seeßelberg polemisierte in<br />

einem Vortrag vor der Hauptversammlung des "Bundes für Ton-, Zement- und Kalkindustrie" gegen<br />

den Heimatschutzbund::<br />

"Seine Bestrebungen sind ausgegangen von der Idee des Denkmalschutzes. Dann griffen sie<br />

weiter auf <strong>das</strong> Landschaftliche über, sie wurden sozusagen eine Malerangelegenheit, und sind<br />

auch tatsächlich in die Führung von Malern übergegangen. Wer hätte nicht noch alle jene<br />

`Kunstwart′-Gegenüberstellungen von schönen alten strohgedeckten Bauernhäusern und<br />

dergleichen mit neuzeitlich verschandelten eklektizistischen Bauten aller Art im Gedächtnis? Die<br />

Folge davon ist dann natürlich vorderhand die Empfehlung der damals als schön<br />

gekennzeichneten Bauweisen und die Verurteilung der abweichenden gewesen. Insbesondere<br />

wurden manche Baustoffe scharf angegriffen..... Es liegt aber auf der Hand, daß die<br />

Heimatschutzidee, die trotz aller dieser Einseitigkeiten wesentlich <strong>das</strong> künstlerische Gewissen und<br />

<strong>das</strong> Heimatschutzgefühl hatte wecken helfen, überall mit dem wirtschaftlichen und mit den<br />

technischen Errungenschaften in Konflikt geraten mußte." 57<br />

Einige Jahre später wurde endlich ästhetizistisch argumentiert, und es war kein geringerer als Hans<br />

Payer, der die Unterscheidbarkeit von Alt und Neu forderte und formulierte, daß mit dem Abschluß<br />

bestimmter Epochen auch ihre jeweilige Kunstrichtung abgeschlossen sei. Neubauten müssten den<br />

Bauten vergangener Zeiten nicht angepasst werden. Die neuen Entwicklungen, wie der Stahlbeton<br />

ließen auf Grund ihrer besonderen Art ein Bauen alten Stils nicht mehr zu. Die Entwicklung eines<br />

entsprechenden zeitgemäßen Baustils sei überfällig. Er warf der Heimatschutzbewegung<br />

Inkonsequenz vor, da einerseits Kirchen gelobt würden, die über lange Zeiträume hinweg errichtet<br />

wurden, wobei die Bauabschnitte im jeweils zeitgemäßen Stil neben Bisheriges gesetzt wurden,<br />

andererseits die modernen Künstler eines Verbrechens bezichtigte, wenn diese ihre Kunst ebenso<br />

neben Althergebrachtes setzten. Kunstwerke entstünden im Geist des Künstlers und nicht durch <strong>das</strong><br />

Urteil der Zeitgenossen. Um dem Genius einen freien Raum zu schaffen, forderte er, alle<br />

Wettbewerbe nur noch von Preisrichterkollegien entscheiden zu lassen, die sich aus Künstlern, und<br />

nicht aus Laienrichtern zusammensetzen. Der schöpferische Geist des Künstlers würde von den<br />

Heimatschützern erstickt. 58<br />

56 Gurlitt, C.: Ein Angriff auf die Heimatschutzbewegung, in: Deutsche Bauzeitung, 45. Jg. 1911, S.206-212<br />

57 Liesheim, O.: Heimatschutzbund und Werdandibund, in: Neudeutsche Bauzeitung 8. Jg. 1912, S.183 f<br />

58 Payer, H.: Heimatschutz und Heimatkunst, in: Wiener Bauindustrie-Zeitung (Österreichische Bauzeitung),<br />

34.Jg. 1916, S. 19-23<br />

55


Der von Malern und Architekten vorangetriebene Heimatschutz speiste sich aus der gleichen<br />

neudeutschen Wandervogelmystik, wie der ästhetische Führungsanspruch der Künstler und<br />

Architekten. In der Programmatik des Werdandibundes hieß es 1908:<br />

„Nur dann vermag die todkranke deutsche Kunst zu gesunden, wenn die harte Germanenfaust aus<br />

völkischen Empfindungswuchten mythisch-mächtige Walkürenwolken gestaltet und aus düsterem<br />

deutschen Gestein Rolandstatuen edlerer Begrifflichkeiten ahnungsvoll und sagenfreudig erzeugt.“<br />

Die einen spannten den technikfeindlichen Nietzsche vor ihren ästhetischen Donarwagen, unter<br />

dessen barbarisch-germanischen Eisenrädern alles Untradierte zermalmt zu werden drohte; die<br />

anderen suchten und fanden bei Nietzsche einen griechischen Architekturgott, auf dessen Altar die<br />

Landschaftsästhetik und die Maßstäblichkeit der Körper dem herausragenden Entwurf des<br />

Überarchitekten geopfert wurde. Es war ein typisches Zerwürfnis innerhalb der Reformgeneration.<br />

Wohin sollte die Reise führen? In ein archaisches Nibelungen der romantisierenden kapitalismus- und<br />

technikfeindlichen Denkmalritter und Naturknappen oder in ein futuristisches Gotham City mit reinen<br />

Formen, reinen Farben und reinen Schurken und Helden, ein Territorium, <strong>das</strong> von der ungeistigen<br />

und durchschnittlichen Masse gereinigt war? In dem Joker, Superman und Catwoman mehr oder<br />

weniger unter sich wären?<br />

Die Schönheit hinter den Dingen<br />

Die Zeit zwischen 1910 und 1923 wird kunstgeschichtlich als Zeit des Expressionismus bezeichnet. El<br />

Rückblickend schrieben Lissitzky und Hans Arp 1925: „Aus Kubismus und Futurismus wurde der<br />

falsche Hase, <strong>das</strong> metaphysische deutsche Beefsteak, der Expressionismus gehackt.“<br />

Der Gegensatz zwischen dem Impressionismus und dem Expressionismus liegt vor allem darin, <strong>das</strong>s<br />

die Impressionisten malten, was sie sahen, während die Expressionisten malten, was sie fühlten, und<br />

damit die Provokation und den Tabubruch verschärften. Edmund Husserl versuchte dieser radikaleren<br />

Provokationspraxis eine Theorie zu unterlegen: Das „Schauen“ des expressionistischen Künstlers<br />

wurde dem Sehen des Impressionisten gegenübergestellt, und dieses Schauen war eine<br />

Wesensschau. Der „Sturm“-Herausgeber Kurt Hiller grenzte sich und die Expressionisten von den<br />

„Ästheten“ ab, die nur Wachsplatten für Eindrücke seien. 59 Den neuen Pinselstrichen und Affekten<br />

sollte von Anfang an – sehr deutsch und sehr zeitgemäß - ein tieferer Sinn untergeschoben und<br />

bedeutet werden.<br />

Das Palau-Archipel war eine abgelegene deutsche Inselgruppe in Ozeanien. Die Maler Erich Heckel,<br />

Karl Schmidt-Rottluff und Ernst Ludwig Kirchner betrieben ihr Atelier an einem Hauptverkehrsweg, der<br />

Berliner Straße in Dresden. Später kamen Max Pechstein und Emil Nolde hinzu, zu den<br />

Passivmitgliedern der „Brücke“ gehörte auch Edvard Munch. 1903 hatten sie die Palau-Kunst<br />

kennengelernt und etwa 1909, nachdem sie sich aus vornehmlich philosophischen, werbetechnischen<br />

wie sexuellen Motiven für „Primitiv“ entschieden hatten, dekorierten sie ihre Ateliers im eckigen,<br />

maskenhaften und dekorativ-bunten Palau-Stil. Welcher europäische Mann der Jahrhundertwende<br />

war nicht überzeugt von der Triebhaftigkeit und Exotik der Südseefrauen, die wegen ihrer<br />

Palmröckchen, prallen Lippen und exotischen Bauchtänze die Phantasie anregten.<br />

Hermann Hesse hat diesem Frauentyp in „Klingsors letzter Sommer“ (1919) ein literarisches Denkmal<br />

gesetzt:<br />

„Sie hieß Kül Kalüa, die braune scheue Prinzessin, schlank und langgliedrig schritt sie im<br />

Pisanggehölz, honigglänzend unterm saftigen Dach der Riesenblätter, Rehauge im sanften<br />

Gesicht, Katzenglut im starken, biegsamen Rücken, Katzensprung im federnden Knöchel und<br />

sehnigen Bein. Kül Kalüa, Kind, Urglut und Kinderunschuld des heiligen Südostens, tausend<br />

Nächte lagst du an Klingsors Brust, und jede war neu, jede war inniger, war holder als alle<br />

gewesen.“<br />

Speerschleudernde Lolitas nahmen Amor die Arbeit weg.<br />

59 Bengt Algot Sörensen: Geschichte der deutschen Literatur 2, Verlag C.H. Beck, 1997, S. 177 f<br />

56


Die Primitivität der Formensprache, die grellen schwarzen, gelben und roten Ornamente wie auch die<br />

naiven Vorstellungen von den Fortpflanzungsvorbereitungen der Naturkinder lieferten den Dresdner<br />

Malern eine perfekte antibürgerliche und antiakademische Plattform zum Bruch mit der Konvention<br />

und zur Provokation der materialistischen Philister.<br />

Farben und Maltechnik pappten die nackten Figuren (Personen sind dreidimensional) mit dem<br />

Hintergrund in einer Ebene zusammen. Die Erde war wieder eine Scheibe. Der glatte Hintergrund<br />

erzeugte ein zweidimensionales Raumgefühl, die Körper hatten ornamentale eckige Umrisse und<br />

wirkten hölzern, wie mit der Laubsäge aus Sperrholz gefertigt und hinterher rosa oder grünlich<br />

angelegt. Geschlechtsteile wurden größer dargestellt, als sie in der Örtlichkeit vorgefunden wurden.<br />

Später wurden die afrikanischen Modelle Sam und Milli angeheuert, welche die Distanz zwischen<br />

Dichtung und Wahrheit wieder verringerten. Kirchner begründete seine formal etwas hinfälligen<br />

Creationen tiefgründig-germanisch.<br />

„Der Romane gewinnt seine Form aus dem Objekt aus der Naturform. Der Germane schafft die<br />

seine aus der Phantasie, aus der inneren Vision, und die Form der sichtbaren Natur ist ihm ein<br />

Symbol. Für den Romanen liegt die Schönheit in der Erscheinung, der andere sucht sie hinter den<br />

Dingen.“<br />

Der andere war trotz aller Exotik deutsch-bedeutungsvoll.<br />

Am 12. September 1914 schrieb der Blaue-Reiter-Maler Franz Marc in diesem tiefgründigen<br />

ideologisch-teutonisch-verbohrten Geist von der Front an seine Frau Maria:<br />

„Ich denke so viel über diesen Krieg nach und komme zu keinem Resultat; wahrscheinlich, weil die<br />

›Ereignisse‹ mir den Horizont versperren. Man kommt nicht über die Aktion hinweg, um den Geist<br />

der Dinge zu sehen. Jedenfalls macht der Krieg aus mir keinen Naturalisten, - im Gegenteil: ich<br />

fühle den Geist, der hinter den Schlachten, hinter jeder Kugel schwebt, so stark, <strong>das</strong>s <strong>das</strong><br />

Realistische, Materielle ganz verschwindet.“ 60<br />

Einbildung ist auch eine Bildung.<br />

Der Name der Künstlerkommune „Brücke“ kann naturgemäß missgedeutet werden. Es handelt sich<br />

weder um eine Brücke von Dresden zum Palau-Archipel, auch nicht um eine Brücke der Kulturen im<br />

allgemeineren Sinne. Vielmehr war Friedrich Nietzsche der Sinn- und Namensgeber:<br />

„Was groß ist am <strong>Menschen</strong>, <strong>das</strong> ist, <strong>das</strong>s er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden<br />

kann am <strong>Menschen</strong>, <strong>das</strong> ist, <strong>das</strong>s er ein Übergang und ein Untergang ist...“<br />

Der Begriff des Expressionismus wurde nur in den deutschsprachigen Ländern verwendet, Herwarth<br />

Walden sprach 1913 ausdrücklich von „Deutschen Expressionisten". Herwarth Walden war ein<br />

teutschtümelnder Künstlername, den Elsa Lasker-Schüler frei erfunden hatte.<br />

„Vor dem Ersten Weltkrieg war der Expressionismus also fast zum Synonym für den aktuellen<br />

deutschen Anteil am internationalen Kunst- und Kulturgeschehen geworden. Eine solche<br />

Nationalisierung erfolgte, obwohl überdeutlich war, mit welcher Macht Impulse aus dem Ausland in<br />

die Malerei des Expressionismus einströmten. Die deutsche Kunstszene stritt <strong>das</strong> allerdings gerne<br />

ab.“ 61<br />

„Mit revolutionärer Verve erschienen jetzt, seit cirka 1905, die Deutschen, ihre Begabung zum<br />

faustischen in der Moderne einzubringen und der französischen Avantgarde endlich ein<br />

Gegengewicht zu bieten, eines, <strong>das</strong> aus ihrer nationalen Psyche resultierte. Eines, <strong>das</strong> sich in<br />

Worte wie die folgenden kleiden ließ: ´Der deutsche Mensch, <strong>das</strong> ist der dämonische Mensch an<br />

sich....Umgetrieben, umgewirbelt von solcher Dämonie des Werdenden und niemals Seienden<br />

erscheint der Deutsche den anderen Völkern.´ So 1925 der idealistische Philosoph Leopold Ziegler<br />

(1881 – 1958) in dem Buch ´Das Heilige Reich der Deutschen´ ... Fiebernde Unrast, Bevorzugung<br />

60 Detlev Lücke: Vorausschauender Rückblick. Das XX. Jahrhundert. Ein Jahrhundert Kunst in Deutschland. Altes<br />

Museum, <strong>Neue</strong> Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof bis 9. Januar 2000. Der Katalog zur Ausstellung<br />

61 Norbert Wolf: Expressionismus, Taschen, Köln, Seite 6<br />

57


des Prozessualen anstelle der in sich ruhenden Form, Hang zum Mystizismus – all <strong>das</strong> schien die<br />

´deutsche Wesensart´ für den neuen Stil zu prädisponieren.“ 62<br />

Man weiß natürlich nicht, ob Hermann Hesse den Propheten kannte; er schilderte in „Klingsors letzter<br />

Sommer“ einen expressionistischen Schöpfungsprozeß:<br />

„...ein Antlitz wie eine Landschaft gemalt, Haare an Laub und Baumrinde erinnernd, Augenhöhlen<br />

wie Felsspalten – sie sagten, dies Bild erinnere in der Natur nur so wie mancher Bergrücken an ein<br />

Gesicht (...) In diesen rasend gespannten Tagen lebte Klingsor wie ein Ekstatiker. Nachts füllte er<br />

sich schwer mit Wein und stand dann, die Kerze in der Hand, vor dem alten Spiegel, betrachtete<br />

<strong>das</strong> Gesicht im Glas, <strong>das</strong> schwermütig grinsende Gesicht des Säufers. (...) Er hatte einen Traum,<br />

in dem sah er sich selbst, wie er gefoltert wurde, in die Augen wurden Nägel geschlagen, die Nase<br />

mit Haken aufgerissen; und er zeichnete <strong>das</strong> gefolterte Gesicht, mit den Nägeln in den Augen, mit<br />

Kohle auf einen Buchdeckel...“<br />

Der Expressionismus verfuhr nach der Parole „Viel Feind – viel Ehr“, er versuchte durch Provokation<br />

Aufmerksamkeit zu erregen, verschaffte sich dabei ein Heer von internen und externen Feinden und<br />

nur wenige Freunde. In die Ausstellungen zogen jene aus, die <strong>das</strong> Gruseln lernen wollten. Meidner<br />

kritisierte, <strong>das</strong>s die Brücke-Maler die Negerkunst favorisierten, was von den Gegenwartsthemen<br />

ablenke, Max Beckmann beklagte die „sentimentale Geschwulstmystik“, die Dadaisten bestritten den<br />

Anspruch der Expressionisten, Kunst zu schaffen, die die Essenz des Lebens ins Fleisch brennt,<br />

Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ reihte die Expressionisten in die entartete Kunst<br />

ein, die „Linkskurve“ bezeichnete Kandinsky und Klee als darlings der Bourgeoisie und Alfred Kurella<br />

sah sie unter den Antreibern des Faschismus. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund<br />

dagegen bescheinigte ihnen „echten deutschen Charakter“. 63 Die kulturtheoretischen Fronten waren<br />

so verworren, wie die expressionistische Malerei selbst.<br />

Die Expressionisten waren, auch wenn sie sich zeitweise in Gruppen organisierten, Einzelgänger.<br />

1913 trennten sich die Wege der Brücke-Maler für immer. Nach dem verlorenen Weltkrieg sank die<br />

Produktivität von Kirchner, Pechstein, Nolde, Schmidt-Rottluff und Heckel erheblich, obwohl alle in den<br />

besten Jahren waren. Auch Beckmann, Meidner, Corinth, Barlach gerierten sich als ausgeprägte<br />

Individualisten mit einem Hang zur Exzentrik. Ludwig Rubiner fragte 1912 in der „Aktion“:<br />

„Wer sind die Kameraden? – Prostituierte, Dichter, Unterproletarier, Sammler von verlorenen<br />

Gegenständen, Gelegenheitsdiebe, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös<br />

Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Vielfraße, Pennbrüder, Einbrecher, Kritiker,<br />

Schlafsüchtige, Gesindel. Und für Momente alle Frauen dieser Welt. Wir sind der Auswurf, der<br />

Abhub, die Verachtung. Wir sind Arbeitslose, die Arbeitsunfähigen, die Arbeitsunwilligen. Wir sind<br />

der heilige Mob.“<br />

Rubiner übertrieb die Bedeutung der Frauen; sie hatten im expressionistischen Zwergenhaus<br />

allgemein die Aufgaben, welche seinerzeit Schneewittchen wahrgenommen hatte, zuzüglich die des<br />

Modellsitzens. Auf der anderen Seite untertrieb er ein wenig; unter den Kameraden waren auch<br />

mehrere Rauschgiftsüchtige, überzeugte Rassisten und Antisemiten sowie ein Mörder.<br />

Dem zeitgenössischen intellektuellen Glauben an die reinigende Kraft des Bluts geschuldet, ist die<br />

hohe Zahl an Kriegsfreiwilligen unter den Expressionisten: Franz Marc, Oskar Kokoschka, Ernst<br />

Ludwig Kirchner, Erich Heckel, George Grosz, Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Max Ernst, Otto<br />

Dix, der im expressionistischen Marktsegment führende Kunsthändler Paul Cassierer und Max<br />

Beckmann. Letzterer erklärte seine Entscheidung ästhetizistisch: er würde sich „durch sämtliche<br />

Kloaken der Welt, durch sämtliche Erniedrigungen und Schändungen hindurchwinden, um zu malen.<br />

Ich muß <strong>das</strong>.“ Im April 1915 schrieb der Sanitäter Beckmann seiner Frau, <strong>das</strong>s der Krieg seiner Kunst<br />

zu fressen gäbe. Im Sommer desselben Jahres spalteten sich Ideologie und Realität, ihm wurde<br />

endlich schlecht und er brach zusammen. Dix dagegen hielt durch und wurde mit dem Eisernen Kreuz<br />

dekoriert.<br />

62 s.o. S. 7<br />

63 Norbert Wolf: Expressionismus, Taschen, Köln, S. 22 ff<br />

58


„Der Krieg ist eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges. Das durfte ich auf keinen<br />

Fall versäumen. Man muß den <strong>Menschen</strong> in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um<br />

etwas über den <strong>Menschen</strong> zu wissen.“ 64<br />

Dix wusste hinterher noch weniger über den <strong>Menschen</strong>, als vorher.<br />

Der Anteil der kriegführenden Expressionisten wäre noch höher gewesen, wenn nicht viele Ausländer,<br />

Frauen oder zu alt gewesen wären. Für Kandinsky, Werefkin, Jawlensky, Feininger und Münter war<br />

die Meldung an die Front wegen feindlicher Staatsbürgerschaft schlicht nicht möglich, Rohlfs und<br />

Corinth waren viel zu alt zum Kriegsspielen.<br />

Nachdem der Expressionismus 1932 als Mode ausgedient hatte, verwendete der völkische Adolf Hitler<br />

ein expressionistisches Wahlplakat. Wollte Hitler mit diesem Plakat, <strong>das</strong> inhaltlich dem obligaten<br />

Führerkult verschrieben war, 1932 in ein fremdes ästhetisches Territorium und damit in ein fremdes<br />

Wählerpotential eindringen? Immerhin ist es nicht grau-in-grau, sondern braun-in-braun gehalten.<br />

Hitler selbst malte etwas mehr impressionistisch, als expressionistisch. Das beweisen im „Stern“<br />

abgedruckte Flandern-Bilder Hitlers, die hier aus rechtlichen Gründen nicht wiedergegeben werden.<br />

Das blieb eine Eintagsfliege. Hitler malte selbst impressionistisch was er sah; mit einem kleinen<br />

expressionistischen Anflug, was er fühlte; mehr fühlte er sich als reifer Politiker zu den sozialistischen<br />

Realisten hingezogen, welche lieber malten, was sie hörten.<br />

Politisierung der elitären Kunst<br />

Im Werk von Käthe Kollwitz hatte sich bereits 1899 eine verwirrende Episode der Gewalt offenbart, die<br />

man politisch deuten konnte. In Ihrem Bild „Aufruhr“ waren alle Waffengattungen verteten, von der<br />

archaischen Hellebarde über die Sense, die Axt bis zum frühen Maschinengewehr. Auf einem Hügel<br />

im Hintergund brennt ein Gebäude, aber die Fanatiker scheinen von diesem Gebäude herzukommen.<br />

Ihr Tatendurst hatte sich dort offensichtlich noch nicht erschöpft.<br />

Nietzsche, Wagner und George hatten die Politisierung der Kunst abgelehnt, da diese dabei mit der<br />

Masse oder zumindest mit unwürdigen Individuen in Berührung käme.<br />

„Einst war der Geist Gott, dann wurde er zum <strong>Menschen</strong> und jetzt wird er gar noch Pöbel“. 65<br />

Bereits in der Spätkaiserzeit bekam der von den reformistischen Patriarchen zwischen Kunst und<br />

Politik aufgerichtete Damm feuchte Stellen und kurz vor dem Krieg erste Risse. Im Weltkrieg brach er.<br />

Die erste expressionistische Zeitschrift, die sich offen politisch bekannte, war die „Aktion“, die den<br />

Untertitel „Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst“ trug und seit 1911 erschien. Sie ließ vor dem<br />

Krieg eine große Bandbreite der Meinungen zu und schwenkte nach dem Weltkrieg wie viele andere<br />

Kulturpublikationen auf eine linkselitaristische Richtung ein, <strong>das</strong> heißt sie wurde für Wandervögel<br />

geschrieben, die sich mit Marx im Schnellkurs beschäftigt hatten, oder über Dritte von ihm gehört<br />

hatten.<br />

Die politischen Gedanken waren am Vorabend des Weltkriegs in der Elitaristenszene auf dem<br />

Vormarsch, auch wenn sie sich nicht unmittelbar parteipolitisch demaskierten.<br />

„Im Milieu des gingen künstlerische und politische Revolution nahtlos ineinander über. Die<br />

Kunst entdeckte ihr Potential als visuelle Propagandamaschine; Der Aufstand wurde auf der Leinwand<br />

geprobt. Diese Neudefinition von Kunst als erneuernde gesellschaftliche Funktion wirkte auf die<br />

Ideologien nicht nur des Dadaismus und des Bauhauses, sondern auch des Dritten Reiches.“ 66 Im<br />

Weltkrieg setzte sich die Indienststellung der Kunst fort. Nach dem Krieg wurden gerade die<br />

schlimmsten Kriegshetzer oft bekennende Sozialisten, Kommunisten oder Pazifisten. Das war keine<br />

spezifisch deutsche Erscheinung, sondern eine mitteleuropäische.<br />

64 s.o. S. 28 ff<br />

65 F. Nietzsche: Die Reden Zarathustras, Vom Lesen und Schreiben<br />

66 Kunst der Weimarer Republik. Meisterwerke der Nationalgalerie, Du Mont, 2004<br />

59


Umgekehrt wurden aus Pazifisten und Kriegskreditverweigerern unvermittelt Bürgerkriegs- und<br />

Revolutionshelden oder bluttriefende Kommissare, wenn auch nur ein Zipfelchen der Macht zu<br />

ergattern war. Pazifismus und Gewaltlosigkeit gingen prinzipiell getrennte Wege, was nicht nur für Karl<br />

Liebknecht, Rosa Luxemburg und Lenin zutraf. Das war in der Münchner Räterepublik genauso, wie in<br />

den Berliner Revolutionskämpfen, von der zutiefst militaristischen Sowjetunion und ihrem<br />

stacheldrahtumwickelten Satelliten DDR ganz zu schweigen.<br />

Antibürgerlichkeit, Nonkonformismus, Nationalismus und Kommunismus konnten sich völlig<br />

durchdringen und die Auswüchse dieser Ideologien verwuchsen zu gordischen Knoten. Den Zenit der<br />

Heterodoxie verkörperte die Zenitistenbewegung in Jugoslawien. Die Zeitung „Zenit“ wurde 1921 als<br />

expressionistisches Organ gegründet. Nach der Übersiedlung von Zagreb nach Belgrad 1923 verließ<br />

man den Dunstkreis Kakaniens und der Eklektizismus der Zeitung verschärfte sich. „Das zeigte sich in<br />

der dadaistischen und konstruktivistischen Typographie, und den oft paradoxen exotischen,<br />

variierenden Inhalten, die vom Linksrevolutionären über den kapitalistischen Amerikanismus und<br />

Modernismus bis zu rechtslastigen utopischen Visionen reichten, die sich an Nietzsches Idee des<br />

Übermenschen orientierten.“ 67 Der Nationalist Ljubomir Micíc wollte in einem futuristischen Affekt die<br />

Idee der Balkanisierung Europas verbreiten:<br />

„Zum zweiten Male soll man die faulen Früchte der europäischen Pseudokultur und Zivilisation<br />

vernichten. Das tun schon EUROPAS BARBAREN“. 68<br />

1926 mußte die Zeitung „Zenit“ wegen kommunistischer Propaganda verboten werden und nachdem<br />

sich <strong>das</strong> politische Blatt nach 1945 gewendet hatte, steckte der kommunistische Marschall Tito den<br />

dekadenten, exzentrischen und nationalistischen Micic ins Armenhaus.<br />

Es drängt sich rückblickend die Frage auf, warum aus parteipolitisch ungebundenen Expressionisten<br />

nach dem Weltkrieg Parteigänger Stalins und Hitlers wurden. Die Antwort ist sehr einfach. Die<br />

ersehnte Reinigungskatastrophe, der erste Weltkrieg hatte mit Geländegewinnen verheißungsvoll<br />

begonnen, nach dem Sonderfrieden im Osten im Frühjahr 1918 jubilierten einige reformistische<br />

Optimisten wie Fidus, Tucholsky, Döblin und Rathenau, weil sie sich am Ziel glaubten. Ende 1918 war<br />

jedoch klar geworden, <strong>das</strong>s Deutschland als Träger der elitären Kultur den Krieg gegen England,<br />

Frankreich und Amerika als Wahrer einer tradierten bürgerlichen Ordnung verloren hatte. Alle<br />

Naturgesetze der idealistischen Alchimie hatten versagt; <strong>das</strong> unmöglich geglaubte war eingetreten:<br />

<strong>das</strong> vermeintlich junge idealistische Deutschland hatte weniger Kraft entwickelt, als die alten angeblich<br />

ver<strong>braucht</strong>en Mächte des Materialismus. Die deutsche Niederlage konnte nach dem<br />

Epochenverständnis der mitteleuropäischen Intelligentsia nicht durch die Ohnmacht des Idealismus<br />

entstanden sein; man hatte sich in der Rolle und Charakteristik Deutschlands getäuscht, und<br />

Russland als Hort der Erneuerung unterschätzt. Man versammelte sich an den Offenbarungen der<br />

leninschen Imperialismustheorie und machte sich den Leninschen Epochenbegriff zu eigen, der<br />

durchaus nicht zufällig zum eigenen Weltbild passte.<br />

Die verschiedenen Quellen, die in Schwabing entsprungen waren, vereinigten sich wieder zu einem<br />

einzigen Strom. Im Osten geht die Sonne auf. Im Osten war mit der Oktoberrevolutiion eine neue<br />

Verheißung und eine intellektuelle Verlockung entstanden: der alten Welt Europas einen jungen<br />

verheißungsvollen, kraftvollen und antibürgerlichen Gegenpol zu präsentieren, der in der<br />

Anfangsphase konstruktivistische und expressionistische Experimente zuließ und den durch die<br />

Kriegsniederlage verzweifelten deutschen Expressionisten ein geistiges Shangri La bescherte. Nichts<br />

wollte man mehr mit der Niederlage zu tun haben, die Vorkriegsaktivitäten wurden verdrängt und man<br />

gab sich als scharfer Kriegsgegner aus.<br />

Beispiel: Walter Rößner wetterte 1919 gegen den Machtfrieden der Entente-Bourgeoisie, ein Jahr vorher hatte er<br />

noch <strong>das</strong> Deckblatt von „Wieland, Deutsche Monatsschrift für Kunst und Literatur“ mitgezeichnet. Da war <strong>das</strong><br />

Soldatenleben im besetzten Osten noch charmant. Rößner ging 1919 zum Bauhaus.<br />

Die Vorkriegsteutonen Käthe Kollwitz, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Heinrich Vogeler, Herwarth<br />

Walden, Alfred Paquet, Alfred Kerr, Adolf Grabowsky, Ernst Toller und viele andere gaben sich nicht<br />

nur pazifistisch, sondern sahen in Sowjetrußland, später in der Sowjetunion die Sonne des Aktivismus<br />

und Elitarismus aufgehen.<br />

67 !Avant!garden in Mitteleuropa 1910 bis 1930. E.A. Seemann Verlag 2002, S. 119<br />

68 !Avant!garden in Mitteleuropa 1910 bis 1930. E.A. Seemann Verlag 2002, S. 35<br />

60


Es waren nicht Lenins langweilige Schriften, welche die deutschen Expressionisten als Botschaften<br />

der Oktoberrevolution zur Kenntnis nahmen. Solche wolkigen Sentenzen wie die folgende aus dem<br />

Artikel „Catilina“ von Alexander Blok begeisterten eher und stellten die Brüderschaft im Geiste her:<br />

„Man muss starke Schwanenschwingen haben, um emporzuschweben, lange in der Luft zu<br />

verweilen, um dann unversehrt zurückzukehren, ohne von jenem Weltbrand versengt zu werden,<br />

dessen Zeugen und Zeitgenossen wir sind; dieser Brand wächst und wird sich noch lange und<br />

unaufhaltsam verbreiten, wird seine Feuerherde von Ost nach West und von West nach Ost jagen,<br />

bis endlich die gesamte alte, morsche Welt zu Schutt verbrennt.“<br />

Das war Nietzsche vom reinsten Wasser; diese Sentenzen hatten mit Marx und Engels nicht einmal<br />

soviel zu tun, wie ein grönländischer Eskimo mit einem Broker in der Wallstreet.<br />

Wichtiger noch als die idealistische Gesinnung zu retten: man war sogenannter Sieger der<br />

Geschichte, wenn man sich als Anhänger Lenins und Stalins fühlte und begriff. Als Sieger der<br />

Oktoberrevolution (später auch nach Mussolinis Marsch auf Rom) hatte man in seiner antibürgerlichen<br />

Haltung der Vorkriegszeit Recht behalten, man war trotz Deutschlands Niederlage ideologisch<br />

bestätigt worden und die Ahnung vom Sieg des kraftvollen Idealismus über den abgelebten<br />

Materialismus der alten Welt war in Erfüllung gegangen. Damit <strong>das</strong> schräge Siegespanorama ganz in<br />

sich stimmte, musste Deutschland den Siegermächten in seiner historischen Überholtheit<br />

gleichgestellt werden. Das revolutionäre Russland grenzte sich von der übrigen mehr oder weniger<br />

kapitalistischen Welt scharf ab und die Intellektuellen folgten dieser Sicht. Deutschland war besiegt,<br />

aber der Nietzscheanismus und der <strong>Neue</strong> Mensch in den Höhen des expressionistischen Geistes<br />

waren gerettet worden. Diese Präferenz für die einmal eingepaukten ideologischen Glaubenssätze<br />

und die Flexibilität in deren Umsetzung zeigte sich 1933 ein weiteres Mal, als einige ausgewiesene<br />

Exponenten der proletarischen Kunst ins Braunhemd schlüpften, nur weil sie Hitlers<br />

Germanenschwärmerei als irdische Wiederspiegelung ihrer reformistischen Ersatzreligion erahnten<br />

und „erschauten“. Den Grundansatz, einen antibürgerlichen Homunkulus zu erschaffen, teilten<br />

Expressionismus, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Die Braunen gaben ihren<br />

rassistischen Ansatz offen zu. Die Roten führten den Kampf um die Vorherrschaft der russischen<br />

Rasse und die Überlegenheit von Parteifunktionären hinter dem Bühnenbild des Klassenkampfs, der<br />

in nachrevolutionären Zeiten der klassenlosen Kastengesellschaft eine steinzeitliche Kulisse war.<br />

Ein Teil der Expressionisten lief der KPD hinterher, der andere Teil und die überwiegende Mehrzahl<br />

der reformistischen und ästhetizistischen Kulturbürger igelte sich in den zwanziger Jahren im Schrein<br />

der reinen Kunst ein und entschied sich 1933 zwischen Emigration, stillschweigender Zustimmung und<br />

zur Schau gestellter Begeisterung.<br />

Auch im abgeschotteten Tempel der reinen Kunst wurde sublim politisiert: Hermann Hesse legte 1919<br />

seinem literarischen Sprachrohr, dem Maler Klingsor, folgende Worte in den Mund:<br />

„Ich glaube nur an eines: an den Untergang. Wir fahren in einem Wagen über dem Abgrund, und<br />

die Pferde sind scheu geworden. Wir stehen im Untergang, wir alle, wir müssen sterben, wir<br />

müssen wieder geboren werden, die große Wende ist für uns gekommen. Es ist überall <strong>das</strong><br />

gleiche: der große Krieg, die große Wandlung in der Kunst, der große Zusammenbruch der<br />

Staaten des Westens. Bei uns im alten Europa ist alles <strong>das</strong> gestorben, was bei uns gut und unser<br />

eigen war; unsre schöne Vernunft ist Irrsinn geworden, unser Geld ist Papier, unsre Maschinen<br />

können bloß noch schießen und explodieren, unsre Kunst ist Selbstmord.“<br />

Es war eben nicht überall <strong>das</strong> gleiche: die Vereinigten Staaten, <strong>das</strong> Vereinigte Königreich und viele<br />

Staaten des Westens spürten nichts vom bevorstehenden Verderben; nur der deutsche<br />

Expressionismus arbeitete an seinem Selbstmord und die deutsche Republik an ihrem Untergang. In<br />

der ideologischen Schusterstube Hermann Hesses wurde der Westen über den selbstgebastelten<br />

teutonischen Leisten geschlagen, ohne <strong>das</strong>s es etwas nützte: die ausgetretenen deutschen<br />

Schlappen fielen von den Füßen, während Amerika vorbeizog und trotz einiger selbstgemachter<br />

Unzulänglichkeiten für eine gewisse Zeit Weltmacht wurde.<br />

Hesse ließ seinen Klingsor bramarbasieren:<br />

„.. ich spreche von Europa, von unserem alten Europa, <strong>das</strong> zweitausend Jahre lang <strong>das</strong> Gehirn der<br />

Welt zu sein glaubte. Dies geht unter. (...) Aber wir gehen gerne unter, du, wir sterben gerne, aber<br />

61


wir wehren uns nicht. (...) Hoffentlich wird auch <strong>das</strong> Ende dann ein plötzliches sein und diese<br />

betrunkene Welt untergehen, statt wieder in ein bürgerliches Tempo zu verfallen.“<br />

Die Welt ging trotz aller Mühen nicht unter. Selbst die deutsche Uhr verfiel unter Dr. Konrad Adenauer<br />

endlich wieder in ein bürgerliches Tempo.<br />

Der Protest deutscher Künstler gegen den bedrohlichen Import französischer Kunstware<br />

In den finsteren nordischen Mooren um Worpswede, in welchen die alten Sachsen ihre Verräter<br />

ersäuft hatten, holten sich zahlreiche Maler, die später Nationalsozialisten und Stalinisten wurden, ihre<br />

Landschaftsmotive. Ferdinand Krogmann hat in seinem Aufsatz: Rilke als „Kulturheld des Jahres“ 69<br />

auf Rainer Maria Rilkes Buch "Worpswede" hingewiesen, in dem er als erster die Worpsweder<br />

Künstler vorstellte: Fritz Mackensen (1866-1953), Otto Modersohn (1865-1943), Fritz Overbeck (1869-<br />

1909), Hans am Ende (1864-1918) und Heinrich Vogeler (1872-1942). Mehrfach hob Rilke die<br />

"deutsche" und "nordische" Tendenz der Worpsweder Kunst hervor. In der Einleitung schrieb er, er<br />

wolle von zehn Jahren "ernster, einsamer deutscher Arbeit" berichten. Otto Modersohn ist für ihn "ein<br />

stiller, tiefer Mensch" der "seine eigene, deutsche, nordische Welt" hat. Heinrich Vogeler erscheint ihm<br />

als "der Meister eines stillen, deutschen Marienlebens". Über Fritz Mackensen heißt es, die<br />

<strong>Menschen</strong>, die er gesucht und gefunden habe, seien stille, nordische Gestalten; sein Bild "Der<br />

Säugling" gleiche einem Herbstapfel, einer "nordischen Frucht". "Nordisch" seien auch die Klänge, die<br />

Overbeck liebe, und "nordisch" die Schwermut, die manchmal aufkomme, "wo Bäume und Brücken<br />

wie von den Schatten unsichtbarer Dinge verdunkelt sind".<br />

Weniger durch metaphysische Landschaften, als durch eine Streitschrift wurde ein anderer<br />

Worpsweder bekannt, nämlich Carl Vinnen. 1894 war Vinnen der Antreiber bei der Gründung der<br />

"Künstlervereinigung Worpswede" gewesen. Als Landschafter war er durchaus respektabel. 1899<br />

beispielsweise kaufte der Bremer Kunstverein sein großformatiges, fast drei mal zwei Meter großes<br />

Moor-Gemälde "Ruhe an einem Vorfrühlingstage", <strong>das</strong> in der Kunsthalle Bremen hängt. 1911 wurde<br />

<strong>das</strong> Einvernehmen zwischen dem Bremer Kunsthallen-Direktor Pauli und dem Maler Vinnen allerdings<br />

jäh gestört. Pauli hatte eine Skizze von van Gogh für 30.000 Mark erworben, was den Neid Vinnens<br />

und anderer lokaler Größen der Pinselzunft hervorrief.<br />

Nach einem ersten Kräftemessen zwischen Vinnen und Pauli in der Bremer Lokalpresse erschien<br />

Mitte April 1911 im Jenaer Verlag Eugen Dietrich der "Protest deutscher Künstler". Er stand unter dem<br />

lateinischen Motto: "Quousque tandem!", welches Cicero, seinen Reden gegen den Aufwiegler<br />

Catilina voranstellte: "Wie lange noch ...?". Bei Vinnen wurde <strong>das</strong> "quousque tandem" zur<br />

Aufforderung, sich gegen die Übermacht französischer Kunst zu verteidigen:<br />

"Angesichts der großen Invasion französischer Kunst, die sich seit einigen Jahren bei uns vollzieht,<br />

scheint es mir ein Gebot der Notwendigkeit zu sein, <strong>das</strong>s deutsche Künstler ihre warnende Stimme<br />

erheben." Deutschland werde „mit großen Massen französischer Bilder überschwemmt. Es sind<br />

durchschnittlich die Überreste, die uns gegönnt werden, nämlich <strong>das</strong>, was <strong>das</strong> Heimatland und die<br />

großen amerikanischen Börsen übriggelassen haben. Dass ab und zu noch Perlen darunter sind,<br />

soll nicht bestritten werden, aber die Menge ist doch derartig, <strong>das</strong>s es für die Überlegenheit der<br />

französischen Kunst keine genügende Beweise liefert...wie z.B. der Fall unseres neuen van Gogh<br />

zeigt, der 30.000 Mark kostete, <strong>das</strong>s im allgemeinen eine derartige Preistreibung französischer<br />

Bilder stattgefunden hat, <strong>das</strong>s hier eine Überwertung vorzuliegen scheint, die <strong>das</strong> deutsche Volk<br />

nicht auf die Dauer mitmachen sollte. (...) In den gewaltigen Kämpfen um die neue Richtung ist ein<br />

Kunstliteratentum entstanden, <strong>das</strong> aus den treuen Bundesgenossen der Künstler allmählich eine<br />

selbständige Macht geworden ist, die instinktiv mit dem Künstler um die Seele des Volkes ringt.<br />

Gleichberechtigt mit den Schaffenden dekretieren sie die Richtungen, bannen oder sprechen heilig,<br />

und wirken, bei bester Überzeugung, ganz ungemein gefährlich auf die heranwachsende<br />

Künstlerjugend. (...) Auf den Schwingen der Kunstliteratur kommt diese Bilderflut ins Land, und hier<br />

berauscht sich an ihr wieder die Literatur aufs neue; diese Begeisterung in der Presse verhilft den<br />

Händlern zu exorbitanten Preisen nun wieder, um die Bilder an deutsche Sammler loszuwerden."<br />

"Worin liegt der große Nachteil dieser Einführung fremder Kunst, sobald die Spekulation sich ihrer<br />

bemächtigt? Nun, vor allem in der Überschätzung fremden Wesens, <strong>das</strong> unserer eigenen,<br />

ursprünglichen Veranlagung nicht adäquat ist. Die Errungenschaften seit Monet sind der<br />

69 Ossietzky, Nr. 13, 2003<br />

62


Oberfläche der Dinge gewidmet. Die Epidermis der Welt der Erscheinungen, wenn ich dies etwas<br />

kühne Bild hier brauchen darf. Aber die Eigenart unsers Volkes liegt letzten Endes auf anderm<br />

Gebiete. Vertiefung, Phantasie, Empfindung des Gemütes, man versteht mich vielleicht besser,<br />

wenn ich Namen nenne, Rethel, Menzel, Leibl, Boecklin, Marées - <strong>das</strong> scheint mir unsere Eigenart<br />

zu sein. Und wo fremde Einflüsse nicht nur verbessern, sondern von Grund aus umgestalten<br />

wollen, da liegt eine große Gefahr für unser Volkstum vor."<br />

"Wenn wir nun aber sehen, wie zum Beispiel neuerdings in Deutschland für flüchtige Studien van<br />

Goghs, selbst für solche, in denen ein Künstler die drei Dimensionen vermisst, Zeichnung, Farbe<br />

und Stimmung, 30- 40.000 Mark anstandslos bezahlt werden, wie nicht genug alte Atelierreste von<br />

Monet, Sisley, Pissarro und so weiter auf den deutschen Markt gebracht werden können, so muss<br />

man sagen, <strong>das</strong>s hier eine Überwertung vorzuliegen scheint, die <strong>das</strong> deutsche Volk nicht auf<br />

Dauer mitmachen sollte."<br />

Vinnens Streitschrift gipfelte in der Folgerung:<br />

"Zur Höhe wird ein Volk nur gebracht durch Künstler seines Fleisches und Blutes."<br />

Vinnes Protest wurde von 123 Künstlern unterstützt, darunter von den späteren Kriegsfreiwilligen Max<br />

Beckmann und Hans Ende, vom späteren Vorsitzenden des "Kampfbundes für deutsche Kultur" Fritz<br />

Mackensen, von der Stalinistensympatisantin Käthe Kollwitz, vom zukünftigen Emigranten Thomas<br />

Theodor Heine, vom Brücke-Kommunarden Schmidt-Rottluf und vom Symbolisten Franz von Stuck.<br />

Der "Protest deutscher Künstler" forderte auch Widerspruch heraus: Der Münchner Verleger Reinhard<br />

Piper veröffentlicht eine Erwiderung. Die Federführung lag bei dem Bremer Schriftsteller und<br />

Mitgründer des Insel-Verlages, Alfred Walther Heymel. Zum Herausgeberkreis gehörten die Maler<br />

Franz Marc, August Macke und Wassilij Kandinski. Im Juli 1911 erschien der Anti-Vinnen unter dem<br />

Titel: "Im Kampf um die Kunst. Die Antwort auf den "Protest Deutscher Künstler":<br />

"Es gibt nur eins, womit Ihr Protest nichts zu tun hat, und <strong>das</strong> ist die Kunst, für manchen eine Frau,<br />

und für andere eine heissumworbene Geliebte. Man kann aber auch eine Markthalle daraus<br />

machen....“<br />

kommentierte Max Pechstein die Diskussion über <strong>das</strong> liebe Geld für Ankäufe. Max Slevogt setzte sich<br />

mit der deutschen Tiefe der Anschauung auseinander:<br />

"Das alarmierende Wort macht nachdenklich. Ich fürchte, soll<br />

wieder einmal so viel heißen, wie im Leiterwagen fahren, wenn alle Welt im Auto fährt. Ich fürchte,<br />

es handelt sich um eine blasse Ängstlichkeit vor Fortschritt, vor Freierem. Angst der russischen<br />

Bärte vor der Kulturschere. Angst um Güter, die wir noch garnicht besitzen!"<br />

Der Herausgeber Heymel verfasste <strong>das</strong> Schlusswort und verhedderte sich in der modischen<br />

Rassenlehre.<br />

"Waren die drei großen einsamen Niederländer Breughel und Rembrandt und neuerdings van<br />

Gogh, etwa keine Deutschen? Gibt es in der Malerei und in der Kunst überhaupt<br />

Landkartengrenzen? Ist nicht <strong>das</strong> Ausschlaggebende <strong>das</strong> Rassen-Empfinden? (...) Wer von Talent<br />

kann heute noch in Europa von sich sagen, ich bin Germane, ich bin Romane, ich dies, ich <strong>das</strong>." 70<br />

Spiegelbildlich wiederholte sich der ganze Vorgang in Frankreich: Der Ausländer Picasso wurde als<br />

Verführer der französischen Künstlerjugend angefeindet. Der mit allen geschäftsfördernden Wassern<br />

gewaschene Picasso wusste seinen Wert als Maler raffiniert zu steigern; so wie Bob Dylan nie in einer<br />

Hitparade platziert war und im Radio so gut wie nicht gespielt wurde, um dagegen die metaphysische<br />

akustische Kulisse von revolutionären Untergrundversammlungen abzugeben, so mied Picasso die<br />

Galerien und Kunstausstellungen. Sein gerissener Galerist Kahnweiler zeigte ausgewählten<br />

Kunstfreunden in verschwörerischer Manier die Werke Picassos in Fotoalben; es handelte sich um<br />

Bückware aus der untersten Schublade des Ladentischs.<br />

70 Radio Bremen, Fachredaktion Kultur / Feature, Redaktion: Michael Augustin, Sendedatum: 20.10.02<br />

Nordwestradio<br />

63


„Der von Kahnweiler und Picasso mit System betriebenen Abschottung gegenüber der Pariser<br />

Öffentlichkeit stand andererseits <strong>das</strong> Faktum gegenüber, <strong>das</strong>s Kahnweiler Picasso in Deutschland,<br />

insbesondere in München, in London und Amerika publik machte und einen internationalen elitären<br />

Kreis von Sammlern pflegte, was den Eindruck förderte, es handle sich bei diesem hermetischen<br />

Kreis um eine aus Ausländern bestehende kulturelle Enklave in Paris.“ 71<br />

Um die Jahrhundertwende formierten sich auch in Frankreich jene, welche einen besonderen<br />

lateinischen oder französischen Volkscharakter als treibende Kraft der Kunst ausmachten.<br />

„Vauxelles und die gesamte Kunstkritik beschäftigte die Frage, ob diese neue Richtung des<br />

Kubismus französisch sei oder ein aus dem Ausland eingeschleustes trojanisches Pferd (...) Aber<br />

sofort wird der Ausländer Picasso als Drahtzieher ausgemacht, der die junge Generation verführt<br />

und verblendet.“<br />

Unter Bezugnahme auf eine Ausstellung von Kubisten protestierte Jules-Louis Breton in der<br />

Deputiertenkammer:<br />

„Es darf in der Tat nicht zugelassen werden, <strong>das</strong>s unsere öffentlichen Gebäude derartigen<br />

antikünstlerischen und antinationalen Manifestationen dienen.“<br />

Selbst in Kubistenkreisen sublimierte man den kleinen Unterschied: Braque ließ wissen:<br />

„Picasso ist Spanier, ich bin Franzose; wir wissen um alle damit verbundenen Unterschiede.“<br />

Braque setzte Gesinnungsgenossenschaft voraus, denn diese Unterschiede wurden von ihm nicht<br />

näher beniemst.<br />

Zu einem Eklat kam es bei einer Versteigerung moderner Kunstwerke am 2. März 1914 in Paris:<br />

Bonnard erzielte 720 Fr., van Gogh 4.200, Fr. Matisse 5.000 Fr. und Gauguin 4.000 Fr. Picassos<br />

„Famille de Santimbanques“ erzielte 11.500 Fr., die durch den Münchner Kunsthändler Thannhäuser<br />

geboten wurden. Rufe wie „Das ist <strong>das</strong> Ende der Kunst!“ und „Das ist Anarchie, der Krieg ist nicht<br />

mehr weit!“ hallten durch <strong>das</strong> Versteigerungsgemäuer. Der Kritiker Maurice Delcourt giftete in „Paris-<br />

Midi“:<br />

„Die grotesken mißgestalteten Werke einiger unerwünschter Ausländer haben nun fette Preise<br />

erzielt, und wie wir seit 14 Tagen mit gutem Grund immer wieder voraussagten, waren es<br />

Deutsche, die diese Preise gezahlt, bzw. bis zu diesen Preisen hinaufgesteigert haben. Ihr Plan ist<br />

nun klar. Naive junge Maler werden ihnen unweigerlich in die Falle gehen...So gehen nach und<br />

nach Maß und Ordnung unserer völkischen Kunst verloren – zur großen Freude des Herrn<br />

Thannhäuser und seiner Landsleute...“ 72<br />

Vinnen und Heymel standen im Grunde vereint auf dem ideologiebelasteten Boden des<br />

Rasseempfindens. Ihre französischen Widersacher unterschieden sich darin nicht wirklich. Heymel<br />

machte aus van Gogh einen Deutschen, um <strong>das</strong> Problem der französischen Überfremdung im<br />

deutschen Museumsbetrieb zu lösen. Dies und <strong>das</strong>, Rasse oder Klasse; der sechste Tag der<br />

Schöpfung blieb den meisten Malern zunächst ein Rätsel, wie die daraus folgende Lehre vom<br />

universalen <strong>Menschen</strong>geschlecht. Die Ausstellungshallen beidseits der Vogesen waren ideologische<br />

Vorhöfe der Kriegshölle.<br />

Scharnierpersonen zwischen Politik, Kultur und Wirtschaft<br />

Jede Untersuchung paradigma-gelenkter oder paradigma-zerstörender Forschung muß mit der<br />

Lokalisierung der verantwortlichen Gruppe oder Gruppen beginnen, forderte Thomas S. Kuhn. So<br />

wollen wir es tun.<br />

71 Norbert Knopp: Picasso, „Pére Ubu Kub”. In www.architekturmuseum.de/festschrift-schmoll/pdf/knopp/pdf<br />

72 s.o.<br />

64


Oskar Maria Graf reflektierte im ersten Weltkrieg unter Berufung auf verschiedene große Geister,<br />

darunter Nietzsche, über Egoismus und Gemeinsamkeit, über Herz und Gefühl. Im Zweiten Weltkrieg<br />

machte er sich dagegen Gedanken, woran es wohl gelegen haben könne, <strong>das</strong>s der<br />

Nazionalsozialismus Fuß fassen konnte. Seine Antwort lautete:<br />

„weil die ganze europäische Intelligenz den so dithyrambisch wohlklingenden Gewaltmythos des<br />

Herrn Nietzsche angenommen hat.“<br />

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren erste Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft und Kultur<br />

hergestellt worden. Einige herausragende Scharnierpersönlichkeiten waren Friedrich Naumann, Harry<br />

Graf Kessler, Edgar Jaffé und Walther Rathenau.<br />

Friedrich Naumann verfügte durch eine lange politische und publizistische Karriere über zahlreiche<br />

Kontakte zu Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern und Wirtschaftsführern. Die Präsenz speiste sich<br />

nicht nur aus Bekanntschaften, sondern <strong>das</strong> Interesse des Politikers für wirtschaftliche und kulturelle<br />

Fragen war einfach da und es war stark ausgeprägt. Seine Aufsätze "Die Kunst im Zeitalter der<br />

Maschine", "Deutsche Gewerbekunst" und "Neudeutsche Wirtschaftspolitik" bezeichnen sein Interesse<br />

für Wirtschaft und Kultur. Er wird als einer der geistigen Wegbereiter des Werkbunds bezeichnet und<br />

gehörte 1907 auch zu dessen Gründungsmitgliedern. Sein Bekanntenkreis zeichnet sich auch bei der<br />

Gründung der DDP ab: Naumann wurde nicht zufällig als erster Vorsitzender gewählt, die<br />

Gründungsmitglieder Albert Einstein, Hugo Preuß, Otto Schott, Hjalmar Schacht und Max Weber<br />

kannten ihn, genauso wie die Politiker anderer Parteien, da er seit 1907 Reichstagsmitglied gewesen<br />

war.<br />

Eine ebensogroße Bandbreite der Interessen, der Wirksamkeit und der Bekanntschaften hatte Walther<br />

Rathenau. Er war in Gremien von 86 deutschen und 21 ausländischen Unternehmen vertreten, kannte<br />

durch seine Tätigkeit als Kriegswirtschaftsführer <strong>das</strong> halbe Kriegsministerium (z.B. General Erich<br />

Ludendorff) und war mit dem Kulturmäzen und Nietzsche-Medium Harry Graf Kessler ebenso<br />

bekannt, wie mit dem Lebensreformideologen Wilhelm Schwaner. Seine Verwandschaft mit Max<br />

Liebermann beeinflußte ihn ebenso wie die mit Peter Behrens, dem er die Türen für seine Tätigkeit als<br />

Industriedesigner bei Siemens öffnete. Die Wissenschaftler Ernst Mach und Albert Einstein gehörten<br />

ebenso zum Bekanntenkreis wie Reichskanzler Theodor von Bethmann-Hollweg.<br />

Naumann und Rathenau waren orientierungslose Wanderer zwischen gefährlichen Welten. Das<br />

spiegelt sich nicht nur in der späteren Lebensgeschichte einiger Bekannter, sondern auch in ihren<br />

ideologischen Überlegungen selber. Bereits im Juli 1898 hatte Rathenau in Maximilian Hardens<br />

Zeitschrift „Zukunft“ unter dem Titel „Transatlantische Warnsignale“ den bevorstehenden Kampf um<br />

die Welthegemonie zwischen dem jungen Russland und dem alten England prognostiziert, um<br />

Deutschland den imperialistischen Kampf an der Seite Russlands anzuempfehlen.<br />

„Uns aber weisen alle Zeichen nach Osten und Aufgang“.<br />

Solche Empfehlungen hatten mit der Bismarckschen Gleichgewichtspolitik nichts mehr zu tun, hier<br />

ging es Rathenau um die Neuafteilung der Erde und den Platz an der Sonne. Rathenau setzte sich für<br />

eine aktivere Rolle des Staates bei der Sicherung der Zukunftsinteressen Deutschlands ein. In seiner<br />

Schrift "Von kommenden Dingen", die 1916 verfaßt wurde, schrieb er:<br />

"Das Ziel aber ist der materiell unbeschränkte Staat. Er muß mit seinen Mitteln dem Bedürfnis<br />

vorauseilen, nicht nachhinken...Er soll eingreifen können in jeder Not, zu jeder Sicherung des<br />

Landes..."<br />

Was meinte er mit dem materiell unbeschränkten Staat? Meinte er eine idealisierte Diktatur? Eine<br />

ideale marx´sche Planwirtschaft ohne Proletarier oder eine berufsständische Ordnung ohne<br />

Handwerker und Landwirte? Rathenau verfocht politisch die Idee des Volksstaates mit einer<br />

Volksgemeinschaft, aber ohne Volksherrschaft. Er forderte die Abschaffung des<br />

Dreiklassenwahlrechts und höhere Löhne, Demokratisierung; diese Entwicklungen sollten mit der<br />

Stärkung des Staats Hand in Hand gehen. Eine Demokratie im Stile einer Einparteienherrschaft mit<br />

Volkswahlen? Eine putin´sche Duma? Er erwartete vom Staat die Schaffung kolonialer Großräume<br />

und bereiste mit dem Staatssekretär des Reichskolonialamtes Bernhard Dernburg Ost- und Südafrika.<br />

Ganz im Stil der Zeit schrieb er in seinen "Erwägungen über die Erschließung des Deutsch-<br />

Ostafrikanischen Schutzgebiets", daß wir hoffen dürfen, daß die Erziehung zur Kolonisation abermals<br />

dem deutschen Geist ein Gebiet erschließen werde, <strong>das</strong> seiner irdischen Mission entsprechen werde.<br />

65


Kurz vor dem Ende des Weltkriegs, kurz vor dem militärischen Zusammenbruch an der Westfront,<br />

nach dem deutschen Sieg im Osten veröffentlichte er einen Aufruf "An Deutschlands Jugend":<br />

"Neu wird unsere Lebensweise, unsere Wirtschaft, unser Gesellschaftsbau und unsere Staatsform.<br />

Neu wird <strong>das</strong> Verhältnis der Staaten, der Weltverkehr und die Politik. Neu wird unsere<br />

Wissenschaft, ja selbst unsere Sprache." 73<br />

Alle Prognosen sollten sich leider bewahrheiten, allerdings unter nationalsozialistischen Vorzeichen.<br />

Selbst die Sprache wurde reformiert - statt von der Nase sprach man vom Gesichtserker - von der<br />

Staatsform, dem Verhältnis der Staaten zueinander und der neuen Lebensweise in<br />

Konzentrationslagern ganz zu schweigen.<br />

Rathenau gehörte im Weltkrieg zu den Durchhaltefanatikern:<br />

„Ein für allemal: wir halten den Krieg beliebig lange aus, an Rohstoff, Nahrung, <strong>Menschen</strong>zahl,<br />

Kraft und Willen, mit mehreren, mit wenigen, mit keinen Genossen." 74<br />

Er machte der Obersten Heeresleitung zum Vorwurf, den Westmächten die Kapitulation angeboten zu<br />

haben: Unter der Überschrift "Ein dunkler Tag" schrieb er in der Presse:<br />

"Der Schritt war übereilt. Wir alle wollen Frieden. Wir, die wenigen, haben gemahnt und gewarnt,<br />

als keine Regierung daran dachte, der Wahrheit in Auge zu blicken. Nun hat man sich hinreißen<br />

lassen, im unreifen Augenblick, im unreifen Entschluß. Nicht im Weichen muß man Verhandlungen<br />

beginnen, sondern zuerst die Fronten befestigen.... Hat man <strong>das</strong> übersehen? Wer die Nerven<br />

verloren hat, muß ersetzt werden...Wir wollen nicht Krieg, sondern Frieden. Doch nicht den Frieden<br />

der Unterwerfung." 75<br />

Die ganze Unklarheit der Rathenau´schen Konzeptionen läßt sich nur vor dem Hintergrund der<br />

Rezeption von Lebensreformkonzepten verstehen. Der Volksstaat, die Volksgemeinschaft, die irdische<br />

Mission des deutschen Geistes, die im Osten aufgehende Sonne der jungen Völker und ein<br />

abgefahrener unrealistischer und schwankender Zukunftsglaube, <strong>das</strong> waren durchweg<br />

zeitgenössische jugendbündlerische Vorstellungen. Rathenau erkannte nicht, daß diese Konzeptionen<br />

auch eine mehr oder weniger verdeckte antisemitische Spitze hatten. Er stand zeitweilig mit an der<br />

Spitze eines Impulses, der zunächst ihn persönlich verschlingen sollte, später Deutschland und am<br />

Ende die ganze Welt in Unordnung stürzte.<br />

An der Nahtstelle von Ökonomie und Kultur feierte der Herausgeber des „Archiv für<br />

Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ Edgar Jaffé vor dem Weltkrieg seine Feste mit der Schwabinger<br />

Künstlerschaft und Halbwelt. Sein Haus in München stand für jeden dahergelaufenen Reformisten<br />

sperrangelweit offen. Der reformistischen Logik folgend wurde Jaffé Mitglied der USPD und<br />

Finanzkommissar bei den chaotischen Münchner Räten.<br />

Wenn es Beweise geben sollte, wie fragil die Marx´sche Lehre von der ökonomischen Basis der<br />

Gesellschaft eigentlich war, so muß man sich die Lebensläufe aller deutschen Ökonomen ansehen:<br />

Sie waren alle in kulturellen und sozialen Dingen genauso engagiert, wie in ökonomischen. Der<br />

Mensch ist nicht so konstruiert, <strong>das</strong>s eine Grenze zwischen Basis und Überbau durch sein Gehirn<br />

hindurchläuft, deren Überwachungskameras und Detektoren dem Bewusstsein ansagen: Jetzt hast du<br />

gerade die Stacheldrahtgrenze zwischen Basis und Überbau verletzt. Vielfach bestimmten die<br />

kulturellen Prägungen von Sombart, Brentano, Jaffé, Weber, Rathenau und Naumann die<br />

ökonomische Anschauung, und nicht umgekehrt.<br />

Ein weiterer Multiplikator des Nietzscheanismus war zweifellos Harry Graf Kessler, dessen<br />

Beziehungen mehr in die Kunst- und Politikszene hereinreichten, als in die der Wirtschaft.<br />

Auf der einen Seite reichten seine Verbindungen zum George-Kreis in Schwabing,<br />

nachweisbar ist zum Beispiel sein Besuch bei Ludwig Derleth, andererseits stand er in<br />

73<br />

Herbert Schwenk: "Ein Baum der mehr Blüten als Früchte trägt..." in www.luiseberlin.de/bms/bmstxt00/0006porb.htm<br />

74<br />

Thiel, Rudolf: Die Generation ohne Männer, Berlin 1932, Seite 238<br />

75<br />

Thiel, Rudolf: Die Generation ohne Männer, Berlin 1932, Seite 260<br />

66


Kontakt mit Walther Rathenau und zog in Weimar um <strong>das</strong> Nietzsche-Archiv der Elisabeth<br />

Förster-Nietzsche die Fäden eines Spinnennetzes, in dem sich der junge Großherzog<br />

verfing, um mehr Geld für die Reformexperimente auszugeben und zum Schirmherrn einer<br />

Narrenmonarchie zu werden, die gegen <strong>das</strong> kulturell konservative Berlin opponierte. Graf<br />

Kessler hatte als Mitinitiator des „Pan“ seit 1895 zunächst für die Verbreitung des Jugendstils<br />

gesorgt, bereits vor 1905 machte er jedoch Schluß mit dem nietzscheanischen<br />

Alleinvertretungsanspruch des Jugendstils. Rodin und die Neoimpressionisten erschienen<br />

ihm noch mehr lichte Kraft der Erneuerung zu versprühen. Während er dem<br />

Jugendstilarchitekten van de Velde zu größeren Aufträgen verhalf, so vermittelte er im<br />

gleichen Atemzuge Auftragsarbeiten für Munch. Und Munch übersetzte <strong>das</strong> Werk Nietzsches<br />

ganz anders in die Pinsel- und Farbensprache der Malerei, er suchte ganz andere<br />

Ausdrucksmittel und er fand sie. Seine Bilder waren expressiv, aber nicht monumental, er<br />

malte keine Riesen, keine Giganten und keine Nackten, keine mythologischen Schinken,<br />

elitaristisch waren seine Porträts von Nietzsche und Kessler auf andere Art. Roland März<br />

beschreibt den porträtierten Kessler als einen „Mann, der sein Gegenüber fest im Blick hat,<br />

unausweichlich fixiert, hochgestellt durch den hohen weißen Kragen. Preußischer Offizier<br />

des Ulanen-Regiments in Potsdam, hier in Zivil, der den Herrenreiter nicht<br />

verleugnet...Kessler gebietet äußerste Distanz und Unnahbarkeit der Person.“ Nietzsche<br />

stellte er als Heiligen mit einer entsprechenden Lichterscheinung in Kopfhöhe dar, die sich auf<br />

dem Gesicht wiederspiegelte. 76 Der rot-gelbe Himmel wurde in der Folgezeit viel wiederverwendet.<br />

Detlev von Liliencron über Nietzsche: „Es ist selbstverständlich, <strong>das</strong>s die guten Bier- und<br />

Skatdeutschen ihn nicht kennen. Es ist empörend.“<br />

Mit der Gründung des Künstlerbundes 1903 erreichte der Einfluß von Graf Kessler den Höhepunkt.<br />

Hagen, Tuaillon, Schultze-Naumburg, v. Bochmann, Trübner, Klinger, Marr, v. Stuck, Lichtwark, Olde,<br />

Graf Kalckreuth, Liebermann, Corinth, van de Velde, Freiherr von Bodenhausen, Lepsius, Herrmann,<br />

Klimsch und Slevogt gehörten zu den Gründungsmitgliedern einer aristokratischen<br />

Künstlergenossenschaft, die gegen <strong>das</strong> kaiserliche Verdikt gegen die neuen Ausdrucksformen<br />

opponierte. Weimar wurde von Berlin aus beobachtet, und soweit es ging, unter kunstpolitische<br />

Quarantäne gestellt. Am Weimarer Hof formierten sich besonnene Leute, die den Dissenz mit Berlin<br />

nicht bis auf die politische Spitze treiben wollten und Kessler 1906 ausbremsten. Nach einem für<br />

Kessler unerfreulichen Diskurs anlässlich der zweiten Rodin-Ausstellung musste er seine Rolle im<br />

Weimarer Kunstbetrieb aufgeben. Fortan war er ein kunstsammelnder Privatier, der lediglich einmal<br />

nach dem Weltkrieg einen kurzen Ausflug in die Diplomatie als deutscher Botschafter in Warschau<br />

machte. Anläßlich der Diskussion der Entwürfe für einen Nietzsche-Tempel hielt er im September<br />

1911 in seinem Tagebuch fest:<br />

„wenn wir mehr Geld haben oder verdienen, will ich anschließend an <strong>das</strong> Nietzschedenkmal ein<br />

Institut für Genetics, Rassenveredelung schaffen.“ 77<br />

Der Niedergang des politischen Liberalismus<br />

Von 1848 bis etwa 1907 war der politische Liberalismus, vor allem auf seinem sogenannten linken<br />

Flügel ein harmloser Stachel im Fleische des Obrigkeitsstaates. Die Prinzipien der parlamentarischen<br />

Volksvertretung und der Marktwirtschaft, eines wirtschaftlichen laisses fair wurden mehr oder weniger<br />

vehement gehütet. Nach der Reichseinigung 1870 spaltete sich der Liberalismus in einen<br />

Nationalliberalen überwiegend staatstragenden und einen linken mehr regierungskritischen Flügel.<br />

Interessanterweise war der linke Flügel der marktwirtschaftliche<br />

Die Hauptthemen der Nationalliberalen waren die Rechtsvereinheitlichung, der Kampf gegen den<br />

katholischen Einfluß auf die Schulpolitik, die Aufrüstung, eine antipolnische Politik in den Ostprovinzen<br />

und eine zielbewußte Kolonialpolitik. Der größte Erfolg der Partei war <strong>das</strong> Zustandekommen des<br />

Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahr 1900. Zerstritten waren die Nationalliberalen bezeichnenderweise<br />

in wirtschaftspolitischen Fragen. Besonders um 1880 bekriegten sich Schutzzöllner und Freihändler. 78<br />

76 Roland März: Porträt eines Weltmanns in Aufstieg und Fall der Moderne, Hatje Cantz, S. 182 ff.<br />

77 Aufstieg und Fall der Moderne, Ausstellungskatalog Hatje Canz Verlag, S. 57<br />

78 s.o. S. 112 ff<br />

67


Die Geschichte des Linksliberalismus verzeichnete im Kaiserreich zahlreiche Spaltungen,<br />

Vereinigungen und Abweichungen mit heterogenen Strömungen. Nach der Reichsgründung war die<br />

deutsche Fortschrittspartei auf dem linken Flügel des Liberalismus tonangebend. Sie war ohne<br />

Umschweife dem Freihandel verpflichtet. Nach der Einführung der Schutzzölle durch den Reichstag<br />

im Jahr 1880 vereinigte sich 1884 eine freihändlerische Abspaltung der Nationalliberalen, die<br />

sogenannten Sezessionisten mit der Fortschrittspartei, der neue Parteiname war Deutsche Freisinnige<br />

Partei. Die Freihändler schienen gestärkt. 1893 spalteten sich die Sezessionisten wieder ab und die<br />

Restfreisinnigen wurde in Freisinnige Volkspartei umbenannt. In ihrem 1894 beschlossenen<br />

Programm war sie nach wie vor der wirtschaftlichen Nichtintervention des Staates verpflichtet. Nur wo<br />

es <strong>das</strong> allgemeine Wohl erfordert und die Abhilfe auf anderem Wege nicht erreichbar ist, sollte der<br />

Staat eingreifen dürfen. Der Steuermann, der <strong>das</strong> Schiff auf marktwirtschaftlichem Kurs hielt, war<br />

Eugen Richter, der nacheinander die Deutsche Freisinnige Partei und die Freisinnige Volkspartei<br />

führte. Die 1893 von der Freisinnigen Partei abgespaltenen Sezessionisten bildeten die Freisinnige<br />

Vereinigung, die ihre Stützpunkte im Norden Deutschlands hatte. Sie hatte eine zunehmend<br />

sozialpolitische Orientierung, die 1903 dazu führte, daß sich der Nationalsoziale Verein unter Friedrich<br />

Naumann der Freisinnigen Vereinigung anschloß.<br />

Der Nationalsoziale Verein, der 1896 gegründet worden war, und nur einige Tausend Mitglieder hatte,<br />

fiel nicht durch Wahlerfolge sondern durch seine Programmatik auf. Die Vereinsmitglieder hielten die<br />

wirtschaftliche und politische Machtentfaltung des Reichs für erforderlich, drängten auf die Steigerung<br />

des Anteils der Arbeitnehmer am Gesamtertrag der Volkswirtschaft und sahen als Mittel dazu die<br />

politische, gewerkschaftliche und genossenschaftliche Tätigkeit an. Naumann vertrat die Auffassung,<br />

daß die Produktion bereits vergesellschaftet sei, die Produktion der Großunternehmen sei bereits<br />

sozialistisch und sie müsse nun demokratisch werden. Als Anbeter der Macht forderte Naumann, der<br />

Wille zur Macht 79 müsse in die neue deutsche Linke fahren. Er rechtfertigte die "kollossalen Opfer<br />

unseres Militärhaushaltes", da man "um die deutsche Existenz auf der Erdkugel kämpfen" müsse.<br />

Monarchie und Arbeiterschaft sollten versöhnt werden, eine Volksgemeinschaft sollte ihre Kräfte zu<br />

nackter Macht-, Militär- und Kolonialpolitik gegen die Außenwelt richten. Die Anhängerschaft der<br />

Nationalsozialen setzte sich aus Vertretern des von August Bebel so bezeichneten akademischen<br />

Proletariats zusammen: Lehrern, Professoren und Pastoren sowie Schriftstellern und Redakteuren,<br />

den Antreibern der Lebensreform. Udo Leuschner bezeichnet Naumanns Ideologie als sozial<br />

gesalbten Imperialismus. Ein ideologischer Prozeß sei vonstatten gegangen, dessen<br />

massenwirksame Stunde erst später schlagen sollte. 80<br />

Nach dem Tode Richters 1907 wurde der Weg zur Vereinigung der Linksliberalen auf Basis eines an<br />

<strong>das</strong> Kaiserreich angepaßten und weichgewaschenen Reformismus frei. Im März 1910 wurde aus der<br />

Freisinnigen Volkspartei, der Freisinnigen Vereinigung und der süddeutschen Deutschen Volkspartei<br />

die Fortschrittliche Volkspartei gegründet. Nun stand angepaßt an den Imperialismus die Forderung<br />

nach Schutz und Stärkung des Reiches im Vordergrund, der wirtschaftsliberale Kurs der Freisinnigen<br />

Volkspartei wurde beerdigt. Die neue Partei wurde sozialliberal geprägt, schwärmte mit Friedrich<br />

Naumann von der Hebung des Arbeiterstandes und paßte nun zu den sozialromantischen<br />

Schwärmereien seiner Majestät. 81 Der Kathedersozialist Gustav Schmoller beschrieb Naumanns<br />

Anteil an der Wandlung vom Liberalismus zum Reformismus 1912 so:<br />

"Er wollte eine national-soziale Partei gründen, was ihm mißlang; aber es ist ihm gelungen, die<br />

fortschrittlich-manchesterlichen Parteipolitiker mit solch starken Tropfen sozialen Öls zu salben,<br />

daß die Vorfahren der heutigen Volkspartei ihre heutigen Nachfahren kaum wiedererkennen<br />

würden."<br />

Auch Rosa Luxemburg sah die Rolle der Liberalen nach der Aufgabe marktwirtschaftlicher Ziele 1907<br />

ganz klar: „Vom Liberalismus haben wir in Deutschland nichts mehr zu erwarten.“<br />

In Deutschland dominierten die Katherdersozialisten seit Jahrzehnten die wissenschaftliche<br />

Diskussion aller Wirtschaftsfragen. Das musste sich irgendwann auf die Medien und die Politik<br />

auswirken. Der marktwirtschaftliche Schwung war dahin. Das etatistische Denken hatte auf der<br />

ganzen Linie gesiegt.<br />

79 offenbar eine nietzscheanische Formulierung<br />

80 Udo Leuschner: Friedrich Naumanns "nationalsoziale" Neubelebung des Liberalismus, in<br />

www.t-online.de/liberalismus/liberalismus3.htm<br />

81 H. Fenske: Deutsche Parteiengeschichte S. 119 ff<br />

68


Lediglich ausserhalb Deutschlands, in Wien behauptete sich eine kleine liberale Gruppe von<br />

Wirtschaftsissenschaftlern um Carl Menger, Friedrich von Wieser und Eugen Böhm, Ritter von Bawerk<br />

als Österreichische Schule der Nationalökonomie. Sie erzeugte in Deutschland kein<br />

marktwirtschaftliches Echo und keinen demokratischen Widerhall. Carl Menger hielt die allgemeine<br />

Abkehr von Liberalismus, Freihandel und Kapitalismus für einen Weg ins Verderben und sah sich<br />

durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs darin bestätigt. Die mainstream-Intellektuellen der<br />

Fortschrittspartei und der aus ihr später hervorgehenden DDP sahen <strong>das</strong> Heil dagegen in<br />

Planwirtschaft, Protektionismus und Sozialismus.<br />

Nach der Umwandlung zur reformistischen Fortschrittspartei dominierten Beamte und<br />

Planwirtschaftler die Parteigremien. Zielgruppe der Wahlagitation waren vor allem Mittelständler wie<br />

Handwerker, Angestellte und Freiberufler. Nur ein Teil dieser Klientel stand wirklich auf dem Boden<br />

wirtschaftlichen Fortschritts: Der Reformist und Sozialpsychologe Willy Hellpach (DDP)<br />

charakterisierte den Handwerker so: Besonders sei der "nach Staatshilfe rufende, auf Ausbeutung<br />

jugendlicher Arbeitskraft angewiesene Handwerker, der sich nicht rechtzeitig auf den Boden des<br />

modernen Wirtschaftens zu retten wußte, einer der unerquicklichsten Niedergangstypen geworden."<br />

Genauso verspottete Willy Hellpach <strong>das</strong> halbgebildete und intellektuelle Reformmilieu, den "<strong>Neue</strong>n<br />

Mittelstand":<br />

"Wer es nicht sogleich glauben sollte, daß ein riesengroßer Teil dieser Leute nervös ist, der<br />

<strong>braucht</strong> nur die Mitgliederlisten der Naturheilvereine, der Kaltwassergesellschaften zu durchblättern<br />

oder beim Buchhändler sich zu erkundigen, von wem die Erzeugnisse der Kneipp, Bilz, Louis<br />

Kuhne am meisten gekauft werden. Die Gesundheitsfexerei hat ja in dieser Schicht ihren<br />

unerschöpflichen Wurzelboden." 82<br />

Zwei von vielen Bewegungen dieser reformistischen <strong>Neue</strong>n Mitte waren um die Jahrhundertwende die<br />

Deutsche Reformpartei und Friedrich Naumanns Nationalsozialer Verein. Beide werden hier nur<br />

deshalb gesondert erwähnt, da sie Lieferanten von zwei Ideen waren, die nach dem Weltkrieg<br />

Bedeutung gewinnen sollten: Der Idee, den Antisemitismus als antikapitalistische Keule in den<br />

Vordergrund oder ins Zentrum der politischen Theoriengebäude zu stellen sowie der Idee Nationales<br />

und Soziales miteinander zu verbinden und konsequent in ein Bindewort zu fassen.<br />

Die von August Bebel erwähnten verbeamteten Mittelstandskinder und die immer noch zahlreichen<br />

Handwerker und Landwirte waren den Industriellen zahlenmäßig hoch überlegen. Sie gaben den Ton<br />

an, spätestens seit 1910 auch bei den Mittelparteien, die ab diesem Zeitpunkt keine Liberalen mehr<br />

waren, sondern Reformisten.<br />

Die neue Aera zeigte sich in vielen Führungsfiguren. Der nationalsoziale Reformpolitiker Friedrich<br />

Naumann war kein Papst der Marktwirtschaft sondern tat sich als Chef-Ideologe des handwerkelnden<br />

Werkbundes hervor und wurde erster Vorsitzender der DDP. Der Architekt der neudeutschen<br />

Planwirtschaft Walter Rathenau wurde nach dem Krieg ebenfalls Mitglied dieser Partei.<br />

Der große Teil der Reformeliten war vor und nach dem ersten Weltkrieg parteipolitisch neutral oder<br />

stand den Parteien eher ablehnend gegenüber, da man sich selbst ja eben als Elite auffaßte und nicht<br />

als Teil einer wie immer gearteten Masse. Die Reformeliten waren und blieben überwiegend<br />

selbstgestrickt, sie waren oft zu sperrig, um sich vor Parteikarren zu spannen, oder hinter ihnen<br />

herzutraben. Sie standen in der Tradition des "Einzigen und seines Eigenthums" und dünkten sich als<br />

Prototypen des Übermenschen. Erst in den zwanziger Jahren drängten viele in die extremen<br />

Reformparteien NSDAP und KPD.<br />

Ein Vorkämpfer der 89´er Revolution flüsterte seinem Nachbarn nach einer Debatte im Dezember<br />

1989, bei der er mit der deutschen Einheit zum wiederholten Male Probleme gehabt hatte, zu:<br />

"Ein Drittel von uns Dissidenten waren Querulanten".<br />

Das traf auf die Reformeliten der Jahrhundertwende genauso zu.<br />

82 Udo Leuschner: "Nervosität und Kultur", Willy Hellpachs Sozialpsychologie in<br />

t-online.de/psychologie/hellpach1.htm<br />

69


Die Sozialdemokraten und „kleinbürgerliche“ Konzepte<br />

Den Sozialdemokraten hätte man wie allen anderen politischen Kräften folgende Mahnung aus dem<br />

Talmud ins Parteiprogramm schreiben können:<br />

Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.<br />

Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.<br />

Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.<br />

Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.<br />

Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.<br />

Was waren die Sozialdemokraten eigentlich? Waren die nur eine neuzeitliche Mutante der zünftigen<br />

Gesellenvereine, oder waren sie ein reines proletarisches Produkt der Industrie; und welche Rolle<br />

spielte eigentlich Karl Marx?<br />

Wir werden sehen, <strong>das</strong>s die Geschichte der Sozialdemokratie von der Geschichte des<br />

Kleinbürgertums nie ganz zu trennen ist, da an der Grenze von Proletariat und Handwerk proletaroide<br />

Existenzen leben, die ein Kontinuum des Übergangs von industrieller und handwerklicher Arbeit<br />

darstellen, wie zum Beispiel die bereits erwähnten schlesischen Weber.<br />

Die Zünfte und mit ihnen die Gesellenvereine waren seit dem Aufkommen marktwirtschaftlicher Keime<br />

und der modernen Maschinerie antikapitalistisch eingestimmt, da kapitalistische Produktionsweisen<br />

per se dem zünftigen Regelwerk widersprachen. Kompakt war der Antikapitalismus der Kleinbürger<br />

1806 anläßlich der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen zutage getreten, er war durch die<br />

Tradition des Zunftwesens geheiligt; also viel älter, als sozialistische Ideen, die in Deutschland erst vor<br />

1840 im Umfeld von Born und Weitling entstanden.<br />

Vor der Entstehung der sozialdemokratischen Bewegung gab es eine romantizistische Spezies<br />

antikapitalistischer Ressentiments, die durch den später entstehenden Marxismus nie wirklich<br />

verdrängt wurde. Diese Voreingenommenheiten waren vorbürgerlich-zünftig motiviert. Ein Beispiel für<br />

diesen vorsozialistischen Antikapitalismus ist <strong>das</strong> Kunstmärchen "Das kalte Herz" von Wilhelm Hauff.<br />

Hauff starb 1827, und kurz nach seinem Tod wurde <strong>das</strong> Märchen veröffentlicht. Es entstand am<br />

Vorabend der Industrialisierung und ist deshalb mehr eine Reflexion der Auflösung der alten<br />

Handwerksordnung, als eine Anklage gegen die moderne Industriegesellschaft. Zwei Geister streiten<br />

um den Kohlenmunkpeter. Das Glasmännlein als Vertreter der traditionellen Werte und der Holländer<br />

Michel als Patron der Holzfäller und Handelsherren.<br />

"Seitdem wir diesen Handel haben, seitdem die Schwarzwälder Leute kölnische Pfeifen tragen,<br />

seitdem sie ihren eigenen Wald, ihre eigenen Bäume bis nach Holland verkaufen, seitdem sind die<br />

<strong>Menschen</strong> schlecht geworden."<br />

Das war Hauff´s Resumee der neuen Zeit. Und mit dieser Vermutung der handelsbedingten<br />

Charakterverschlechterung argumentieren die Globalisierungsgegner noch heute, <strong>das</strong> unschuldige<br />

Dorf wird der schmutzigen Welt gegenübergestellt und für die Chiapasierung der Welt geworben. Der<br />

auf einem autarken Landleben fußende bäuerliche Kommunismus der Roten Khmer oder des<br />

Leuchtenden Pfades forderte zahlreiche <strong>Menschen</strong>leben, ebenso der aus dem romantischen<br />

Antikapitalismus entstandene nationale Sozialismus der Deutschen. Wenn man <strong>das</strong> Märchen vom<br />

charakterverderbenden Kapitalismus glauben würde, oder wenn es gar tatsächlich wahr wäre, so<br />

müßte man Gott bitten: Laß lieber den Kapitalismus und ein bißchen schlechten Charakter zu, als so<br />

viel Krieg und so viele Tote.<br />

Der Hauptstrom dieses vorsozialistischen Antikapitalismus mündete in die konservativen und<br />

völkischen Ideologien. Alle konservativen Parteiprogramme des 19. Jahrhunderts und die<br />

zeitgenössische politische Ökonomie der <strong>Romantik</strong> und der Historischen Schule waren damit<br />

regelrecht überfrachtet. Ein Nebenstrom ergoß sich über die Gesellenvereine der 30er und 40er jahre<br />

in die frühe sozialistische Bewegung. Ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts begann die<br />

sozialistische Agitation. Diese frühen sozialistischen Ideen der 40er Jahre hatten massive<br />

Abgrenzungsprobleme zur Zunftromantik, was durch die physische Nähe der Frühproletarier zu<br />

Handwerksgesellen bedingt war. Zunächst folgte diese Bewegung den ausgetretenen Spuren des<br />

Romantizismus, bis Karl Marx diese Ideen als reaktionär brandmarkte und einen Kult des Siegs der<br />

industriellen nichthandwerklichen Arbeit und des industriellen Fortschritts über <strong>das</strong> Handwerk kreierte.<br />

Dieser von Marx errichtete Altar des Industrialismus war <strong>das</strong> spezifische des Kommunismus<br />

gegenüber den vormarxistischen Zunftlern.<br />

70


Marksteine der Abspaltung des Marxismus vom Romantizismus waren die "Deutsche Ideologie" von<br />

1846 und <strong>das</strong> "Kommunistische Manifest", <strong>das</strong> 1848 erschien.<br />

Karl Marx mochte sich um seinen Kult des Industrialismus mühen, wie er wollte; tendenziell blieben<br />

die Gewerkschaften immer Abbilder der alten Gesellenherrlichkeit mit dem Leitbild des blauen<br />

Montags; so wie die ständischen Handwerker in ihren Kammern, Innungen, Genossenschaften und<br />

Mittelstandsparteien die alten Zunftträume weiterträumten. Auch in den Arbeiterbildungsvereinen der<br />

50er Jahre war die Trennung in marxistische Vorstellungen und Ideen der alten Gesellenvereine noch<br />

nicht wirklich ausdifferenziert. Nur die marxistische Lehre wollte wie gesagt, in eine neue<br />

kapitalbasierte industrielle Zukunft durchstarten, um aus diesem gedachten Zwischenzustand heraus<br />

den Sozialismus zu errichten. An der von Karl Marx errichteten Pagode des Industrialismus opferten<br />

im 20. Jahrhundert weniger die fortgeschrittenen Industriearbeiter Amerikas, Frankreichs und<br />

Englands, sondern russische und chinesische Bauern, die jahrhundertelange Staatssklverei gewohnt<br />

waren sowie die deutsche SPD bis zu ihrem Parteitag von Godesberg.<br />

Auf der einen Seite erstarkte in den 60er Jahren der Marxismus in der deutschen Arbeiterbewegung,<br />

der auf die Masse setzte, auf der anderen Seite erstarkten langsam und beständig aber auch<br />

elitaristische Gesellschaftskonzepte, die die alte Reichsherrlichkeit mit neuen Führern ersehnten.<br />

Kaiser Barbarossa war <strong>das</strong> imaginäre Vorbild, als konkrete zeitgenössische Inkarntion trat zunächst<br />

Fürst Bismarck auf die Weltbühne, später radikalisierten sich die Vorstellungen vom Führertum weiter,<br />

lösten sich von konkreten Personen ab, um jedem halbgebildeten Revoluzzer die Illusion zu<br />

ermöglichen, vielleicht höchstselbst der <strong>Neue</strong> Mensch in einer neuen Kulturperiode zu sein.<br />

Der ADAV und die SPD trennten sich um 1860 organisatorisch von den Arbeiterbildungsvereinen, die<br />

letzteren verloren an Bedeutung und damit war die ideologische Abnabelung und Sonderung der<br />

marxistischen Sozialisten vorerst abgeschlossen. Während die SPD auf den Zukunfsstaat wartete und<br />

Karl Marx jahrzehntelang am „Kapital“ werkelte blieb die Zeit nicht stehen.<br />

Als Marx 1867 den ersten Band des „Kapitals“ veröffentlichte, lernten sich Nietzsche und Wagner<br />

kennen, im Jahr der Erscheinung des zweiten Bandes 1885 schrieb Nietzsche den „Zarathustra“ und<br />

als endlich der dritte Band 1894 auf den Markt kam, hatte Fidus die erste Fassung des „Lichtgebets“<br />

fertiggestellt. Nach 1860 fand <strong>das</strong> ständische Bürgertum eigene eindeutig nichtsozialistische<br />

Reformideen, wie den Okkultismus, die Nietzscheanische Philosophie, <strong>das</strong> Wagner´sche<br />

Gesamtkunstwerk, die Steinersche Lehre, den Jugendstil, den Symbolismus, die Wanderei, den<br />

Ausdruckstanz, die Reformkost und ähnliche teure Liebhabereien, die sich der Anhang der SPD nicht<br />

leisten konnte und überdies auch nicht wollte. Das erklärte sozialdemokratische Ziel hatte August<br />

Bebel definiert:<br />

"Die sozialistische Gesellschaft bildet sich nicht, um proletarisch zu leben, sondern um die<br />

proletarische Lebensweise der großen Mehrzahl der <strong>Menschen</strong> abzuschaffen." 83<br />

Bis zu dieser Abschaffung war aber gerade <strong>das</strong> schöne und anheimelnde des sozialdemokratischen<br />

Vereinssystems und des Parteilebens die Geselligkeit, <strong>das</strong> Teilen der eigenen Position in der<br />

Gesellschaft mit anderen Gleichgestellten und nicht die Vereinzelung und Individualisierung.<br />

Die Sozialdemokraten des Kaiserreichs und der Weimarer Republik repräsentierten den<br />

sozialistischen Antikapitalismus, der als Antikapitalismus von Lohnabhängigen oft gemäßigter ausfiel,<br />

als der Antikapitalismus von vorbürgerlichen handwerklichen oder landwirtschaftlichen Interessen.<br />

Und <strong>das</strong> lag daran, weil die SPD den industriellen Fortschritt symbiotisch für ihr eigenes Wachstum<br />

und die revolutionäre Perspektive benötigte, während die Zunftler ihn brutal stoppen wollten. Beide<br />

Seiten bekamen historisch nicht Recht: Das Handwerk überlebte entgegen den Prognosen von Marx<br />

allen technischen Fortschritt; die Industrie wurde was die Zahl der Beschäftigten betrifft, genauso wie<br />

die Landwirtschaft immer weiter zurückgedrängt durch Dienstleistungen und ein Ausufern staatlicher<br />

Funktionen.<br />

Der Antikapitalismus, der Antiklerikalismus, <strong>das</strong> voluntaristische <strong>Menschen</strong>bild, <strong>das</strong> zum <strong>Neue</strong>n<br />

<strong>Menschen</strong> tendierte, die Licht- und Sonnensucht einschließlich Sport sowie ein bis zu einem gewissen<br />

Grade tolerierter Nationalismus, zum Beispiel in der Polen- oder Kolonialpolitik waren<br />

Berührungspunkte der Sozialdemokratie zur nichtsozialistischen Reformbewegung. In den 60er und<br />

83 August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, JHW Dietz Nachf. 1946, 55. Aufl. S. 471 f.<br />

71


70er Jahren war die Distanz zwischen „bürgerlichen“ und „sozialistischen“ Anschauungen eher<br />

gewachsen, danach verringerte sie sich wieder. Ein deutliches Anzeichen der Annäherung zwischen<br />

dem bürgerlichen und dem sozialdemokratischen Reformismus waren zum Beispiel die<br />

Reichstagswahlen von 1912, wo die SPD mit der Fortschrittspartei im zweiten Wahlgang zahlreiche<br />

Bündnisse abschloß.<br />

Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, hatte der politische Liberalismus bedingungslos kapituliert;<br />

übrig geblieben war ein an den Zeitgeist angelehnter Reformismus. Wie wir sehen werden, blieb auch<br />

die Sozialdemokratie vom reformistischen Zeitgeist nicht verschont. Das eigentliche marxistische<br />

Industriearbeitermilieu repräsentierte die SPD, die an der von den Parolen der späten französischen<br />

Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - geprägten Vorstellungswelt von Karl Marx und August<br />

Bebel in wesentlichen Fragen festhielt. Es entstand jedoch schon vor 1900 ein lebensreformerisch<br />

beeinflußter Flügel, der sich im Weltkrieg zur stark heterodoxen USPD und der orthodox elitaristischen<br />

KPD abspaltete. Zum SPD-Milieu der Kaiserzeit gehörten Randgruppen der Lebensreform der<br />

Jahrhundertwende, die arbeiterspezifisch sind: Arbeitersportler, Kleingärtner und sozialistische<br />

Freidenker. Zunächst drangen vor allem biologistische und viltalistische Lehren, die um den<br />

Sozialdarwinismus kreisten, in die Partei ein. Bereits Bebel mußte sich zu seinen Lebzeiten immer<br />

wieder mit Sozialdarwinisten auseinandersetzen, sowohl außerhalb, aber auch innerhalb der Partei.<br />

Fast gleichzeitig bildete sich in der SPD ein demokratischer Flügel, der im Parlamentarismus sein Heil<br />

suchte. Eduard Bernstein hatte in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die<br />

Aufgaben der Sozialdemokratie“ bereits 1899 den Finger auf die wunde Stelle der SPD gelegt:<br />

"Ihr Einfluß würde ein sehr viel größerer sein, als er heute ist, wenn die Sozialdemokratie den Mut<br />

fände, sich von der Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und <strong>das</strong> scheinen<br />

zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist, eine demokratisch-sozialistische Reformpartei." 84<br />

Seine Feststellung resultierte aus der Analyse, <strong>das</strong>s die gesellschaftlichen Prognosen des Marxismus<br />

sich nicht bewahrheitet hätten, <strong>das</strong>s der Kapitalismus flexibler wäre als von Marx geahnt. Genauso<br />

wie Bernstein verzweifelten viele Sozialdemokraten am Ausbleiben der Revolution und suchten nach<br />

Ursachen und Moglichkeiten, die ersehnte Revolution doch noch ins Werk zu setzen. Zwischen dem<br />

doktrinären Marxismus mit der unbestimmten Vision des naturgeschichtlich notwendigen<br />

Hineingleitens in den sozialistischen Zukunftsstaat und dem Revisionismus mit seiner dezidierten<br />

Festlegung auf den parlamentarischen Weg hin- und hergerissen, konnte die SPD weder die eine<br />

revolutionäre, noch die andere evolutionäre Seite ganz befriedigen, nicht einmal zwischen 1917 und<br />

1922, als sich die stärker reformistischen Sozialdemokraten abgespalten hatten. Das ganze Dilemma<br />

wird deutlich, wenn man <strong>das</strong> Kapitel "Die soziale Revolution" in "Die Frau und der Sozialismus" mit der<br />

Fragestellung nach den revolutionären Methoden durchliest, wenn man konkret wissen will, wie die<br />

Macht errungen wird, wer die Macht erringt und ob die Macht mit revolutionären oder<br />

parlamentarischen Mitteln errungen werden soll. Bebel schrieb:<br />

"Die Maßregeln, die in den einzelnen Entwicklungsstadien zu ergreifen sind, hängen von den<br />

jeweiligen Umständen ab. Es ist unmöglich vorauszusagen, welche Maßnahmen die Umstände im<br />

Einzelfall notwendig machen werden. ....Die Frage nach den Mitteln ist die Frage der Taktik in<br />

einem Kampfe. Die Taktik richtet sich aber nach dem Gegner und weiter nach den Hilfsmitteln, die<br />

beiden Seiten zu Gebote stehen. Ein Mittel, <strong>das</strong> heute vorzüglich ist, kann morgen verderblich sein,<br />

weil die Umstände, die gestern seine Anwendung rechtfertigten, sich änderten. Mit dem Ziele im<br />

Auge, hängen die Mittel zur Erreichung desselben von Zeit und Umständen ab; nötig ist nur, daß<br />

man die wirksamsten und einschneidendsten ergreift, die Zeit und Umstände ermöglichen, zu<br />

ergreifen." 85<br />

Die Weigerung August Bebels, sich über die revolutionären Methoden tiefe Gedanken zu machen, hat<br />

natürlich einen Grund. Bebel war im tiefsten Herzen einer der letzten Marxisten. Und als solcher<br />

machte er sich im Gegensatz zu Lenin keine Gedanken um die Führungsfrage in der Revolution. Nach<br />

Karl Marx erfolgt die soziale Revolution naturgesetzlich durch die Masse, wenn die revolutionären<br />

Früchte unter der Sonne der Produktivkraftentwicklung reif geworden sind. August Bebel glaubte an<br />

dieses Erntemärchen.<br />

84 Zitiert in: Hans Fenske: Deutsche Parteigeschichte, S. 147<br />

85 A. Bebel: Die Frau und der Sozialismus, JHW Dietz Nachf., S. 465<br />

72


Eine Mittelstellung zwischen Revisionisten, die auf die evolutionäre Erringung der parlamentarischen<br />

Mehrheit setzten und August Bebel, der auf <strong>das</strong> Fallen des reifen sozialistischen Apfels vom<br />

herbstlichen Baume des Kapitalismus wartete, nahm Rosa Luxemburg ein. Wie die Revisionisten<br />

hatte sie begriffen, <strong>das</strong>s der Apfel sich mit seinem Stiel fest an den Baum klammerte, <strong>das</strong>s er nicht<br />

von alleine fallen würde, <strong>das</strong>s er gepflückt werden müsse; wie Bebel hielt sie aber an dem Glauben an<br />

eine Revolution durch die Volksmassen fest. Wie konnte man die Revolution durch die Massen<br />

herbeiführen? Rosa Luxemburg warb auf Parteitagen und in Wahlkämpfen immer wieder für den<br />

politischen Massenstreik, den Generalstreik.<br />

„Wenn man sieht, welch reges Interesse <strong>das</strong> Problem des Massenstreiks bei den Parteigenossen<br />

findet, wird man nicht annehmen können, <strong>das</strong>s die ganze Diskussion von einigen Anhängern der<br />

Massenstreikidee aufgebracht worden ist. Einer so allgemeinen Diskussion müssen doch<br />

Ursachen zugrunde liegen, die in den Verhältnissen wurzeln. Solche Diskussionen entstehen<br />

immer, wenn die Partei <strong>das</strong> Bedürfnis empfindet, die Bewegung einen bedeutenden Schritt<br />

voranzutreiben, und wenn den Parteigenossen zum Bewusstsein kommt, <strong>das</strong>s wir mit den<br />

bisherigen Methoden des Klassenkampfes nicht weiterkommen.... Massenstreiks können erst<br />

eintreten, wenn die historischen Vorbedingungen dafür gegeben sind. Sie lassen sich aber nicht<br />

auf Kommando machen. Massenstreiks sind keine künstlichen Mittel, die angewandt werden<br />

können, wenn die Partei ihre Politik verfahren hat, um uns dann von heute auf morgen aus dem<br />

Sumpf zu ziehen.“ 86<br />

Wenn man diese Gedanken liest, so drängt sich auf, <strong>das</strong>s Frau Luxemburg an dem Marxschen<br />

Gedanken der revolutionären Massenbewegung im Gegensatz zu Lenins Elitedoktrin und im<br />

Gegensatz zum Revisionismus der Gewerkschaftsführung festhalten wollte; <strong>das</strong>s sie Marxens Theorie<br />

„retten“ wollte. Letztlich konnte sie ihr Konzept weder in der revisionistischen SPD noch in der<br />

elitaristischen KPD durchsetzen. Sie scheiterte tragisch als Einzelkämpferin an der Weltfremdheit der<br />

Marx´schen Utopie und ihrem sturen und konsequenten Festhalten daran. In der SPD scheiterte sie<br />

vor allem an der pragmatischen Gewerkschaftsbürokratie, in der KPD an elitaristischen Reformisten<br />

wie Karl Liebknecht und Lenin, die Grundpositionen des Marxismus vom Sieg der Massen aufgegeben<br />

hatten.<br />

Nun kann man Rosa Luxemburg nicht pauschal als letzte Verteidigerin des Marxismus glorifizieren.<br />

Sie hatte auch extrem antimarxistische Positionen. 1859 häuften sich die Äußerungen von Marx zur<br />

Friedenssehnsucht der Bourgeoisie. Am 11. Januar 1859 schrieb er angesichts von Kriegsdrohungen<br />

Napoleon III. gegen Italien unter der Headline „Die Kriegsaussichten in Europa“ für die New-York Daily<br />

Tribune:<br />

„In allen Zentren des Geldmarkts weist <strong>das</strong> Barometer auf .(...) Der fadenscheinige Ruhm<br />

des Zweiten Kaiserreichs schwindet schnell dahin, und es <strong>braucht</strong> Blut, um diesen Riesenbetrug<br />

wieder zu befestigen. Und in welch besserer Rolle, als der eines Befreiers Italiens und unter welch<br />

günstigeren Bedingungen als Englands notgedrungener Neutralität, Russlands geheimer<br />

Unterstützung und Piemonts offner Dienstbarkeit könnte er jemals hoffen, Erfolg zu haben? Aber<br />

andererseits protestiert die Kirchenpartei in Frankreich gegen den gottlosen Kreuzzug; die<br />

Bourrgeoisie erinnert ihn an sein Wort: .“ 87<br />

Für die gleiche Zeitung schrieb er am 15. März 1859 über den drohenden Krieg Frankreichs gegen<br />

Österreich:<br />

„Die kommerzielle und industrielle Bourgeoisie, die Louis Napoleon als den großen zu preisen pflegte, bringt nun Anklage<br />

über Anklage gegen den ruchlosen Friedensbrecher vor, anstatt sich damit zu begnügen, die<br />

überschäumenden Kräfte Frankreichs niederzuhalten und die sozialistischen Desperados durch<br />

heilsame Beschäftigung in Lambessa und Cayenne zum Schweigen zu bringen, auf die<br />

ausgefallene Idee gekommen ist, die Aktien zum Sinken zu bringen, dadurch den regelmäßigen<br />

Geschäftsgang zu stören und die revolutionären Leidenschaften erneut zu wecken.“ 88<br />

86 Rosa Luxemburg, Reden, Reclam 1976, S. 238ff, Rede am 22.06.1913 in Berlin<br />

87 MEW Bd. 13, S. 168 ff.<br />

88 MEW Bd. 13, S. 280 f.<br />

73


Während Karl Marx immer wieder die Furcht der Bourgeoisie vor dem Krieg opulent darstellte, die zu<br />

erwartenden ökonomischen Verluste und <strong>das</strong> vorhergehende Sinken der Kurse an der Börse<br />

beschrieb, trieb Rosa Luxemburg Wasser auf die Schaufeln der idealistischen teutonischen Mühle:<br />

„Wo war denn auch der Dreibund, als es galt, den Frieden zu erhalten, als eine Dreibundmacht<br />

Tripolis überfiel oder als Österreich Bosnien und die Herzegowina überfiel? Es ist eine alte<br />

Binsenweisheit, <strong>das</strong>s, wo zwei oder drei kapitalistische Staaten die Köpfe zusammenstecken, es<br />

sich immer um die Haut eines vierten kapitalistischen Staates handelt.“ 89<br />

Sowohl Tripolis, als auch Bosnien-Herzegowina gehörten vor den Annexionen zur Türkei. Es gehört<br />

schon ökonomische Dreistigkeit dazu, Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien, die Mitglieder des<br />

Dreibunds uneingeschränkt als kapitalistische Mächte zu klassifizieren. Zu behaupten, die Türkei sei<br />

1878 oder 1910 eine kapitalistische Macht gewesen, <strong>das</strong> überschreitet deutlich die Grenzen der<br />

Seriosität und lässt die Ursache der Konfusion erahnen: Wunschdenken. Diese Lehre vom<br />

kapitalistischen Krieg gewann trotz ihrer Falscheit, oder gerade wegen ihrer Falschheit, zahlreiche<br />

Anhänger, insbesondere in der Arbeiterbewegung und nach der deutschen Niederlage auch in der<br />

expressionistischen Schickeria. Beim Thema der Kriegsschuld bzw. der Kriegsursachen vertrat ein<br />

Großteil der SPD antimarxistische Positionen, trieb die Arbeiterbewegung den deutschen Idealismus<br />

an, bereitete so langfristig den Sieg reformistischer Überzeugungen vor und hob die Grube aus, in<br />

welche Hitler die SPD stürzen sollte. Die SPD definierte sich in ihrer Frühgeschichte als historischer<br />

Erbe des industriellen Kapitalisten und des industriellen Kapitalismus. Mit der Wandlung des<br />

Kapitalismus, mit dem Beschreiten des deutschen korporatistischen Wegs des Kapitalismus, geriet die<br />

SPD logisch in eine ideologische Schieflage. Die industriellen Kapitalisten waren nie herrschend<br />

gewesen und also konnte man sie nicht beerben. Mit dem faktischen Ende des Kapitalismus im Ersten<br />

Weltkrieg sollten auch die SPD und die Arbeiterbewegung in eine tiefe Identitätskrise geraten. Der<br />

Widerpart der SPD war in seiner reinen von Marx beschriebenen Form abhanden gekommen, die<br />

sozialistische Wunschwelt geriet mit aus den tradierten Angeln und stand vor der Aufgabe, sich völlig<br />

neu definieren. Diese Definition sollte nicht gelingen, weil die Zeichen der Zeit völlig falsch gedeutet<br />

wurden.<br />

Im Görlitzer Programm von 1921 sollte sich die SPD ausdrücklich auf <strong>das</strong> parlamentarische System<br />

einlassen. Eduard Bernstein, der 1919 aus der USPD ausgeschlossen worden war und in die SPD als<br />

verlorner Sohn wieder aufgenommen wurde, drückte dem Görlitzer Programm den parlamentarischen<br />

Stempel auf. Mit der Formulierung: die SPD sei die Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land<br />

schien sie sich zu öffnen; in der Praxis wurde jedoch eine harte Klientelpolitik zugunsten städtischer<br />

organisierter Arbeiter gefahren. Im Görlitzer Programm wurde die Schaffung einer sozialistischen<br />

Wirtschaft als Ziel beibehalten. Es wurden umfangreiche Vergesellschaftungen, die Ausweitung des<br />

öffentlichen Eigentums und die staatliche Kontrolle des verbleibenden kapitalistischen Besitzes an<br />

Produktionsmitteln verlangt. 90<br />

Staatlich kontrollierte kapitalistische Produktionsmittel sind selbst nach den marx´schen Definitionen<br />

ein Unbegriff: entweder die Produktionsmittel sind kapitalistisch, dann werden sie nicht kontrolliert,<br />

oder sie werden kontrolliert, dann sind sie Produktionsmittel in Privatbesitz mit beschränkter<br />

Verfügung, so wie es <strong>das</strong> ganze Mittelalter und in der Kriegswirtschaft der Fall war. Ein Vertrag ist ein<br />

gegenseitiger Willensakt. Und zu einem gegenseitigen Willensakt gehören zwei Individuen. Nur<br />

Kreaturen brauchen keine Verträge, sie hören auf Anweisungen von oben. Das gehört jedoch in die<br />

Geschichte der verschiedensten gebundenen Gesellschaften, und nicht in die des Kapitalismus.<br />

In der Regierungspraxis, sowohl mit als auch ohne sozialdemokratische Beteiligung, kam es kaum zu<br />

Verstaatlichungen (sogenannten Vergesellschaftungen), dafür aber zu zahlreichen<br />

Reglementierungen der Privatwirtschaft. Auf dem Kieler Parteitag reflektierte Rudolf Hilferding diese<br />

planwirtschaftliche Entwicklung, als er feststellte, daß sich die Wirtschaft infolge der<br />

Kapitalkonzentration von einem freien zu einem organisierten Kapitalismus entwickelt habe. Darin sei<br />

<strong>das</strong> Prinzip der planmäßigen Produktion schon enthalten. 91 Diese These verniedlichte absichtsvoll den<br />

bereits erreichten staatlichen Einfluß auf die monopolistischen Trusts, sowohl was die Genese dieser<br />

Wirtschaftsvereinigungen, ihre Funktionsmechanismen, als auch ihre Zwecke betraf, die sich<br />

zwischen Rohstoffverteilung, Reparationsbewirtschaftung, Produktionsplanung und Preiskontrolle<br />

bewegten.<br />

89 Rosa Luxemburg, Reden, Reclam 1976, S. 234, Rede am 27.05.1913 in Leipzig-Plagwitz<br />

90 Hans Feske: Deutsche Parteiengeschichte S. 172<br />

91 s.o. S. 175<br />

74


Das Verhältnis der Sozialdemokratie zum „organisierten Kapitalismus“ hatte sich frühzeitig,<br />

kontinuierlich und bruchlos entwickelt. Friedrich Engels hatte im Dritten Band des „Kapital“ auf die<br />

Existenz von Kartellen hingewiesen, ihnen jedoch keine große Beachtung geschenkt. Zu anderen<br />

Schlüssen kam Bruno Schoenlank, dessen ökonomische Analyse „Die Kartelle. Beiträge zu einer<br />

Morphologie der Unternehmerverbände“, 1890 erschienen war. Schoenlanks Buch enthielt im<br />

wesentlichen positive Urteile über Kartelle und beienflußte die sozialdemokratische Kartellpolitik bis in<br />

die dreißiger Jahre. „...in ihrem Schoße die Keime für neue Wirtschaftsgebilde tragend“ sollten Kartelle<br />

gegen Verbotsforderungen verteidigt werden.“ Polizeigesetze gegen Kartelle seien kleinbürgerlicher<br />

Radikalismus. 92 Kurz: eine syndizierte Wirtschaft trage die Keime des Sozialismus in sich. Ein<br />

entsprechender Parteitagsbeschluß der SPD von 1894 lautete entsprechend:<br />

„Trusts, Ringe, Kartelle und ähnliche großkapitalistische Organisationen sind ein Schritt zur<br />

Verwirklichung des Sozialismus.“<br />

Als kapitalistische Untergangstheoretikerin schrieb Rosa Luxemburg etwa 1900:<br />

„So erscheinen die Kartelle in ihrer endgültigen Wirkung auf die kapitalistische Wirtschaft nicht nur<br />

als kein „Anpassungsmittel“, <strong>das</strong> ihre Widersprüche verwischt, sondern gerdezu als eines der<br />

Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung ihrer eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr<br />

enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung des eigenen Untergangs geschaffen hat.“ 93<br />

Kautsky und der junge Hilferding stimmten in den Chor derer ein, die die Krisenhaftigkeit des<br />

Kapitalismus durch die Bildung von Kartellen nicht gebremst sahen.<br />

Um die Rolle der Sozialdemokratie zu verstehen, muß auch ein Blick auf <strong>das</strong> unterschiedliche<br />

Verhältnis der Reformsandalen und der Sozialdemokraten zum technischen Fortschritt geworfen<br />

werden. Unter dem Einfluß Nietzsches, der Denkmalpflerger, Heimatschützer und Tierschützer war<br />

die bürgerliche Reformbewegung der Kaiserzeit überwiegend technikkritisch. Aus dem Industrialismus<br />

von Marx ergibt sich dagegen logisch ein entspanntes Verhältnis der SPD zu Maschinen, Bauten und<br />

modernen Verkehrsmitteln.<br />

In ihrer kindlichen Einfalt sehr zum Herzen gehende Beschreibungen der sozialdemokratischen<br />

Reformvorstellungen findet man in "Die Frau und der Sozialismus" von August Bebel. Die erste<br />

Auflage erschien bereits 1878. Die sozialdemokratischen Vorstellungen sind älter als die der<br />

Lebensreform und sie gehen oft in eine völlig andere Richtung. Während die saturierte Lebensreform<br />

die vollkommene Natur in den Gegensatz zum sinnlosen Fortschritt setzte, hatte die Sozialdemokratie<br />

ein naiveres Bild.<br />

"Es müßten großartige und umfassende Bodenmeliorationen, Bewaldungen und Entwaldungen,<br />

Be- und Entwässerungen, Bodenmischungen, Terrainänderungen, Anpflanzungen usw.<br />

vorgenommen werden, um den Boden zu höchster Ertragsfähigkeit zu bringen." 94<br />

"Der Weinbau der Zukunft" ist ein ganzes Kapitel genannt, <strong>das</strong> vorschlägt, in großen geschützten<br />

Hallen die Gemüse-, Beeren- und Obstproduktion sowie den Weinbau ganzjährig voranzutreiben. 95<br />

Ausdrücklich zitiert Bebel <strong>das</strong> Gedicht "Irland" von Ferdinand Freiligrath, um den Naturschutz, der der<br />

Volksernährung im Wege stand, an den Pranger zu stellen:<br />

So sorgt der Herr, daß Hirsch und Ochs,<br />

Das heißt: daß ihn sein Bauer mäste,<br />

Statt auszutrocknen seine Bogs -<br />

Ihr kennt sie ja: Irlands Moräste!<br />

Er läßt den Boden nutzlos ruhn,<br />

Drauf Halm an Halm sich wiegen könnte;<br />

Er läßt ihn schnöd dem Wasserhuhn,<br />

92<br />

Martin Höpner: Sozialdemokratie, Gewerkschaften und organisierter Kapiatlismus, 1880-2002 MPlfG<br />

Discussion Paper 04/10, S. 10<br />

93<br />

zitiert in s.o. S. 11<br />

94<br />

August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, JHW Dietz Nachf. 1946, 55. Aufl. S. 515 f.<br />

95 s.o. S. 531 ff.<br />

75


Dem Kiebitz und der wilden Ente. 96<br />

Goethe´s "Faust" läßt grüßen: den faulen Sumpf auch abzuziehn wäre <strong>das</strong> Höchsterreichte. Das<br />

Verhältnis der Sozialdemokratie zur Natur war bis zu Helmut Schmidt und Holger Börner ein sehr<br />

praktisches, <strong>das</strong> vom Glauben an die Machbarkeit der Umgestaltung der Natur durchdrungen war.<br />

Ganze Seiten aus Bebels Hauptwerk referieren den neuesten Stand der Naturwissenschaft, immer um<br />

zu behaupten, daß nach der Enteignung der Privateigentümer der technische Fortschritt endlich<br />

einschränkungslos genutzt werden könnte, um die Nahrungsproduktion zu steigern und alle anderen<br />

Gebrechen der Gesellschaft zu heilen.<br />

"Neben der Sozialwissenschaft bilden <strong>das</strong> weite Feld der Naturwissenschaften, die<br />

Gesundheitslehre, die Kulturgeschichte und die Philosophie <strong>das</strong> Arsenal, dem die Waffen<br />

entnommen werden." 97<br />

Selten haben Arbeiter, die körperlich arbeiten mussten, oder Landwirte die Technik verflucht. Ein<br />

Eldorado der Technikbegeisterten wurde die Sozialdemokratie, <strong>das</strong> der nichtsozialistischen<br />

Reformkundschaft mit ihrer überwiegend auch technikkritischen Haltung wurden die<br />

Heimatschutzverbände und Antisemitenvereine. Noch vor dem Ersten Weltkrieg entstand die<br />

Reformpartei als antisemitisch-antikapitalistischer Propagandist des kompromißlosen und radikalen<br />

Flügels der Reformbewegung.<br />

Es ist hier interessant zu lesen, wie Bebel die Entstehung der nichtmarxistischen Reformer herleitet.<br />

Die vielen deutschen Kleinstaaten hätten zu einem im internationalen Vergleich überdimensioniert<br />

ausgebildeten Beamtenapparat geführt und zu einer überdurchschnittlichen Zahl von über <strong>das</strong> ganze<br />

Gebiet verteilte Kunstschulen und Kultureinrichtungen. Mit der Gewerbefreiheit anläßlich der<br />

Bismarck´schen Reichseinigung wären die Existenzgrundlagen des bis dahin ungemein zahlreichen<br />

Handwerker- und Kleinbauernstandes zerstört worden.<br />

"In diesem Verzweiflungskampf suchen viele möglichst Rettung in der Veränderung des Berufs.<br />

Die Alten können diesen Wechsel nicht mehr vollziehen, Vermögen können sie in den seltensten<br />

Fällen ihren Kindern hinterlassen, so werden die letzten Anstrengungen gemacht und die letzten<br />

Mittel aufgeboten, um Söhne und Töchter in Stellungen mit fixem Einkommen zu bringen, wozu ein<br />

Betriebskapital nicht nötig ist. Dies sind die Beamtenstellen im Reichs-, Staats- und<br />

Kommunaldienst, <strong>das</strong> Lehrfach, der Post- und Eisenbahndienst, die höheren Stellen im Dienst der<br />

Bourgeoisie....., ferner die sogenannten liberalen Berufe: Juristen, Ärzte, Theologen, Schriftsteller,<br />

Künstler, Architekten, Lehrer und Lehrerinnen usw. Tausende und Abertausende, die früher einen<br />

gewerblichen Beruf ergriffen hätten, sehen sich jetzt, weil keine Möglichkeit zur Selbständigkeit und<br />

einer auskömmlichen Existenz mehr vorhanden ist, nach irgendeiner Stellung in den erwähnten<br />

Berufen um. Alles drängt zur höheren Ausbildung und zum Studium. (....) Diese Jugend wird zur<br />

Kritik an dem Bestehenden herausgefordert und gereizt und hilft die allgemeine Zersetzungsarbeit<br />

wesentlich beschleunigen." 98<br />

Bebel nahm an, daß alle, die er zum Gelehrten- und Künstlerproletariat rechnete, sich der<br />

Sozialdemokratie anschließen würden. Zum kleinen Teil ging diese Hoffnung auf, zum großen Teil<br />

aber eben nicht. Es bildete sich eine antisozialdemokratische, antimarxistische, antikapitalistische,<br />

antiklerikale, antiamerikanische, antiindustrielle und fortschrittsskeptische Bewegung, eine <strong>Neue</strong> Mitte,<br />

die die von Bebel hochgeschätzte Zersetzungsarbeit leistete, ohne sozialdemokratisch zu sein. Und<br />

wenn sie sozialdemokratisch war, so war dies oft nur eine Zwischenstation auf der Abdrift in die<br />

USPD, später in die KPD und in die NSDAP. August Bebel hatte diese Bildungsschicht als<br />

Zersetzungsprodukt des Handwerks und der Landwirtschaft dargestellt, es wäre ein Wunder gewesen,<br />

wenn in dieser Schicht nicht ein Nachhall, ein Echo des Handwerks zu vernehmen gewesen wäre.<br />

Das Echo äußerte sich bereits seit dem Anfang des 19. Jh. als romantische Strömung, um die<br />

Jahrhundertwende wurde Deutschland von einer Märchen-, Sagen- und Volksliederflut, von einer<br />

Rückerinnerungswelle geradezu überschwemmt. Wie sollte diesen halbgebildeten<br />

Handwerkerskindern die Expropriation der Expropriateure schmackhaft gemacht werden?<br />

Planwirtschaftliche Überlegungen und Praktiken dagegen lagen ihnen geradezu im Blut. Sie waren<br />

Blut vom Blute der Zünfte, sie hatten die Markknochen der Markgenossenschaften und die Gene der<br />

Gilden.<br />

96 s.o. S. 605<br />

97 s.o. S. 631<br />

98 s.o. S. 625 ff.<br />

76


Leninismus und Marxismus<br />

Im vorigen Kapitel war die SPD als Zentrale des durch durch <strong>das</strong> Wachstum der Industrie gespeisten<br />

Zukunfts- und Fortschrittsglaubens charakterisiert worden. Aber so wie die Ränder der Konservativen<br />

und der Ultramontanen unter den anbrandenden Wogen des Nitzscheanismus erodierten und der<br />

ganze Liberalismus schon 1905 regelrecht hinweggeschwemmt wurde, so waren auch die<br />

Außenposten der Sozialdemokratie dem Ansturm elitaristischer Überzeugungen ausgesetzt. Der<br />

Revisionismus Bernstein´scher Prägung mit seinen demokratischen Grundüberzeugungen war dabei<br />

nur ein sattelzeitlicher erratischer Block, der den zeitgenössischen reformistischen Monsterwellen<br />

noch im Wege lag.<br />

Nach der Logik des Zeitgeists mußte es einen Traditionsbruch geben, mußte der modische<br />

Elitegedanke auf die Arbeiterbewegung überspringen, es war nur eine Frage der Zeit. Die Zeit war<br />

spätestens 1901 gekommen, als Lenin in Schwabing die Vorhut der Arbeiterklasse, organisiert in einer<br />

straff geführten Sekte, als Vision einer "Partei <strong>Neue</strong>n Typus" darstellte. Es war, als hätte der Wind die<br />

Sporen von Stefan Georges Elite-Zirkeln um einige Hausecken ins Arbeitszimmer des russischen<br />

Revoluzzers getrieben. Dem <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> wurde als revolutionäre Behausung die <strong>Neue</strong> Partei<br />

angepasst. Verworfen war der Gedanke der revolutionären Massenpartei mit demokratischen<br />

Entscheidungsorganen, mit der Willensbildung von unten nach oben (die ganz idealtypisch natürlich<br />

nie funktioniert). Statt dessen wurde der fertig ausgegorene revolutionäre Most von Übermensch-<br />

Berufsrevolutionären („Besserwissern“) über <strong>das</strong> Fußvolk der sozialistischen Wasserträger<br />

ausgegossen. Nietzsches Elitetheorie hatte die Arbeiterbewegung erreicht und versuchte die<br />

"Herdenpsychologie" tradierter Parteiapparate zu verdrängen. Während in München der Leninismus<br />

geboren wurde, entstand in Italien als Abspaltung von den Sozialisten der revolutionäre<br />

Syndikalismus. Ihr Wortführer Robert Michels verbreitete sich, wie konnte es anders sein, über die<br />

Notwendigkeit neuer Eliten, über Führung und Willen, Massenpsychologie und Massenmobilisierung. 99<br />

Die neuen Theorien erlangten eine große Stabilität: In Deutschland wurde der Idee des<br />

demokratischen Zentralismus erst 1989 abgeschworen, in Italien bildeten Syndikalisten und<br />

heterodoxe Sozialisten neben den arditi und den Futuristen den Kern der faschistischen Bewegung.<br />

Der ehemalige Sozialist Mussolini war als elitaristischer Konvertit alles andere als ein Einzelgänger.<br />

Die bolschewistische Richtung des Marxismus kann wegen der zentralen Bedeutung der<br />

Führungsfrage, der Sicht auf <strong>das</strong> Verhältnis Führer - Masse ebenso wie Faschismus und<br />

Nationalsozialismus, um mit Lenin zu sprechen, als eine "Spielart" der "bürgerlichen Kultur", hier der<br />

Lebensreform eingeordnet werden. Letztlich war <strong>das</strong> Moskauer Leitbild ein Bild vom <strong>Neue</strong>n<br />

<strong>Menschen</strong>, dessen wachsendes Bewusstsein den Kommunismus ermöglichen würde. Sogar <strong>das</strong><br />

Planziel der Unsterblichkeit der edelsten <strong>Menschen</strong>exemplare wurde von der russischen Avantgarde<br />

der 20er Jahre thematisiert. Viele Parallelen zwischen Berlin und Moskau, seien es die<br />

Massenaufmärsche, die Parteizeremonien, der Personenkult, die Vorliebe für die Planwirtschaft und<br />

den Nationalen Historismus oder für Arnold Breker können nur vor dem Hintergrund gemeinsamer<br />

kultureller Prägungen verstanden werden.<br />

Ob der Leninsche Aufenthalt in München für die Kreation der Partei neuen Typus alleine prägend war<br />

ist fraglich. Auch daheim in Rußland beeinflußte die Lebensreform <strong>das</strong> intellektuelle Klima. Der<br />

Symbolismus, die Avantgarde, der Jugendstil fielen in Rußland auf fruchtbaren Boden. Jugendstil<br />

beispielsweise wurde von Riga bis Jerewan gebaut. Maria Deppermann behauptet, daß die Nietzsche-<br />

Rezeption quer durch alle russischen ideologischen Lager bis zu den Stalinisten erfolgte. 100<br />

Auf den Kerenski-Banknoten von 1917 sah man unter dem russischen Adler <strong>das</strong> reformistische<br />

Hakenkreuz.<br />

Wahrscheinlich ist: Lenin wurde von den Zentren der Lebensreform magisch angezogen, er nahm die<br />

elitaristischen Impulse in Schwabing und in der Schweiz auf, sie fielen als "Keime" auf einen durch die<br />

russische Vorprägung sehr aufnahmebereiten ideologischen Boden. Wie ein Schwamm saugte Lenins<br />

von Syphilis zerfressenes Hirn alles auf, was sich antidemokratisch und autoritär gab, was als<br />

Spiegelbild der zaristischen Herrschaftskultur gelten konnte. "Die kleinste Abweichung vom Willen des<br />

99 Stanley Payne: Geschichte des Faschismus, Propyläen, S. 95<br />

100 Maria Deppermann: Experiment der Freiheit. Russische Moderne im europäischen Vergleich. Uni Graz,<br />

Spezialforschungsbereich Moderne, Wien und Zentraleuropa um 1900<br />

77


Zaren ist verderblich" hieß es zu Hause in Rußland. Und so vehement wie der Zar auf seinen<br />

Positionen beharrte, so selbstverliebt, mit dem gleichen Ausschließlichkeitsanspruch vertrat Lenin in<br />

allen seinen Schriften seine Meinung. Tausende Gänsefüßchen setzte er in Marsch, um die<br />

vermeintlichen Lächerlichkeiten und gedanklichen Ungereimtheiten seiner intellektuellen Gegner zu<br />

eskortieren, tausende Male wurden Verräter, Renegaten, Sykophanten und Fälscher rechthaberisch<br />

an den politischen Pranger gestellt.<br />

An dieser Stelle ist es erforderlich Marx und Lenin hinsichtlich der Führungskonzepte für die<br />

revolutionäre Arbeiterbewegung zu vergleichen, um den Unterschied der marxistischen SPD zu der<br />

elitaristischen KPD herauszuarbeiten. Es bietet sich an, Marxens Äußerungen über die Pariser<br />

Kommune mit Lenins Parteidoktrin zu vergleichen, denn die Pariser Kommune war die einzige<br />

Arbeiterregierung, die Karl Marx kommentieren, analysieren und nachbereiten konnte. Wenn man<br />

etwas über <strong>das</strong> Verhältnis von Marx zur Demokratie und zur "Diktatur des Proletariats" wissen will, so<br />

muß man sein Verhältnis zur einzigen zeitgenössischen Arbeiterregierung zu Rate ziehen. Wenn man<br />

etwas über Lenins Interpretation der "Diktatur des Proletariats" wissen will, so sollte man in die im<br />

November 1918 veröffentlichte Schrift "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky"<br />

hineinsehen, hier erfolgte die Replik auf Marx. Karl Marx hat mehr als drei Dokumente zur Pariser<br />

Kommune hinterlassen: die Adresse des Generalraths der Internationalen Arbeiter=Association "Der<br />

Bürgerkrieg in Frankreich" und zwei Entwürfe für diese Adresse. Bekannt geworden ist die Adresse<br />

selber, und nicht so sehr deren Entwürfe aus dem handschriftlichen Nachlaß. Friedrich Engels<br />

veröffentlichte 1891 bereits die 3. Auflage des "Bürgerkrieg in Frankreich". Auf Anregung von Karl<br />

Marx verfaßte Prosper Lissagaray "Die Geschichte der Kommune von 1871", die 1878 erschien.<br />

"Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken<br />

von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl<br />

bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune<br />

sollte nicht nur eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und<br />

gesetzgebend zu gleicher Zeit. (...) Das bloße Bestehn der Kommune führte, als etwas<br />

selbstverständliches, die lokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegengewicht<br />

gegen die, jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht.(...) Sie war wesentlich eine Regierung der<br />

Arbeiterklasse, <strong>das</strong> Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die<br />

endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen<br />

konnte. (...) Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der<br />

ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft."<br />

Marx pries die Kommune als demokratisches Experiment, er betonte ihren egalitären Charakter. Marx<br />

als Kind der Sattelzeit war wie seine Zeitgenossen durch die Ideen von Freiheit, Gleichheit und<br />

Brüderlichkeit geprägt und hatte nicht nur demokratische Vorstellungen, sondern sogar<br />

basisdemokratische Illusionen. Schneller Wechsel der politischen Akteure durch <strong>das</strong> Instrument der<br />

Abwahl und Ersetzung von Stadträten bedeutete einerseits <strong>das</strong> Eingehen der Revolution auf die<br />

aktuellen Stimmungen, andererseits jedoch auch den Verzicht auf Kontinuität und eine langfristig<br />

angelegte politische Strategie. Prosper Lissagaray legte den Finger auf die Wunden der direkten<br />

Demokratie, zeigte die Nachteile des gebundenen Mandats: Früh kam es zu Reibereien zwischen<br />

dem gewählten Rat und dem Zentralkomitee. Man kam wie zu einer öffentlichen Versammlung planlos<br />

in den Rat. Die Dekrete vom Vortag waren vergessen. Es kam zu kleinlichen Intrigen.<br />

"Um zum Dienst der Kommune zugelassen zu werden, mußte man zu dieser oder jener Clique<br />

gehören. Viele aufrichtig ergeben Männer, erprobte Demokraten, verständige Beamte, die sich<br />

vom Staate losgesagt hatten, selbst republikanische Offiziere, boten ihre Dienste an; sie wurden<br />

von unfähigen Leuten, die am Tage zuvor emporgekommen waren und deren Ergebenheit den 20.<br />

Mai nicht überleben sollte, von oben herab empfangen. Und dabei wurde die Unzulänglichkeit des<br />

Personals und der Geister von Tag zu Tag erdrückender. Selbst die Mitglieder des Rats klagten<br />

darüber, daß nichts klappen würde." 101<br />

"Die Unordnung wuchs mit der Gefahr".<br />

"Das Stadthaus flößte niemandem Furcht ein; aus seinem Geschrei hörte man die Machtlosigkeit<br />

heraus" schrieb Lissagaray. Es war keine Diktatur des Proletariats im Leninschen Sinne und Marx<br />

legte im Rückblick allein Wert auf die demokratische Legitimation der Kommune, nicht aber auf ihre<br />

Effizienz.<br />

101 Prosper Lissagaray: Geschichte der Kommune von 1871, Rütten & Loening, Berlin 1956, S. 166 ff<br />

78


"Die Arbeiterklasse verlangt keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix und fertigen<br />

Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. ... Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die<br />

Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der<br />

zusammenbrechenden Bourgeoisherrschaft entwickelt haben." 102<br />

Dieses Schmetterlingsgleichnis, die Entwicklung der Arbeiterklasse aus der proletarischen Larve, die<br />

nach mehreren Häutungen zum flugfähigen Imago wird, charakterisiert Marxens Verständnis des<br />

revolutionären Prozesses als evolutionären Prozeß. Darum war es für ihn nicht schlimm, daß die<br />

Kommune scheiterte, es war eben erst eine versuchsweise Verwandlung von der Larve zur<br />

Eintagsfliege. Es war eine Entwicklung vom niederen zum höheren, auch wenn <strong>das</strong> höhere im ersten<br />

Wurf noch kein Schmetterling wurde.<br />

Für Lenin machte <strong>das</strong> keinen Sinn, weil er die Engelsgeduld nicht mitbrachte. Voll ausgebildete<br />

Berufsrevolutionäre, die <strong>das</strong> Schmetterlingsstadium bereits erreicht hatten, sozusagen<br />

"Überschmetterlinge" sollten die dummen Larven auf Vordermann bringen. Die Entwicklung sprang<br />

vom höheren auf <strong>das</strong> niedere über. Es war <strong>das</strong> Auf-den-Kopf-Stellen der Marx´schen Theorie, aber<br />

Lenin scheute den direkten Angriff auf Marx, er ließ den sogenannten Renegaten Kautsky Marxens<br />

Argumente referieren, um dann auf Kautsky, statt auf Marx einzudreschen und einzuprügeln. Das<br />

ganze im Kapitel: „Wie Kautsky aus Marx einen Dutzendliberalen machte“. Lenin machte aus Marx<br />

keinen Dutzendliberalen, sondern einen Dutzenddiktator.<br />

Der Leninsche Kernsatz lautet:<br />

"Die Diktatur ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keinerlei Gesetze<br />

gebunden ist. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die durch die Gewalt des<br />

Proletariats gegen die Bourgeoisie erobert und behauptet wird, eine Macht, die an keinerlei<br />

Gesetze gebunden ist."<br />

Man kann Marx 1000 Stunden lesen und wird nicht eine solche Formulierung finden, da Marx überaus<br />

fortschrittsgläubig war und an die Notwendigkeit einer an keine Gesetze gebundenen Gewalt nicht<br />

glaubte. Umgekehrt wies er immer auf die naturgesetzliche Zwangsläufigkeit der Revolution hin. Die<br />

Erschießung des Pariser Erzbischofs und anderer Geiseln durch die Kommunarden pries er nicht in<br />

leninscher, stalinistischer oder trotzkistischer Manier als reinigendes Blutbad, sondern er versuchte die<br />

Erschießung recht und schlecht mit den verdorbenen politischen Sitten, die sich seit 1848<br />

eingebürgert hatten, zu erklären.<br />

Marx und Engels sollten nicht idealisiert werden, da sie ein wirklichkeitsfremdes Bild des<br />

Industrialismus und der industriellen Arbeit zeichneten, in dem die gesellschaftliche Lenkungsfrage<br />

wegen dem Glauben an die Naturgesetzlichkeit des Sozialismus weitgehend unterbelichtet blieb.<br />

Trotzdem ist die Gleichsetzung des Marxismus mit dem Leninismus falsch, genauso falsch wie die<br />

These von der Weiterentwicklung des Marxismus zum Leninismus. Leninismus ist im Kern<br />

rotlackierter Elitarismus und sein Gewand ein fragiles Patchwork-Mäntelchen aus sinnentleerten<br />

marxistischen Wortfetzen. Bereits in den Grundsätzen des Kommunismus von 1847 antwortet Engels<br />

auf die Frage 18 welchen Entwicklungsgang die Revolution nehmen wird, daß sie vor allen Dingen<br />

eine demokratische Staatsverfassung und damit direkt oder indirekt die politische Herrschaft des<br />

Proletariats herstellt. Ein Jahr später, im Kommunistischen Manifest wiesen Marx und Engels im<br />

Unterschied zu Lenin darauf hin, daß die Kommunisten keine Prinzipien aufstellen würden, nach<br />

denen sie die proletarische Bewegung modeln wollen. Die Erkämpfung der Demokratie blieb als Ziel<br />

bestehen, auf die Zusammenarbeit mit demokratischen Bewegungen wurde Wert gelegt. Der<br />

proletarische Führer Marxscher Prägung mußte unter diesen Bedingungen in den Augen Lenins ein<br />

kleinbürgerlicher Philister bleiben.<br />

Anders als bei den Marxisten sah es bei den jugendbewegten deutschen Intellektuellen aus, und zwar<br />

bei den Reformisten ebenso wie bei den Neokonservativen. Sie standen den Bolschewisten<br />

ideologisch zehnmal näher, als die SPD. Kein kleinbürgerlicher Philister im leninschen Sinne war<br />

beispielweise Walther Rathenau. Er war sich mit den Bolschewiken über den Grundsatz der<br />

Führungsrolle eines gesellschaftlichen Standes (in einem nichtkapitalistischen Staat von Klassen zu<br />

sprechen ist eine gedankliche Eskapade) einig. Nur welcher Stand es sein solle, darum stritt er<br />

102 Karl Marx: Der Bürgerkreig in Fankreich, Dietz Verlag, Berlin 1976, MEW Bd. 17, S. 343<br />

79


offenbar Anfang der 20er Jahre mit Karl Radek. Radek sei sich mit Walther Rathenau einig gewesen,<br />

<strong>das</strong>s es keine Rückehr zu der alten kapitalistischen Ordnung geben könne.<br />

„Die Diskussion ging nur darum, ob , wie Radek meinte,<br />

oder ob es nicht gerade umgekehrt sein werde, wie die Herren von der AEG befanden.“ 103<br />

Es wäre sicher ein völlig falscher Schluss, würde man Rathenau des Adeptentums bei den russischen<br />

Revolutionären verdächtigen. Nur weil die russischen Revolutionäre aus denselben ideologischen<br />

Quellen schöpften, wie er selbst, kam es zur grundsätzlichen Übereinkunft. Man befand sich seit 1905<br />

in der gemeinsamen Hexenküche und laborierte an der Herstellung des Humunkulus; ob es ein<br />

proletarischer oder ein intellektueller neuer Mensch seine sollte, darüber wurde noch diskutiert, aber<br />

nicht über <strong>das</strong> Ziel des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> an sich.<br />

Der kommunistische Führertypus Leninscher Berufsrevolutionäre erhielt sich zäh bis 1990. Hinter der<br />

fragilen Fassade des demokratischen Zentralismus hatte er immer Recht. Angeblich wurden die<br />

Parteibeschlüsse in demokratischer Diskussion gefaßt und waren dann von allen Genossen<br />

runterzuschlucken, zu verinnerlichen und vehement nach außen zu vertreten. In der Praxis kam es<br />

insbesondere auf den unteren Ebenen der leninistischen Lehnspyramide zu überhaupt keinen<br />

Diskussionen übergeordneter Themen, der Zentralismus schloß die Demokratie aus, sobald der<br />

Wahrheitstempel des Parteiführers betreten wurde. Treueschwüre und Selbstkritiken hallten statt<br />

dessen durch die Hallen der sozialistischen Volkspaläste.<br />

In der Wählerversammlung des Stalin-Wahlbezirks am 11. Dezember 1937 wickelte Stalin seine<br />

Wähler so ein, wie <strong>das</strong> Schwein Napoleon die anderen Tiere in der Animals farm:<br />

"Man hat mich als Deputierten-Kandidaten aufgestellt, und die Wahlkommission des Stalin-<br />

Wahlbezirks der Sowjethauptstadt hat mich als Deputierten-Kandidaten registriert. Das ist,<br />

Genossen, ein großes Vertrauen. Gestattet mir, euch meinen tiefgefühlten bolschewistischen Dank<br />

auszusprechen für <strong>das</strong> Vertrauen, <strong>das</strong> ihr der Partei der Bolschewiki, deren Mitglied ich bin, und<br />

mir persönlich, als Vertreter dieser Partei, erwiesen habt. (Lebhafter Beifall.) Ich weiß, was<br />

Vertrauen heißt. Es erlegt mir neue, zusätzliche Verpflichtungen auf und folglich neue, zusätzliche<br />

Verantwortung. Nun denn, bei uns Bolschewiki ist es nicht üblich, sich der Verantwortung zu<br />

entziehen. Ich nehme sie gern auf mich. (Stürmischer, anhaltender Beifall.) Meinerseits, Genossen,<br />

möchte ich euch versichern, daß ihr euch getrost auf Genossen Stalin verlassen könnt.<br />

(Stürmische, lange nicht enden wollende Ovation, Zuruf aus dem Saal: "Und wir alle stehen hinter<br />

Genossen Stalin!") Ihr könnt darauf zählen, daß Genosse Stalin es verstehen wird, seine Pflicht zu<br />

erfüllen vor dem Volke (Beifall), vor der Arbeiterklasse (Beifall), vor der Bauernschaft (Beifall), vor<br />

der Intelligenz. (Beifall.) Weiter möchte ich euch, Genossen, beglückwünschen zu dem<br />

kommenden Fest des ganzen Volkes, dem Tag der Wahlen zum Obersten Sowjet der Sowjetunion.<br />

(Lebhafter Beifall.)"<br />

Die fehlende Streitkultur in der Partei war jedoch nicht so schlimm, da sie Leute betraf, die freiwillig in<br />

der Partei verweilten. Außerhalb der Parteien wurden die Genossen als Mitglieder einer<br />

Herrscherkaste wahrgenommen, die die Privilegien eines kleinbürgerlichen Wohlstands genossen und<br />

dafür mit eigener politischer Kastration bestraft und mit geringer Macht über die Andersgläubigen<br />

belohnt wurden.<br />

Ein orientalisches Gleichnis würde den Leninismus so beschreiben: Eine Klasse von Eunuchen<br />

beherrschte einen gesellschaftlichen Harem, dessen Insassen nicht entfleuchen konnten und die ihren<br />

impotenten Wärtern ausgeliefert waren. Alle Jubeljahre zum Parteitag ergoß der Generalsekretär sein<br />

fruchtloses Sekret in Form eines langweiligen Rechenschaftsberichts. Die Insassen wurden dadurch<br />

nicht befriedigt. Der fruchtbare Teil der Gesellschaft wurde nahezu permanent über die führende Rolle<br />

der eifersüchtigen Haremswächter belehrt, die die Grenzen bewachten. Eine dieser Grenzen war die<br />

Grenze der äußeren Macht dieser Zwerge, die andere feste Grenze trennte die Wachstuben der Partei<br />

von den Lauben des Volks. Sowenig wie ein Harem egalitär ist, sowenig war die leninistische<br />

Herrschaft egalitär.<br />

Auf vielen Wegen drang "bürgerliches" Gedankengut in die Sozialdemokratie ein und verdrängte<br />

marxistische Auffassungen. Zu den Grundgedanken des Marxismus gehörte bis zu Lenin <strong>das</strong> Dogma,<br />

103 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 288<br />

80


daß <strong>das</strong> Sein <strong>das</strong> Bewußtsein bestimmt, und daß die ökonomische Basis der Gesellschaft den<br />

kulturellen und politischen Überbau beeinflußt und bestimmt. Die sozialistische Gesellschaft sollte aus<br />

der Vergesellschaftung der Produktion im Kapitalismus entstehen, der Sozialismus war die reife<br />

Frucht, die von den Proletariern revolutionär geerntet wird. Lenin hatte den preußischen<br />

Militärhistoriker Clausewitz gelesen und übernahm von diesem <strong>das</strong> Primat der Politik über die<br />

Ökonomie. In Clausewitzens Idealstaat wie in Lenins Vorhutpartei bestimmte eine kleine elitäre<br />

Schicht die Politik. Und diese leninistische Vorhut wartete die Reife des entwickelten Kapitalismus<br />

nicht ab, um die Frucht des Sozialismus zu bergen, sondern sie revolutionierte als Überbau die Basis:<br />

"Sowjetmacht + Elektrifizierung = Kommunismus" und ähnliche schamanistische Zauberformeln<br />

bestimmten für Jahrzehnte <strong>das</strong> Denken und stürzten den marxistischen Basis-Überbau-Pudding auf<br />

den Kopf.<br />

Es ist <strong>das</strong> Dilemma jeder sozialistischen Entwicklungsdiktatur, daß sie sich marxistisch nennt, aber<br />

nach marxistischen Rezepten nicht kocht, letztlich weil es die Zutaten für die unvollständigen, vagen<br />

und ungenauen Rezepte nicht gibt.<br />

Am Anfang des 20. Jahrhunderts gärte es unter der Oberfläche der sozialdemokratischen<br />

Parteifassade. Nachdem es schon vor 1914 mühsam zugekleisterte Risse gab, was den Weg zum<br />

Sozialismus betraf, kam es nach dem Kriegsausbruch zum Disziplinbruch des reformistischen Flügels.<br />

1915 verweigerten etwa 20 Abgeordnete die Zustimmung zu den Kriegskrediten, 1916 wurden sie aus<br />

der Partei ausgeschlossen. Die Ausgeschlossenen bildeten 1917 die USPD. Dadurch, daß die<br />

Spaltung sich aus dem Anlaß der Ablehnung der Kriegspolitik entwickelte, und nur der Grund die<br />

Affinität zu ideologischen Modeströmungen war, war die USPD ein Gemischtwarenladen, in dem<br />

äußerste revolutionäre Militanz, Pazifismus und Revisionismus, recht und schlecht miteinander<br />

kohabitierten. Das forderte Austritte und Ausschlüsse heraus, zum Schluß die Spaltung. Der<br />

Revisionist Bernstein beispielsweise wurde 1919 wegen rechten Abweichungen ausgeschlossen,<br />

Liebknecht und Luxemburg war die Partei wiederum nicht revolutionär genug, sie gründeten erst<br />

Spartakus und zum Schluß auf Geheiß der Moskowiter die KPD.<br />

Man kann natürlich die Frage stellen, ob die marxistische Ideologie als egalitärer Traum nicht<br />

größeren Massenanhang hatte, als die elitäre und deshalb weniger massenwirksame Lebensreform<br />

und damit größere Lebenskraft. Bis 1919 sah es zumindest so aus: die SPD wurde fast bei jeder Wahl<br />

stärker und die antimarxistischen Kräfte wurden sehr nervös, sie rechneten mit der kommenden<br />

Revolution. Je stärker die SPD wurde, desto mehr wurden jedoch die marxistischen Fundamente<br />

unterspült. So wie <strong>das</strong> Römische Reich immer noch größer wurde, als seine materiellen und ideellen<br />

Fundamente bereits unterspült waren, so wie die Sowjetunion kurz vor ihrem Zusammenbruch noch<br />

Angola, Äthiopien und den Südjemen zu seinem Einflussgebiet machte, so wuchs auch die SPD noch<br />

weiter, als bereits der innerparteiliche Dissenz über die Fragen der Strategie und Taktik als verhüllte<br />

Stellung der Frage nach der Führung die Parteitage beherrschte. Die Lebensreform beeinflußte den<br />

traditionellen Marxismus stark und spaltete die SPD in marxistische Traditionalisten und leninistische<br />

Elitaristen.<br />

Der sozialdemokratische „Vorwärts“ bestellte beim Germanenmaler und späteren NSDAP-Mitglied<br />

Fidus im Jahr 1905 für die Werbung zum 1. Mai eine Abbildung mit völkischen Hippies. Die Spaltung<br />

der Arbeiterbewegung in ökonomistische Menschewisten und intellektuellen Bolschewismus war in der<br />

deutschen Sozialdemokratie bereits 1905 in vollstem Gange. Es gab keinen Instinkt, der den<br />

Verantwortlichen die Grenzen wies. Die Spaltung der SPD war nur eine Frage der Zeit.<br />

Viele linke Intellektuelle, gute Beispiele sind die Münchner Räte, waren als Künstler stark von der<br />

Reform beeinflußt. Der Sozialdemokrat Ernst Toller zum Beispiel schrieb expressionistische<br />

Stationenstücke, die sich formal dem Zeitgeist anpaßten und er sehnte den reinigenden Weltkrieg<br />

herbei, "gab sich dem mitreißenden Rausch des Gefühls hin" in der Nation aufzugehen.<br />

"Die Worte "Deutschland, Vaterland, Krieg haben eine magische Kraft und entzünden sich in uns."<br />

Die orthodox marxistische Sozialdemokratie litt im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik<br />

an schleichender intellektueller Auszehrung und an Orientierungsproblemen. Die Zustimmung zu den<br />

Kriegskrediten 1914, <strong>das</strong> Eindringen eugenischer Überlegungen in <strong>das</strong> sozialistische, bis dato nur<br />

vom Klassenkampf bestimmte <strong>Menschen</strong>bild und der Kinderglaube, die Weimarer Syndikate und<br />

Kartelle mit Planwirtschaft auf den Pfad sozialistischer Tugend zu führen, sind Marksteine dieser<br />

Entwicklung. 1918, als die Nachkriegsunruhen in Deutschland ausbrachen, war die marxistische<br />

Ideologie durch die Einflüsse der Lebensreform verwässert, durch innere Zwiste in ihrem allein<br />

81


seligmachenden Anspruch erschüttert, durch <strong>das</strong> Ausbleiben des prognostizierten Untergangs des<br />

Mittelstandes irritiert und durch die Revolution im asiatischen Rußland mit ihren blutigen Auswüchsen<br />

zusätzlich verunsichert. Die Lebensreform und nicht der traditionalistische Marxismus war vor dem<br />

Weltkrieg, im Weltkrieg und nach dem Weltkrieg trotz ihrer ideologischen Zersplitterung oder gerade<br />

wegen ihrer bunten Vielfalt, Wandelbarkeit und Unbestimmtheit die vitalere Ideologie; deshalb war die<br />

Novemberrevolution die verspätete Revolution. Die Flamme der Revolution wurde von elitaristischen<br />

Revoluzzern wie Ernst Toller angefacht und von Bebel´schen Diadochen ausgetreten, wobei<br />

inkonsequenterweise elitaristische Freischärler halfen.<br />

Georg Ledebour und der Friedrichshagener Dichterkreis<br />

Noch bevor Lenin sich nach Schwabing aufmachte, um die marxistische Basis-Überbau-Eieruhr<br />

umzudrehen, bildete sich hinter der Großstadt Berlin in Friedrichshagen ein elitaristischer Dichterkreis<br />

mit Interesse an sozialen Fragen und lockerer Anbindung an die Sozialdemokratie. Um die heute<br />

vergessenen Schriftsteller Wilhelm Bölsche, Julius Hart und Bruno Wille scharten sich ab 1884<br />

Lebensreformer, Sozialisten und Anarchisten. Zu den heute noch Bekannten gehörten die<br />

Schriftsteller Otto Julius Bierbaum, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Felix Hollaender, Arno Holz,<br />

Gustav Landauer, Erich Mühsam, Johannes Schlaf und Frank Wedekind, die Dichterin Else Lasker-<br />

Schüler, die Dichter Christian Morgenstern und Rainer Maria Rilke, die Verleger Eugen Diederichs und<br />

Samuel Fischer, die Maler Fidus, Walter Leistikow und Edvard Munch und der Anthroposoph Rudolf<br />

Steiner. 104 Einige waren Juden und andere waren Rassisten und Antisemiten, ebenso wie in der<br />

Schwabinger Kosmologischen Runde. Es war ganz ähnlich wie im „Untertan“, wo der reformistische<br />

Fabrikant Lauer eine abträgliche Bemerkung über die Juden macht und sich im selben Atemzug bei<br />

seinem jüdischen Freund, dem Kaufhausbesitzer Cohn entschuldigt, der friedlich neben ihm saß. Oder<br />

wie im Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und dem Juden Karl Marx, wo Engels Ferdinand<br />

Lassalle als „krausen Juddekopp“ und „polnischen Schmuhl“ titulierte. 105 Nicht nur der Antisemitismus,<br />

sondern auch der Rassismus war in Friedrichshagen virulent. Julius Hart beispielsweise unterstellte<br />

Nietzsche, er habe polnisches Blut in den Adern und gehöre deshalb einer minderwertigen Rasse an.<br />

Morgenstern, Wedekind, Dehmel, Munch und mit Einschränkungen Gerhart Hauptmann waren<br />

dagegen eifrige Nietzsche-Rezipienten.<br />

Die verbindenden Elemente der Friedrichshagener waren die Affinität zu den modischen<br />

Kunstrichtung des literarischen Naturalismus und des Jugendstils sowie <strong>das</strong> Interesse für soziale<br />

Fragen. Daneben verstärkten die beiden Groupies Lou Andreas-Salomé (1892-1894 Affäre mit<br />

Ledebour, persönliche Bekanntschaft mit Nietzsche) und Dagny Juel die Gruppenbindungen. „Sie<br />

haben in jedem Suppentopf und in jedem Kieselstein ein sexuelles Problem entdeckt“, schrieb Paul<br />

Scheerbart 1896.<br />

Der Dichterkreis war Promotor für die Volksbühne und die <strong>Neue</strong> Freie Volksbühne. Plakate für diese<br />

Einrichtung entwarf Fidus im Gestus des Jugendstils.<br />

Seit 1885 wohnte Georg Ledebour in Friedrichshagen. Zunächst war er als gemäßigter Sozialreformer<br />

noch Mitglied der Demokratischen Partei, für die er die „Demokratischen Blätter“ redigierte. 1890 trat<br />

er der SPD bei, in der er von 1890 bis 1916 den Prototyp des reformistischen Reißbrettpolitikers<br />

verkörperte. In der SPD war Ledebour eines der Scharniere zur Reformbewegung. Im Gegensatz zu<br />

den Gewerkschaftsfunktionären, die die Flammen des Proletariats auf dem marxistischen Altar<br />

hüteten, ohne nach links und rechts zu blicken, die als sozialdemokratische Methusalems die<br />

tripartistischen Hinterzimmer der ökonomischen Macht der Weimarer Republik bevölkerten,<br />

verkörperte Ledebour <strong>das</strong> organisatorisch bewegliche Element, <strong>das</strong> ganz einer schönen Idee lebte<br />

und die Partei ohne persönliche Anhänglichkeiten und Bindungen wechselte, wenn diese politische<br />

Idee es forderte. Folgerichtig zu der mehr ästhetizistischen, rassistischen und elitaristischen<br />

Ausrichtung des Kreises trat er während des Ersten Weltkriegs mit vielen anderen Parteiintellektuellen<br />

aus der SPD in die USPD über und wurde ab 1917 deren Vorsitzender. Nach deren Verfall wurde er<br />

Vorsitzender der Nachfolgepartei Sozialistischer Bund (1924-1931) und Mitglied der Sozialistischen<br />

Arbeiterpartei (1931-1933), die auch Willy Brandt zu ihren Mitgliedern zählte. Als 96järiger begrüßte er<br />

aus seinem warm geheizten Berner Exil die Zwangsvereinigung der KPD mit der SPD zur SED.<br />

104 www.friedrichshagener-dichterkreis.de<br />

105 MEW, Bd. 29, S. 43<br />

82


Neben Ledebour war der Sozialdemokrat Max Schippel von 1890 bis 1919 ständiger Bewohner von<br />

Friedrichshagen. Nach dem Weltkrieg machten Gustav Landauer und Erich Mühsam zweifelhafte<br />

politische Kurzkarrieren.<br />

Schöpfungsarbeit am Homunkulus<br />

"Nur in schönen Körpern können schöne Seelen wohnen" ließ Johann Gottlieb Schummel am Ausgange des 18.<br />

Jahrhunderts seinen "Spitzbart" schreiben. Diese Idee dominierte 100 Jahre später die Publizistik. Liebe zur<br />

Natur - <strong>das</strong> wäre ja noch gegangen. Wer hat etwas gegen ein wenig Rohkost, kalte Beine beim<br />

Wassertreten und ein wenig Sport. Die neuen Irrlehren erhoben jedoch einen Ausschließlichkeits- und<br />

Wahrheitsanspruch, der befremdet. Zahlreiche Tempelentwürfe wurden allein für Nietzsche hergestellt<br />

und weisen auf ein religiöses Vakuum hin, <strong>das</strong> nach dem Abschied von der christlichen Religion<br />

schnell mit goldenen Kälbern und anderem heidnischen Unrat aufgefüllt werden sollte. Auf einem<br />

unschuldigen Hügelchen bei Ascona im Tessin wurde eine Kommune der Lebensreform aufgebaut, in<br />

der sich Alkoholiker wie Hermann Hesse und Gesundheitsapostel wie Ida Hoffmann sammelten. 1905<br />

wurde der Berg "Monte Verità" getauft, Berg der Wahrheit, um zu demonstrieren, daß hier die<br />

Wahrheit mit Löffeln gefressen wurde. Die Kommunarden rannten nackt herum, vollführten ekstatische<br />

Feuertänze bei Vollmond, fasteten und meditierten. 106 Das Wasser für die Naturdusche mußte ein<br />

armer Italiener mit seinem Esel heraufschaffen. Was muß der bei sich gedacht haben?<br />

Mit der Reformbewegung erfolgte der Aufstieg der Lehren von der Erbgesundheit und Rassenhygiene,<br />

denn schnell wurde klar: mit Leibeszucht und Rohkostsalaten allein ließ sich der "<strong>Neue</strong> Mensch" nicht<br />

schaffen, manche Nudisten waren von Anfang an auch ohne geriebene Möhrchen schön, andere<br />

blieben unansehnlich, fett, spindeldürr, runzelig, glatzköpfig oder schlabberig, wie sehr sie sich bei der<br />

Malträtierung des Leibes auch mühten. Es gab genetische Grenzen, die mit Ernährung und Sport<br />

allein nicht überwunden werden konnten. Diese unansehnlichen menschlichen Unkräuter sollte der<br />

Sensenmann ernten.<br />

Die <strong>Neue</strong> Aera hatte kaum begonnen, als Oda Olberg 1907 in der sozialdemokratischen "<strong>Neue</strong>n Zeit"<br />

verkündete:<br />

"Nicht weil ich orthodoxer Parteisoldat bin, glaube ich, daß die Forderung der Rassehygiene in der<br />

sozialistischen Bewegung ihren wirksamsten Bahnbrecher hat, sondern ich bin Sozialist, weil ich<br />

<strong>das</strong> glaube."<br />

Nicht nur in sozialistischen Kreisen, auch unter Naturforschern geisterte die <strong>Neue</strong> Zeit herum: Auf der<br />

81. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Salzburg hielt 1909 Dr. med. Paul Franze den<br />

Vortrag "Höherzüchtung des <strong>Menschen</strong> auf biologischer Grundlage". 107<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte sich die Debatte über die Erbgesundheit. Antreiber dieser<br />

Debatte war in Deutschland die SPD-Parteisoldateska um Adele Schreiber-Krieger, Helene Stöcker,<br />

Anna Blos und Antonie Pfülf. Manche Forderungen dieses eugenetischen Quartetts muten an, als<br />

würden sie aus "Mein Kampf" stammen. Der einzige Weg, um aus der Erbschaft des Krieges<br />

herauszukommen, sei, "zu einem Qualitätsvolk aufzusteigen", hält ein Parteitagsprotokoll von 1919<br />

eine Äußerung von Adele Schreiber-Krieger fest. Auf dem SPD-Parteitag 1921 erklärte die Bochumer<br />

Delegierte Wolf, daß die Eugenik ein elementares Mittel zur Erreichung des Sozialismus sei. Antonie<br />

Pfülf forderte auf demselben Parteitag die Zwangssterilisation von Idioten. Das Protokoll vermerkt<br />

"Bravo", die Parteitagsregie wußte Beschlüsse dazu jedoch von der Tagesordnung fern zu halten.<br />

Pfülf beklagte und bedauerte, daß man häufig im Kreise von Parteigenossinnen mit neuen<br />

Reformideen auf schroffsten Widerstand stößt.<br />

1923 verschärfte sich der Diskurs. Im Blatt des sozialdemokratischen Lebensreform-Verbandes<br />

"Volksgesundheit" forderte Johannes Wolf:<br />

"Die Frage der Vernichtung lebensunwerten Lebens derjenigen ... <strong>Menschen</strong>, die vollständig von<br />

der Arbeit anderer <strong>Menschen</strong> erhalten werden müssen, ... kommt ... nicht mehr zur Ruhe und mit<br />

Recht. Auf der einen Seite ernährt die Allgemeinheit Tausende von für immer unproduktiven oder<br />

106 www.limmatverlag.ch/gesch/monteverita/monteverita.htm<br />

107 Volkmar Weiss: Die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses, Teil III: Die Machtergreifung der Viehzüchter in<br />

www.volkmar-weiss.de/publ7-pass3.htm<br />

83


sozial schädlichen Individuen und auf der anderen Seite gehen Tausende wertvoller <strong>Menschen</strong> zu<br />

Grunde. Hoffentlich hilft die Not der Zeit diese falsche Humanität zu überwinden."<br />

Gegen Wolfs Forderungen erhob sich kein Sturm der Entrüstung, er wurde nicht aus der Partei<br />

ausgeschlossen, aber seine Thesen wurden in der SPD auch nicht die herrschende Meinung. Sie<br />

rauschten an den roten Augen und Ohren vorbei wie die Wasserstandsmeldung.<br />

Die Vorstellungen vom "<strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>" waren nach über 20 Jahren Nietzsche-Rezeption und über<br />

20 Jahren Lebensreformbewegung so weit durch die Institutionen des Bewußtseins gewandert, daß<br />

diese extreme Meinung keinen Aufstand der "Anständigen" auslöste, zumindest nicht in der SPD.<br />

Aber es war kein Problem der SPD allein, auch in anderen politischen Bewegungen, die nicht streng<br />

katholisch gebunden waren, gab es wahrscheinlich erbbiologisch geprägte Anschauungen, in der<br />

NSDAP gab es sie bekanntlich mit Bestimmtheit und dort wurden sie herrschend.<br />

1927 bis 1933 verschärfte die "Volksgesundheit" den Ton. Nachdem die Reform des<br />

Strafgesetzbuches zur Ermöglichung der Sterilisation im Reichstag 1927 gescheitert war, wurde<br />

gegen den Reichstag nachgetreten:<br />

"Das arbeitende Volk soll also weiterhin die hohen Summen für die Aufzucht, Erziehung und<br />

Versorgung der wertlosen unglücklichen <strong>Menschen</strong> tragen."<br />

1933 machte man in der "Volksgesundheit" Vorschläge zur Endlösung der Eugenik-Frage:<br />

"Die Natur bewirkt ... von sich aus eine Auslese, der aber vom Kulturmenschen dadurch<br />

entgegengewirkt wird, daß auch <strong>das</strong> lebensunwerte ... Leben auf Kosten der Lebenstüchtigen<br />

geschützt und erhalten wird. ... Es ist wirklich an der Zeit, daß sich ... die Gedanken der<br />

Rassenhygiene bemerkbar machen. ... Das Recht des <strong>Menschen</strong> auf sein Leben ist ein bedingtes.<br />

Soweit es die naturgesetzlichen Forderungen nicht erfüllt, muß er unter den Folgen seiner Fehler<br />

leiden. Die Natur kennt keine Sündenvergebung." 108<br />

Auch Hitler knüpfte in "Mein Kampf" an die Reformideen zur Eugenik an, indem er auf ein stärkeres<br />

Geschlecht verwies, <strong>das</strong> die Schwachen verjagen wird, an die Stelle der sogenannten Humanität die<br />

Humanität der Natur treten wird, die die Schwäche vernichtet, um der Stärke den Platz zu schenken.<br />

"Der völkischen Weltanschauung muß es endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in<br />

dem die <strong>Menschen</strong> ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen<br />

erblicken, sondern im Emporheben des <strong>Menschen</strong> selbst."<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte, was die Werte betrifft, eine Re-Christianisierung der<br />

westdeutschen Gesellschaft, die Reformideen zum "<strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>" wurden, was den politischen<br />

Raum betrifft, in finstere Nischen abgedrängt, der Jugend- und Schönheitskult lebt vor allem in der<br />

Werbeindustrie weiter. So wie der Ebolavirus von Zeit zu Zeit aus der Finsternis des Urwalds<br />

hervorbricht, so kann auch die Eugenikdebatte jederzeit wieder aufleben. So wie die trockene<br />

Pilzspore den Tropfen Regen und ein wenig Substrat benötigt, um sich aus dem Nichts zu aktivieren,<br />

so benötigt der perfekte neue Mensch hinreichend naive Schwärmer und dumme Tölpel um aus dem<br />

Schlaf der Nachkriegszeit zu erwachen.<br />

Rationalistische und gefühlsbetonte Formen<br />

„Form ist für mich niemals etwas Abstraktes, sie ist immer ein Zeichen für etwas...Für mich ist Form<br />

niemals Selbstzweck“, hatte Joan Miro verkündigt.<br />

In diesem Sinne war 1986 ein ungeduldiges Jahr. Erste Wetten auf den Zeitpunkt des Endes der DDR<br />

wurden abgeschlossen. In dieser gespannten Zeit gab es Vorstellungen, die darauf hinausliefen,<br />

demokratische und totalitäre Formen unterscheiden zu können. Damals haben Fachleute, z.B. Bruno<br />

Flierl, der freilich im Verdacht steht Elitarist zu sein, davor gewarnt, diese Ideen weiter zu verfolgen.<br />

So eine Unterscheidung ist auch fragwürdig, und vielleicht betritt man eine Sackgasse, wenn man sich<br />

darum bemüht. Eine andere Unterscheidung ist greifbarer: die zwischen den Formen des<br />

Rationalismus und denen des Irrationalismus. Die Anhänger Nietzsches griffen zur geschwungenen<br />

Linie, zu floralen Dekors, die aus dem Boden wuchsen, zu organischen Ornamenten und zu<br />

108 Pro-eugenische "pressure-groups" in der Weimarer Sozialdemokratie in: www.uni.jandicke.net/pressure.html<br />

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kopflastigen Proportionen, z.B. bei den Entwürfen für Nietzsches Mausoleum. Die ganze Komposition<br />

war so im Fluß wie <strong>das</strong> sublimierte Gefühl.<br />

Für die Rationalisten waren die Geometrien des Lineals, gerade Linie, Viereck, Dreieck die<br />

vorherrschenden Formen. Die Gründerväter Amerikas bevorzugten klassizistische Formen aus<br />

Viereck, Dreieck und Säule, genau wie die Zeitgenossen der europäischen Aufklärung. Das Viereck<br />

als Sinnbild für die Schublade, in der man die ganze Kunst und den Krempel der Empirie ablegen<br />

kann, so wie Goethe seine Gesteinssammlung und seine Münzsammlung in unendlich viele viereckige<br />

Kästen und Schubladen verfrachtete, war ein Sinnbild für <strong>das</strong> Ordnen der Früchte der Erkenntnis.<br />

Gefühlsbetonte und rationale Formen sind <strong>das</strong> eine. Die Verwechslung des Paares Ratio - Gefühl mit<br />

dem Paar Demokratie - Diktatur ist jedoch deshalb irreführend, weil viele Diktatoren Rationalisten<br />

waren, wenn auch auf mehr oder weniger niedrigem Niveau. Stalins Rationalismus begrenzte sich auf<br />

die stark vergröbernde Systematisierung und Popularisierung des halbrationalistischen marxistischen<br />

Systems, Hitlers Rationalismus folgte aus der Überlegung, die Juden mit den Waffen des Verstandes<br />

zu bekämpfen, Napoleons Rationalismus zeigte sich im Code Civil. Alle drei bevorzugten die schon<br />

benannten Formen der Antike, ob beim Warschauer Kulturpalast, bei der Stalin-Allee, bei der<br />

Architektur des Reichssportfeldes, des Weimarer Gauforums oder beim Empire. Alle drei waren dem<br />

Kategorisieren, Ordnen und Sammeln nicht abgeneigt. Stalin ordnete die Marx´sche<br />

Formationsanalyse, in der Marx die Gesellschaftsformen mit einem geologischen Schichtenmodell<br />

verglichen hatte, in ein primitives werkzeugbestimmtes Abfolgemodell um. Hitler sammelte alle<br />

spätkaiserzeitlichen Fragmente der Gesellschaftstheorie für sein Programm, an die Macht gekommen<br />

ließ er Schädel sammeln und vermessen. Napoleon hinterließ ein geordnetes Rechtssystem.<br />

Ansonsten bezog sich seine Sammelleidenschaft wie die aller Diktatoren auf Soldaten und<br />

Verbündete.<br />

Wir dürfen uns nicht dem Irrtum hingeben, daß Rationalismus von vornherein besser ist, als<br />

Irrationalismus. Rationalismus hat nur Wert, wenn er mit der christlichen Lehre vom Leben verbunden<br />

wird. Der Rationalismus Saddam Husseins oder Adolf Hitlers verschärft nur die vorchristliche license<br />

to kill.<br />

Der Darwinismus und "Die Welträthsel"<br />

Der Medizinstudent Ernst Haeckel entdeckte früh seinen Ekel gegen alles Krankhafte. 1860 wurde<br />

Haeckel auf Darwins Buch "Die Entstehung der Arten" aufmerksam und er entwickelte diese Theorie<br />

der Evolution in Bezug auf die Entstehung des <strong>Menschen</strong> weiter. 1865 wurde er ordentlicher Professor<br />

für Zoologie in Jena. Bereits kurz darauf radikalisierte sich sein Auftreten, mit großer Konsequenz<br />

forderte er die Lehre der Evolutionstherie in den Schulen zu verbreiten und machte sich damit viele<br />

Gegner. Mit seinem Lehrer Virchow verzankte er sich darüber, bei den Kirchen fand er naturgemäß<br />

wenig Anklang, in Preußen wurde 1882 der Biologieunterricht verboten. Haeckel forderte dagegen<br />

mehr naturwissenschaftlichen Unterricht an den Schulen und die Trennung von Kirche und Staat.<br />

1899 erschien sein berühmtes Buch "Die Welträthsel", <strong>das</strong> stark antiklerikalen Charakter hatte. Der<br />

von ihm vertretene Monismus besagte, daß keine Materie ohne Geist und kein Geist ohne Materie<br />

existiere und daß Gott identisch mit den Naturgesetzen selbst sei. Haeckel unterschied nicht zwischen<br />

belebter und unbelebter Natur, sondern nach Haeckel war alles Materielle, also auch <strong>das</strong><br />

Anorganische, die Steine und <strong>das</strong> Wasser belebt. Das Materielle habe eine geistige Sphäre, selbst<br />

Steine hätten eine Kristallseele.<br />

Ähnliche Gedanken waren in intellektuellen Kreisen verbreitet, hier zum Beispiel bei Hugo von<br />

Hofmannsthal 1891:<br />

Wenn wir unsrer Seele lauschen,<br />

Hören wirs wie Eisen klirren,<br />

Rätselhafte Quellen rauschen,<br />

Stille Vogelflüge schwirren ...<br />

Und wir fühlen uns verwandt<br />

Weltenkräften unerkannt<br />

Heute wissen wir, daß die Bibel recht hatte, als sie bei der Schöpfung die Erde und <strong>das</strong> Wasser, die<br />

Pflanzen, <strong>das</strong> Licht, die Vögel und Fische, die terrestrischen Tiere und die <strong>Menschen</strong> unterschied. Mit<br />

der Lehre von der Belebtheit der anorganischen Natur arbeitete Haeckel den Irrlehren der Blavatsky<br />

mit ihren Aether- und Astraläonen sowie dem Spiritismus und Okkultismus in die Hände. Das<br />

85


Weimarer Großherzogtum duldete Haeckels Eskapaden nicht nur, sondern bezahlte und adelte sie<br />

über seine Professur. Seine Quallen und Medusen wurden Vorlagen für Jugendstilarchitekten wie<br />

Henry van de Velde und Hermann Obrist. Der Pariser Architekt Binet nahm eine von Haeckel<br />

gezeichnete Radiolarie als Vorbild für <strong>das</strong> jugendstilige Monumentaltor zur Weltausstellung 1900. 109<br />

Ein Originalzitat aus "Die Welträthsel" kann die Schärfe verdeutlichen, mit der Haeckel den römischen<br />

Papst angriff und mit vollen Schaufeln Kohlen in den bereits hochgeheizten Kessel der teutonischen<br />

Lokomotive warf:<br />

"In dem neuen Deutschen Reiche, welches in den Kämpfen von 1866 und 1871 unter schweren<br />

Opfern seine unentbehrliche nationale Einheit errungen hatte, wurden die frechen Attentate des<br />

Papismus besonders schwer empfunden; denn einerseits ist Deutschland die Geburtsstätte der<br />

Reformation und der modernen Geistesbefreiung; andererseits besitzt es leider in seinen 18<br />

Millionen Katholiken ein mächtiges Heer von streitbaren Gläubigen, welches an blindem Gehorsam<br />

gegen die Befehle seines Oberhirten von keinem anderen Kultur-Volke übertroffen wird. .... Die<br />

hieraus entspringenden Gefahren erkannte mit klarem Blick der gewaltige Staatsmann, der <strong>das</strong><br />

"politische Welträthsel" der deutschen National-Zerrissenheit gelöst und durch<br />

bewunderungswürdige Staatskunst zu dem ersehnten Ziele nationaler Einheit und Macht geführt<br />

hatte. Fürst Bismarck begann 1872 jenen denkwürdigen, vom Vatikan aufgedrungenen<br />

Kulturkampf, der von dem ausgezeichneten Kultusminister Falk durch die "Maigesetzgebung"<br />

(1873) ebenso klug wie energisch geführt wurde. Leider mußte derselbe schon sechs Jahre später<br />

aufgegeben werden. Obwohl unser größter Staatsmann ausgezeichneter <strong>Menschen</strong>kenner und<br />

kluger Realpolitiker war, hatte er doch die Macht von drei gewaltigen Hindernisse unterschätzt,<br />

erstens die unübertroffene Schlauheit und gewissenlose Perfidie der römischen Kurie, zweitens die<br />

entsprechende Gedankenlosigkeit und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katholischen Massen,<br />

auf welche sich die erstere stützte, und drittens die Macht der Trägheit, des Fortbestehens des<br />

Unvernünftigen, blos weil es da ist....Die neu gestärkte Macht des Vatikans nahm seitdem wieder<br />

mächtig zu, einerseits durch die gewissenlosen Ränke und Schlangen-Windungen seiner<br />

aalglatten Jesuiten-Politik, andererseits durch die falsche Kirchenpolitik der deutschen<br />

Reichsregierung und die merkwürdige politische Unfähigkeit des deutschen Volkes. So müssen wir<br />

denn am Schlusse des 19. Jahrhunderts <strong>das</strong> beschämende Schauspiel erleben, daß <strong>das</strong><br />

sogenannte "Centrum im Deutschen Reichstage Trumpf" ist, und daß die Geschicke unseres<br />

gedemüthigten Vaterlandes von einer papistischen Partei geleitet werden, deren Kopfzahl noch<br />

nicht den dritten Theil der ganzen Bevölkerung beträgt." 110<br />

So dragonerhaft wie er seine Angriffe gegen die Katholiken vortrug, so stürmisch und obergärig<br />

behandelte er auch die Evolutionstheorie. Darwin hatte in Bezug auf die Entwicklungsstufen vor der<br />

Unterscheidung in niedere und höhere noch gewarnt, Haeckel übertrug die Selektionstheorie<br />

bedenkenlos auf die menschliche Gesellschaft und schlug <strong>das</strong> Tor in den Sozialdarwinismus weit auf.<br />

Wahrend der Darwinismus Haeckels lediglich ein antikatholisches und antireligiöses Instrument der<br />

Vulgäraufklärung war, wurden die Entwicklungsgedanken beispielsweise von Otto Ammon und seinen<br />

Popularisierern zu einer Lehre des Rechts des Stärkeren und des Kampfes ums Dasein<br />

weiterentwickelt. Auch die Entwicklung und der Fortschritt der Völker sei von biologischen und<br />

rassischen Voraussetzungen bestimmt. Von der reformistischen Antireligionspropaganda zur<br />

reformistischen Behauptung, daß Liberalismus und Parlamentarismus den Erfordernissen des<br />

Kampfes "Jeder gegen Jeden" nicht entsprechen würden, war es nur ein kleiner und historisch sehr<br />

schneller Schritt.<br />

Hitler erlebte während dieser Diskussion um die rassische und biologische Bedingtheit der<br />

Völkerschicksale seine Pubertät. Hätte er jemals aufgehört zu pubertieren, hätte er die biologistischen<br />

Standpunkte der Spätkaiserzeit und der Periode der Weimarer Republik vielleicht überwinden können.<br />

Es war jedoch wie es war, Hitler kam mit den Ergebnissen der „modernen“ Wissenschaft in Kontakt<br />

und sie bestimmten sein weitere Leben, ohne daß sie jemals revidiert wurden. Nachgewiesen ist sein<br />

auch persönlich zustandegekommener Kontakt zum Richard-Wagner-Freund Houston Steward<br />

Chamberlain, der 1899 <strong>das</strong> Buch "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" veröffentlicht hatte, in dem<br />

die Geschichte als Geschichte von Rassenkämpfen und Dekadenzvorgängen interpretiert und die<br />

Angst vor Blutsvermischung beschworen wurde. Joachim Fest diagnostizierte richtig, als er die<br />

109 Ernst Haeckel, Naturwissenschafter, Philosoph und Künstler in: www.bnvbamberg.de/home/ba2282/main/faecher/biologie/haeckel.htm<br />

110 Ernst Haeckel, "Die Welträthsel", 18. Kapitel<br />

86


Verknüpfung mit den philosophischen Modeströmungen hinwies: "Lebensphilosophie, die Skepsis<br />

gegen Vernunft und Humanität sowie die romantische Verherrlichung von Instinkt, Blut und Trieb." 111<br />

Die Theosophie und ihre Folgesysteme<br />

„Ein Gegenstand lässt vermuten, <strong>das</strong>s es andere hinter ihm gibt,“ vermutete René Magritte. Ähnliche<br />

Gedanken hatten auch die Theosophen.<br />

Der Ursprung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> lag nicht nur in Nietzsches Forderung: "Nicht fort sollt ihr Euch<br />

pflanzen, sondern hinauf", genauso bedeutend oder bedeutender war der ebenfalls durch Nietzsche<br />

ausgelöste antichristliche Affekt. Der von Gott entleerte Raum wurde von Intellektuellen bevölkert, die<br />

<strong>das</strong> entstandene spirituelle Vakuum schnell auffüllen wollten. Aus Nietzsches Werken zimmerten sie<br />

sich ihre Gewaltsreligion vom Recht des Stärkeren. Konkurrierend und als ideologisches<br />

Ergänzungsnahrungsmittel entstand fast zeitgleich die theosophische Theorie von Helena Petrowna<br />

Blavatsky mit ihrer Wurzelrassenlehre. Aus der Theosophie entstanden in der Folge die Ariosophie<br />

und die Anthroposophie. Die Anthroposophie war nur rassistisch, die Ariosophie war ein weiterer<br />

Entwicklungsschritt hin zum und ein fundamentaler Baustein des Nationalsozialismus.<br />

Frau Blavatsky war zunächst ein spiritistisches Medium, <strong>das</strong> den Lebenden erschwindelte Nachrichten<br />

von den Toten durchsagte. Später verdunkelte sie im Kontakt mit ihrem vermeintlichen Wahrsagegeist<br />

die Geschichte des Kosmos und der <strong>Menschen</strong>. Hinter der sichtbaren Welt verberge sich eine<br />

siebenstufige Geisterwelt, deren unterste Stufe die wirkliche Welt darstellt. Die darüber befindlichen<br />

Aether- und Astralstufen würden den Tieren und Pflanzen <strong>das</strong> Leben ermöglichen. Darüber befänden<br />

sich vier geistige Ebenen, die von Engeln verschieden hoher Hierarchie bewohnt würden. Der<br />

Entwicklungs- und Evolutionsgedanke von Darwin wurde mit diesem Ebenen-Modell verbunden. Der<br />

Mensch stiege von Ebene zu Ebene auf, wenn er den Stoff der jeweiligen Stufe kapiert habe.<br />

Förderlich für <strong>das</strong> Verstehen der jeweiligen Stufe sei Vegetarismus, Alkohol- und Tabakabstinenz und<br />

Abstinenz überhaupt. Adolf Hitler zum Beispiel hielt sich daran.<br />

Die fortgeschrittenen Seelen hätten die Höhere Schau und sind dazu vorgesehen, die niederen<br />

Seelen zu belehren. Die Lehre von den Weltzyklen und den Wurzelrassen beinhaltet seltsame<br />

Spekulationen. Aufeinander gefolgt seien Polarier, Hyperboreer, Lemurier, Atlantier und Arier. Die<br />

Arier zerfielen in indische, persische, ägyptisch-chaldäische, römisch-griechische angelsächsischegermanische<br />

und zwei kommende Wurzelrassen. Heute lebende <strong>Menschen</strong> gehörten zum Teil noch<br />

zu den Lemuriern, zum Teil zu den Atlantiern, zum Teil zu den Ariern. An der Spitze der<br />

Menschheitsentwicklung stünden die Arier. Manche Theosophen erwarten einen Epochenwechsel<br />

(New Age), andere wie die Sonnentempler sehen <strong>das</strong> Weltende voraus. 112<br />

Für Rudolf Steiner war die Theosophie der Grundstein für die Entwicklung der Anthroposophie. Auch<br />

bei ihm spielte <strong>das</strong> atlantische und <strong>das</strong> nachatlantische Zeitalter eine große Rolle und die<br />

Rassenlehre der Theosophie wurde weitgehend übernommen. Nebenher entwickelte er die Waldorf-<br />

Pädagogik. Eine niederländische Kommission hatte nach Rassismus-Vorwürfen gegen die Waldorf-<br />

Schulen 1996 bis 1998 etwa 150 Steiner-Zitate zu Rassen, Negern und Indianern analysiert. Dabei<br />

wurden 50 Zitate als "erklärungsbedürftig" eingestuft, 12 weitere als diskriminierend: "selbst die Neger<br />

müssen wir als <strong>Menschen</strong> ansehen", Indianer seien degeneriert oder unbrauchbare <strong>Menschen</strong>,<br />

niedrige Triebe bei Dunkelhäutigen usw. Unbedenklich sei der Satz, daß "Völker, welche schon in die<br />

Dekadenz gekommen sind...wie die Neger" durch ein "substantivisches Denken" sich "vollständig von<br />

der geistigen Welt abschnüren". Steiner warnte die Bauarbeiter, die am Goetheanum in Dornbirn<br />

arbeiteten, daß Schwangere durch <strong>das</strong> Lesen von Negerromanen Mischlingskinder gebären<br />

könnten. 113<br />

Der Friedrichshagener Christian Morgenstern wurde ein Jünger Steiners, Wassily Kandinsky und<br />

Heinrich Himmler wurde mehr durch die Theosophie und den Obskurantismus beeinflusst. Diese<br />

Anmerkungen nur, um zu zeigen, welche unerwarteten geistigen Befruchtungen möglich wurden.<br />

Guido von List entwickelte die Theosophie in eine germanentümelnde Richtung weiter: zur Ariosophie.<br />

Diese wurde eine Grundlage der völkischen und nationalsozialistischen Bewegung. List´s<br />

111 J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 100<br />

112 Georg Otto Schmied, Einführung in die Theosophie, www.relinfo.ch/theosophie-allgemein/info.html<br />

113 Materialdienst der EKD 5/98 in www.ekd.de/ezw/publ/ftexte/info0598-04.html<br />

87


Rassensystem stellte die Arier als Vertreter der Hochkultur den farbigen Rassen gegenüber. Eine<br />

Sonderrolle in List´s Rassensystem nehmen die aus der vierten und fünften Wurzelrasse<br />

hervorgegangenen dunklen Mondvölker ein, insbesondere ihre heimtückischsten Vertreter, die Juden,<br />

die natürliche Feinde der "Lichtmenschen", der helläugigen und blonden Arier seien. Soweit entsprach<br />

die Ariosophie der Theosophie, hinzu kam jedoch ein strenger Patriarchalismus, Frauen waren zum<br />

Kinderkriegen da und basta. Das Christentum sei eigentlich eine arische Religion, die von den Juden<br />

zu einer Sklavenreligion entstellt worden sei. 114<br />

Georg Ritter von Schönerers "Alldeutsche Los-von-Rom-Bewegung", die ein nationales Christentum<br />

im Gegensatz zur römischen Kirche propagierte, ging in die gleiche Richtung. Im Umkreis des Ritters<br />

wurden auch die Ideen eines Großdeutschland und einer ständischen Gesellschaft propagiert. 115 Im<br />

Umkreis von Schönerer und List bildete sich der "Bund der Germanen", der durch seinen<br />

Antisemitismus auffiel, List war darüber hinaus als Naturliebhaber von der gewaltigen und einsamen<br />

Bergnatur begeistert und Sekretär des Österreichischen Alpenvereins. Die österreichischen<br />

Bergfreunde hatten noch 1920 ein daran erinnerndes Sinnbild.<br />

List wollte die polytheistische Religion der Germanen als Wuotanismus für <strong>das</strong> Publikum der Reform<br />

wiederbeleben, den Eingeweihten, den sogenannten Armanen sollte es vorbehalten bleiben den<br />

monotheistischen Kern der neuen Religion zu erfassen, den er "Wihinei" nannte. Der Wuotanismus<br />

sollte ein Instrument zur Erhaltung und Zucht einer germanischen Edelrasse dienen. Die Ehe sei eine<br />

Gemeinschaft zur Aufzucht reinrassigen und hochwertigen Nachwuchses, Minderrassige seien als<br />

Tagelöhner und Sklaven da, ohne die Möglichkeit des Aufstiegs. Er behauptete durch "Erberinnerung"<br />

die Runen entschlüsselt zu haben und schrieb dazu 1902 einen Bestseller: "Das Geheimnis der<br />

Runen".<br />

Das Werk machte ihn so bekannt, daß die 1908 gegründete Guido-von-List-Gesellschaft die Eliten<br />

Österreichs, völkische Vereinigungen und die gesamte "Wiener Theosophische Gesellschaft"<br />

umfaßte. Rassismus und Antisemitismus waren salonfähig, lange bevor Hitler seine erste Tirade<br />

abfeuerte. List´s Schriften gehörten zur Bildungslektüre Hitlers. 116<br />

Jörg Lanz von Liebenfels, ein zum Teufel konvertierter Zisterzienser, verfaßte "Theozoologia oder die<br />

Kunde von den Sodomsäfflingen und dem Götter-Elektron", in der er die Ansicht unters Volk brachte,<br />

Außerirdische hätten "<strong>Menschen</strong>hochzucht" getrieben und die arische Rasse entwickelt. Die<br />

"Dämonozoa" hätten sich mit den Tieren vermischt, woraus sich die dunklen Rassen entwickelt hätten.<br />

Die Herrschaft der "Niederrassen müsse beendet werden, Blondehen, Reinzuchtkolonien, und Klöster<br />

für Zuchtmütter sollten die Besserung bringen. 117<br />

Der Einfluß Friedrich Nietzsches läßt sich an den Ideen zur Höherentwicklung der Menschheit<br />

ablesen: Für die Ausrottung des Tiermenschen und die Entwicklung des höheren Neumenschen<br />

wurden Sterilisierungsmaßnahmen, Deportationen in den "Affenwald", Liquidation durch<br />

Zwangsarbeit, und rassische Schönheitskonkurrenzen von Lanz vorgeschlagen. Auch vor Mord<br />

schreckte er nicht zurück: "Bringt Frauja Opfer dar, ihr Göttersöhne, auf und bringt ihm dar die<br />

Schrättlingskinder!" 118<br />

Während des 1. Weltkriegs griff die Thule-Loge als Gegengewicht gegen die "jüdisch verseuchten"<br />

Freimaurerlogen <strong>das</strong> ariosophische Gedankengebäude auf. In dieser Gesellschaft fühlten sich viele<br />

spätere Nationalsozialisten zu Hause, z.B. Alfred Rosenberg und Rudolf Heß. Rosenbergs "Mythos<br />

des 20. Jahrhunderts" nahm von der Arier-Urheimat Atlantis bis zum spirituellen Antisemitismus<br />

Bezug auf die genannten arisch-neureligiösen Lehren. 119<br />

114<br />

Des "listigen Guidos" Erben. Der Armanenorden in www.helsing.virtualave.net/Armanen.htm<br />

115<br />

Über Hitlers Wiener Bett (etwa 1907/1908) sollen Schönerers Sprüche gehangen haben: "Ohne Juda, ohne<br />

Rom / Wird gebaut Germaniens Dom. Heil!" (J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 77)<br />

116<br />

Des "listigen Guidos" Erben. Der Armanenorden in www.helsing.virtualave.net/Armanen.htm<br />

117<br />

s.o.<br />

118<br />

J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 71<br />

119<br />

Des "listigen Guidos" Erben. Der Armanenorden in www.helsing.virtualave.net/Armanen.htm<br />

88


Rassistische Konzeptionen<br />

Auch der Rassismus entstand genauso wie der Antisemitismus nicht im Schnellen Brüter Adolf Hitlers,<br />

war keinesfalls eine Kreation des Nationalsozialismus. Er war im reformistischen Denken der<br />

Kaiserzeit so verbreitet und verwurzelt, wie <strong>das</strong> Haareschneiden oder <strong>das</strong> Rasieren. Nach den<br />

landläufigen Theorien zerfiel die Menschheit in die weiße, die gelbe, die schwarze und die rote Rasse.<br />

Die weiße Rasse umfaßte die Bewohner Europas, Nordafrikas, Vorderasiens und Vorderindiens.<br />

Unter den Europäern als Teil der Weißen Rasse wurden wiederum die Germanen besonders<br />

hervorgehoben. Sie saßen auf dem Gipfel der Rassenpyramide:<br />

"Vor allem kommt es darauf an, die Bedeutung der germanischen Rasse zu erkennen: 1. Es ist<br />

eine unbestreitbare Tatsache, daß heute die Länder, in denen <strong>das</strong> meiste reingermanische Blut<br />

vorhanden ist, an der Spitze der Kultur stehen: Großbritannien, Deutschland einschließlich<br />

Österreich, Niederlande und Schweiz; die drei nordischen Reiche Dänemark, Norwegen und<br />

Schweden; Nordamerika: Vereinigte Staaten und Kanada; Südafrika; Australien. Rein germanisch<br />

sind unter diesen Ländern wohl am meisten die drei nordischen Königreiche. Aber in den anderen<br />

ist eine mehr oder minder starke germanische Oberschicht, und dieser Oberschicht verdanken sie<br />

in erster Linie ihre Macht und ihre Kulturhöhe... Die Bedeutung der sogenannten romanischen<br />

Völker ist bedingt durch die Stärke ihrer germanischen Beimischung...Was man heute die<br />

slawische Rasse nennt, ist halbmongolisch...Im heutigen Deutschen Reich wohnt ein nordischturanisches<br />

Mischvolk: Die oberen Bevölkerungsschichten haben mehr germanisches Blut in ihren<br />

Adern, als der Durchschnitt der gesamten deutschen Bevölkerung; dieser Oberschicht verdanken<br />

wir unsere Kultur und Macht. Wir müssen dafür sorgen, daß keine Rasseverschlechterung eintritt;<br />

die Gefahr ist groß." 120<br />

Die Angst vor Rasseverschlechterung erreichte und beeinflußte die meisten politischen<br />

Anschauungen mehr oder weniger stark. Auch auf diesem Ideologiegebiet gab es kaum feste<br />

Grenzen. Selbst in der SPD gab es die bereits erwähnte Eugenikdebatte und den Wunsch, zu einem<br />

Qualitätsvolk aufzusteigen. Hitler setzte mit seiner Rassenlehre auf eine bereits vorhandene<br />

Grundüberzeugung in der Bevölkerung auf. Es ist falsch und irreführend, den Rassismus als<br />

nationalsozialistische Erfindung darzustellen, die Nationalsozialisten verfolgten diese Ideologie nur am<br />

konsequentesten.<br />

Bereits 1910 war absehbar, daß die Vereinigten Staaten als Schmelztiegel mehrerer Völker oder aber<br />

trotz dieser Verschmelzung in ihrer Entwicklung zeitweilig etwas weiter fortgeschritten waren. Wenn<br />

man nicht blind war, mußte man <strong>das</strong> erkennen. Man muß sich über <strong>das</strong> niedrige Niveau der<br />

politischen Diskussion in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik verwundern, im Dritten Reich<br />

gab es in dieser Frage bekanntlich keine theoretischen Veränderungen und keine praktischen<br />

Verbesserungen.<br />

Der Jude als antikapitalistische Projektionsfigur<br />

Von 1871 bis 1945 hat es in Deutschland nie eine ausgesprochen bürgerliche Staatsform oder eine<br />

durchgängig kapitalistische Wirtschaftsweise gegeben. Es gab statt dessen eine dominante<br />

Militärmonarchie Preußen, die alle anderen deutschen Staaten und den deutschen Bundesstaat<br />

langsam mit ihrem pedantischen Bürokratismus infizierte und ein wirtschaftliches Mischsystem aus<br />

vorfeudal-genossenschaftlichen, feudalen, marktwirtschaftlichen und staatswirtschaftlichen<br />

Elementen. Alles mit riesigen Unterschieden zwischen dem Rheinland und Ostelbien.<br />

Seit den Steinschen Reformen war die Marktwirtschaft im Bermudaviereck aus Genossenschaft,<br />

Gutswirtschaft, Marktwirtschaft und Staatswirtschaft erstarkt. Das hing mit der Einführung von<br />

Elementen der Gewerbefreiheit und dem dadurch ausgelösten Erstarken der industriellen Produktion<br />

zusammen. Die industrielle Produktion wuchs aber auf Kosten der vorbürgerlichen Produktionsweisen<br />

Handwerk, Krämerei, Müllerei, Fuhrwesen und Landwirtschaft. Bereits 1806 hatten die zünftigen<br />

Handwerker ihre Bedenken gegen die Einführung der Gewerbefreiheit geäußert, da sie sich als<br />

Verlierer der neuen Zeit fühlten. Und nicht nur die Handwerker waren Verlierer des industriellen<br />

Zeitalters, Fuhrleute und Gastwirte kämpften gegen ein modernes Verkehrssystem mit Eisenbahnen.<br />

120 Heinrich Wolf: Angewandte Geschichte, Th. Weicher, Leipzig, 9. Aufl. 1919. Die erste Auflage wurde 1910<br />

gedruckt.<br />

89


In Deutschland waren die berufsständischen Korporationen besonders ausgeprägt, mehr als in<br />

anderen Ländern. Die Bedeutung des Handwerks spiegelte sich in einem ausgeprägten Zunftwesen,<br />

die Händler bildeten Gilden, später wurden die Freiberufler, Landwirte und Handwerker in Kammern<br />

versammelt, Handwerker zusätzlich in Innungen. Alle diese Gebilde waren auf Ordnung und Zwang<br />

sowie auf die Vermeidung von Anstrengung bei der Arbeit durch Ausschaltung der Konkurrenz<br />

ausgerichtet. Der Kerngedanke war, <strong>das</strong> Sich-messen der Produzenten mit anderen Produzenten zu<br />

verhindern.<br />

Die Gewerbefreiheit in Deutschland war im 19. Jahrhundert nicht nachhaltig etabliert worden, sondern<br />

die Zünfte waren nur umbenannt worden. Innungen, Kammern und Handwerksordnungen behindern<br />

bis heute erfolgreich die Freiheit des Schaffens. Aber <strong>das</strong> bißchen Veränderung seit den Zünften, <strong>das</strong><br />

Hinzukommen der industriellen auf den überörtlichen Markt gerichteten Produktion war den deutschen<br />

Handwerkern schon zuviel. Objektiv verschlechterte sich ihre Lage durch die Konkurrenz der<br />

Maschine. Viele Handwerkszweige wurden überflüssig gemacht. Der schlesische Weberaufstand, der<br />

in diese Zeit gehört, war eigentlich kein Arbeiter- sondern ein Handwerkeraufstand, der <strong>das</strong> Motiv der<br />

Maschinenstürmerei beinhaltete.<br />

Deutschland ist noch heute mental ein Land von Handwerkern, obwohl der überwiegende Teil der<br />

Bevölkerung sein Brot seit Generationen anderweitig verdient. Der Handwerker ist vorbürgerlich und<br />

antikapitalistisch gesinnt, denn die Konkurrenz durch kapitalistische Maschinenarbeit ist der Todfeind<br />

des Handwerkers. Handwerker, Fuhrleute, Gastwirte und andere vom technischen Fortschritt<br />

gebeutelte Gruppen waren latent antimarktwirtschaftlich orientiert. In der Zeit der <strong>Romantik</strong>, des<br />

Vormärz und des Wilhelminismus stießen zu den kampferprobten Praktikern der<br />

Wettbewerbsbeschränkung und der Handarbeit die Ideologen und Künstler. War es am Anfang des<br />

19. Jahrhunderts in einigen Kreisen noch chic, England zu bewundern und zu kopieren, so wurde es<br />

am Ende Mode, die Eigenheit Deutschlands und die Bedeutung des Handwerks zu betonen.<br />

Der Begriff des Handwerkers geht weit über den klassenmäßigen Begriff hinaus und ist so unscharf<br />

wie die Arbeitsinhalte im Handwerk. Es handelt sich nicht um den selbständigen Meister, sondern<br />

auch um Gesellen, Lehrlinge und diejenigen am Rande der industriellen Fertigung, die nichtindustriell<br />

arbeiteten, die vielen Bastler, Tüftler und diejenigen, die noch in bis vor wenigen Jahren Ersatzteile<br />

aus dem Vollen feilten. Rituale des Handwerks waren und sind die Lehre, die Freisprechung, <strong>das</strong><br />

Meisterstück, der Brotneid, der blaue Montag, die Wanderschaft und die zahlreichen damit<br />

verbundenen Bräuche.<br />

Das deutsche Handwerk mit seiner starken Spezialisierung brachte zahlreiche Werkzeuge und<br />

Spezialwerkzeuge hervor. Werkzeuge waren neben der Funktion als Arbeitsmittel Symbole. Alle<br />

Zünfte hatten auf ihren Fahnen Werkzeugdarstellungen. Die internationale Überlegenheit des<br />

deutschen Werkzeugs war so drückend, daß im Osten gar keine eigenen Werkzeugbezeichnungen<br />

entstanden, sondern die deutschen Werkzeugnamen einfach polonisiert, russifiziert usw. wurden. So<br />

geschah es auch mit den Gewerkebezeichnungen.<br />

Das Gegenbild des handwerklichen Deutschlands wurde die maschinenbetriebene "Werkstatt der<br />

Welt" England und <strong>das</strong> Gegenbild des Handwerkers wurde der Jude. Der Jude wurde niemals mit<br />

einem deutschen Werkzeug dargestellt, sondern mit Bauchladen, Kontobuch, Geldscheinbündeln und<br />

gestapelten Münzen. 121 Nun entsprach es der Wahrheit, daß die meisten Juden im Handel, im<br />

Bankwesen, in der Kultur, der Presse und in den freien Berufen tätig waren. Aber gerade dieser<br />

Umstand machte sie zum Gegenstand des Mißtrauens, der Mißstimmung und des Unverständnisses.<br />

Als antikapitalistische und antibolschewistische Projektionsfigur war "Der Jude" also schon deshalb<br />

geeignet, da er im Handwerk relativ schwach und in der Landwirtschaft noch schwächer vertreten war.<br />

Die deutschen Handwerker, Landwirte und vor allem ihre Wortführer waren tonangebend und fühlten<br />

etwas Intellektuelles und Fremdes, <strong>das</strong> über ihren berufsständisch geprägten Horizont hinausragte.<br />

Dieses Fremde als Verschwörung des Weltjudentums gegen Deutschland zu interpretieren setzte die<br />

Überzeugung von der Überlegenheit des deutschen Weges voraus. Die orthodoxe Staatswirtschaft<br />

Russlands und die liberalistische Marktwirtschaft der angelsächsischen Länder waren in den Augen<br />

der Deutschen gegenüber dem eigenen Wirtschaftsmodell minderwertig, weshalb ein Überschlag der<br />

fremden Wirtschaftsverfassungen auf Deutschland verhindernswert schien. Die orthodoxe Gefahr<br />

hatte als politische Verkörperung zumindest seit 1919 die KPD. Die liberalistische Gefahr hatte keine<br />

121 Antijüdische Postkarten kann man in www.badische-heimat.de/museen/kpm/jd/66.htm und folgende Seiten<br />

ansehen, natürlich als abschreckende Beispiele.<br />

90


politische Heimat in den deutschen Staatsgrenzen; es gab seit dem Tode Eugen Richters keine<br />

liberale marktwirtschaftlich gesinnte Partei mehr; die einzige denkbare Verkörperung des fremden<br />

marktwirtschaftlichen Wertesystems waren die Handel treibenden Juden. Wilhelm Busch textete:<br />

Und der Jud mit krummer Ferse<br />

Krummer Nas´und krummer Hos´<br />

Schlängelt sich zur hohen Börse<br />

Tief verderbt und seelenlos.<br />

Erschwerend für die Akzeptanz und für die Emanzipation der Juden von antijüdischen Vorurteilen kam<br />

hinzu, daß Juden sich auf Grund ihrer Religion weder im Zentrum noch in den konservativen Parteien<br />

politisch zu Hause fühlen konnten. Sie waren entweder apolitisch und verdienten Geld oder sie<br />

strömten in die gemäßigt reformistischen, in die marxistischen und leninistischen Parteien.<br />

Bereits 1911 hatte der Ökonom Werner Sombart, der vor dem Ersten Weltkrieg sozialistischen Ideen<br />

nahestand, über den Zusammenhang zwischen Judentum und Kapitalismus nachgedacht. 122 Er<br />

merkte, um den Unterschied zur deutschen Wertordnung zu charakterisieren, an: "Das Jüdische<br />

Gesetz hat keinen Ausdruck für die Verpflichtung, es kennt nur Schuld und Forderung." 123 Dem<br />

germanischen Prinzip "Mache keinen Kunden abspenstig weder durch Worte noch Briefe, und tue<br />

nicht anderen an, was andere Dir nicht antun sollen", stellte sich nach Meinung des Ökonomen<br />

Sombart ein jüdisches Prinzip entgegen:<br />

"Endlich <strong>das</strong> jüdische Gesetz begünstigt <strong>das</strong> industrielle Laisser-faire. So finden wir im Sulchan<br />

Aruch: Wenn jemand in seiner Straße ein Handwerk beginnt, und niemand von seinen Nachbarn<br />

protestiert, und danach einer von den anderen Bewohnern der Straße denselben Beruf zu führen<br />

wünscht, so darf sich der erste nicht beschweren, daß der <strong>Neue</strong> ihm <strong>das</strong> Brot wegnimmt, und nicht<br />

versuchen ihn zu behindern." 124<br />

"Mit jedem Schritt verstießen sie (die Juden) gegen ökonomische Grundsätze und die<br />

wirtschaftliche Ordnung. Das scheint klar genug durch <strong>das</strong> einstimmige Klagen der christlichen<br />

Händler überall" 125<br />

Nicht nur daß Sombart der Welt der zünftigen Handwerker und Händler die Welt der Juden<br />

entgegenstellte, auch England wurde in die Überlegung einbezogen, eskortiert von Gänsefüßchen<br />

ging er zum Angriff auf die Insel über: "Ich würde also die Worte von Heine wiederholen, der eine klare<br />

Einsicht in die meisten Dinge hatte." Er ließ Heine fragen:<br />

"Sind nicht die Puritaner schottische Hebräer, mit ihren biblischen Namen, ihrem Jerusalem, dem<br />

pharisäischen Kauderwelsch? Und ist nicht ihre Religion ein Judaismus, der <strong>das</strong> Essen von<br />

Schweinen erlaubt?"<br />

"Puritanismus ist Judaismus" behauptete Sombart und verwies auf Cromwell, der die Juden sehr<br />

förderte und <strong>das</strong> Judentum sehr verehrte. 126<br />

1911 waren Sombart die Rassentheorien geläufig, die als neue Heilslehre die jüdische und die<br />

christliche Religion gleichermaßen ersetzen sollten, als Theorie der arischen oder germanischen<br />

Mission, einer moderne Form des Glaubens an ein auserwähltes Volk. 127 Sombart war dem Zeitgeist<br />

entsprechend antikapitalistisch gesonnen, und der Antikapitalismus wurde durch einen subtilen<br />

Antisemitismus untermauert, gestützt und begründet.<br />

Der Antisemitismus und seine Einbindung in die Abneigung gegen den Kapitalismus war also<br />

durchaus keine Erfindung Adolf Hitlers. Hitler setzte auf Überzeugungen, die bereits in der Kaiserzeit<br />

fest im öffentlichen Bewusstsein verankert waren. Alle Vorbehalte gegen den eingebildeten Feind, <strong>das</strong><br />

Judentum, gab es bereits, sie mußten nur hervorgeholt, aufgewärmt und und endlos nachgeplappert<br />

werden.<br />

122 Werner Sombart, Die Juden und <strong>das</strong> Wirtschaftsleben, Duncker und Humblot, Leipzig, 1911<br />

123 s.o. Seite 79<br />

124 s.o. Seite 248<br />

125 s.o. Seite 127<br />

126 s.o. Seite 249 f<br />

127 s.o. Seite 321<br />

91


Einen mit vorbürgerlichen Tugenden und einer deutlichen Kapitalismuskritik gespickten Brief schrieb<br />

der Österreicher Hitler 1919 an Adolf Gemlich, nicht ohne den Juden in die Betrachtung mit<br />

einzubeziehen:<br />

"Der Tanz ums goldene Kalb wird zum erbarmungslosen Kampf um all jene Güter, die nach<br />

unserem inneren Gefühl nicht die höchsten und einzig erstrebenswerten auf dieser Erde sein<br />

sollten. Der Wert des einzelnen wird nicht mehr bestimmt durch seinen Charakter, der Bedeutung<br />

seiner Leistungen für die Gesamtheit, sondern ausschließlich durch die Größe seines Vermögens,<br />

durch sein Geld. Die Höhe der Nation wird nicht mehr gemessen werden nach der Summe ihrer<br />

sittlichen und geistigen Kräfte, sondern nur mehr nach dem Reichtum ihrer Güter. Aus diesem<br />

Fühlen ergibt sich jenes Denken und Streben nach Geld und Macht, die dieses schützt, <strong>das</strong> den<br />

Juden skrupellos werden läßt in der Wahl der Mittel, erbarmungslos in ihrer Verwendung zu<br />

diesem Zweck." 128<br />

Das jüdische Machtstreben konnte Hitler aus früheren Veröffentlichungen übernehmen. Nietzsche<br />

hatte im letzten Moment vor seiner endgültigen Verblödung geschrieben:<br />

"Ich lege Werth darauf, zunächst die Offiziere und die jüdischen Banquiers für mich zu haben: -<br />

Beide zusammen repräsentieren den Willen zur Macht. 129<br />

Adolf Hitlers antikapitalistischer Affekt ist ein weitverbreitetes Denkmuster der zwanziger Jahre und<br />

weit über diese Zeit hinaus. Eine gewisse Inkonsequenz des Gedankenmodells fällt sofort ins Auge.<br />

Der Jude wäre angeblich materialistisch und mäße nur in Geld und Gold. Aber er strebt darüber<br />

hinaus auch nach Macht. Aber ist ein nur nach Macht strebender Jude per Definition kapitalistisch?<br />

Die enge Verquickung des kapitalistischen Feindbildes mit dem Bild vom Juden führte Hitler immer<br />

wieder in theoretische Widersprüche, die sich praktisch jedoch erst nach 1944 ungünstig für die<br />

Nationalsozialisten auswirkten.<br />

Die angeblich kapitalistisch orientierten Juden engagierten sich überwiegend in antikapitalistischen<br />

Parteien. In der USPD, in der SPD, in der DDP und bei den frühen Bolschewiken waren Juden<br />

zahlreich vertreten. Für die antijüdische Propaganda entstand dadurch ein Problem der Vermittlung:<br />

Hitler löste es, indem er jüdisch-plutokratische und jüdisch-bolschewistische Systeme unterschied. Der<br />

jüdische Plutokrat war der englisch-amerikanisch-französische Geldjude, der jüdische Bolschewik war<br />

der bluttriefende bolschewistische Kriegskommissar, für den Bronstein-Trotzki <strong>das</strong> Ebenbild abgab.<br />

Im angeblich jüdisch-bolschewistischen Rußland war dem Streben nach Geld kein Raum gegeben.<br />

Das Geld war im Grundsatz abgeschafft, allenfalls noch als eine Art Wertmarke oder Notgeld im<br />

Verkehr, und der Reichtum wurde von der herrschenden Clique in Industrieanlagen für die<br />

Schwerindustrie und Rüstungsgüter verwandelt, während im Lande Hunger herrschte. Die Ökonomie<br />

Rußlands war in Wirklichkeit nach Hitlers Definition sehr unjüdisch, entsprach Hitlers Vorstellungen<br />

vom Juden letztlich nicht. Statt Mehrwert zu hecken wurde Gebrauchswert geschaffen, und dieser<br />

Gebrauchswert diente einem konkreten Ziel: der Erringung der Weltherrschaft. In Wirklichkeit war der<br />

Bolschewismus in der Verfolgung dieses konkreten Ziels auf Werte und Ideen ausgerichtet, viel mehr<br />

orthodox geprägt, als jüdisch und die Teilnahme von Juden an der Revolution hatte ab dem Ende der<br />

zwanziger Jahre sehr wenig Einfluß auf den Gang der weiteren Entwicklung. Die Bolschewiken hatten<br />

die Popen umgebracht, aber die etatistische Ideologie der Popen überlebte eingeschweißt in die<br />

Gedankenwelt der stalinistischen Partei. Man sprach wenn vom Moskauer System die Rede war, vom<br />

orthodoxen Kommunismus. Der flüchtige Jude Trotzki dagegen wurde in Mexiko von einem<br />

gedungenen Mörder des Georgiers Stalin mit dem Eispickel erschlagen.<br />

Alle nüchternen Überlegungen über eine unterschiedliche Entwicklungsgeschichte des<br />

angelsächsischen Kapitalismus und des orthodoxen Bolschewismus blieben den Nationalsozialisten<br />

unzugänglich, da sie sich an eine Verschwörungstheorie als fundamentale Grundlage klammerten. 130<br />

Das einzige logisch verbindende Element zwischen Kapitalismus und orthodoxer Staatswirtschaft<br />

blieb unter einem germanozentrischen Gesichtswinkel die Tatsache, daß es sich um Abweichungen<br />

128 www.popkultur.freewebsites.com/-brief-hitler.html<br />

129 Nietzsche: Fragmente Dezember 1888- Anfang Januar 1889, 25(11)<br />

130 Die Verschwörungstheorie als Begründung des nationalsozialistischen Gedankengebäudes erscheint primitiv,<br />

war aber zeitgemäß. Die Stalinisten sahen sich genauso wie die Nationalsozialisten als Kämpfer gegen eine<br />

weltweite kapitalistische Verschwörung.<br />

92


vom deutschen Weg handelte, aber <strong>das</strong> war nie die offizielle nationalsozialistische Erklärung für <strong>das</strong><br />

Verbindende zwischen Plutokratismus und Bolschewismus. Der angeblich überlegene Deutsche Weg<br />

hatte als solcher einen Exekutor, der beflissentlich verschwiegen wurde: Der Vollender der deutschen<br />

Sonderwirtschaftsform, Walter Rathenau, war Jude. Man sieht: logisch und historisch war der<br />

nationalsozialistische Antisemitismus nicht zu begründen und nicht zu verstehen. Er war für Hitler und<br />

seinen Führungszirkel ähnlich fundamentale Voraussetzung jeglicher politischen Arbeit, wie der Koran<br />

für die Muslime fundamentale Begründung für ihr Verhältnis zu den Juden und Christen ist.<br />

Nachfragen erübrigen sich in solchen Fällen.<br />

Der Spagat zwischen Plutokratie und Bolschewismus wurde nicht wirklich, nicht endgültig und nicht<br />

zweifelsfrei aufgelöst. Immer wenn die Menschheit solche Rätsel nicht lösen kann, haben<br />

Verschwörungstheorien Konjunktur. Moishe Postone verweist in seinem Aufsatz "Nationalsozialismus<br />

und Antisemitismus" 131 auf ein Naziplakat: Es zeigt Deutschland - dargestellt als starken ehrlichen<br />

Arbeiter -, <strong>das</strong> im Westen durch einen fetten plutokratischen John Bull bedroht ist und im Osten durch<br />

einen brutalen, barbarischen, bolschewistischen Kommissar. Jedoch sind diese beiden feindlichen<br />

Kräfte bloße Marionetten. Über den Rand des Globus, die Marionetten fest in der Hand, späht der<br />

Jude. "Das internationale Judentum" wurde abstrahierend als <strong>das</strong> wahrgenommen, was zum<br />

Niedergang althergebrachter sozialer Zusammenhänge und Werte führt.<br />

Hinsichtlich des Antisemitismus gibt es eine Besonderheit vor, während und nach der Zeit der<br />

Weimarer Republik. Während die Zwangs- und Planwirtschaft, die obrigkeitsstaatliche Verfassung, die<br />

Vorbehalte gegen die Parteien, die Mitteleuropakonzeption und der Polenhaß vom Kaiserreich über<br />

die Weimarer Republik ins Dritte Reich kontinuierlich von allen gesellschaftlichen Gruppen und<br />

politischen Parteien herübergetragen wurden, gab es beim Antisemitismus einen Einschnitt. Keine der<br />

drei Verfassungsparteien betrieb während der Weimarer Zeit in ihrem Kern konzentrierte antijüdische<br />

Hetze. Auf zumindest diesem einen Gebiet wurde eine stetige und nachhaltige Politik nur von<br />

völkischen Reformisten, Neokonservativen und Nationalsozialisten, und nicht von allen<br />

gesellschaftlichen Kräften betrieben. Nach dem gewaltsamen Tod des Kriegswirtschaftsführers<br />

Rathenau beispielsweise gab es in weiten Teilen Deutschlands Kundgebungen des Unmuts über den<br />

Antisemitismus.<br />

Das wirklich bestimmende Verhältnis im vorbürgerlichen wilhelminischen Deutschland war nicht ein<br />

Produktionsverhältnis, sondern ein Herrschafts-Knechtschaftsverhältnis. In Preußen zeigte sich dieses<br />

Verhältnis besonders auf dem Kasernenhof. Einige zeitgenössische Karikaturen zeigen den Juden bei<br />

der Musterung als zu klein oder zu krank, oder er wurde zum Exerzieren als zu ungeschickt<br />

dargestellt. 132 Beim Besuch von Wilhelm II in einer Kleinstadt waren die örtlichen Honoratioren zum<br />

Empfang auf der Rathaustreppe versammelt, darunter auch ein Jude. Wilhelm II fragte ausgerechnet<br />

den Juden, wo er gedient habe. Der Jude hatte nicht gedient.<br />

Ein junger Bohèmien wird im Saft der Jahrhundertwende geschmort ohne zu garen<br />

August Bebel hatte auf manche Dinge einen klaren Blick:<br />

„Deutschland ist <strong>das</strong> klassische Land, <strong>das</strong> diese Überproduktion an Intelligenz, welche die<br />

bürgerliche Welt nicht zu verwerten weiß, auf großer Stufenleiter schafft.“<br />

Das traf auf eine ganze Alterskohorte von Reformisten zu, die etwa 1885 bis 1910 geboren wurden.<br />

Adolf Hitler war einer von ihnen.<br />

1905 hatte Adolf Hitler die Realschule abgebrochen. Er war offensichtlich kein Einzelfall. Nach der<br />

Jahrhundertwende häuften sich die Schulabbrüche in der Literatur: "Freund Hein" von Emil Strauss<br />

(1901), "Traumstunde" von Rainer Maria Rilke (1902), "Frühlings Erwachen" von Frank Wedekind<br />

(1906), "Der junge Törless" von Robert Musil (1906), "Unterm Rad" von Hermann Hesse (1906) und<br />

"Mao" von Friedrich Huch (1907). In Künstlerkreisen war es augenscheinlich angesagt, die Schule zu<br />

schmeißen, Thomas und Heinrich Mann, Gerhard Hauptmann, Carl von Ossietzky und Hermann<br />

Hesse gehörten zu den prominenten Abbrechern. 133 Dahinter mag sich auch der durchaus logische<br />

Gedanke der Schüler verborgen haben, daß man in einer Welt des sublimierten Gefühls, wie es von<br />

der Jugendbewegung seit Friedrich Nietzsche verfochten worden war, eingepaukte Schulbildung nicht<br />

mehr benötigte. Was sollten Physik und Mathematik in einer Welt, in der die Naturwissenschaft<br />

131 www.gaga.or.at/others/k.../m-postone_nationalsozialismus-und-antisemitismus.htm<br />

132 www.badische-heimat.de/museen/kpm/jd/87.htm<br />

133 J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 86<br />

93


verteufelt wurde? Reichte es nicht, sich seinen Ambitionen hinzugeben und sein edles Leben auf den<br />

Altärchen der Kunst und der Natur zu opfern?<br />

Ganz Kind des fin de siécle ließ sich Hitler in Wien treiben. Herr seiner eigenen Zeit stand er erst<br />

gegen Mittag auf, schlenderte durch Gärten, Parks und Museen, besuchte Büchereien und sehr oft die<br />

Oper. Allein "Tristan und Isolde" soll er dreißig bis vierzig Mal gesehen haben. Er entwarf<br />

Theaterbauten, Schlösser, Ausstellungshallen, selbst Abriß und Neubau der Hofburg beschäftigten ihn<br />

ernsthaft, ohne daß er ein Gefühl für die Realitätsferne dieser Planung entwickelt hätte. Neben<br />

Reformplänen für den Schulbetrieb entwarf er im Vorübergehn auch den deutschen Idealstaat und<br />

arbeitete an der Oper "Wieland der Schmied" weiter, die Richard Wagner hatte fallenlassen. Auch die<br />

Rechtschreibung war vor dem jungen Lebensreformer nicht mehr sicher, ganz im Zeitgeist schrieb er<br />

statt Theater "Teater" und statt Idee "Iede".<br />

Seinem Zimmergenossen gegenüber verdeckte er seine hochfahrenden Ambitionen mit einem<br />

sozialen Mäntelchen: "Ich arbeite an der Lösung des Wohnungselends in Wien und mache zu diesem<br />

Zweck bestimmte Studien." 134<br />

Nächste Station war Schwabing. Lenin hatte den Stadtteil bereits geräumt, als Hitler 1913 zuzog, auch<br />

der große Schwabinger Krach von 1904, als sich Antisemiten und Zionisten der "Kosmischen Runde",<br />

eines neuheidnischen Kreises um Ludwig Klages, Ludwig Derleth, Alfred Schuler und Karl Wolfskehl<br />

in die Haare gerieten, war bereits Geschichte. Auch in München überwogen im Leben Hitlers innere<br />

Trägheit und Kontaktnot, behauptet Joachim Fest. Nach eigenen Angaben versuchte er sich in<br />

München als Kunstmaler, einzelne erhalten gebliebene Werke stützen diese Behauptung.<br />

Alle Eigenheiten der seelischen Überspanntheit, des sozialwissenschaftlichen Sektierertums, des<br />

lebensreformerischen Obskurantismus und der durchaus zeitgemäßen Besserwisserei und<br />

Verbohrtheit, die sich bei der Jugend der Mittelschichten in der Reformzeit immer wieder beobachten<br />

lassen, trafen auch auf Hitler zu. Seine Nichtzulassung zur Kunstakademie betrachtete er als<br />

Zurückweisung durch die bürgerliche Welt. Joachim Fest merkte an, daß die erbitterten Anklagen<br />

gegen diese Scheinwelt, von denen Europa seit 20 Jahren wiederhallte, Hitler zahlreiche Vorwände in<br />

die Hand gaben, die erlittene Demütigung gesellschaftskritisch aufzuarbeiten. Doch Hitler habe sich<br />

von der modischen totalen Demaskerade, wie sie von Gustav Klimt, Egon Schiele, Oskar Kokoschka,<br />

Gustav Mahler oder Richard Strauss vorgeführt wurde, ferngehalten und sei den <strong>Klassik</strong>ern des<br />

Spätbiedermeiers und den Malern des Impressionismus und Jugendstils verfallen geblieben.<br />

Lieblingsmaler war Hans Markart, der die ständische Gesellschaft des späten 19. Jahrhunderts in<br />

opulenten Gleichnissen mit wahrlich brecht´schen Verfremdungseffekten darstellte: Eisenbahner<br />

steckte er beispielsweise in aufwändige Renaissancegewänder. In der Musik blieben für ihn Wagner<br />

und Bruckner die anerkannten Autoritäten. Mit Wagner verbanden ihn <strong>das</strong> Schulversagen, die Flucht<br />

vor dem Militärdienst, der krankhafte Judenhaß, ebenso wie der Vegetarismus und nicht zuletzt die<br />

Vorliebe für eine "unverwechselbare Mischung von Walhall, Revue und Tempeldienst". 135 Joachim<br />

Fest bemerkte zutreffend:<br />

"...es war die gänzliche Ästhetisierung des Lebens unter Führerschaft der Kunst.....Auf diese Weise<br />

sollte der Staat zur Höhe eines Kunstwerks erhoben und die Politik aus dem Geist der Kunst<br />

vollendet und erneuert werden. In der Theatralisierung des öffentlichen Lebens im Dritten Reich,<br />

der inszenatorischen Passion des Regimes, der Dramturgie seiner politischen Praxis, die nicht<br />

selten zum Zweck der Politik zu werden schien, sind Elemente dieser Programmatik unschwer<br />

feststellbar."<br />

Bereits in seiner Münchner Zeit beschäftigten Hitler Theaterprobleme: Bei seinen dramatischen<br />

Versuchen kam es ihm auf die möglichst großartige Inszenierung, den ungeheuren Aufwand an.<br />

Hinsichtlich der eingesetzten <strong>Menschen</strong>massen stellte der als Dramaturg arbeitende Hitler selbst<br />

Richard Wagner in den Schatten, wie Hitlers Mitbewohner Kubicek bemerkte. Neben Wagners<br />

Vorstellungen von germanischer Kraft, dem Fluch des Goldes, dem unterirdischen Wühlen minderer<br />

Unterrassen, Blutdurst, Drachentöterei und dem Glockengeläut am Theaterkarfreitag 136 beeinflußten<br />

Hitler darwinistische Vorstellungen.<br />

134 J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 64 f.<br />

135 J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 87 ff. Die Vegetarier behaupten, Hitler sei kein Vegetarier gewesen, weil er<br />

gelegentlich Lebernknödeln und Hühnchen gegessen hat. Aber auch ein Katholik, der gelegentlich den<br />

Beichtstuhl aufsuchen muß, ist noch ein Katholik.<br />

136 J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 90 und 100<br />

94


Ludwig Klages´ Klagen über die Technik, Kapitalismus und die Vernichtung des Lebens<br />

August Bebel hoffte auf den Zusammenbruch des Kapitalismus und setzte sene Hoffnung dabei auch<br />

auf die Jugend:<br />

„Diese Jugend wird zur Kritik an dem Bestehenden herausgefordert und gereizt und hilft die<br />

allgemeine Zersetzungsarbeit wesentlich beschleunigen.“<br />

Wie wir sehen werden, ging die Zersetzungstätigkeit eher in die grüne völkische, als in die rote<br />

proletarische Richtung.<br />

Im Oktober 1913 fand der sogenannte Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner bei Kassel<br />

statt. Bei dieser Gelegenheit trafen sich 2-3000 Aktivisten der auf über 60.000 Mitglieder<br />

angeschwollenen organisierten Jugendbewegung, um ihr gewachsenes Selbstbewußtsein zu<br />

demonstrieren und sich über ihre Ziele zu vergewissern. Der Ton wurde von Kulturkritikern<br />

angegeben, die antimodernistische, heidnische und spätromantische Konzepte vertraten. Das<br />

Grußwort des Lebensphilosophen Ludwig Klages an den Jugendtag ist entsprechend eine einzige<br />

Jeremiade gegen <strong>das</strong> industrielle Zeitalter. Überflüssig zu erwähnen, daß Klages dem Schwabinger<br />

Kreis um den Dichter Stefan George nahestand. "Anarchisten, Bohemiens, Weltverbesserer, Künstler<br />

und krause Apostel neuer Werte" trafen sich an den Schwabinger Kaffeehaustischen, "bleiche junge<br />

Genies träumten von einer elitären Erneuerung der Welt, von Erlösungen, Blutleuchten,<br />

Reinigungskatastrophen und barbarischen Verjüngungskuren für die degenerierte Menschheit." 137 Um<br />

die Ecke wohnte vom September 1900 bis April 1901 Lenin, der ausgerechnet in Schwabing die<br />

Handlungsanleitung der Revolution "Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung" mit dem<br />

Konzept der elitären Kaderpartei als Avantgarde der Arbeiterbewegung schrieb und von 1912 bis<br />

1914 der Postkartenmaler Adolf Hitler. Klages Anklagen begannen ähnlich wie auf einer grünen<br />

Bundesversammlung der siebziger oder der achtziger Jahre:<br />

"Wir täuschen uns nicht, als wir den ´Fortschritt´ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir<br />

sehen, daß Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ´Nutzen´,<br />

´wirtschaftlicher Entwicklung´, ´Kultur´ geht er in Wahrheit auf Vernichtung des Lebens aus. Er trifft<br />

es in allen seinen Erscheinungsformen, rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die<br />

primitiven Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft<br />

und entwürdigt, was er von Lebewesen noch übrig läßt gleich dem ´Schlachtvieh´ zur bloßen Ware,<br />

zum vogelfreien Objekt ´rationeller´Ausbeutung. In diesem Dienste aber steht die gesamte Technik<br />

und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft."<br />

Das typisch deutsche Kokettieren mit dem Widerspruch von Geist und Macht, brach sich ebenso<br />

wortreich Bahn:<br />

"Worauf aber der Fortschrittler stolz ist, <strong>das</strong> sind bloße Erfolge, sind Machtzuwächse der<br />

Menschheit, die er gedankenlos mit Wertzuwächsen verwechselt, und wir müssen bezweifeln, ob<br />

er ein Glück zu würdigen fähig sei, und nicht vielmehr nur die leere Befriedigung kenne, die <strong>das</strong><br />

Bewußtsein der Herrschaft gibt. Macht allein ist ja blind gegen alle Werte, blind gegen Wahrheit<br />

und Recht, und wo sie diese noch zulassen muß, ganz gewiß blind gegen Schönheit und Leben."<br />

Ein weiteres Motiv, <strong>das</strong> sich durch die ganze lebensreformerische, konservative und<br />

nationalsozialistische Propaganda zieht ist die Persönlichkeitsfeindlichkeit des Kapitalismus:<br />

"Wie gäbe es unter solchen Umständen noch große Persönlichkeiten! Wir verkennen gewiß nicht<br />

den Wert der Erfindungsgabe an den Meistern der Technik, nicht des Rechentalents an den<br />

Fürsten der Industrie; aber auch wenn man dergleichen auf die nämliche Stufe höbe mit lebendiger<br />

Schöpferkraft, so bleibt es doch sicher, daß es niemals imstande wäre, <strong>das</strong> Leben zu bereichern.<br />

Die gescheiteste Maschine hat nur Bedeutung im Dienste eines Zweckes, nicht an sich selbst, und<br />

die umfangreichste industrielle Organisation der Gegenwart ist in tausend Jahren ein Nichts, indes<br />

die Gesänge Homers, die Weisheitsworte Heraklits, die Symphonien Beethovens zum nie<br />

veraltenden Schatz des Lebens gehören. Wie traurig sieht es jetzt mit unserem Denker- und<br />

Dichtertum aus, <strong>das</strong> man einst mit Recht an uns rühmte."<br />

137 J. Fest: Hitler, Ullstein 2003, S. 104 f.<br />

95


Nach dem Wald- und Dichtersterben beschäftigte Klages <strong>das</strong> Artensterben:<br />

"Um die sogenannten Kulturmenschen mit Billardkugeln, Stockknöpfen, feinen Kämmen und<br />

Fächern und ähnlichen ungeheuer nützlichen Dingen zu versehen, werden....achthunderttausend<br />

Kilogramm Elfenbein jährlich verarbeitet. Das ist gleichbedeutend mit der Niedermetzelung von<br />

fünfzigtausend der gewaltigsten Tiere der Welt. (...) Wir wollen auch nicht wiederholen, was bald<br />

Gemeingut des Wissens ist, daß in keinem, aber auch in keinem Fall der Mensch die Natur mit<br />

Erfolg korrigieren konnte. Wo die Singvögel verschwinden, vermehren sich massenhaft<br />

blutsaugende Insekten und schädliche Raupen, die oft schon in wenigen Tagen Weinberge und<br />

Wälder kahl gefressen; wo man die Bussarde abschießt und die Kreuzottern ausrottet, kommt die<br />

Mäuseplage und verdirbt durch die Zerstörung der Hummelnester den zu seiner Befruchtung auf<br />

diese Insektenart angewiesenen Klee; <strong>das</strong> große Raubzeug besorgt die Auslese unter dem<br />

Jagdwild, welches durch die Fortpflanzung kranker Stücke entartet (!), wo seine natürlichen Feinde<br />

fehlen. .."<br />

Nicht nur den unschuldigen Tieren, auch den alten Küchenschürzen wurde hinterhergetrauert:<br />

"Wo sind die Volksfeste und heiligen Bräuche geblieben, dieser Jahrtausende lang unversiegbare<br />

Born für Mythos und Dichtung: der Flurumritt zum Gedeihen der Saaten, der Zug der Pfingstbraut,<br />

der Fackellauf durch die Kornfelder! - Wo der verwirrende Reichtum der Trachten, in denen jedes<br />

Volk sein Wesen, dem Bilde der Landschaft eingepaßt zum Ausdruck brachte!"<br />

Nach diesem ökologisch-volkskundlichen Rundumschlag der Anklagen wurden die Folgerungen<br />

abgeleitet, fehlt der Generalangriff auf den in der Demokratie unvermeidlichen Kampf um<br />

Sonderinteressen, auf <strong>das</strong> Christentum und den Kapitalismus natürlich nicht:<br />

"Gruppen und Grüppchen schließen sich rücksichtslos zusammen um Sonderinteresse, im zähen<br />

Erhaltungskampf stoßen hart aufeinander Gewerbe, Stände, Völker, Rassen, Konfessionen und<br />

innerhalb jeden Verbandes wieder voll Eigennutz und Ehrgeiz die Einzelmenschen. (...) Wenn<br />

schon ´Fortschritt´, ´Zivilisation´, ´Kapitalismus´ nur verschiedene Seiten einer Richtung des<br />

Instinkts bedeuten, so wollen wir uns jetzt erinnern, daß dessen Träger ausschließlich die Völker<br />

der Christenheit sind. Nur innerhalb ihrer wurde Erfindung auf Erfindung gehäuft, hat sich die<br />

´exakte´ d.h. zahlenmäßige Wissenschaft entwickelt, und regte sich rücksichtslos <strong>das</strong><br />

Expansionsbedürfnis, welches die außerchristlichen Rassen unterwerfen und die gesamte Natur<br />

verwirtschaften will." 138<br />

Der Freideutsche Jugendtag 1913 war der erste und der letzte seiner Art. Er war die Heerschau der<br />

Jugend- und Lebensreformbewegung am unmittelbaren Vorabend des Weltkriegs.<br />

Es ist kaum verwunderlich, <strong>das</strong>s Klages nach 1933 versuchte, die Gunst der Stunde zu nutzen, um<br />

eine geistige Führungsrolle in Deutschland einzunehmen. Er scheiterte in der nationalsozialistischen<br />

Ideologiekonkurrenz nicht an fehlendem antisemitischen Eifer, sondern an seinen<br />

zivilisationskritischen technikfeindlichen Ansätzen. Selbst die Germanenschwärmer der NSDAP waren<br />

sich darüber im Klaren, <strong>das</strong>s Naturwissenschaft und Technik für die Umsetzung imperialer<br />

Großmachtsphantasien unverzichtbar wären. 139<br />

Eine Frau wird sich genommen<br />

Klaus Theweleit eröffnete sein Werk „Männerphantasien“ mit der Analyse von sieben Ehen von<br />

soldatischen Männern.<br />

Kapitän Ehrhardt schrieb über seine Frau: „Als junger Kapitänleutnant verheiratete ich mich.“<br />

Weiterhin berichtete er, <strong>das</strong>s sein Schwiegervater ihm ein Häuschen baute, <strong>das</strong>s seine Frau wegen<br />

Überarbeitung von ihm nur den Rücken sah und <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Leben in Kiel für seine Frau heiterer war,<br />

als im diesigen Wilhelmshaven. Seine Scheidung und Neuverheiratung mit Prinzessin Hohenlohe<br />

erwähnte er nicht.<br />

138 Zitate aus: Peter von Rüden: Ludwig Klages Grußwort an den Freideutschen Jugendtag 1913 in<br />

www.oekozentrum.org/home/peter_von_rueden/texte/klages.htm<br />

139 Kai Köhler: Die andere Moderne? Ein Sammelband zur Literatur im deutschen Faschismus<br />

96


Ähnlich kurz und unpersönlich reflektierte Gerhard Rossbach <strong>das</strong> Vorhandensein einer Frau in seinem<br />

Leben: Er erwähnte die Abneigung seiner Frau gegen Tapetentüren, und ihr Nervenleiden, an dem sie<br />

starb. Auch seine zweite Frau fand nur zweimal Erwähnung: Einmal ein Satz gelegentlich der<br />

Hochzeitsreise und zum zweiten Mal eine Erwähnung, <strong>das</strong>s seine Frau ihn aus dem amerikanischen<br />

Internierungslager rausholen wollte.<br />

Für Kapitänleutnant Martin Niemöller war seine spätere Frau zunächst keine eigene Person, sondern<br />

die Schwester seines Kameraden und Schulfreundes Hermann Bremer.<br />

Rudolf Höß bemerkte, <strong>das</strong>s er sich mit seiner Frau im Gleichklang des Vertrauens und Verstehens<br />

befand, um dann anzuhängen<br />

„Doch eines war und blieb zu ihrem steten Kummer: All <strong>das</strong>, was mich zutiefst bewegte, musste ich<br />

mit mir selbst abmachen, konnte ich auch ihr nicht offenbaren.“<br />

Auf deutsch gesagt: Mit Frauen sprach man nicht über Politik. Auch bei Höß war die Frau zunächst<br />

Schwester eines Freundes, in diesem Falle eines völkischen Landkommunarden.<br />

Ernst von Salomon war es wichtiger, zusammen mit seinem Freund Kern den Außenminister<br />

Rathenau aus dem Leben zu befördern, als zu heiraten. Seine Angebetete musste 10 Jahre warten,<br />

bis er die Angelegenheit einschließlich 5 Jahren Zuchthaus erledigt hatte.<br />

Auch in den Memoiren des Generals von Lettow-Vorbeck kam die Frau, die er erst mit 49 heiratete,<br />

weniger um eine Frau zu haben, als vielmehr, „um dem Junggesellenleben Lebewohl zu sagen“, nur<br />

zwischen Tür und Angel vor. Die Hochzeit fand überstürzt statt, da ihn General von Hindenburg einen<br />

Tag später in Kolberg erwartete, um ihn im Baltikum zu „verwenden“. Die nächste längere Erwähnung<br />

fand die Frau nach ihrem Tod. Theweleit bemerkt, <strong>das</strong>s man unangenehm berührt sei, wenn Lettow-<br />

Vorbeck einen Verwandten länger als einen Satz lobend erwähnt. „gleich ist er tot denkt man. Und so<br />

ist es.... Hat Lettow-Vorbeck sich der vornehmen Pflicht des Nachrufs entledigt, geht er meistens zur<br />

Beschreibung einer Jagd über (aber auch nach allen anderen Geschehnissen gibt es Jagden).“<br />

Auch für den späteren Gauleiter von Sachsen, Manfred Killinger, waren Männersachen wichtiger, als<br />

eine Heirat. Gerade bei Kriegsausbruch verweilte er bei seiner Angebetenen. In der Angst den Krieg<br />

zu verpassen wurde die Heirat auf einen Fronturlaub verschoben, der sich anlässlich der<br />

werftmäßigen Überholung des Torpedoboots nicht vermeiden ließ. Nach dem Krieg kaum zu Hause<br />

angekommen, war er froh, sich für geraume Zeit zu den Freikorps verdrücken zu dürfen.<br />

So stellte sich Fidus <strong>das</strong> Geschlechterverhältnis vor: Männer gehören zu schwertschwingenden Bünden und<br />

Frauen flechten ihnen zu Füßen Ehrenkränze. Das Bild wurde zum freideutschen Jugendtag auf dem Hohen<br />

Meißner 1913 geschaffen: „Hohe Wacht“.<br />

Der normale Mann geht seiner Alten stundenweise aus dem Weg: Er geht nach der Arbeit eine Stunde<br />

in die Kellerwerkstatt, wo unter der Werkbank ein Bierkasten steht, er tut nützliche Arbeit in der<br />

örtlichen Feuerwehr oder er entflieht einmal wöchentlich am Abend in den Schützenverein und einmal<br />

im Jahr zum Männertag. Die obigen Freikorps-Männer waren wie Richard Kimbel permanent auf der<br />

Flucht. Sie hatten rund um die Uhr Männerdinge zu tun: zu kämpfen, zu siegen und zu jagen.<br />

Nietzsche hatte ein frauenfeindliches Leitbild entwickelt, welches es den unter intellektuellem<br />

Gruppenzwang stehenden gebildeten Männern schwierig machte, sich als normal gewickelt zu outen.<br />

Es hätte ja ein Freund denken könne, <strong>das</strong>s man es mit einer Gans trieb, oder <strong>das</strong>s man als<br />

eingebildeter Socrates demüthiger Sclave einer scheppernden Xanthippe wäre. Man beleidigte seine<br />

eigene Frau als solche, indem man sie als Schwester eines Kameraden quasi zum Ersatzmann<br />

ernannte.<br />

Friedrich Nietzsche hat folgende Stichworte hinterlassen:<br />

Ach, diese Armuth der Seele zu Zweien! Ach, dieser Schmutz der Seele zu Zweien! Ach, dieses<br />

erbärmliche Behagen zu Zweien!<br />

Katzen sind immer noch die Weiber, und Vögel. Oder besten Falles, Kühe.<br />

Ehe nennen sie diess Alles; und sie sagen, ihre Ehen seien im Himmel geschlossen.<br />

97


Nun, ich mag ihn nicht, diesen Himmel der Überflüssigen! Nein, ich mag sie nicht, diese im<br />

himmlischen Netz verschlungenen Thiere!<br />

Ferne bleibe mir auch der Gott, der heranhinkt, zu segnen, was er nicht zusammenfügte!<br />

Lacht mir nicht über solche Ehen! Welches Kind hätte nicht Grund über seine Eltern zu weinen?<br />

Würdig schien mir dieser Mann und reif für den Sinn der Erde: aber als ich sein Weib sah, schien<br />

mir die Erde ein Haus für Unsinnige.<br />

Ja, ich wollte, <strong>das</strong>s die Erde in Krämpfen bebte, wenn sich ein Heiliger und eine Gans mit einander<br />

paaren.<br />

Dieser ging wie ein Held auf Wahrheiten aus und endlich erbeutete er sich eine kleine geputzte<br />

Lüge. Seine Ehe nennt er´s.<br />

Jener war spröde im Verkehre und wählte wählerisch. Aber mit einem Male verdarb er für alle Male<br />

seine Gesellschaft: seine Ehe nennt er´s.<br />

Jener suchte eine Magd mit den Tugenden eines Engels. Aber mit einem Male wurde er die Magd<br />

eines Weibes, und nun thäte es Noth, <strong>das</strong>s er darüber noch zum Engel werde.“ 140<br />

Auch im Volkslied der Jahrhundertwende wird ein sehr ambivalentes Verhältnis des Mannes zum<br />

andern Geschlecht manifest: In „Von den Bergen“, <strong>das</strong> bei jeder Kirchweih gesungen wurde heißt es:<br />

„In der Heimat angekommen, ja ja ja fängt ein neues Leben an:<br />

eine Frau wird sich genommen, kleine Kinder bringt der Weihnachtsmann“<br />

Derselbe Fidus, der die Frau auf den Arm des Übermenschen setzte, warb auch für die Sexualreform,<br />

allerdings mit Hilfe der Magie und der Mystik. Die Reform war eben heterodox. Die antiklerikale<br />

Reformbewegung, hier bei der symbolischen Darstellung der Vorstellungen zur Sexualreform in Form<br />

einer Sexualreligion, ging mit dem Symbol des Hakenkreuzes ganz unbefangen um. 1968 erfolgte die<br />

sexuelle Befreiung unter anderen Vorzeichen, aber mit demselben missionarischen Eifer.<br />

Fidus hat 1901 in seinem Entwurf eines Kopulationstempels „Tempel der Erde“ einige Hinweise zum<br />

nietzscheanischen Mann-Frau-Verhältnis gegeben. Auf der Frauenseite gibt es den Saal der Lust, die Halle der<br />

Gefühle und den Saal der Sehnsucht, die Männer gehen durch den Saal des Ehrgeizes, die Halle des Willens<br />

und den Saal der Liebe bevor in der Halle der Ergebung die Zuteilung der Paare erfolgt. Massenhochzeiten wie in<br />

Korea waren vorgesehen.<br />

Die Männerbünde hatten in den zwanziger Jahren ihre Hochkonjunktur: Wandervogel,<br />

Burschenschaften, Stahlhelm, Sturmabteilungen, Rotfrontkämpferbund, Vereine von ehemaligen<br />

Maschinengewehrschützen. In allen diesen Vereinigungen konnte man seiner schönen,<br />

leidenschaftlichen und auf ihre Art sehr intelligenten Frau entkommen. In nicht wenigen dieser<br />

Organisationen bildeten sich schwule Netzwerke. Besonders davon betroffen waren naturgemäß die<br />

Bünde und die SA. Nicht nur im George-Kreis knisterte es homoerotisch, auch an allen Fronten des<br />

Ersten Weltkriegs.<br />

Der als Kriegsliterat sehr umtriebige Wanderer zwischen den Welten, Walter Flex hatte ein Verhältnis<br />

mit Ernst Wurche, <strong>das</strong> im „Wanderer“ seinen literarischen Niederschlag gefunden hat:<br />

Der Waffenlose Feiertag des sechsten Juli wurde ganz ein Geschenk seines frischen Herzens an<br />

<strong>das</strong> meine... Im buntwuchernden Wiesenkraut ließen wir uns von Sonne und Wind trocknen, und<br />

die leisen, zitternden Sonnenwellen rannen glieichmäßig durch Luft und Sand und <strong>Menschen</strong>leib<br />

und durchgluteten alles Lebendige mit trunkener Kraft und erschlaffender Freude. 141<br />

Freud vermutete, <strong>das</strong>s sich Homosexualität mit Massenbindungen besser verträgt, auch wenn sie als<br />

ungehemmte Sexualstrebung auftrete. Adorno behauptete gar „Totalität und Homosexualität gehören<br />

zusammen“. Theweleit hat sich mit dem Zusammenhang von Homosexualität und weißem Terror<br />

auseinandergesetzt, allerdings aus der Sicht der Psychoanalyse mit Blick auf Körperflüsse und<br />

140 F. Nietzsche, Zarathustra, Von Kind und Ehe<br />

141 Walter Flex, Wanderer, S. 42 f<br />

98


Tabuzonen. Er hat hunderte Zitate aus der Welt der Freikorps und der Jugendbewegung<br />

zusammengetragen, hunderte Literaturstellen gesucht und gefunden, die einfachste Lösung jedoch<br />

ausgespart. Zarathustra und Nietzsche sind für Theweleit ein fremdes Territorium, um sich in seiner<br />

Begrifflichkeit auszudrücken.<br />

Es waren weniger libidinöse Wünsche, als eine Gewalts- und Männlichkeitsreligion, die den<br />

Zusammenhang von Schwulheit und Reformismus schuf. Im Zarathustra gehören Gewalt gegen<br />

Schwache, Vergötterung des Gesunden, Verachtung für die Frau und Kult der Gewalt und des<br />

Krieges in einen elitaristischen Zusammenhang. Diese Vergötzung des Männlichen, Fröhlichen und<br />

Gewalttätigen, diese dezidierte Herabwürdigung der Frau musste auf Dauer die Ausbreitung der<br />

Homoerotik fördern. In dem Moment, wo sich die Kulturbeflissenheit bewusst in Männerfreundschaften<br />

und Männerbünden entlud, wuchs die Gefahr, <strong>das</strong>s es zu körperlichen Kontakten der Geistigen käme.<br />

Von den Orten, wo Frauen fehlten, von Schiffen, Kasernen und Zuchthäusern ganz zu schweigen.<br />

Wo war die Madame de Stael, wo waren Charlotte von Stein, Angelika Kaufmann, Anna Amalia, Maria<br />

Theresia, die Günderode, Bettina von Arnim, Annette von Droste-Hülshoff, Marie-Antoinette, die Frau<br />

von Göchhausen des 20. Jahrhunderts? Wo waren um die Jahrhundertwende die selbstbewussten<br />

Frauen geblieben? In einem Moment, wo <strong>das</strong> Frauenwahlrecht eingeführt wurde, war der Einfluß von<br />

Frauen im deutschen Politik- und Kulturbetrieb auf den historischen Tiefpunkt gesunken. Rosa<br />

Luxemburg wurde noch schnell ermordet, so <strong>das</strong>s Käthe Kollwitz, Clara Vieweg, Clara Zetkin, Else<br />

Lasker-Schüler und Ricarda Huch in einem sich ständig ausdehnenden Meere von dichtenden,<br />

politisierenden, malenden und komponierenden Männern fast allein zurückblieben. Die Tendenz der<br />

zurückgehenden Zahl von Frauen als Dichterinnen, Politikerinnen und Schriftstellerinnen hatte sich<br />

bereits im ganzen 19. Jahrhundert verstärkt; als Nietzsche die Frau endlich in den Kuhstall stellte,<br />

hatte sie den Zenit ihres Einflusses längst überschritten. In der Literatur des ausgehenden 19.<br />

Jahrhunderts wurde ihre Rolle neu definiert: Wedekind beschreibt seine Lulu als wildes schönes Tier,<br />

und Clara Vieweg biologisierte die werktätige Frau bis zur animalischen Stilisierung:<br />

„Ihre Pupillen vergrößerten sich, ihre geschmeidigen Glieder duckten sich zum Sprung, nun<br />

tauchte ihr Gesicht mit den zitternden Nasenflügeln dicht vor dem seinen auf – ein Kuß und ein Biß<br />

brannten auf der Wange...“<br />

Eine ähnliche Rolle spielte die fünfzehnjährige Marcella im Kreis der „Brücke“-Kommunarden.<br />

Wenigstens wurden Frauen im biologistischen Milieu nicht ignoriert, aber <strong>das</strong> ihnen zugestandene<br />

Aktionsfeld lag zweifelsfrei nicht auf intellektuellem Gebiet. Dem gefühlsbetonten Geist der Zeit<br />

entsprechend wurde die weibliche Lust aus ihrem natürlichen nervlichen Zusammenhang mit dem<br />

Gehirn herausdestilliert, verselbständigt, aufgebauscht und überhöht. Das waren wohl die Katzen, die<br />

Nietzsche erwähnte.<br />

Besonders <strong>das</strong> Damenheer des Kgr. Dahomey beflügelte die männliche Phantasie. Es gibt erstaunlich<br />

viele Fotos und Zeichnungen von dieser goodfashioned Truppe.<br />

George Grosz stellte in „Der Schuldige bleibt unerkannt“ die Frau als Täterin dar, die als Prostituierte<br />

ihre Macht über die Freier ausspielt, 142 seine Frau stellte er in „Daum marries her pedantic automation<br />

george in may 1920, john heartfield is very glad of it“ als aufreizende sexuelle Provokateurin dar, sie<br />

schaut im wahrsten Sinne des Wortes etwas blöd aus der Wäsche. Geil und möglichst doof, so wollte<br />

<strong>das</strong> der reformistische Mann.<br />

Auch im ach so progressiven Bauhaus herrschte dank den dort zelebrierten Werten von Friedrich<br />

Nietzsche reformistische Frauenfeindlichkeit. Gropius verortete in seiner allgemeinen ahistorischen<br />

Formen- und Raumlehre <strong>das</strong> Dreieck, die Farbe rot und den Geist bei der Männlichkeit, <strong>das</strong> Quadtrat,<br />

die Farbe blau und die Materie bei den Weibern. „Klee definierte <strong>das</strong> Genie selbstverständlich als<br />

männlich, als er es 1928 in der Zeitschrift „bauhaus“ mit „zeugung“ verglich. Er stand damit in einer<br />

Denktradition für die, ausgehend von Nietzsche, Schöpfertum und Männlichkeit weitgehend identisch<br />

waren.“ 143 In Weimar und Dessau waren Männer Kulturwesen und Frauen Naturwesen. Folglich<br />

verfrachtete der Meisterrat die Frauen in die Webereiwerkstatt, die als „Frauenabteilung“ geführt<br />

wurde. Aus dieser Rollenverteilung kam man als Frau nur – typisch für sozialistische Systeme – mit<br />

Protektion heraus. Im Bereich Bau und Ausbau gab es unter den Absolventen folglich nur vier<br />

Schneewittchens unter hunderten Zwergen.<br />

142 Dietmar Elger, Dadaismus, S. 48<br />

143 Magdalena Droste, Bauhaus, Taschen, 2007<br />

99


Sigmund Freud setzte <strong>das</strong> Tüpfelchen auf <strong>das</strong> i des männergesellschaftlichen Denkens, als er<br />

fehlgeleitete Handlungen von Frauen auf ihren Penisneid zurückführte, auf die mangelnde psychische<br />

Verarbeitung des Fehlens dieses Tools.<br />

Ein weiterer Zweifler an der Gleichberechtigung und der Intelligenz der Frauen war Otto Weininger.<br />

Wie die meisten frauenkritischen Autoren der Zeit um 1900 war ein unselbständiger Nachbeter<br />

Friedrich Nietzsches, der dessen Vorurteile mit Freuds Theorien vermengte.<br />

In seinem Hauptwerk "Geschlecht und Charakter" zeigte er sich als Verfechter einer frauen- und<br />

körperfeindlichen Geisteshaltung.<br />

„Die Werte höheren Lebens seien, behauptete der eigenwillige Philosoph, der Frau ebenso<br />

unzugänglich wie die Welt der Ideen. Je weiblicher <strong>das</strong> Weib, desto mehr verkörpere es eine reine<br />

geistlose Geilheit. Erst durch den Mann empfange die Frau ein Leben aus zweiter Hand. Nicht von<br />

ungefähr nannte Ernst Bloch Weiningers Abhandlung "eine einzige Anti-Utopie des Weibes".<br />

Das Judentum wiederum schien Weininger durchtränkt von Weiblichkeit. Daraus leitete er die<br />

paranoide Gleichung ab, <strong>das</strong>s "der Jude" (Weininger sprach von Juden durchweg im Singular und<br />

dann auch immer nur vom männlichen Juden) ein Weib sei, eine kommunistische Kupplerin. Da beide,<br />

Frauen und Juden, nur Sexualität, nur Körper und Materie seien, bar jeden Geistes, jeder Seele und<br />

jeder Sittlichkeit und unfähig zur sexuellen Askese, stellten sie eine Bedrohung dar.<br />

Seiner Meinung nach denken Frauen nicht logisch, eher in Assoziationen. Instinktiv sagten sie nie die<br />

Wahrheit und neigten von Natur aus zu Krankheiten und zur Hysterie. Aber auch die Logik von Juden<br />

sei mangelhaft. Sie stützten sich vor allem auf den "Pilpul", einer von hebräisch 'Pfeffer' abgeleiteten<br />

scharfen Dialektik, die auf reiner Assoziation beruhe und, laut Weininger, nur ein weiteres intuitives<br />

Mittel zur Lüge darstelle. Im Grunde sei der Jude noch verderblicher als <strong>das</strong> Weib und habe wie <strong>das</strong><br />

Weib keinen "Schwerpunkt" innerhalb seiner Auffassung von der Welt. Darüber hinaus gäbe es für<br />

Juden auch keinen Schwerpunkt in der Welt selbst, während für die Frau dieser Schwerpunkt<br />

immerhin der Mann sei. Der Jude sei nichts anderes als eine degenerierte Frau. Gleichwohl stellten<br />

beide, Juden und Frauen, universelle Möglichkeitsformen menschlicher Existenz dar. Sie seien<br />

Erscheinungsformen, die in jedem beliebigen Individuum auftreten könnten. "Der Jude" wie "<strong>das</strong><br />

Weib" hätten ferner eine materialistische Gesinnung. Beiden fehle der Sinn für Humor, ihre<br />

Ausdrucksform sei die Satire. Ferner zeigten beide einen Mangel an Tiefe wie etwa auch der "fast<br />

jede Größe entbehrende Dichter Heine." Aber:<br />

"Der tiefstehende Mann steht noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weibe, so hoch,<br />

<strong>das</strong>s Vergleich und Rangordnung hier kaum mehr statthaft scheinen."<br />

Dem Tod Weiningers folgte schnell posthumer Nachruhm. "Geschlecht und Charakter" wurde zum<br />

begehrten Kultbuch und der Autor zur Legende. Sein Weltkonzept faszinierte und beeinflusste<br />

nachhaltig nicht nur seine Zeitgenossen, sondern auch die nachfolgende Generation. Kaum einer<br />

konnte sich dem entziehen. Unbestritten war Weininger ein Modedenker seiner Zeit. Lieferte er doch<br />

der vorherrschenden Meinung ein kühnes metaphysisches und zugleich philosophischpsychologisches<br />

Amalgam, <strong>das</strong> er sogar mit dem hohen sittlichen Ideal Kants krönte. Jedermann<br />

konnte sich da nach Belieben bedienen.<br />

Mit ihm geistesverwandt erwies sich alsbald der Leipziger Arzt Paul Julius Möbius, dessen<br />

bekanntestes Werk "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes" sich ebenfalls als überaus<br />

erfolgreicher Publikumsrenner herausstellte. Der treueste unter Weiningers Epigonen, der<br />

Schriftsteller Arthur Trebitsch, war stolz auf sein "arisches" Erscheinungsbild und biederte sich bei<br />

Erich von Ludendorff und Ernst von Salomon an, mit denen er die Welt vor der "semitischen" Gefahr<br />

retten wollte.<br />

Wie Otto Weininger wollte auch Trebitsch <strong>das</strong> die Welt bedrohende Unheil an der Wurzel packen,<br />

deswegen konnte er Weiber und Juden nicht ausstehen.<br />

100


Die Liste illustrer Verehrer und Bewunderer ist lang. August Strindberg ehrte "sein Gedächtnis als <strong>das</strong><br />

eines tapferen männlichen Kämpfers" und sprach von dem unverrückbaren Faktum, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Weib<br />

nichts als ein rudimentärer Mann sei.<br />

Doch hat Weiningers asketischer Reinlichkeitswahn nicht nur Moralisten wie Karl Kraus, Ludwig<br />

Wittgenstein und Adolf Schönberg im Fin de siècle angezogen, sondern auch auf Adolf Hitler und<br />

Benito Mussolini gewirkt, nicht zuletzt deshalb weil sich aus seiner Theorie von der menschlichen<br />

Bisexualität leicht eine manichäische Weltanschauung vom Kampf der Geschlechter zimmern ließ, der<br />

angeblich dem Kampf der Arier gegen <strong>das</strong> Judentum entspricht. Damit hat Weininger, gewollt oder<br />

ungewollt, dem faschistischen Männlichkeitskult Tür und Tor geöffnet.<br />

"In den langen Monologen im Führerhauptquartier Wolfsschanze erzählt Hitler eines Abends, sein<br />

väterlicher Freund Dietrich Eckart habe ihm versichert es gebe "einen anständigen Juden..., den Otto<br />

Weininger, der sich <strong>das</strong> Leben genommen hat, als er erkannte, <strong>das</strong>s der Jude von der Zersetzung<br />

anderen Volkstums lebt" berichtet Joachim Riedel und bemerkt weiter: "Doch Weininger übte indirekt<br />

auch folgenschweren Einfluss auf Hitler aus. Während seiner "Wiener Lehrjahre" war der meist<br />

mittellose Kunstmaler ein emsiger Leser der wütend-antisemitischen Zeitschrift "Ostara", die ein<br />

grotesker Weininger-Epigone edierte. Georg Lanz von Liebenfels (ein Künstlername) war ein<br />

abgefallener Zisterzienser-Mönch, der 1905 begonnen hatte, seine wahnwitzige Rassenideologie zu<br />

publizieren. Seine wesentliche programmatische Schrift 'Theozoologie' liest sich wie eine von den<br />

letzten logischen Ankern befreite Kopie der Weiningerschen Lehre." Er war der Mann, "der Hitler die<br />

Ideen gab." (Gerald Stieg mit Hinweis auf <strong>das</strong> gleichnamige von ihm und Wilfried Daim verfasste<br />

Buch, München 1958.)“ 144<br />

Fast entbehrlich zu erwähnen ist, <strong>das</strong>s der elitaristische Zusammenhang zwischen Männlichkeitswahn<br />

und Antisemitismus durch den Vergleich von Frauen und Juden mit Engländern zum ideologischen<br />

Bermudadreieck erweitert wurde, welches den Kapitalismus in eine verächtliche Lage brachte.<br />

Engländer hätten keine hervorragenden geistigen Leistungen vollbracht, William Shakespeare wurde<br />

zum zweitrangigen Stückeschreiber herabgewürdigt. Mit der Einbeziehung Englands wurden die<br />

Marktwirtschaft und <strong>das</strong> parlamentarische System zu eines Mannes unwürdigen Unternehmungen<br />

stilisiert.<br />

Im Kontext des zeitgenössischen Männlichkeitswahns erregten exhibitionistische Männer die<br />

sexuellen Phantasien.<br />

„Berlin verwandelte sich in <strong>das</strong> Babel der Welt. Bars, Rummelplätze und Schnapsbuden schossen<br />

auf wie die Pilze. Was wir in Österreich gesehen, erwies sich nur als mildes und schüchternes<br />

Vorspiel dieses Hexensabbats, denn die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und<br />

Systematik in die Perversion. Den Kurfürstendamm entlang promenierten geschminkte Jungen mit<br />

künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte sich etwas verdienen, und<br />

in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene<br />

Matrosen zärtlich hofieren. Selbst <strong>das</strong> Rom des Sueton hatte keine solchen Orgien gekannt wie die<br />

Berliner Transvestitenbälle, wo Hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen in<br />

Männerkleidung unter den wohlwollenden Blicken der Polizei tanzten. Eine Art Irrsinn ergriff im<br />

Sturz aller Werte gerade die in ihrer Ordnung bisher unerschütterlichen bürgerlichen Kreise.“ 145<br />

144 Ursula Homann: Judenhasser oder ein Heiliger des Judentums? Aus www.ursulahomann.de<br />

145 Stefan Zweig: Die Welt von gestern, Frankfurt, 1953, S. 187<br />

101


Der ständegesellschaftliche Überhang<br />

Es gibt keinen Frieden im wirtschaftlichen Kampf ums Dasein<br />

Es fehlte ... der lebendige Boden der politischen Ökonomie.<br />

Sie ward als fertige Ware importiert aus England und<br />

Frankreich; ihre deutschen Professoren blieben Schüler.<br />

Karl Marx 1873<br />

Bei deutschen Ökonomen des vorigen Jahrhunderts ging es eigentlich nur am Rande ums Geld, und<br />

schon gar nicht um den Gewinn. Aber Ökonomie ist ja auch nicht die Wissenschaft vom<br />

Geldverdienen, sondern von der Betriebs- und Volkswirtschaft. Es ging vielen deutschen Ökonomen<br />

auch nur am Rande um Betriebs- und Volkswirtschaft. Karl Marx zum Beispiel wollte eigentlich die<br />

Arbeiterklasse befreien, die Kategorien Wert, Arbeit, Lohn und Kapital sollten dafür nur nötige<br />

Hilfsenergie liefern.<br />

Ähnlich ging es einem der führenden Ökonomen der Spätkaiserzeit, Max Weber. Für Max Weber war<br />

die Ökonomie keine marktwirtschaftliche Lehre vom Reichtum der Nationen, sondern eine<br />

Hilfswissenschaft der Politik. Weber sprach deshalb auch von Volkswirtschaftspolitik.<br />

"Die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft. Sie ist eine<br />

Dienerin der Politik, nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen,<br />

sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation."<br />

Weber wandte sich immer wieder vehement gegen eine Verselbständigung der Ökonomie außerhalb<br />

des Rahmens der nationalen Interessen.<br />

"Auch unter dem Schein des Friedens geht der ökonomische Kampf der Nationalitäten seinen<br />

Gang...Es gibt keinen Frieden im wirtschaftlichen Kampf ums Dasein. (...) Nicht Frieden oder<br />

<strong>Menschen</strong>glück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen<br />

Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art". 146<br />

Weber war auch einer der Väter der Soziologie. Die Soziologie wurde von Max Weber in der Provinz<br />

Westpreußen entwickelt. Nach einem Vergleich von Bodengüte, sozialer Schichtung, Art der<br />

Bewirtschaftung und Nationalität wurde die Feststellung entwickelt, daß polnische Zuwanderer die<br />

deutschen Landarbeiter verdrängen. Dagegen kämpfte er zeitlebens. Aus dem Alldeutschen Verband<br />

trat er aus, weil dieser Verband sich aus ökonomischen Interessen der Junker für die Zuwanderung<br />

ausgesprochen hatte. Weber war aber für die Begrenzung der polnischen Zuwanderung.<br />

"Der polnische Kleinbauer gewinnt an Boden, weil er gewissermaßen <strong>das</strong> Gras vom Boden frißt,<br />

nicht trotz, sondern wegen seiner tiefstehenden physischen und geistigen Gewohnheiten."<br />

Max Webers Soziologie und seine Volkswirtschaftspolitik waren eine Reflexion des politischen<br />

Handelns im preußisch-deutschen Kaiserreich und Weber war ein Verkünder dieses Handelns, ein<br />

Apologet. Die niedrige ökonomische Kultur in Deutschland, die mangelnde Emanzipation der<br />

produzierenden Schichten spiegelt sich in seinem Werk deutlich wider. Nicht nur in der Überbetonung<br />

des Primats der Politik über die Ökonomie, wie Lenin oder Trittin dieses Verhältnis bezeichnet hätten,<br />

sondern auch in der Stellungnahme zu Bürgertum und Arbeiterklasse. Der deutschen Arbeiterklasse<br />

warf er vor, den Charakter des politisch unerzogenen Spießbürgertums noch nicht verloren zu haben,<br />

im Gegensatz zu Frankreich und England, wo die Proletariate durch die Resonanz der<br />

Weltmachtstellung dieser Länder anders geartet seien. Dem Bürgertum warf er Unselbständigkeit vor,<br />

sich nach einem neuen Cäsar zu sehnen, der es schirmt, unter Anspielung auf den zurückgetretenen<br />

Bismarck.<br />

Während sich Adam Smith und David Ricardo mit Kategorien wie Wert, Ware und der Herkunft des<br />

Gewinns beschäftigten, beschäftigte sich Weber mit Herrschaft, ethnischen Gemeinschaften, Typen<br />

der religiösen Vergemeinschaftung, politischen Gemeinschaften, Machtgebilden, Klassen, Ständen,<br />

Parteien, der Legitimität, der Bürokratie, dem Patriarchat, dem Charismatismus und der<br />

Priesterherrschaft. Das spiegelt den Unterschied zwischen England und Deutschland wider.<br />

Deutschland war ein vorbürgerliches Land mit vorwiegend außerökonomischen Machtstrukturen,<br />

146 Die folgenden Zitate stammen aus der Seite: home.t-online.de/home/Winfried.Krauss/wnat-vwl<br />

102


England war, soweit <strong>das</strong> für eine Gesellschaft überhaupt möglich ist, eine bürgerliche Gesellschaft mit<br />

stärker ausgeprägten und stärker akzeptierten ökonomischen Machtstrukturen. Der Inhalt des<br />

"Grundriß der Sozialökonomik" von Max Weber legt diesen Unterschied ungewollt bloß.<br />

Vor dem ersten Weltkrieg gab es in Deutschland eine Kapitalismusdebatte, in die zahlreiche<br />

Wissenschaftler eingriffen. Kern dieser Debatte war <strong>das</strong> Herausarbeiten der Unterschiede des<br />

Deutschen Reiches zu England, <strong>das</strong> Erkennen der Spezifik Deutschlands und Englands. Ergebnis<br />

dieser vergleichenden Untersuchungen war häufig die Begründung der Überlegenheit des Deutschen<br />

Weges. Ein wesentlicher Untersuchungspunkt war die Genese des Kapitalismus, die Herleitung seiner<br />

Entstehungsbedingungen. Eine Modeerklärung war der jüdische Einfluß auf die Wirtschaft. Werner<br />

Sombart beispielsweise leitete die Entstehung des Kapitalismus aus dem Talmud her. Max Weber<br />

dagegen glaubte an den Einfluß von pietistischen Sekten mit ihrem Berufs- und Arbeitsethos auf die<br />

Entwicklung des kapitalistischen Geists. Was den Einfluß der Rassen betraf, hielt er sich im<br />

Gegensatz zu vielen Zeitgenossen bedeckt.<br />

"Denn erst, und wenn außerdem die vergleichende Rassenneurologie und -psychologie über ihre<br />

heute vorliegenden, im einzelnen vielversprechenden, Anfänge weiter hinausgekommen sind, wird<br />

man v i e l l e i c h t befriedigende Resultate auch für jenes Problem erhoffen dürfen. Vorerst<br />

scheint mir jede Voraussetzung zu fehlen und wäre die Verweisung auf Erbgut ein voreiliger<br />

Verzicht auf <strong>das</strong> h e u t e mögliche Maß der Erkenntnis und eine Verschiebung des Problems auf<br />

(derzeit noch) unbekannte Faktoren." 147<br />

Was den Antisemitismus und die Rassenlehre in Deutschland betraf, war Weber ein eher dämpfender<br />

Wissenschaftler, was den Kampf Deutschlands um den Platz an der Sonne betraf, und den Kampf<br />

gegen polnische Einwanderung, eher nicht.<br />

Winfried Krauss vermutet, daß Max Weber mit seinem Werk auch nicht unbeeinflußt von Nietzsche<br />

war. Den Weberschen Unterscheidungen zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik stellt<br />

Winfried Krauss den Unterschied von Sklavenmoral (gut-böse) und Herrenmoral (gut-schlecht) aus<br />

Nietzsches Werk gegenüber und stellt fest: "Die Gesinnungsethik Webers und die Sklavenmoral<br />

Nietzsches sind sehr ähnlich, ebenfalls die Verantwortungsethik und die Herrenmoral." 148 Nüchtern<br />

gesehen fällt aber auf, daß Weber ein sehr empirisches Denken pflegte, daß er sich sehr gründlich mit<br />

Fakten beschäftigte und mit aus Fakten gewonnenen Argumentationsketten hantierte. Das<br />

widerspricht Nietzsches Kernauffassungen eher; <strong>das</strong> Emporzüchten der deutschen Art wiederum lässt<br />

auf seinen Einfluß schließen.<br />

1918 trat Weber in die reformistische DDP ein und prophezeite den Untergang der Weimarer<br />

Republik: Eine Republik, die sich auf eine Niederlage gründe, werde 10 Jahre später hinweggefegt.<br />

Dieses Fegen erlebte er nicht mehr, er starb bereits 1920.<br />

Eine mitteleuropäische Republik mit mittelalterlicher Organisation<br />

In den zwanziger Jahren war der Welthandel durch die Zerrüttung der nationalen Wirtschaften und die<br />

Regelungen von Versailles deformiert und lag am Boden, die deutsche Wirtschaft war in Kartellen<br />

noch aus Zeiten der Kriegswirtschaft straff organisiert, Rohstoffe, der Wohnungsmarkt, der<br />

Lebensmittelmarkt und der Arbeitsmarkt wurden staatlich bewirtschaftet, die Siegermächte verlangten<br />

Reparationen, und eine galoppierende Inflation wütete 4 Jahre lang. Die Politik hatte sich auf<br />

planwirtschaftliche Mangelverwaltung und Krisenmanagement zurückgezogen, schöpferische und<br />

energische Impulse aus der Politik, diese Mängel zu beseitigen, gab es praktisch nicht. Man wurstelte<br />

sich mit der von Dr. Walter Rathenau geschaffenen Kriegswirtschaft so durch, bis Hitler an die Macht<br />

kam. Er fand in dieser Kriegswirtschaft bereits vor, was er <strong>braucht</strong>e, um den nächsten Krieg<br />

vorzubereiten. Nur noch geringe Änderungen waren erforderlich, um die Ausrichtung Deutschlands<br />

auf den 2. Weltkrieg zu perfektionieren. Die Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten mit einem<br />

"organischen Aufbau" und "Kanonen statt Butter" war nicht wirklich neu.<br />

Bereits in der Bismarck-Zeit war der Staatssektor der Wirtschaft durch die Verstaatlichung der<br />

Eisenbahnen erheblich ausgeweitet worden. 1899 wurden 57 % der Staatseinnahmen nicht durch<br />

Steuern, sondern durch die Einnahmen aus der Eisenbahn gedeckt. So wie man heute mit dem<br />

147 Max Weber: Religionssoziologie I, S. 15 f<br />

148 aus: www.home.t-online.de/home/Winfried.Krauss/webberuf.htm<br />

103


Energieverbrauch die Rente verdient, so erwirtschaftete man damals durch Eisenbahnfahren den<br />

Staatsaufwand im allgemeinen. Im Krieg gingen Großkraftwerke in <strong>das</strong> Reichseigentum über, z.B.<br />

Zschornewitz, Lauta und Trattendorf. Seit 1904 wurde die Hyberniagesellschaft, die<br />

Steinkohlebergbau betrieb, in <strong>das</strong> Eigentum des preußischen Staates übernommen. Nach dem<br />

Weltkrieg übernahm der Staat die 1917 mit Staatszuschüssen aufgebaute Vereinigte Aluminium-<br />

Werke AG. Dieser Staatssektor der Wirtschaft war relativ klein und sollte nicht <strong>das</strong> bestimmende<br />

Herrschaftsverhältnis bedeuten.<br />

Den Charakter der Machtausübung bestimmten vielmehr die Kriegsrohstoffgesellschaften und<br />

Kriegsaktiengesellschaften, die jeweils alle privaten Unternehmen eines Wirtschaftszweiges umfaßten.<br />

Sie erfaßten die knappen Rohstoffe, verteilten sie an die Betriebe und stützten sich dabei auf die<br />

Weisungen der Kriegsrohstoffabteilung des Preußischen Kriegsministeriums. Am Kriegsende gab es<br />

etwa 35 solche Gesellschaften, die überwiegend aus den Wirtschafts- und Unternehmerverbänden der<br />

entsprechenden Branche hervorgegangen waren.<br />

Diese planwirtschaftlichen Institutionen der preußisch-deutschen Kriegswirtschaft, deren einziger<br />

Abnehmer bis zum Kriegsende <strong>das</strong> Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt (Wumba) war, wurden<br />

gleich nach dem Waffenstillstand um <strong>das</strong> Reichsamt für wirtschaftliche Demobilmachung ergänzt.<br />

Walter Rathenau hatte bereits 1916 gedroht:<br />

"Die Rohstoffabteilung wird auch im Frieden nicht zu bestehen aufhören, sie wird den Kern eines<br />

wirtschaftlichen Generalstabs bilden." 149<br />

Edgar Jaffé, der mit Werner Sombart und Max Weber <strong>das</strong> „Archiv für Sozialwissenschaft und<br />

Sozialpolitik“ herausgab konstatierte, <strong>das</strong>s die Militarisierung des deutschen Wirtschaftslebens<br />

unverkennbar staatssozialistisches Gepräge trage und die Rückkehr zur deutschen Tradition der<br />

festen und planmäßigen Ordnung des Wirtschaftslebens bedeute. 150 Der deutschen Linken, Jaffé war<br />

USPD-Mitglied, und als solches unmittelbar nach dem Weltkrieg Finanzminister in Bayern, fiel nichts<br />

innovativeres ein, als in altdeutsche Traditionen zurückzufallen.<br />

Im März 1919 wurde <strong>das</strong> Kohlenwirtschaftsgesetz erlassen und der Reichskohlenverband gegründet.<br />

Auf Millionen Flugblättern wurde den Massen suggeriert: "Die Sozialisierung ist da! Das<br />

Kohlensyndikat wird sofort sozialisiert." Im "Handbuch für die Wähler der USPD" zur Reichstagswahl<br />

1920 war vermerkt, daß <strong>das</strong> Kohlenwirtschaftsgesetz "an Stelle der früheren schrankenlosen<br />

Privatwirtschaft die deutsche Gemeinwirtschaft" begründen sollte.“ 151<br />

"Die Reichsregierung schließt die Kohlenerzeuger für bestimmte Bezirke zu Verbänden und diese<br />

zu einem Gesamtverband zusammen. An der Verwaltung der Verbände sind die Arbeitnehmer zu<br />

beteiligen...Den Verbänden liegt die Regelung von Förderung, Selbstverbrauch und Absatz unter<br />

Aufsicht des Reichskohlenrats ob. Die Reichsregierung führt die Oberaufsicht und regelt die<br />

Feststellung der Preise".<br />

So hieß es in § 2 des Gesetzes. Bei der Feststellung der Preise gab es naturgemäß Probleme. Sie<br />

waren nicht marktgerecht, sondern aus zweifelhaften Kalkulationen entstanden, über die Höhe der<br />

kalkulatorischen Gewinne der Kohlewirtschaft wurde permanent gestritten.<br />

Parallel mit der Kohlewirtschaft wurde die Planwirtschaft in der Kaliindustrie zementiert. Am 24.4.1919<br />

wurde <strong>das</strong> Gesetz über die Regelung der Kaliwirtschaft erlassen, ein Reichskalirat entstand nach dem<br />

Muster des Reichskohlenverbands.<br />

Am 1.4.1920 wurde der Eisenwirtschaftsverband von der Reichsregierung aus der Schmelze<br />

gehoben. Seine Aufgaben waren die Sicherstellung des dringenden Eisenbedarfs, die Festsetzung<br />

und Regelung der Inlandspreise, die Regelung der Ein- und Ausfuhr von Eisen und Stahl sowie die<br />

Regelung des Schrotthandels. Der Eisenwirtschaftsbund war wie folgt zusammengesetzt: Erzeuger<br />

34, Händler 12 und Verbraucher 24, jeweils die Hälfte der einzelnen Gruppen waren Beschäftigte, die<br />

andere Hälfte Unternehmer. Die Befugnisse des Reichswirtschaftsministeriums umfaßten die<br />

Genehmigung der Geschäftsordnung, <strong>das</strong> Ablieferungssoll, die Enteignung von Erzeugnissen,<br />

Bestandsaufnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen, die Festsetzung von Ausfuhrkontingenten<br />

149 Walter Rathenau: Deutschlands Rohstoffversorgung, Berlin 1916, S. 44<br />

150 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 60<br />

151 Ein deutlicher Beweis, daß auch die selbsternannten Internationalisten am deutschen Sonderweg klebten.<br />

104


und die Erlangung von Auskünften von Beteiligten. Beschlüsse konnten beanstandet werden, wenn<br />

öffentliche Interessen gefährdet schienen. Gefängnisstrafen bis zu einem Jahr und Geldstrafen bis<br />

500.000,- Mark konnten verhängt werden, wenn gegen Vorschriften des<br />

Reichswirtschaftsministeriums verstoßen wurde. 152<br />

Der Wirtschaftsverband für Rohteer und Teererzeugnisse sowie der Schwefelsäureausschuß folgten.<br />

1925 wurden der Halbzeugverband, der Röhrenverband, der Walzdrahtverband, der<br />

Grobblechverband, der Stahleisenverband und andere Syndikate neu formiert.<br />

Wie in der Industrie herrschten im Handwerk mittelalterliche Korporationen. Das öffentlich-rechtliche<br />

Innungswesen expandierte in der Weimarer Republik gegenüber dem Kaiserreich noch. 1926<br />

gehörten den Innungen eine Million Meister an, <strong>das</strong> waren 75 %. Im Vergleich mit 1913 hatte sich die<br />

Zahl der Innungsmitglieder verdoppelt, selbst gegenüber 1919 war sie um 300.000 angewachsen.<br />

Etwa 800.000 Meister waren Mitglieder von Zwangsinnungen, 200.000 von freiwilligen Innungen. Die<br />

Handwerkerorganisationen forderten die obligatorische Innung, die Preisfixierung und den Großen<br />

Befähigungsnachweis (der ihnen 1897 verweigert worden war, den sie von Adolf Hitler endlich<br />

bekamen und der noch heute in vielen Handwerken obligat ist). Warenhäuser und<br />

Konsumgenossenschaften sollten verboten werden und ein berufsständisches Wirtschaftsparlament<br />

wurde herbeigesehnt. Die Weimarer Zeit führte zu einem höheren Organisationsgrad, die<br />

handwerkspolitischen Früchte der Agitation wurden in den dreißiger Jahren abgeerntet, und zwar<br />

konkret nach 1933.<br />

Im Dezember 1919 wurden die Außenhandelsstellen geschaffen, am 20. Februar 1920 tagte erstmals<br />

der Wirtschaftrat, der am 4. Mai 1920 als Reichswirtschaftsrat installiert wurde. Im September 1923<br />

wurde ein Kommissar für Devisenerfassung ernannt. Devisenzwangswirtschaft gab es vom Beginn der<br />

Weimarer Republik bis zum November 1924 und ab dem 15.7.1931.<br />

Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise wurde am 17.7.1930 <strong>das</strong> Brotgesetz erlassen. Bereits im<br />

Herbst 1929 wurde durch den Landwirtschaftsexperten der SPD, Fritz Bade, der zum<br />

Reichskommissar für die Roggenwirtschaft eingesetzt wurde, angestrebt, durch Stützungskäufe den<br />

Roggenpreis zu stabilisieren. Als Leiter der Reichsgetreidestelle ließ er Hunderttausende Tonnen<br />

Roggen aufkaufen, bis im März 1930 <strong>das</strong> Geld für die Aufkäufe alle war. Um den Roggen als<br />

Futtermittel wieder loszuwerden wurden die Zölle auf Mais und Gerste auf schwindelnde Höhen<br />

getrieben. Nachdem alles nichts half und man weiter auf dem Roggen sitzen blieb, wurde durch<br />

Reichsernährungsminister Dr. Schiele (DNVP) der staatliche Verwendungszwang von Roggen bei der<br />

Brotherstellung eingeführt. Bereits am 4. Juli 1929, noch unter dem Ernährungsminister Hermann<br />

Dietrich (DDP) waren die Mühlen verpflichtet worden, deutschen Weizen auszumahlen. Der<br />

Importweizen wurde bis 1932 auf 3 % zurückgefahren. Um den Zuckerpreis hoch zu halten wurde die<br />

deutsche Zuckerindustrie zwangskartelliert und die "Wirtschaftliche Vereinigung der deutschen<br />

Zuckerindustrie" geschaffen. Der mit staatlichen Zwangsmaßnahmen künstlich erhöhte Zuckerpreis<br />

führte zu Absatzschwierigkeiten, die den Abbau des Zuckerberges verzögerten.<br />

Die Regierung Müller (SPD) hatte am 26. März 1930 <strong>das</strong> Reichsmaisgesetz erlassen, der neu<br />

geschaffenen Reichsmaisstelle mußte ab dem 1. April 1930 der gesamte importierte Mais angeboten<br />

werden. Die Reichsmaisstelle kaufte den Mais billig für etwa 125,- RM/t ein und verkaufte ihn für 240,-<br />

bis 270 RM/t teuer, um den Mais im Verhältnis zum einheimischen Roggen zu benachteiligen. Das<br />

Kapital der Reichsmaisstelle mußte zu 65 % vom Verband der Getreide- und Futtermittelhersteller<br />

aufgebracht werden, zu 35 % von den landwirtschaftlichen Genossenschaften. Die Wirtschaft mußte<br />

ihre Entmachtung selbst bezahlen. 153<br />

Während sich die Landwirtschaftsbürokratie mühte, malte Fidus 1930 die „Spatenwacht“. Als die Russen 1945 in<br />

Fidus Atelier eindrangen, nahmen sie die Helme vor dem Bild ab, weil sie dachten, es handle sich um eine<br />

Kolchosfeier. Anfrage an Radio Jerewan: „Stimmt es, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Getreide in der Sowjetunion so hoch wächst, wie<br />

Telegraphenmasten?“ „Im Prinzip ja. Die Abstände sind sogar noch größer.“<br />

Zahlreiche Verordnungen für die Verwendung von bestimmten Produkten folgten: der<br />

Beikirnungszwang für Margarine, der Beimälzungszwang für Brauereien, der Beizellungszwang für<br />

152<br />

M. Nussbaum, Wirtschaft und Staat in Deutschland während der Weimarer Republik, Akademie-Verlag, Berlin,<br />

1978, S. 67 f.<br />

153<br />

M. Nussbaum, Wirtschaft und Staat in Deutschland während der Weimarer Republik, Akademie-Verlag, Berlin,<br />

1978, S. 349 ff.<br />

105


Papierfabriken, der Holzbeischliffzwang bei der Zelluloseherstellung, der Beischmelzzwang für<br />

Eisenerz sind Beispiele für die Entfaltung der Zwangswirtschaft. Weitere Marterwerkzeuge aus der<br />

Folterkammer der Kriegswirtschaft waren die bis zum 19. Juli 1926 geltende Preistreibereiverordnung<br />

und die Preisprüfungsstellen. Mit der IV. Notverordnung von 1931 wurde bereits wieder ein<br />

Preiskommissar berufen. Er wurde mit erheblichen Vollmachten ausgestattet, bis zur Möglichkeit der<br />

Betriebsschließung. Im Juli 1930 wurde bereits die Kartell-Notverordnung erlassen, die<br />

unwirtschaftliche Preisbindungen verhindern sollte. 154 Was war eine wirtschaftliche Preisbindung, was<br />

eine unwirtschaftliche?<br />

Als die Bankenkrise ausbrach und die Danatbank zahlungsunfähig wurde, verfügte die<br />

Reichsregierung Anfang 1932 kurzerhand Bankenzusammenschlüsse: Die Danat-Bank und Dresdner<br />

Bank einerseits und die Commerz- und Privat-Bank und der Barmer Bank-Verein Hinsberg, Fischer &<br />

Co. in Düsseldorf andererseits mussten per ordre du mufti miteinander fusionieren. Eine gleichzeitige<br />

„Kapitalrekonstruktion“ hatte die Beteiligung des Reiches und der Reichsbank in Höhe von 70 % an<br />

der Commerz- und Privat-Bank zur Folge. Es gab kein wesentliches Aufmucken der Kapitaleigner,<br />

weil diese etatistische Herangehensweise inzwischen eingeübt war.<br />

Viele Wirtschaftswissenschaftler der Weimarer Zeit, hier wären exemplarisch der Sozialdemokrat<br />

Rudolf Hilferding und Jopeph A. Schumpeter zu nennen, machten sich über den Charakter der<br />

wirtschaftlichen Zwangvereinigungen etwas vor. Die Frage, die es zu lösen galt war: Waren diese<br />

Wirtschaftsvereinigungen, die durch staatlichen Druck zustandegekommen waren, dennoch freiwillige<br />

privatwirtschaftliche Zusammenschlüsse mit überwiegend privatwirtschaftlichem, individualistischem<br />

und damit kapitalistischem Charakter, oder waren es privatwirtschaftliche Monstren mit staatlichen<br />

Abhängigkeiten und überwiegend planwirtschaftlichem Charakter? Die Wirtschaftswissenschaft hätte<br />

sich fragen können, ob die Wirtschaftsvereinigungen, die Trusts, die Syndikate nicht eher organisiert<br />

waren wie die privatwirtschaftlichen Markgenossenschaften, Zünfte und Gilden, denen <strong>das</strong> Element<br />

individualistischer Wirtschaftsführung und damit der kapitalistische Geist völlig fehlten.<br />

Hilferding mochte auf den Begriff des Kapitalismus für diese Wirtschaftsform nicht verzichten:<br />

"Wir befinden uns augenblicklich in einer Periode des Kapitalismus, der im wesentlichen die Ära<br />

der freien Konkurrenz, in der der Kapitalismus rein durch <strong>das</strong> Walten der blinden Marktgesetze<br />

beherrscht war, überwunden ist, und wir zu einer kapitalistischen Organisation der Wirtschaft<br />

kommen, also von der Wirtschaft des freien Spiels der Kräfte zur organisierten<br />

Wirtschaft...Organisierter Kapitalismus bedeutet...in Wirklichkeit den prinzipiellen Ersatz des<br />

kapitalistischen Prinzips der freien Konkurrenz durch <strong>das</strong> sozialistische Prinzip planmäßiger<br />

Produktion. Diese planmäßige mit Bewußtsein geleitete Wirtschaft unterliegt in viel höherem Maße<br />

der Möglichkeit der bewußten Einwirkung der Gesellschaft, <strong>das</strong> heißt nichts anderes, als der<br />

Entwicklung durch die einzige bewußte und mit Zwangsgewalt ausgestattete Organisation der<br />

Gesellschaft, der Einwirkung durch den Staat...Das heißt nichts anderes, als daß unserer<br />

Generation <strong>das</strong> Problem gestellt ist, mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der bewußten<br />

gesellschaftlichen Regelung diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine<br />

durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln." 155<br />

Hilferding räumte den Verlust der kapitalistischen Prinzipien ein, er idealisierte die Möglichkeiten der<br />

Planwirtschaft, er diagnostizierte den endgültigen Zugriff des Staats, aber er ahnte seltsamerweise<br />

nicht, daß am Schlusse weder ein demokratischer noch ein marxistischer Staat, sondern ein Staat mit<br />

einem ausgeprägten reformistisch begründeten diktatorischen Herrschaftsanspruch zugreifen würde.<br />

Wenn Hilferdings Theorie (die von der Lenin´schen Imperialismustheorie nicht weit entfernt war)<br />

gestimmt hätte, dann hätten sich aus der planwirtschaftlichen Markgenossenschaft, aus der<br />

planwirtschaftlichen Zunft und aus der planwirtschaftlichen Gilde mitten im Mittelalter kleine<br />

demokratische Dörfer, Städte und Städtebünde entwickeln müssen, Keimzellen des demokratischen<br />

Sozialismus. In Wirklichkeit entwickelten sich aus kleinen überschaubaren Genossenschaften mit ihrer<br />

kleinkarierten Wirtschaftstyrannei kleine überschaubare politische Tyranneien, egal ob sie von<br />

ländlichen Schuldheißen (die ihren Untertanen ihre Schuld hießen, ihnen ihre Pflichten verdeutlichten)<br />

oder geltungssüchtigen städtischen Patriziern geführt wurden. Gerade die Geschichte der deutschen<br />

Kleinstaaterei, wo es Reichsstädte, Reichsdörfer, ein Reichstal und eine Reichsvogtei gab, hielt für<br />

154<br />

M. Nussbaum, Wirtschaft und Staat in Deutschland während der Weimarer Republik, Akademie-Verlag, Berlin,<br />

1978, S. 306 f.<br />

155<br />

Rudolf Hilferding auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927, zitiert in:<br />

www.trend.partisan.net/trd0202/t110202.html<br />

106


<strong>das</strong> Studium der politischen Auswirkungen von privater Planwirtschaft eine umfangreiche<br />

Fallsammlung bereit, wie kein anderes Land auf der Welt. Die schlimmste Tyrannei in einem<br />

deutschen Gemeinwesen, die am tiefsten in <strong>das</strong> Leben der Individuen einschnitt, herrschte bei den<br />

Siebenbürger Sachsen, die sich ebenfalls ohne Eingriffe eines Landesherrn selbst verwalten durften.<br />

Bei Eheschwierigkeiten beispielsweise wurden die Paare so lange in ein Zimmer gesperrt, bis sie sich<br />

wieder vertrugen. Genausowenig wie im schönen Mittelalter entwickelte sich aus der<br />

Wirtschaftstyrannei von wirtschaftlichen Zwangsvereinigungen der Weimarer Republik eine politische<br />

Demokratie. Sie waren so wie die Wirtschaftsvereinigungen des Mittelalters keine Brutstätten der<br />

Demokratie, sondern Kinderstuben der Tyrannei. Das verkannt zu haben ist die wirkliche Schuld der<br />

Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, es ist gemessen an der Produktionskraft Deutschlands<br />

jedoch eine gewaltige Schuld. Organisierten Kapitalismus gibt es nicht, weil es dann kein Kapitalismus<br />

ist, weil der Geist des Kapitalismus schläft, wenn die Organisierer mit ihren Flügeln schlagen.<br />

Eine direkt sozialisierte Wirtschaft gab es in der Weimarer Republik mehr am Rande: Die Betriebe des<br />

Reichsschatzministeriums "Deutsche Werke AG", die Viag und die Betriebe des Bundeslandes<br />

Preußen beschäftigten ganze 2 % der Arbeitnehmer. Insgesamt beschäftigten alle gewerblichen<br />

Betriebe der öffentlichen Hand zusammen 11 % der beschäftigten Personen. 156<br />

Statt einer sozialisierten Wirtschaft wurde auf die sogenannte Gemeinwirtschaft gesetzt. der<br />

Reichstagsabgeordnete Sinzheimer (SPD) charakterisierte sie so:<br />

"Die Gemeinwirtschaft hält an sich <strong>das</strong> Privateigentum an den Produktionsmitteln, den<br />

Privatbetrieben aufrecht. Sie faßt nur organisatorisch zusammen und nimmt sie unter Kontrolle<br />

nach sozialen Gesichtspunkten." 157<br />

Reichswirtschaftsminister Wissel (SPD) nannte <strong>das</strong>selbe so:<br />

"Die Gemeinwirtschaft bedeutet die organische Eingliederung und Einordnung der einzelnen<br />

wirtschaftlichen Unternehmungen in die Gesamtheit des Reichs, die Unterordnung der<br />

privatwirtschaftlichen Interessen unter die Interessen der Gesamtheit" 158<br />

Mit den Interessen der Gesamtheit meinte er die Interessen des Staats, der Begriff der organischen<br />

Eingliederung erinnert fatal an <strong>das</strong> Gesetz zur Vorbereitung des organischen Aufbaus der deutschen<br />

Wirtschaft von 1934. Eine staatliche Planwirtschaft mit Privateigentum war <strong>das</strong> Ziel und auch <strong>das</strong><br />

Ergebnis.<br />

Es ist schwer diesen deutschen Sonderweg des Wirtschaftens zu beschreiben: Wenn gerade einmal<br />

keine Preiskontrollen durchgeführt wurden (nur 4 Jahre von Juli 1926 bis Juli 1930) gab es bei der<br />

Preisbildung schon <strong>das</strong> Gesetz von Angebot und Nachfrage als kapitalistisches Prinzip. Die längste<br />

Zeit wurden jedoch die Produktionsmenge und die Preise gesteuert. Der Außenhandel war praktisch<br />

ein staatliches Monopol, <strong>das</strong> auch nur zeitweilig gelockert wurde. Devisenzwangswirtschaft gab es bis<br />

Ende 1924 und ab dem Juli 1931 wieder. Fast alle staatlichen Eingriffe verbargen sich hinter der<br />

Fassade der Selbstverwaltung der Wirtschaft. Die Machtfülle der Wirtschaftsverbände gegenüber den<br />

Einzelunternehmungen erinnert an die Allmacht der Zünfte gegenüber den Meistern, die detaillistische<br />

Reglementierung gleicht auch der bei den Zünften. Einige Kartellverwaltungen der Weimarer Zeit<br />

hatten bis zu 1.000 Mitarbeiter und übertrafen die Zahl der Mitarbeiter in den Verwaltungen der<br />

angeschlossenen Betriebe bei weitem.<br />

156<br />

M. Nussbaum, Wirtschaft und Staat in Deutschland während der Weimarer Republik, Akademie-Verlag, Berlin,<br />

1978, S. 195<br />

157<br />

Drucksachen der Verfassunggebenden Nationalversammlung, Nr. 886<br />

158<br />

Verhandlungen der Nationalversammlung Bd. 326, S. 544<br />

107


Hitler hielt an diesem Konzept fest, bereits seine 25 Punkte zementierten die Weimarer<br />

Industrieverzunftung. Es wurde 1934 durch <strong>das</strong> Gesetz zum organischen Aufbau der Wirtschaft und<br />

<strong>das</strong> Anleihestockgesetz, <strong>das</strong> die Zwangsanlage von Gewinnen in der Rüstungsindustrie bestimmte,<br />

noch einmal verschärft und auf die Kriegsvorbereitung fokussiert. Auf Hitlers Münzen stand immer<br />

noch die Überzeugung der sozialdemokratischen Wirtschaftstheoretiker und –praktiker: "Gemeinnutz<br />

geht vor Eigennutz". Der Gemeinnutz war bei Hitler im wesentlichen die Kriegsvorbereitung.<br />

Adolf Hitler pflückte die planwirtschaftlichen staatlichen und berufsständischen Institutionen wie reife<br />

Früchte vom morschen Baum der Republik, um sie in die Institutionen des Dritten Reichs einzuordnen.<br />

Während der Kriegswirtschaft des 1. Weltkriegs, teilweise sogar davor, waren diese faulen Früchte der<br />

Planwirtschaft gesät und gelegt worden, die Republik züchtete diese fatalen Früchte und ließ sie<br />

wachsen, gedeihen und reifen. Die Siegermächte des 1. Weltkriegs, allen voran Frankreich schafften<br />

<strong>das</strong> erforderliche Treibhausklima durch immer neue wirtschaftliche Schikanen.<br />

Letztlich hatte der erste Weltkrieg in allen Teilnehmerstaaten die marktwirtschaftlichen Fundamente<br />

mehr oder weniger stark beschädigt bzw. zerstört. Deutschland war nicht <strong>das</strong> einzige Land, <strong>das</strong><br />

zwischen den Weltkriegen auf eine totalitäre Gesellschaft zusteuerte. Die planwirtschaftliche Seuche<br />

grassierte in ganz Europa, bei den Verlierern des Weltkrieges und im Osten etwas stärker als bei den<br />

Siegern und im Westen. Es sei nur an Rußland, Italien, Ungarn, Polen, Rumänien und Spanien<br />

erinnert.<br />

Deutschland war jedoch <strong>das</strong> einzige Land, welches eine derart radikale Diktatur, wie den<br />

Nationalsozialismus über sich ergehen lassen musste. Für diese Radikalität ist sowohl die kulturelle<br />

Vorgeschichte verantwortlich, als auch die wirtschaftliche.<br />

Ebert und Scheidemann als Ärzte am Krankenbett der Kriegswirtschaft<br />

Es muß Ende 1918 schon Leute mit gesundem <strong>Menschen</strong>verstand und ein leichtes Aufmucken gegen<br />

die Wirtschaftsordnung des Kriegs gegeben haben. Sonst wäre <strong>das</strong> Therapieren zweier Ärzte am<br />

Krankenbett der Kriegswirtschaft nicht erforderlich gewesen: Am 28. Dezember 1918 erfolgte die<br />

"Bekanntmachung über die Gültigkeit der während des Krieges von dem Bundesrate, dem<br />

Reichskanzler, der Heeresverwaltung und den militärischen Befehlshabern erlassenen wirtschaftlichen<br />

Verordnungen". 159<br />

"Eingriffe einzelner Personen sowie örtlicher Instanzen in die durch die Kriegswirtschaftliche<br />

Verordnungen geregelten Gebiete zeugen von der vielfach herrschenden Auffassung, daß diese<br />

Regelungen durch die Änderung der Regierungsform außer Kraft getreten seien.<br />

Demgegenüber wird ausdrücklich festgestellt, daß alle von dem Bundesrate, dem Reichskanzler,<br />

der Heeresverwaltung und den militärischen Befehlshabern innerhalb ihrer Zuständigkeit<br />

erlassenen kriegswirtschaftlichen Verordnungen, soweit nicht ihre Aufhebung seitens der<br />

zuständigen Stellen besonders verfügt ist, ihre Wirksamkeit in vollem Umfange behalten haben und<br />

daß auch in Zukunft die Regelung der Bewirtschaftung der in Frage kommenden Stoffe<br />

ausschließlich den in den Verordnungen genannten oder den inzwischen an ihre Stelle getretenen<br />

Behörden vorbehalten ist. Jedes Eingreifen Dritter in die durch kriegswirtschaftliche Anordnungen<br />

geregelte Gebiete ist unzulässig und strafbar. Dies gilt auch für Handlungen von Landes- und<br />

lokalen Instanzen, denen die Befugnis zu wirtschaftlichen Maßnahmen nicht ausdrücklich<br />

übertragen ist."<br />

Unterzeichnet haben Ebert, Scheidemann, der Staatssekretär des Reichswirtschaftsamts Dr. August<br />

Müller und der Staatssekretär des Reichsamtes für wirtschaftliche Demobilmachung Koeth. Fast<br />

überflüssig zu erwähnen ist es, daß Koeth der Nachfolger von Walther Rathenau als Leiter der<br />

Kriegsrohstoffabteilung gewesen war.<br />

Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen, stellte bereits Cornelius Tacitus fest.<br />

159 www.documentarchiv.de/wr/gk-wirt_best.html<br />

108


Verzunftung auf nationaler Ebene<br />

Die asiatische Staatswirtschaft und <strong>das</strong> tripartistische als Moderationsmodell zwischen<br />

Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und dem Staat sich abbildende Planwirtschaftssystem, <strong>das</strong><br />

sich in Deutschland herausgebildet hatte, unterscheiden sich, obwohl beides Planwirtschaften sind.<br />

Die Planwirtschaften in Rußland und in Deutschland beispielsweise entwickelte sich logisch und<br />

historisch unterschiedlich. In Rußland entstand die Staatswirtschaft anläßlich des Mongolensturms, als<br />

die Beamten der Goldenen Horde scharenweise nach Moskau strömten und ihre Erfahrungen<br />

einbrachten. In Deutschland wurde die Planwirtschaft aus den Genossenschaften des Mittelalters<br />

generiert. In Rußland, <strong>das</strong> von Karl Marx immer wieder als asiatisch charakterisiert worden war,<br />

funktionierte die Industrie anders, als in Deutschland. Sie war überwiegend direkt staatlich wie die<br />

Putilow-Werke oder die Kohlebergwerke im Ural.<br />

Woher kam in Deutschland <strong>das</strong> Konstrukt einer organisch mit dem Staat verschränkten<br />

Privatwirtschaft? Wie war es möglich, daß Privatleute sich industriezweigweise, teilweise<br />

produktbezogen zusammenschlossen, um die Produktion nach einem gemeinsamen Plan zu<br />

organisieren? Die ganze Konstellation erinnert an die Zünfte der städtischen Handwerker des späten<br />

Mittelalters und der frühen Neuzeit. Auch in den Zünften organisierten sich Privatleute, auch dort<br />

wurde gemeinsam eingekauft, auch dort wurde die Zahl der Arbeitskräfte in die Organisation<br />

einbezogen, auch dort ging der gemeinsame Nutzen allem voran.<br />

"Der Charakter der Verfassung und Tätigkeit der Zünfte wird durch Grundsätze doppelter Art<br />

bestimmt, einerseits durch den Grundsatz der Gleichheit und Solidarität der Zunftgenossen<br />

untereinander und andererseits durch den Grundsatz der Abschließung zu allen anderen. Das<br />

Prinzip der Gleichheit aller Mitglieder kommt in der Gewährung gleicher Vorteile für alle<br />

Zunftgenossen, des Genusses gleicher Vergünstigungen zu gleichen Rechten zum Ausdruck. In<br />

der Anschaffung der Rohstoffe sollten alle Genossen gemeinsam vorgehen; kaufte ein Handwerker<br />

Rohmaterial ein, so war er verpflichtet, auf Verlangen eines anderen ihm einen Teil davon zum<br />

Selbstkostenpreise zu überlassen; auch hatte er die Genossen von dem geplanten Einkauf, von<br />

der ihm zu diesem Zwecke bevorstehenden Reise in Kenntnis zu setzen usw. Es wurde ferner <strong>das</strong><br />

für den einzelnen Handwerker zulässige Höchstmaß im Umfange der Gewerbebetriebe bestimmt;<br />

es war verboten, die festgesetzte Höchstzahl von Gesellen und Lehrlingen zu überschreiten,<br />

Rohstoffe über ein bestimmtes Quantum hinaus einzukaufen....Es war auch verboten, einander<br />

Gesellen oder Kunden abspenstig zu machen, oder eine von einem anderen Meister begonnene<br />

Arbeit fortzusetzen. Die Zünfte gingen noch weiter und schritten zu einer (öfters von der Obrigkeit<br />

verbotenen) gemeinsamen Festsetzung der Preise für die erzeugten Waren....Die Tendenz der<br />

Abschließung der Zunft der Außenwelt gegenüber fand im Prinzip des Zunftzwanges ihren<br />

Ausdruck." 160<br />

Karl Marx bemerkte über <strong>das</strong> Zunftwesen, daß der Hauptzweck des städtischen Handwerks, obgleich<br />

es auf Austausch und Schöpfung von Tauschwerten beruhe, die Subsistenz als Handwerker, als<br />

Handwerksmeister, also Gebrauchswert und nicht Bereicherung sei. 161 Für ihn gehörte <strong>das</strong> zünftige<br />

Handwerk in die vorbürgerlichen Epochen und nicht in die frühbürgerlichen, denn der Kapitalismus<br />

entwickelte sich überall nicht in den zünftigen Städten, sondern auf dem unzünftigen Lande.<br />

Nicht nur <strong>das</strong> Handwerk, auch der Handel des Mittelalters gehorchte der Zwangswirtschaft. Wo<br />

Handwerker Zünfte bildeten, dort organisierten sich überörtlich agierende Händler und Kaufleute in<br />

Gilden. Sie waren Schutzgemeinschaften mit gemeinsamen Einrichtungen wie Hallen, Ufermauern<br />

und Kränen. Innerstädtisch waren die Krämer wie die Handwerker in Zünften organisiert, <strong>das</strong><br />

Abspenstigmachen von Kunden war wie bei den Handwerkern verboten.<br />

Wie es im Handwerk und im Handel zuging, so auch bis ins frühe 19. Jahrhundert in der<br />

Landwirtschaft. Zwar war der überwiegende Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche als Acker privat,<br />

im Gegensatz zu den Gemeindeländereien, die allen zugänglich waren. Der private Acker wurde<br />

jedoch nach einem gemeinsamen Wirtschaftsplan in Gewannen bewirtschaftet, d.h. Fruchtfolge,<br />

Bestellung, Aussaat und Ernte wurden gemeinsam festgelegt, es herrschte Flurzwang, bei dem kein<br />

Flurgenosse aus der Reihe tanzen konnte, auch wenn er besser zu wissen glaubte, als die<br />

Genossenschaft, wann und was zweckmäßig gesät und geerntet werden könnte. Das Individuum war<br />

160<br />

Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Rütten & Loening, Berlin<br />

1954, Bd. 1, S. 192 ff<br />

161<br />

Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Dietz Verlag Berlin 1974, S. 411 ff.<br />

109


in einem Zwangsverband und konnte individuelle Stärken und Kenntnisse nicht im theoretisch<br />

möglichen Umfange praktisch ausspielen. Nur wenn es den Fähigsten gleichzeitig gelang, die<br />

gemeinschaftlichen Organe zu dominieren, konnten die Fähigkeiten im Produktionsprozess wirksam<br />

werden. Die praktische Erfahrung besagt, daß die fachliche Intelligenz und die mehr kommunikative<br />

Fähigkeit bei der Beherrschung von Hierarchien meistens auseinander fällt. In kooperativen Organen<br />

setzen sich oft unfähige Funktionäre an die Spitze.<br />

Die Schweiz war sogar auf der Ebene des Staatsverbands genossenschaftlich organisiert.<br />

Zusammenfassend kann man feststellen: <strong>das</strong> Handwerk, der Handel und die Landwirtschaft waren in<br />

kleinen überschaubaren kommunalen und regionalen Zusammenhängen planwirtschaftlich organisiert,<br />

um sowohl die Produzenten wie auch die Kommunen durch einfache Reproduktion zu erhalten. Nicht<br />

die Ausweitung der Produktion und die Sprengung der lokalen Grenzen war <strong>das</strong> Ziel, sondern der<br />

Erhalt der bestehenden Ordnung. Das Deutschland vor dem Reichsdeputationshauptschluß von 1806<br />

beweist diese These. Die Freien Reichsstädte, die geistlichen Herrschaften, die unmittelbaren<br />

Reichsritter, <strong>das</strong> Reichstal, der Reichswald, die Reichsvogtei und die Reichsdörfer, ebenfalls kleinste<br />

Fürstentümer, Grafschaften und Herrschaften hatten ihre Funktion im Reichsgefüge bereits seit<br />

Jahrhunderten verloren, kein Kaiser rief die Ritter, Lehnsleute und Vasallen zum Feldzug, der<br />

Fernhandel führte immer mehr an den öden Reichsstädten vorbei, und <strong>das</strong> reichsstädtische Handwerk<br />

produzierte immer lokaler, da die Beziehung zum territorialfürstlichen Umland immer lockerer wurde.<br />

Alle städtischen, geistlichen und ritterlichen Gebietskörperschaften schleppten sich ihrem Ende<br />

entgegen, ohne sich zu reformieren, ohne den Willen nach Veränderung und Modernisierung in sich<br />

zu tragen. Die Modernisierungsimpulse kamen im allgemeinen von den Territorialfürsten und<br />

insbesondere in Deutschland vom Eroberer Napoleon.<br />

Alle Verfassungsbausteine der Zünfte, der Gilden und der Markgenossenschaft begegnen uns jedoch<br />

im Ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik und im Dritten Reich wieder. Allerdings mit dem<br />

Unterschied, daß sie nicht für die biederen Handwerker und Händler einer kleinen deutschen Stadt<br />

galten, auch nicht für die Landwirtschaft eines abgelegenen Dorfes, sondern für die gewaltige<br />

Produktionskraft der gesamten deutschen Industrie. Mit dem organisatorischen Unterschied, daß nicht<br />

ein städtischer Magistrat 15 Zünfte unter sein Szepter nahm, oder eine Markgenossenschaft 50<br />

Bauern, sondern die jeweilige Reichsregierung Dutzende von nationalen Industrieverbänden. Mit dem<br />

Unterschied, daß diese Wirtschaftsverbände nicht mehr der Selbstverteidigung und Selbsterhaltung<br />

einer kleinen deutschen Stadt oder eines kleinen deutschen Dorfes dienten, sondern den Plänen<br />

größenwahnsinnig gewordener Lebensreformer.<br />

Von Anfang an verglich die deutsche Wirtschaftswissenschaft die Kartelle mit den Zünften. Das erste<br />

Fachbuch zu diesem Thema „Die Kartelle“ von Friedrich Kleinwächter, welches bereits 1883 erschien,<br />

definierte Kartelle als<br />

„Übereinkommen der Produzenten, u. zw. Unternehmen der nämlichen Branche, deren Zweck<br />

dahin geht, die schrankenlose Konkurrenz der Unternehmer unter einander einigermassen zu<br />

beseitigen und die Produktion mehr oder weniger derart zu regeln, <strong>das</strong>s dieselbe wenigstens<br />

annähernd dem Bedarf angepasst werde, speziell beabsichtigen die Kartelle eine etwaige<br />

Überproduktion zu verhindern.“<br />

Die Kartelle wurden von Kleinwächter ausdrücklich als „zeitgemäße Zünfte“ beschrieben. 162<br />

Auch Friedrich Engels fiel <strong>das</strong> Phänomen der Verzunftung bereits 1894 auf:<br />

„... die altgerühmte Freiheit der Konkurrenz ist am Ende ihres Lateins und muß ihren offenbaren<br />

skandalösen Bankrott selbst ansagen. Und zwar dadurch, <strong>das</strong>s in jedem Lande die<br />

Großindustriellen eines bestimmten Zweigs sich zusammentun zu einem Kartell zur Regulierung<br />

der Produktion.“ 163<br />

Es ist überraschend, aber <strong>das</strong> Gemeinwirtschaftskonzept, <strong>das</strong> von der USPD über SPD und DDP bis<br />

zur NSDAP übereinstimmend verfolgt wurde, ist ein Rückgriff auf die mittelalterliche Zwangs-<br />

Selbstverwaltung. Pointierend zugespitzt könnte man behaupten, die industriellen Fähigkeiten der<br />

Moderne, Flugzeugbau, Funk, Elektroindustrie, Großchemie wurden mit der Wirtschaftsverfassung<br />

162 Friedrich Kleinwächter, „Die Kartelle“, Innsbruck, Verlag der Wagner´schen Universitäts-Buchhandlung 1883,<br />

zitiert im Discussion Paper 04/10 des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung<br />

163 Karl Marx: Das Kapital Bd. 3, Dietz, Berlin, 1976, S. 453<br />

110


des Mittelalters verwaltet und beim Verwalten fehlte zunehmend die Innovation. Zum Schluß fehlten<br />

<strong>das</strong> Radar, die Atombombe und die Entschlüsselungsmaschine für den Endsieg der<br />

berufsständischen Wirtschaftsordnung über die moderne.<br />

Die Zunftverfassung war in die maschinisierte und elektrisierte Welt übergesprungen, high-tech-<br />

Zünfte, eine techno-Handwerksordnung, ein Fließband-Germanentum schob sich als retardierendes<br />

Moment in die industrielle Epoche hinein, rote und braune Parteimitglieder benannten sich immer noch<br />

wie bei den Alten Germanen als Genossen.<br />

Wir sollten die gesellschaftlichen Formationen konsequent nach den Elementen der Gesellschafts-<br />

und Wirtschaftsverfassung benennen, und nicht nach den Produktionswerkzeugen. Noch Stalin<br />

glaubte fest, daß die Produktionsmittel als Teil der Produktivkräfte bestimmte Produktionsverhältnisse<br />

(Urgesellschaft, Sklaverei, Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus) erfordern. 164 Faustkeil ergibt<br />

Urgesellschaft, Sklave ergibt Sklaverei, Pflug ergibt Feudalismus, Dampfmaschine ergibt<br />

Kapitalismus. Das trifft aber nicht zu. Anwenden und aneignen kann man moderne Produktionsmittel<br />

überall, es sind keine bestimmten wirtschaftsfreundlichen Gesetze dafür erforderlich. Der Irak war in<br />

den achtziger Jahren vollgestopft mit moderner Technik. Die gesellschaftlichen Epochen nach den<br />

Werkzeugen zu benennen, ist deshalb falsch. Folge wäre, daß alle Länder, in denen Maschinen<br />

angewendet werden, und in denen Geld umläuft als kapitalistische Gesellschaften charakterisiert<br />

würden. Wegen der Anwendung von Fördertürmen, Pipelines und Mercedes-Limousinen wird aus<br />

dem Emirat Katar jedoch nicht automatisch ein kapitalistisches System. Genausowenig waren die<br />

berufsständischen Diktaturen Mitteleuropas kapitalistische Systeme. Es fehlt in Katar und es fehlte im<br />

alten Mitteleuropa die marktwirtschaftliche Ordnung, es fehlte der Wettbewerb; der Kredit stand unter<br />

Generalverdacht.<br />

Tatsächlich sind die wettbewerbsfeindlichen Zünfte und Gilden, auch die Markgenossenschaft keine<br />

deutsche Spezialität. Auch in Norditalien, in Frankreich und England entstanden Zünfte und Gilden. In<br />

Deutschland währte ihre Existenz länger. Hier kochten insbesondere die Zünfte am längsten im<br />

eigenen Saft, ohne daß ein Landesherr mit dem Stock auf den Tisch hieb und eigene<br />

entgegengesetzte und übergeordnete Interessen exekutierte. In den zahlreichen süddeutschen<br />

Reichsstädten kam kein Landesherr den Zünften in die Quere, hier regierten sie teilweise über<br />

Jahrhunderte selbst, was zur äußersten Verknöcherung und Verzopfung führte. In Frankreich und<br />

England begannen die Landesherren <strong>das</strong> Zunftwesen unter dem Banner des Merkantilismus bereits<br />

im 15. Jahrhundert schrittweise zurückzudrängen. Immer wieder errangen die Zünfte trotzdem<br />

veritable Siege gegen den technischen Fortschritt, z.B. gegen den Bandstuhl oder den<br />

Strumpfwirkerstuhl. Der Erfinder des Bandstuhls wurde in Danzig in die Weichsel geworfen, wo er<br />

ertrank.<br />

Zu einer grundsätzlichen Wende kam es in England in der Wirtschaftspraxis bereits ab 1780, als sich<br />

die Gewerbefreiheit durchsetzte, 1835 wurden die Zünfte als wettbewerbsfeindliche Körperschaften<br />

endgültig verboten. In Frankreich wurde die ländliche Industrie 1762 rechtlich anerkannt, 1774 begann<br />

die rechtliche Aufhebung der Zünfte, 1776 noch vor der französischen Revolution, wurden sie<br />

erstmalig und 1789 endgültig verboten.<br />

In Preußen wurde 1811 der Zunftzwang aufgehoben, ohne die Zünfte zu verbieten. Die Zünfte<br />

sammelten neue Kraft. Die Revolution von 1848/49 war eine reaktionäre Revolte einer am Rande des<br />

Bankrotts befindlichen Handwerkerschaft und ihrer redaktionellen und künstlerischen Koterie gegen<br />

die ohnehin beschränkte Gewerbefreiheit. 1848 tagten in Frankfurt und Berlin Handwerkerparlamente,<br />

die die Wiedereinführung der Zünfte forderten und Einfluß auf die Gesetzgebung gewannen.<br />

Die preußische Gewerbenovelle von 1849 bestimmte, daß <strong>das</strong> Recht zum Gewerbebetrieb von neuem<br />

von der Zugehörigkeit zu einer Zunft abhängig gemacht wurde. Allerdings wurde <strong>das</strong> Gesetz von den<br />

Behörden nur lax gehandhabt, wie Kulischer anmerkte. Ebenfalls 1849 bildeten sich unter dem Einfluß<br />

von Schulze-Delitzsch die erste Genossenschaft der Neuzeit, die sich nicht mehr Zunft nannte. Es<br />

handelte sich um eine Einkaufs- und Liefergenossenschaft von Schustern. Erst 1868 erfolgte der<br />

Übergang zur Gewerbefreiheit in Sachsen, Oldenburg, Württemberg und Baden, die restlichen<br />

164 Das ist tiefster Stalinismus. Karl Marx bestimmte die vorkapitalistischen Epochen ökonomischer<br />

Gesellschaftsformationen nach dem Verhältnis des Individuums zum Boden, zur Stadt, zum Gemeindeland, zur<br />

Natur, zum Klima, zu Nachbarstämmen, niemals aber nach dem Werkzeuggebrauch. z.B. Grundrisse der Kritik<br />

der Politischen Ökonomie, Dietz Verlag Berlin 1974, S. 375 ff. Die Bestimmung nach dem Werkzeug datiert<br />

eindeutig seit Stalin.<br />

111


norddeutschen Länder kamen 1869 mit dem norddeutschen Bund und die restlichen süddeutschen<br />

erst 1871 in den Genuß der Gewerbefreiheit. 165<br />

Selbst eine freie und Hansestadt wie Hamburg litt bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts unter<br />

absolutem Zunftzwang. Gegenüber von St. Michael kann man eine Häuserzeile besichtigen, wo <strong>das</strong><br />

Krameramt bis 1869 Wohnhäuser für die Witwen von Einzelhändlern betrieb. Das Krameramt war die<br />

Zunft der Einzelhändler selbst. Die Speicherhäuser am Hafen wurden nicht etwa privatwirtschaftlich<br />

betrieben, sondern bis in die 60er Jahre des 20.Jahrhunderts von städtisch priveligierten sogenannten<br />

Quartiersleuten in einer Tracht aus Anzug, Schürze und Zylinder, die jede Teekiste, jeden<br />

Perserteppich und jeden Kaffeesack zu stattlich festgesetzten Festpreisen lagerten, kontrollierten und<br />

transportierten. Für jedes Anfassen eines Sacks gab es eine Zeile in der Preisvorschrift. Die<br />

Hafengesellschaft war ab 1927 wieder zu 100 % in städtischer Hand.<br />

Der Gedanke, ohne Zünfte oder mittelalterlich-genossenschaftliche Organisationen zu produzieren,<br />

hatte sich in Deutschland im Gegensatz zu England oder Frankreich (von den Vereingten Staaten<br />

ganz zu schweigen) nicht wirklich durchgesetzt. Das Handwerk hatte am längsten Widerstand gegen<br />

die Gewerbefreiheit, die im Kern dem Kapitalismus entsprach, geleistet, der nie ganz gebrochen<br />

wurde. In Deutschland kam es 1914/15 zur großtechnischen Auferstehung der Zünfte, allerdings nicht<br />

für <strong>das</strong> Handwerk, sondern für die Industrie. Eine vorfeudale, dem germanischen Stammesverband<br />

entsprechende Wirtschaftsverfassung hatte den Sieg davongetragen.<br />

H.-J. Wehler hat am Anfang des 20. Jahrhunderts die Zertrümmerung des ständegesellschaftlichen<br />

Überhangs diagnostiziert, der der Eindeutigkeit entsprochen hätte, mit der die bürgerlichen,<br />

proletarischen und bäuerlichen Besitz- und Erwerbsklassen ihre unverhüllte Dominanz gewonnen<br />

hätten. Soweit <strong>das</strong> die Rechte der Junker und die Privilegien der Großlandwirtschaft betraf, so war <strong>das</strong><br />

zumindest graduell richtig, denn die Republik schützte die junkerlichen Produzenten im besonderen<br />

und die Bauern im allgemeinen nicht mehr im selben Maße, wie <strong>das</strong> Kaiserreich. Was die rechtliche<br />

Stellung der Arbeiter betrifft, so kann man Wehler zumindest für die Zeit der Weimarer Republik Recht<br />

geben. Die gewaltige industrielle Kraft Deutschlands wurde dagegen in <strong>das</strong> Prokrustesbett der<br />

ständischen Ordnung erst richtig hereingezwängt, der "ständegesellschaftliche Überhang"<br />

verschanzte sich in der mächtigen und bestimmenden Industrie. Im Weimarer Handwerk kann man<br />

gegenüber dem Kaiserreich keine große Veränderung feststellen, weder die Zunft noch die<br />

Marktwirtschaft konnten im Handwerk die Oberhand gewinnen, der Schrei nach der alten<br />

Ständeordnung hallte jedoch unvermindert durch die republikanischen Werkstätten. Erst im braunen<br />

Jahrzehnt wurde die Ständeordnung mit ihren Berufsprivilegien wieder konsequent bis zum großen<br />

Befähigungsnachweis eingeführt, zusätzlich zur Industrie wurden auch Handwerk, Landwirtschaft und<br />

über die Arbeitsfront selbst <strong>das</strong> Proletariat in die Verfassung des Mittelalters zurückgeführt.<br />

Der deutsche Sonderweg der Wirtschaftsverfassung spiegelte sich in der deutschen<br />

Wirtschaftswissenschaft wieder. Fichte hatte bereits 1800 mit seinem Werk "Der deutsche<br />

Handelsstaat" nationalistische Gedanken als vorherrschende Motive in die Ökonomie eingebracht,<br />

Friedrich List führte <strong>das</strong> in seinem Werk "Das nationale System der politischen Ökonomie" fort. Die<br />

"Historische Schule" betonte die Eigenart der deutschen Entwicklung, Adolf Wagner als führender<br />

Vertreter dieser Schule prägte den Begriff des Staatssozialismus. Der führende<br />

Wirtschaftsgeschichtler Gustav Stolper beschrieb die deutsche Wirtschaft als ein System, <strong>das</strong> "von<br />

dem so genannten klassischen liberalen System sehr verschieden war. ...Selbst in seiner Glanzzeit<br />

wies der deutsche Kapitalismus eine reichliche Beimischung von Kontrolle der Unternehmen durch<br />

Staat und Verbände auf." 166 Die Zeitgenossen waren sich über die deutschen Besonderheiten bewußt<br />

und es waren Verteidiger und Rechtfertiger dieser Besonderheit.<br />

Der Nostradamus der deutschen Industrieverzunftung war Friedrich List, der bereits 1844 im Kapitel<br />

13 seines Hauptwerks "Das nationale Systems der politischen Ökonomie" hellsichtig folgende<br />

Gedanken skizzierte, ohne sie näher auszuführen:<br />

"Das Wesen des Naturgesetzes, aus welchem die Schule 167 so wichtige Erscheinungen in der<br />

Gesellschaftsökonomie erklärt, ist offenbar nicht bloß eine Teilung der Arbeit, sondern eine Teilung<br />

verschiedener Geschäftsoperationen unter mehreren Individuen, zugleich aber auch eine<br />

165<br />

Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Rütten und Loening,<br />

Berlin, 1954, Bd. 2, S. 442 ff<br />

166<br />

zitiert in Stanley Payne, Geschichte des Faschismus, Propyläen, S. 80<br />

167<br />

Wenn List von der Schule schreibt, so meint er die Schule des Freihandels von Adam Smith<br />

112


Konföderation oder Vereinigung verschiedenartiger Tätigkeiten, Einsichten und Kräfte zum Behuf<br />

einer gemeinschaftlichen Produktion. Der Grund der Produktivität dieser Operation liegt nicht bloß<br />

in der Teilung, er liegt wesentlich in dieser Vereinigung....Die Schule, indem sie die<br />

Operationsteilung allein als <strong>das</strong> Wesentliche dieses Naturgesetzes bezeichnete, hat den Fehler<br />

begangen, es bloß auf die einzelne Fabrik oder Landwirtschaft anzuwenden; sie hat nicht gesehen,<br />

daß <strong>das</strong> nämliche Gesetz seine Wirksamkeit auf die gesamte Manufaktur- und Agrikulturkraft, auf<br />

die ganze Ökonomie der Nation überhaupt erstreckt. Wie die Nadelfabrik nur durch die<br />

Konföderation der produktiven Kräfte der Individuen, so gedeiht jede Gattung von Fabriken nur<br />

durch die Konföderation ihrer produktiven Kräfte mit denen aller übrigen Fabrikgattungen. Zum<br />

Gedeihen einer Maschinenfabrik z.B. wird erfordert, daß die Bergwerke und Metallfabriken ihr die<br />

erforderlichen Materialien liefern, und daß ihr alle die hundert Gattungen von Fabriken welche<br />

Maschinen bedürfen ihre Produkte abnehmen." 168<br />

Die von List für zweckmäßig erachteten Industrie-Konföderationen ähnelten im Kern der Marx´schen<br />

Planwirtschaft. Kein deutscher Ökonom des 19. Jahrhunderts verfocht ein individualistisches<br />

Wirtschaftssystem; während Adam Smith den Staat und Kriege weitgehend ausblendete und damit<br />

der Praxis einer Insellage entsprechend argumentierte, so beschäftigte sich der kontinentale List<br />

zuerst mit Kriegen und der Staatsmacht, um dann den in Deutschland tradierten Gedanken einer<br />

planwirtschaftlich verfaßten Produktion anzudeuten. Was sollen Konföderationen von Industrien und<br />

Industriezweigen anderes sein, als kollektivistische Monstren? Der Begriff der betriebsübergreifenden<br />

"gemeinschaftlichen Produktion" wurde bei Marx wortgleich und fast zeitgleich entwickelt.<br />

Nur ein Jahr später, 1845 setzte sich der junge Marx mit dem kapitalistischen Entwicklungsgrad in<br />

Deutschland auseinander.<br />

"Der Zersplitterung der Interessen entsprach die Zersplitterung der politischen Organisation, die<br />

kleinen Fürstentümer und die freien Reichsstädte. Wo sollte die politische Konzentration in einem<br />

Lande herkommen, dem alle ökonomischen Bedingungen derselben fehlten? Die Ohnmacht jeder<br />

einzelnen Lebenssphäre (man kann weder von Ständen noch von Klassen sprechen, sondern<br />

höchstens von gewesenen Ständen und ungebornen Klassen) erlaubte keiner einzigen, die<br />

ausschließliche Herrschaft zu erobern. Die notwendige Folge davon war, daß während der Epoche<br />

der absoluten Monarchie, die hier in ihrer allerverkrüppeltsten, halb patriarchalischen Form vorkam,<br />

die besondere Sphäre, welcher durch die Teilung der Arbeit die Verwaltung der öffentlichen<br />

Interessen zufiel, eine abnorme Unabhängigkeit erhielt, die in der modernen Bürokratie noch weiter<br />

getrieben wurde. Der Staat konstituierte sich so zu einer scheinbar selbständigen Macht und hat<br />

diese in anderen Ländern nur vorübergehende Stellung - Übergangsstufe - in Deutschland bis<br />

heute behalten. 169<br />

Marx bewertete den Einfluß der Marktwirtschaft, den kapitalistischen Durchdringungsgrad der<br />

Gesellschaft bezogen auf England und Frankreich über, da er auch dort den Ausgleich durch den<br />

Staat unterschätzte, er prognostizierte den Ausbruch des Kapitalismus gar im Kastenlande Indien. Der<br />

Schwebezustand zwischen der Ständegesellschaft und der Klassengesellschaft in Deutschland<br />

dagegen war ihm bereits als junger Mann bewußt, und erstaunlicherweise ging er noch als älterer Herr<br />

von der Herrschaft der Bürokratie in Preußen aus, mit etwas Einfluß des Landadels und der<br />

Bourgeoisie. Die ganze Klassentheorie galt für England und Frankreich, vielleicht auch für Belgien und<br />

Holland, nicht jedoch für Deutschland. Entsprechend zitierte er in der "Deutschen Ideologie" genüßlich<br />

die Ausführungen von Max Stirner zum Staatseigentum und zur Konkurrenz:<br />

"Mein Privateigenthum ist nur Dasjenige, was der Staat Mir von dem Seinigen überläßt, indem<br />

andere Staatsglieder darum verkürzt (priviert): es ist Staatseigenthum." 170<br />

"Mit der Konkurrenz ist weniger die Absicht verbunden, die Sache am Besten zu machen, als die<br />

andere, sie möglichst einträglich, ergiebig zu machen. Man studiert daher auf ein Amt los<br />

(Brotstudium), studiert Katzenbuckel und Schmeicheleien, Routine und Geschäftskenntnis, man<br />

arbeitet für den Schein. Während es daher scheinbar um eine gute Leistung zu tun ist, wird in<br />

Wahrheit nur auf ein gutes Geschäft und Geldverdienst gesehen..."<br />

168 Friedrich List: Das nationale Systems der politischen Ökonomie, Verlag von Reimar Hobbing, Berlin, 1930, S.<br />

187 ff. Das Erscheinungsjahr des Nachdrucks 1930 läßt ein aktuelles Interesse vermuten.<br />

169 K. Marx F. Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 178<br />

170 s.o. S. 341<br />

113


Für den beschränkten Preußenverstand war <strong>das</strong> Privateigentum noch Mitte des 19. Jahrhunderts eine<br />

dem Staat verdankte Gnade und die Konkurrenz der Marktwirtschaft wurde mit dem in staatlichen<br />

Verwaltungen offensichtlich schon damals weit verbreiteten mobbing vermischt und verwechselt.<br />

Selbstverständlich macht die Konkurrenz "die Sache am besten" und Marx replizierte:<br />

"Der kleine kommerzielle und industrielle Betrug wuchert nur unter bornierten<br />

Konkurrenzverhältnissen, unter Chinesen, Deutschen und Juden, überhaupt unter Hausierern und<br />

Kleinkrämern. Aber selbst den Hausierhandel erwähnt unser Heiliger nicht; er kennt nur die<br />

Konkurrenz der Supernumerarien und Referendarien, er beweist sich hier als vollständigen k preuß<br />

Subalternbeamten. Er hätte ebensogut die Bewerbung der Hofleute aller Zeiten um die Gunst ihres<br />

Fürsten als Beispiel der Konkurrenz anführen können, aber <strong>das</strong> lag seinem kleinbürgerlichen<br />

Gesichtskreis zu fern." 171<br />

Es ist wenn man deutsche Verhältnisse betrachtet grundsätzlich falsch, daß der Sozialismus den<br />

Kapitalismus ablöste, daß der Kapitalismus den Feudalismus ablöste, der Feudalismus die<br />

Urgesellschaft. Es schob sich statt dessen eine Formation auf die andere, ohne die vorherige oder die<br />

vorvorherige jemals ganz zu verdrängen. Der Feudalismus als Lehnssystem der deutschen<br />

Fürstenstaaten unter dem Kaiser lebte im Konkubinat mit der systemfremden germanischen Allmende<br />

und dem germanischen Genossenschaftswesen, der Kapitalismus schob sich auf den Feudalismus<br />

auf und gleichzeitig auf die mit ihm verwachsenen germanischen Erbgebräuche. Es entstand eine<br />

unübersichtliche Wirtschaftsverfassung, deren Restbestandteile aus früheren Gesellschaften nur mit<br />

großem Sachverstand fehlerfrei zuzuordnen waren und in der Geschichtswissenschaft zur<br />

allgemeinen Begriffsverwirrung beitrugen. Die sogenannte "Historische Schule" der deutschen<br />

Wirtschaftswissenschaft war eine Reaktion darauf. Nicht die Lehren eines Systems, schon garnicht die<br />

der Smith´schen Schule standen im Mittelpunkt der Wirtschaftswissenschaft, sondern eine<br />

Ansammlung historischer Fakten, die wie bei einer archäologischen Ausgrabung schichtweise ans<br />

Licht des Tages gebracht wurden.<br />

Der junge Kapitalismus, der auf den alten Formationen als modernes Transplantat aufsaß, wurde in<br />

Deutschland 1915 als Organ abgestoßen, nicht ohne einige Organreste zu hinterlassen. Nach dem<br />

Krieg wurden vor allem die Häute der feudalen Zwischenschicht abgeschält, wie die monarchische<br />

Regierungsform und <strong>das</strong> Gutsreglement in Ostelbien. Darunter blieben die Reste der ältesten<br />

urgeschichtlichen Formation erhalten, ja die Kriegswirtschaft wirkte geradezu wie eine Altweibermühle<br />

für <strong>das</strong> germanische Erbe. Nach Weltkrieg und Revolution blieb im Kern die spätmittelalterliche<br />

Ständeordnung mit einem hauchdünnen kapitalistischen Firnis übrig, nicht ohne Sehnsucht nach der<br />

nebulösen germanischen Markverfassung in ihrer klassischen Form. Noch im Stalinismus gab es<br />

diese Urzeitsehnsucht, wurde die Urgesellschaft als klassenlose Gesellschaft als primitives, sich durch<br />

den Fortschritt selbst zersetzendes Urbild für den Sozialismus dargestellt.<br />

Der hornhelmige und trinkhornige Germanenkult wäre den Zeitgenossen der Weimarer Republik und<br />

des Dritten Reiches lächerlich und anachronistisch vorgekommen, so wie er uns heute unzeitgemäß<br />

und zurückgeblieben erscheint, wenn nicht eine Basis für diesen Kult vorhanden gewesen wäre, wenn<br />

er nicht geradezu greifbare Arme in die Neuzeit gestreckt hätte. Diese greifbaren Fakten zeigten sich<br />

in der zunehmenden Bezugnahme von Wirtschaft, Kultur und Politik auf die Verfassungsgrundsätze<br />

der Markgenossenschaft und der ihnen nachgebauten Zünfte und Gilden. Die ganze Neuzeit wurde<br />

vom deutschen Urerbe heruntergeschält und der Versuch die modernste Technik mit den Gesetzen<br />

der germanisch-genossenschaftlichen Vorantike zu beherrschen, wurde zur Realität. Solche Versuche<br />

sind sozialromantisch und gefährlich. Zu den modernen Vernichtungsmöglichkeiten der <strong>Menschen</strong><br />

gehört eine moderne Moral. Weder der Islam, noch der Hinduismus, noch die Antike, auch nicht <strong>das</strong><br />

zünftig-markgenossenschaftliche Mittelalter oder die Urgesellschaft können den Schlüssel für die<br />

umsichtige Beherrschung der industriellen Büchse der Pandora liefern, die bereits am Ende des 19.<br />

Jahrhunderts geöffnet wurde und schon in beiden Weltkriegen gewaltige Zerstörungskräfte<br />

beinhaltete.<br />

Die Historische Schule<br />

Oft wurde versucht eine in sich schlüssige Theorie über eine für diese Theorie unpassende<br />

Wirklichkeit zu stülpen. Lenin beispielsweise untersuchte in seiner sibirischen Verbannung 1899 die<br />

Entwicklung des Kapitalismus in Rußland und wandte Marxens Theorie der ursprünglichen<br />

171 s.o. S. 352<br />

114


Akkumulation auf die um Moskau ansässigen Hut- und Handschuhmacherinnen an. Den russischen<br />

Provinzstädten, die vor allem Ansammlungen von Militär, Beamten und deren Hausangestellten<br />

waren, dichtete er kapitalistisches Flair an, um zu beweisen, daß Rußland für die proletarische<br />

Revolution reif sei. Rußland war für eine Revolution überreif, aber es war kein Übergang vom<br />

Kapitalismus zum Sozialismus, der da stattfand, sondern der Ersatz einer zentralistischen Monarchie<br />

durch eine zentralistische Entwicklungsdiktatur. Ebenso wurde vielfach versucht, Deutschlands<br />

industrielle Entwicklung als kapitalistische Erfolgsgeschichte oder Deutschlands Wachstumsprobleme<br />

als kapitalistische Auswüchse zu deuten. Karl Marx hatte sich vor der Anwendung seiner Theorien auf<br />

Deutschland gehütet, aber er war als älterer Herr nur Zeitgenosse des frühen Kaiserreichs.<br />

Unbestritten gab es in Deutschland Kapital, Kapitalisten und eine zahlreiche Arbeiterklasse. Aber alle<br />

zeitgenössischen Wirtschaftstheoretiker waren sich einig: Mit dem englischen, französischen oder gar<br />

amerikanischen Kapitalismus hatte der deutsche nichts zu tun. Die tonangebende Richtung des<br />

wirtschaftstheoretischen Denkens in Deutschland spiegelte den Unterschied wieder, es war die<br />

Historische Schule, die auch als Kathedersozialismus bezeichnet wurde. Die Historische Schule<br />

bekam ihren Namen, da sie nicht ein abstraktes System, wie die Marxsche Werttheorie oder <strong>das</strong><br />

marktwirtschaftliche System von Adam Smith in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellte, sondern<br />

einen Archipel von geschichtlich gewachsenen Beziehungen, ein Wirrwar von biologischen,<br />

klimatischen, physischen, psychischen und moralischen Einflüssen. Zur Abbildung gerade der<br />

deutschen Wirtschaftsentwicklung war diese polykausale und epochenübergreifende<br />

Zusammenstellung von Fakten insofern angemessen, da Deutschland mehr als England, Frankreich<br />

oder gar Amerika die Reste des Mittelalters und der frühen Neuzeit mit sich herumschleppte, von der<br />

großen Zahl kleinstaatlich bedingter Wirtschaftsverfassungsfiguren ganz zu schweigen. Die<br />

Vereinheitlichung des deutschen Wirtschaftslebens und seiner Institutionen hatte mit der Bildung des<br />

Zollvereins und der Reichseinigung gerade erst begonnen, was England im 16. Jahrhundert und<br />

Frankreich im 18. Jahrhundert erreicht hatte und womit sich Amerika überhaupt nicht zu beschäftigen<br />

<strong>braucht</strong>e, <strong>das</strong> begann in den deutschen Schädeln gerade erst zu rumoren. Statt die<br />

wirtschaftstheoretische Entwicklung dieser Länder nachzuvollziehen, was bei unkritischer<br />

Handhabung auch ein Fehler gewesen wäre, begann <strong>das</strong> deutsche ökonomische Denken sich bewußt<br />

von den liberalistischen Systemen abzusetzen und abzusondern und sich auf Dauer in seinem<br />

Anderssein einzurichten, ja dieses Anderssein zu begründen, zu konservieren und zu verstärken. Die<br />

Historische Schule war aus den bizarren kleinstaatlichen und mittelalterlichen deutschen<br />

Verhältnissen entstanden, hatte in ihrer Entwicklung jedoch auch wieder Rückwirkungen auf die<br />

Wirtschaftspraxis des Kaiserreichs und seiner Nachfolgesysteme. In der Analyse der bisherigen<br />

Wirtschaftsentwicklung wurde nach Gründen für ein "weiter so" gefahndet, es entwickelte sich eine<br />

apologetische Grundhaltung, die als Selbstbestätigung und Selbstvergewisserung aus der Theorie in<br />

die Wirtschaftspraxis zurückschwappte.<br />

Der historischen Schule ging die Wirtschaftsphilosophie der <strong>Romantik</strong> voraus. Ideale der <strong>Romantik</strong><br />

war romantisches Sehnen, Poetisierung des Daseins, Anti-Modernismus und nicht zuletzt die<br />

Überzeugung von der begrenzten Daseinsberechtigung der Rationalität. Die <strong>Romantik</strong> war ein<br />

Aufbegehren gegen die Ideale der Aufklärung. Die Dichter-Ökonomen der romantischen Schule waren<br />

Adam Müller (1779-1829), Franz von Baader (1765-1841) und Friedrich Schlegel (1772-1829). Alle<br />

drei hingen der Wirtschaftspraxis des Mittelalters nach. Müller beklagte die Versachlichung der im<br />

Mittelalter herrschenden persönlichen Knechtschaften, ohne zu erkennen, daß persönliche<br />

Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse oft kränker machen, als sachliche Abhängigkeiten (man<br />

<strong>braucht</strong> bloß <strong>das</strong> mobbing im öffentlichen Dienst zu kennen, um zu wissen, wie Abhängigkeiten im<br />

Mittelalter funktionierten 172 ). Der Staat sei die lebendige organische Gemeinschaft, wo der Mensch<br />

erst zum <strong>Menschen</strong> wird. Die gewachsenen Gemeinschaftsbindungen würden durch <strong>das</strong><br />

Geldinteresse zersetzt. Für Franz v. Baader stand <strong>das</strong> Elend der Proletarier im Mittelpunkt des<br />

Interesses. Die Lohnarbeit sei grausamer, als Leibeigenschaft. Zentrale Aufgabe des Staates sei die<br />

Herstellung der ausgleichenden Gerechtigkeit. Er trat für Gewerkschaften und gegen die<br />

Vertragsfreiheit ein. Friedrich Schlegel sprach sich für die Beschränkung des Eigentums aus. Nur die<br />

Eigenarbeit legitimiere den Besitz von Produktionsmitteln. Der Staat solle Obereigentümer sein. Seine<br />

Absage an <strong>das</strong> Arbeitsethos und <strong>das</strong> Leistungsprinzip begründete er mit der Bekämpfung der<br />

nordischen Unart des leeren unruhigen Treibens. 173 Alle romantischen Wirtschafts- und<br />

Staatsvorstellungen generierten sich aus den Traditionen des Mittelalters und wurden in einem<br />

172 Zustände wie in der Bundesagentur für Arbeit anläßlich der Ablösung des ersten Vorstandsvorsitzenden<br />

Gerster wären in der Wirtschaft undenkbar, nur bürokratische Kolosse, die von finsteren Korporationen<br />

beherrscht werden, leisten sich einerseits soviel externe Beratung, andererseits soviel inneren Kraft- und<br />

Personenverschleiß<br />

173 Elmar Waibl: Wirtschaftsphilosophie der <strong>Romantik</strong>, info.uibk.ac.at/c/c6/c602/<strong>Romantik</strong>undJugendbewegung<br />

115


zersplitterten Deutschland nicht gefährlich. Was beispielsweise die Schweizer Kantone dachten und<br />

machten, war für den Lauf der Welt egal, für <strong>das</strong> vereinigte Deutschland traf <strong>das</strong> nicht mehr zu. Es war<br />

mächtig und erwartete, daß an seinem romantischen Wesen die Welt genesen solle.<br />

August Bebel charakterisierte <strong>das</strong> wirtschaftswissenschaftliche Personal zutreffend:<br />

„Es waren nicht Fabrikanten, Kaufleute, Handels- und Finanzmänner, die <strong>das</strong> große Wort führten,<br />

sondern vorzugsweise liberalisierende Standesherren, Professoren, Schriftsteller, Juristen und<br />

Doktoren aller Fakultäten.“<br />

Die einfußreichsten Wirtschaftsprofessoren der auf die <strong>Romantik</strong>er folgenden Generation der<br />

Historischen Schule waren Adolf Wagner (1835-1917), Gustav von Schmoller (1838-1917) und Ludwig<br />

Joseph Brentano (1844-1931). Wagner und Schmoller waren etwas theoriefeindlicher und<br />

etatistischer, Brentano etwas theoriefreundlicher und liberaler; was sie jedoch wieder vereinte war die<br />

Mitgliedschaft im 1872 gegründeten "Verein für Socialpolitik". Wagner war Verfechter der<br />

Verstaatlichung von Eisenbahnen, Versorgungsunternehmen und Banken und der Umverteilung der<br />

Einkommen über Steuern. Schmoller forderte die Gleichberechtigung der Arbeiter als Staatsbürger,<br />

bei Hebung ihrer geistigen und technischen Bildung, Brentano wollte die Gewerkschaften mit<br />

Staatshilfe fördern.<br />

Die sozialpolitischen Ansätze des kathedersozialistischen Trios waren durchaus erfolgreich, insofern<br />

als sie nur eineinhalb Jahrzehnte später von Bismarck als Sozialgesetze über die Rente und die<br />

Krankenversicherung umgesetzt wurden. Diese Sozialgesetze waren insofern bahnbrechend, als sie<br />

später auch in Ländern mit modernen ökonomischen Paradigmen mit Erfolg eingeführt worden sind,<br />

und beispielsweise liberalistische Systeme stabilisiert und auf Dauer lebensfähig gemacht haben.<br />

Die staatssozialistischen Ansätze, soweit sie nicht die Sozialpolitik betrafen, wurden leider ebenfalls<br />

realisiert, und teilweise noch schneller und radikaler, als die sozialpolitischen. In den siebziger und<br />

achtziger Jahren kaufte der preußische Staat die Eisenbahnen auf und hatte damit den<br />

Wirtschaftszweig, der den Fortschritt des 19. Jahrhunderts verkörperte, unter seine Kontrolle gebracht.<br />

In Süddeutschland waren die Bahnen ohnehin von Anfang an staatlich gewesen. Auch der nächste<br />

Wachstumsbereich, die an der Jahrhundertwende expandierende Energie- und Wasserwirtschaft<br />

sollte von Anfang an unter starkem kommunalen und staatlichen Druck stehen. Der Staat legte seine<br />

Hand auf die damaligen Zukunftstechnologien, er verfügte über die Schlüssel zum technischen<br />

Fortschritt. Er verfügte damit auch über die Aura des Machers. Diese planwirtschaftliche Praxis wurde<br />

von der Wirtschaftswissenschaft auf der einen Seite historisch begründet, auf der anderen Seite durch<br />

Politikberatung verstärkt.<br />

Wir wissen aus allen planwirtschaftlichen Experimenten, sei es die russisch-othodoxe Variante, sei es<br />

die südamerikanisch-gewerkschaftliche, die afrikanisch-genossenschaftliche, die italienischfaschistische<br />

oder die deutsch-nationalsozialistische, daß sie zu Anfang funktionierten. Ihre Bahn ist<br />

wie die eines Wurfgeschosses: zuerst durch einen starken Impuls aufwärts beschleunigt, im Zenit<br />

durch Gewicht und Erdanziehung immer langsamer werdend und zum Schluß durch Eigengewicht<br />

belastet und durch die Gravitation angetrieben mit hoher Geschwindigkeit auf dem harten Boden der<br />

Realität aufschlagend.<br />

Der Impuls aus den staatswirtschaftlichen Antrieben des deutschen Wirtschaftssystems zur<br />

Jahrhundertwende war stark, die Eisenbahn spülte Rekordgewinne in den preußischen Haushalt und<br />

die Elektrifizierung konnte mit staatlicher Unterstützung bei der Entwicklung der Leitungsrechte rasch<br />

vorangetrieben werden. Schon im Ersten Weltkrieg zeigte sich jedoch die Innovationsschwäche des<br />

deutschen Systems: Am Kriegsende waren die Engländer mit ihren Tanks technisch weiter und<br />

überrannten die Westfront. In den zwanziger Jahren waren die planwirtschaftlichen Antriebe eigentlich<br />

aufge<strong>braucht</strong>. Trotzdem wurde <strong>das</strong> kaiserliche System nicht als monarchischer Ballast über den<br />

republikanischen Bord geworfen. Nach einer sehr kurzzeitigen stark kreditfinanzierten Scheinblüte in<br />

den Dreißigern zeigte sich im Zweiten Weltkrieg wieder die alte Innovationsschwäche, sei es beim<br />

Radar, beim Düsenflugzeug oder der Atomtechnologie: die alliierten Igel riefen dem deutschen Hasen,<br />

der sich zwischen Ost-, Nord-, Süd- und Westfront totlief zu: "Ich bin schon da". Eine Planwirtschaft ist<br />

dort überlegen, wo nach der Tonnenideologie produziert wird, die Marktwirtschaft ist erfinderischer.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg löste sich die deutsche Wirtschaftswissenschaft in dem Maße von der<br />

Historischen Schule, wie sich die Wirtschaftspraxis modernisierte.<br />

116


Preußischer Sozialismus und süddeutscher Traditionalismus<br />

1919 hatte Oswald Spengler die Schrift "Preußentum und Sozialismus" verfaßt: "Altpreußischer Geist<br />

und sozialistische Gesinnung sind ein und <strong>das</strong>selbe". Die Gegensätze zwischen England und<br />

Preußen würden im freien Unternehmertum einerseits und in der Lenkung der Wirtschaft durch den<br />

Staat andererseits gipfeln. Die historische Mission könne erfüllt werden, wenn Preußentum und<br />

Sozialismus zusammengeschmiedet würden.<br />

Der preußische Sozialismus wurde von Oswald Spengler propagiert, aber nicht erfunden. Durch die<br />

ganze kaiserliche Propaganda und mehr noch durch die Propaganda der kaiserlichen Untertanen<br />

spukt <strong>das</strong> Bild vom "perfiden Albion". Dieses Albion als Zerrbild Englands lieferte über Jahrzehnte <strong>das</strong><br />

Gegenbild Preußens, an dem man sich messen und reiben konnte. Die Engländer waren als traurige<br />

Händler und Krämerseelen verschrieen.<br />

In der Karikatur wurde England auch oft durch eine Schlange oder einen Kraken dargestellt - als<br />

Sinnbild von Perfidität (Treulosigkeit, Gemeinheit, Hinterlist, Tücke und Verrat). England wurde aber<br />

auch als Kinderstube oder Musterland des Kapitalismus wahrgenommen - und so hatte der<br />

Kapitalismus in preußischen Augen seinen Stempel weg - als perfide.<br />

Auch Frankreich bekam sein Fett weg. Heinrich Mann ließ seine Romanfigur Diederich Heßling<br />

schreien:<br />

"Aus dem Lande des Erzfeinds wälzt sich immer wieder die Schlammflut der Demokratie her, und<br />

nur deutsche Mannhaftigkeit und deutscher Idealismus sind der Damm, der sich ihr entgegenstellt.<br />

(...) Wir sind nicht so! Wir sind ernst, treu und wahr! Deutsch sein, heißt eine Sache um ihrer selbst<br />

willen tun! Wer von uns hätte je aus seiner Gesinnung ein Geschäft gemacht?"<br />

Eng mit der Abneigung gegen den Kapitalismus verschlungen und verschränkt wurde <strong>das</strong> Eigen-<br />

Zerrbild bedient. Konservative Werte und Tugenden wie Selbstaufopferung für die Gemeinschaft,<br />

Sparsamkeit und Disziplin wurden mit Preußen in Verbindung gebracht. Tendenziell wurde der<br />

Unterschied des bürgerlichen Systems in England und des vorbürgerlich-halbmittelalterlichen Systems<br />

in Preußen richtig erkannt, die Frage ist jedoch, welche Folgerungen gezogen wurden. War ein<br />

bürgerliches oder ein vorbürgerliches System für die Untertanen besser?<br />

In Preußen wurde diese Frage parteiübergreifend einheitlich und falsch beantwortet. Von den<br />

Nationalsozialisten über die Konservativen bis zu den Sozialdemokraten und Kommunisten herrschte<br />

Einigkeit in der Ablehnung des englischen Wegs. Lediglich bei den Freisinnigen unter Eugen Richter<br />

gab es bis etwa 1905 marktwirtschaftliche und wirtschaftsliberale Standpunkte, die aber nicht<br />

durchgesetzt werden konnten und die ab 1910 unter dem Einfluß der Nationalsozialen unter Friedrich<br />

Naumann zugunsten einer stärkeren Betonung nationaler Interessen aufgegeben wurden.<br />

Den antikapitalistischen Affekt gab es nicht nur in Preußen. Die mentalen Voraussetzungen für die<br />

Ablehnung des liberalen Wirtschaftssystems lagen in Süddeutschland im Traditionalismus der in der<br />

Wirtschaft Tätigen selber. Adolf Hitler und Hermann Hesse waren keine Preußen, sie waren definitiv<br />

Süddeutsche. In Süddeutschland hatte zwar der preußische Militarismus keine Wurzeln, <strong>das</strong><br />

Zunftwesen war aber besonders verknöchert und die Traditionen wurden hochgehalten. In einer Zeit,<br />

als Deutschland industrialisiert wurde, hatten Grimms Märchen Hochkonjunktur, der Sachse Ludwig<br />

Richter malte knorrige Eichen und knorrige Schulmeister, der Bayer Carl Spitzweg malte<br />

strümpfestrickende Stadtsoldaten, Postillione und einen Gnom, der von seiner Berghöhle aus die<br />

Eisenbahn fern unten im Tale betrachtet. Die romantische Strömung, die in der Nach-Napoleon-Zeit<br />

oft auch einen nationalen Unterton hatte, gab es nicht erst seit dem Wandervogel; die Brüder Grimm,<br />

Richter und Spitzweg hatten auf der Ebene der Stimmungen romantisiert, ohne derbe<br />

antikapitalistische Parolen beizumischen. Sie waren aber Zeitgenossen des Übergangs vom<br />

traditionellen zum kapitalistischen Geist und wo ihre Sympathien lagen, <strong>das</strong> verhehlten sie nicht. Was<br />

Spitzweg als verlorenes Paradies malte, beschrieb Max Weber als Übergang von der traditionellen zur<br />

Marktwirtschaft an einem Beispiel so:<br />

"Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts (des 19. Jh.) war <strong>das</strong> Leben eines Verlegers...ein für<br />

unsere heutigen Begriffe ziemlich gemächliches. Man mag sich seinen Verlauf in etwa so<br />

vorstellen: Die Bauern kamen mit ihren Geweben...in die Stadt, in der die Verleger lebten und<br />

erhielten nach sorgsamer, oft amtlicher, Prüfung der Qualität die üblichen Preise dafür gezahlt. Die<br />

Kunden der Verleger waren für den Absatz auf alle weiteren Entfernungen Zwischenhändler, die<br />

117


ebenfalls hergereist kamen, meist nicht nach Mustern, sondern nach herkömmlichen Qualitäten<br />

und vom Lager kauften, oder und dann lange vorher, bestellten, woraufhin dann eventuell weiter<br />

bei den Bauern bestellt wurde. Eigenes Bereisen der Kundschaft geschah, wenn überhaupt, dann<br />

selten einmal in großen Perioden, sonst genügte Korrespondenz und, langsam zunehmend,<br />

Musterversendung. Mäßiger Umfang der Kontorstunden, - vielleicht 5 - 6 am Tage, zeitweise<br />

erheblich weniger, in der Kampagnezeit, wo es eine solche gab, mehr, - leidlicher zur anständigen<br />

Lebensführung und in guten Zeiten zur Rücklage eines kleinen Vermögens ausreichender<br />

Verdienst, im ganzen relativ große Verträglichkeit der Konkurrenz untereinander bei großer<br />

Übereinstimmung der Geschäftsgrundsätze, ausgiebiger täglicher Besuch der "Ressource",<br />

daneben je nachdem noch Dämmerschoppen, Kränzchen und gemächliches Lebenstempo....." 174<br />

„Irgendwann nun wurde diese Behaglichkeit plötzlich gestört, und zwar oft ganz ohne daß dabei<br />

irgendeine prinzipielle Änderung der Organisationsform - etwa Übergang zum geschlossenen<br />

Betrieb, zum Maschinenstuhl und dgl. - stattgefunden hatte. Was geschah, war vielmehr oft<br />

lediglich dies: daß irgendein junger Mann aus einer der beteiligten Verlegerfamilien aus der Stadt<br />

auf <strong>das</strong> Land zog, die Weber für seinen Bedarf sorgfältig auswählte, ihre Abhängigkeit und<br />

Kontrolle zunehmend verschärfte, sie so aus Bauern zu Arbeitern erzog, andererseits aber den<br />

Absatz durch möglichst direktes Herangehen an die letzten Abnehmer: die Detailgeschäfte ganz in<br />

die eigene Hand nahm, Kunden persönlich warb, sie regelmäßig jährlich bereiste, vor allem aber<br />

die Qualität der Produkte ausschließlich ihren Bedürfnissen und Wünschen anzupassen, ihnen<br />

mundgerecht zu machen wußte und zugleich den Grundsatz billiger Preis, großer Umsatz<br />

durchzuführen begann.....Eine Flut von Mißtrauen, gelegentlich von Haß, vor allem aber von<br />

moralischer Entrüstung stemmte sich regelmäßig dem ersten <strong>Neue</strong>rer entgegen, oft...begann eine<br />

förmliche Legendenbildung über sein Vorleben..." 175<br />

Beispiel Ludwig Richter: "Bürgerstunde", 1861 "Der Abend dämmerte bereits, als ich in die engen holprigen<br />

Gassen trat. Die Häuser mit den hohen, spitzen Giebeln, die Stockwerke immer <strong>das</strong> darüberliegende überragend,<br />

altertümliche Schilder und Innungszeichen, gotische Kapellen und Kirchen, aber selten ein Paar <strong>Menschen</strong> in den<br />

Gassen, alles so still in dieser Dämmerstunde. Ich glaubte, plötzlich ins Mittelalter versetzt zu sein, besonders als<br />

ich in die Herberge trat. Eine kleine gotische Türe, zwei Stufen abwärts in den Hausflur zu steigen, die Gaststube<br />

ein niedriger kleiner Raum mit kleinen Fenster und runden Scheiben. An den Tischen saßen einige Männer mit<br />

Kleidern, die auch aus Großvaters Zeiten zu sein schienen...."<br />

Der Traditionalismus war in England und Frankreich vielleicht nicht ganz so zäh, wie im traditionell<br />

zersplitterten Deutschland, vor allem war in Frankreich und England früher und nachhaltiger von<br />

Seiten des Zentralstaates bekämpft worden. In Preußen im besonderen und in Deutschland im<br />

allgemeinen waren die Wunden des Übergangs zum industriellen Wirtschaften noch frischer und<br />

unvernarbter und <strong>das</strong> Wühlen in diesen Wunden versprach mehr Erfolg. Speziell in Preußen kam zu<br />

diesem allgemeinen Antikapitalismus die Glorifizierung des altpreußischen Geistes hinzu, der<br />

unzweideutig vom Kasernenhof stammte.<br />

Ständische Parteien in einer berufsständischen Republik<br />

"Die Mediatisierung des Parteiensystems durch einflußreiche Verbände war bereits ein<br />

Kennzeichen der Kaiserzeit; die Handlungs- und Koalitionsfähigkeit der Parteien war dadurch<br />

empfindlich beeinträchtigt."<br />

Diese Feststellung verband Hans Mommsen in "Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar" mit<br />

der scharfsichtigen Bemerkung, daß der Organisationsgrad der Berufs- und Interessenverbände im<br />

Weltkrieg erheblich zugenommen hatte. Natürlich hatte der Organisationsgrad der Berufs- und<br />

Interessenverbände zugenommen, in einer Zeit, in der die Berufs- und Interessenverbände endgültig<br />

zu kriegswirtschaftlichen Zwangsorganisationen ausgebaut wurden.<br />

Mit Mediatisierung des Parteiensystems meint Mommsen den Verlust des unmittelbaren Wirkens der<br />

Parteien, ihres Eigenlebens. Statt dessen wurden die Parteien zu Transmissionsriemen von<br />

Interessenverbänden. Besonders ausgeprägt war <strong>das</strong> bei den landwirtschaftlichen Interessenparteien<br />

wie Konservativen, Landbund, Konservativer Volkspartei und regionalen Bauernparteien der Fall. Sie<br />

174 Max Weber: Religionssoziologie I, S. 51 ff<br />

175 Max Weber: Religionssoziologie I, S. 51 ff<br />

118


wurden von den landwirtschaftlichen Verbänden wie Geiseln gehalten und die geringste Abweichung<br />

vom Verbandswillen wurde mit Vertrauensentzug und Wählerbeeinflussung gestraft.<br />

Der Bestand von an die Interessen der mächtigen Verbände geketteten Parteien war im Kaiserreich<br />

bereits zur Gewohnheit geworden. Während der Verhandlungen zur Weimarer Verfassung gingen die<br />

Väter der Weimarer Republik, die ja selbst mehrheitlich Parteisoldaten irgendwelcher<br />

Interessengruppen waren, bereits von diesem gefestigten und durch Tradition geheiligten Parteityp<br />

aus. Lenin nannte diesen Parteityp, bei dem die Parteisoldaten reine Befehlsempfänger waren, eine<br />

Partei neuen Typus und billigte ihren Parteiorganisationen selbst kein Eigenleben zu.<br />

Tatsächlich waren die Konservativen des Kaiserreichs Vertreter der ostelbischen Junkerinteressen<br />

und mußten sich in der Weimarer Zeit mühsam für Belange öffnen, die ihren Ort westlich der Elbe<br />

hatten. Die Sozialdemokraten starteten als Interessenverteter des organisierten Teils der<br />

Arbeiterklasse und sie blieben <strong>das</strong> im wesentlichen auch. Der Draht zu den nicht organisierten<br />

Arbeitern der Kleinbetriebe, zu den Kleinbauern und zu den Kleingewerbetreibenden wurde kaum<br />

gesucht und nur selten gefunden. Das marxistische Dogma vom Untergang der Mittelschichten ließ es<br />

für die SPD-Funktionäre einerseits nicht lohnenswert scheinen in diese Klientel zu investieren, da man<br />

die proletaroiden Existenzen ja nach einer gewissen Zeit ohnehin im Proletariat begrüßen würde,<br />

andererseits stemmten sich Landwirte und Kleinhandwerker ihrem vermeintlichen oder tatsächlichen<br />

Schicksal entgegen, sie wollten von ihrem Untergange nichts hören. Die Kommunisten bemühten sich<br />

zumindest zeitweise und teilweise erfolgreich um die Bauern, ansonsten blieben sie im Ghetto der<br />

Bohéme und des Lumpenproletariats gefangen. Ähnlich ging es den reformistischen Mittelparteien,<br />

der Wirtschaftspartei und den Hausbesitzerbünden. Keine dieser Parteien war eine moderne<br />

Volkspartei, keine vertrat auch nur Interessen eines größeren soziologischen oder berufsständischen<br />

Spektrums mit Ausnahme des katholischen Zentrums und der Bayerischen Volkspartei. Das waren die<br />

einzigen wirklichen Volksparteien, ihr Einfluß endete jedoch an den Grenzen der katholischen<br />

Siedlungsgebiete. In den Klientelparteien war eine wichtige demokratische Übung nur gelegentlich<br />

erforderlich: der innerparteiliche Interessenausgleich. Der Interessenausgleich mußte deshalb<br />

zwischen den Parteien als Verkörperung der Standesinteressen stattfinden.<br />

Die Parteien waren also berufsständische Interessenvertretungen und spiegelten die mittelalterliche<br />

ständische Ordnung wieder, wie sie sich im zersplitterten Deutschland behauptet hatte. Später sollte<br />

es der NSDAP gelingen, die hinter den Parteien stehenden Berufs- und Verbandsstrukturen<br />

erfolgreich zu unterwandern und den tradierten politischen Parteien so den Nährboden zu entziehen.<br />

Die Parteien waren in den Augen der Nationalsozialisten Sumpfpflanzen in der Hydrokultur der<br />

Verbände, und wenn es gelang, <strong>das</strong> Wasser der Verbände in die eigenen Mühlgräben umzuleiten, so<br />

konnte der Sumpf der Parteien nicht nur trockengelegt, sondern die Parteien konnten zwischen den<br />

berufsständisch angetriebenen nationalsozialistischen Mühlsteinen endgültig zerquetscht und<br />

zermalmt werden.<br />

Es gab seit der Kaiserzeit ein Mißtrauen gegen die politischen Parteien, ihnen wurde richtigerweise<br />

von vornherein unterstellt, nur eigensüchtige und nicht auf <strong>das</strong> große Ganze bezogene Gruppen- und<br />

Verbandsinteressen zu vertreten. Es wurde angenommen, daß die Parteien den Volkswillen von<br />

vornherein verfälschen, daß die Interessen des Staates nicht aus dem Streit der Parteien heraus<br />

verstanden werden könnten und daß die Parteien demzufolge ein notwendiges parlamentarisches<br />

Übel seien. Daß der Staat die Verbände, Gruppen, Kammern und Kartelle selbst ins Leben gerufen<br />

hatte oder tatkräftig gefördert hatte, wurde verdrängt oder nicht zur Kenntnis genommen. Nach<br />

preußischem Verständnis war der Staat der Mittelpunkt und dieser Mittelpunkt hatte die<br />

gesellschaftlichen Interessen zu bündeln und zu ordnen. Alles Gute kam vom Staat, alles Zweifelhafte<br />

kam im Zweifel aus der Gesellschaft und gewiß aus den Parteien. Kaiser Wilhelm hatte bei Ausbruch<br />

des Krieges seine Lieblingsvorstellung geäußert: "Ich kenne keine Parteien mehr" und Richard<br />

Wagner schrieb seine eigene politische Vergangenheit als Revolutionär verdrängend ergänzend an<br />

Franz Liszt "Ein politischer Mensch ist widerlich."<br />

Besonders konsequent war man hinsichtlich der Ignorierung der Parteien in Mecklenburg-Strelitz. Dort<br />

gab es bis 1918 kein Landesparlament, sondern eine Ständische Vertretung, eine beratende<br />

Versammlung aus Vertretern der Berufsgruppen. In Mecklenburg geht die Welt 50 Jahre später unter,<br />

hieß es im Volksmund; was diese ständische Verfassung betrifft, so war man der Zeit voraus, was<br />

1933 in ganz Deutschland der Brauch wurde, <strong>das</strong> gab es in Strelitz schon 50 Jahre vorher.<br />

Heute weiß man, daß der preußische, später der preußisch-deutsche Staat der widerliche Götze war,<br />

der wie <strong>das</strong> Goldene Kalb im Mittelpunkt der Verehrung stand; um dieses Goldene Kalb mußten die<br />

119


Parteien und Interessengruppen herumtanzen, und <strong>das</strong> taten sie auch, nicht ohne dabei ihr Ansehen<br />

zu ruinieren.<br />

Konsequenterweise erwähnt die Weimarer Verfassung die Parteien nur in zwei Paragraphen:<br />

Abgeordnete und Beamte seien nicht an Weisungen ihrer Parteien gebunden (§§ 21 und 130). Die<br />

Parteien als Körperschaften wurden in der Verfassung nicht erwähnt, um dieses hehre Werk nicht zu<br />

beschmutzen. Daraus folgend war auch die Parteienfinanzierung nicht geregelt. Die Parteien mußten<br />

sich die Mittel über die Diäten ihrer Abgeordneten oder über Parteispenden besorgen, was ihre<br />

Abhängigkeit von Berufsständen, Berufsverbänden und ständischen Sponsoren wiederum verstärkte.<br />

Die Parteien fungierten so als halbillegitime Schmuddelkinder des Parlamentarismus. Die reine,<br />

unverdorbene Staatsräson war <strong>das</strong> Gemeinwohl, die Parteien waren der Ort oder besser der Hort des<br />

zwielichtigen Eigennutzes, der Durchstecherei sowie der eng begrenzten Lokal- und<br />

Standesinteressen. Die sauberen abstrakten Staatsinteressen gingen von Anfang an vor die<br />

Akzeptanz von Gruppeninteressen: Gemeinnutz geht vor Eigennutz stand auf den Silbermünzen.<br />

Bereits kurz nach dem Zusammentritt der Nationalversammlung, im Mai 1919 gründete der spätere<br />

DNVP-Parlamentarier Eduard Stadtler die „Vereinigung für parteifreie Politik“. In einem<br />

„Aktionsprogramm zur Überwindung der Anarchie in Deutschland“ forderte Stadtler „die Diktatur eines<br />

parteifreien, starken Mannes, welcher mit einem Ministerium von starken, parteifreien Politikern den<br />

Zusammenschluß der Parteien in der Nationalversammlung erzwingen würde, und auf Grund des<br />

politischen Machtwillens der in Ständen, Erwerbsgruppen und Kulturorganisationen gegliederten<br />

Volksgemeinschaft im Namen der Ideen der sozialen Weltrevolution ... mit einem großzügigen,<br />

parteifreien sozialistischen Reformprogramm die Anarchie ... rücksichtslos niederhielte.“ Der<br />

Rätegedanke müsse in der Wirtschaft verankert werden, Boden und Bodenschätze sollten<br />

verstaatlicht werden, nötigenfalls auch Villen und leerstehende Wohnungen beschlagnahmt werden. 176<br />

Tatsächlich traten der Vereinigung einige Hinterbänkler bei: Adolf Grabowsky von der DDP, Otto<br />

Hoetzsch von der DNVP und Max Cohen-Reuß von der SPD.<br />

Diese Sucht, „keine Parteien mehr zu kennen“, diese preußisch-deutsche Betrachtungsweise der<br />

Parteien sollte Adolf Hitler sein Werk der Verächtlichmachung der Parteien und des Parlamentarismus<br />

erleichtern. Letztlich hatten die Verfassungsväter von SPD, DDP und Zentrum ein mit Selbstzweifeln<br />

versetztes und unselbstbewußtes Parteienbild, <strong>das</strong> die NSDAP nützte. Die Parteien waren bereits<br />

verächtlich, bevor Adolf Hitler die erste Verwünschung, den ersten Fluch und die erste Anschuldigung<br />

aussprach. Im Programm der NSDAP hieß es:<br />

"Wir bekämpfen die korrumpierende Parlamentswirtschaft einer Stellenbesetzung nur nach<br />

Parteigesichtspunkten ohne Rücksicht auf Charakter und Fähigkeiten."<br />

Nur als Beispiel für die Gebrechen des Weimarer Parteiwesens wird aus der Berichterstattung der<br />

Allgemeinen Thüringischen Landeszeitung vom 8. Februar 1928 über die "Notkundgebung der<br />

Thüringer Landwirte" zitiert. Die Kundgebung hätte so wie sie stattfand überall in Deutschland<br />

stattfinden können, und sie fand auch überall statt, bezeichnenderweise nicht in der<br />

Weltwirtschaftskrise, sondern vorher, mitten in der relativen Stabilisierung der Republik.<br />

"Als dann Landbundführer Höfer zu sprechen begann, spürte man die innere Gespanntheit. Er<br />

sprach in seiner volkstümlichen Deutlichkeit, baute aus den Forderungen, die <strong>das</strong> deutsche<br />

Bauerntum in den letzten Wochen immer entschlossener und vordringlicher hat laut werden lassen,<br />

einen Notruf, dessen unerbittliche Schärfe seinen Eindruck nicht verfehlte. Er zeigte, wie einer<br />

durch den Zusammenbruch bedingten Zwangswirtschaft die Zwangsbewirtschaftung der deutschen<br />

Gesinnung durch Parteidiktat gefolgt sei, und wie ein unfähiger Parlamentarismus die Schuld trage<br />

an der jetzt drohenden katastrophalen Zwangswirtschaft des bäuerlichen Grundvermögens....Dann<br />

kam der große Augenblick des Tages. Höfer formulierte noch einmal kurz die Forderungen, die der<br />

Reichslandbund vertritt und die sich der Thüringer Landbund in fester Gefolgstreue völlig zu eigen<br />

gemacht hat. Dann entblößten sich 35 000 Häupter, 35 000 Schwurfinger reckten sich zum<br />

Himmel. Sie schworen: Treue den Führern! Treue der Scholle! Treue dem Vaterland!"<br />

Die Zeitung vermerkt am Schluß des Artikels, daß die Nationalsozialisten beim Versuch einer<br />

Gegendemonstration nach heftigem Wortgefecht von den Landbündlern aus dem Saal getrieben<br />

wurden. "Dabei ging es nicht immer parlamentarisch zu."<br />

176 zitiert in Gerd Koenen: Der Russland-Komplec, C.H.Beck, S. 250f.<br />

120


Einige der berufsständisch geprägten Parteien unterschieden sich weder im Führerprinzip, <strong>das</strong> aus<br />

der Wirtschaft in die Politik schwappte, noch in der Gefolgschaft, noch in der Blut-und-Boden-Rhetorik,<br />

noch in der handfertigen Art den politischen Gegner zu vertreiben von der NSDAP. Zwar konnten die<br />

Nationalsozialisten am 8. Februar 1928 verjagt werden, über den langen Zeitraum profitierten sie aber<br />

von der Gleichheit ihrer Paradigmen mit denen ihrer Konkurrenten. Das Führerprinzip <strong>braucht</strong>en die<br />

Nationalsozialisten nicht erfinden, die Gefolgstreue gab es schon und die Scholle dampfte auch ohne<br />

und vor Hitler. Landbund-Höfer lamentierte über die Zwangswirtschaft, es hätte konsequenterweise<br />

<strong>das</strong> Ende der Zwangswirtschaft fordern können, aber <strong>das</strong> tat er nicht. Statt dessen wurde dem<br />

Präsidenten des Landesfinanzamts eine Liste mit 12 Forderungen übergeben, wovon alle 12 die<br />

Steuern betrafen. Die NSDAP unterschied sich vom Landbund lediglich dadurch, daß sich ihre<br />

Forderungen nicht im Steuergestrüpp verhakten und verloren, sondern grundsätzlichen Charakter<br />

hatten. Die Abschaffung des römischen Rechts und der Zinsknechtschaft waren Forderungen, die die<br />

Massen mehr begeisterten, und die Konturen der guten alten Zeit erkennen ließen, als die<br />

Steuerstundung bis zur nächsten auskömmlichen Ernte.<br />

Im berufsständischen Sumpf hatten nicht nur die Parteien und Parlamente ein schlechtes Image. Wie<br />

schon erwähnt schwappte die rotbraune Pfütze des Führerprinzips von der Wirtschaft in die Politik.<br />

Bevor die Parlamente in Verruf gerieten, standen bereits die Aktionärsversammlungen im Verdacht<br />

demokratistische Quasselbuden zu sein. Bei der Beratung des Aktiengesetzes 1884 im Reichstag<br />

begründete der Abgeordnete Horwitz die im Entwurf vorgesehenen schwachen Kontrollrechte der<br />

Aktionärsversammlungen damit,<br />

„<strong>das</strong>s diese Generalversammlungen in ihrer Gesamtheit eigentlich auch nicht viel Sympathie<br />

verdienen...Ist eine tüchtige Leitung an der Spitze des gesamten Unternehmens, und sind es<br />

rechtschaffende Personen, die die Verwaltung zu kontrollieren haben, dann wird die Sache<br />

vorwärts gehen. Aber die Weisheit, die in den Generalversammlungen verzapft zu werden pflegt,<br />

ist ziemlich dünn und ungenießbar.“ 177<br />

Der Imperialismus, ein niedriges Stadium des Kapitalismus<br />

Jedes Zusammentreffen von Staat und Wirtschaft ist ein Sündenfall für die reine Lehre des<br />

Konkurrenzkapitalismus. Eine Theorie des Kapitalismus ohne den Staat ergibt jedoch eine reine<br />

Lehre, die sich in reiner Leere bewegt. Den reinen Kapitalismus der freien Konkurrenz hat es nirgends<br />

und zu keinem Zeitpunkt gegeben. Immer ist es durch gesetzgeberische Aktivitäten des Staates zu<br />

Eingriffen in <strong>das</strong> Getriebe der Wirtschaft gekommen. Insbesondere militärische, finanzpolitische und<br />

zunehmend sozialpolitische Erwägungen haben diese Eingriffe bestimmt. Die Menge und der Gehalt<br />

dieser Eingriffe macht den feinen, aber wichtigen Unterschied.<br />

Im Frühjahr 1916 schrieb Lenin in der Schweiz seinen "Imperialismus", im wesentlichen eine Abschrift<br />

aus Rudolf Hilferdings "Finanzkapital", Hermann Levys "Monopole, Kartelle und Trusts" und Theodor<br />

Vogelsteins "Die finanziellen Organisationen der kapitalistischen Industrie und die Monopolbildungen".<br />

Dieser Imperialismus wurde als <strong>das</strong> höchste Stadium des Kapitalismus charakterisiert. Einer der<br />

Kerne der Imperialismus-Definition ist die Monopolisierung der Produktion, insbesondere der Rohstoff-<br />

Industrien durch Bildung von Kartellen, die Entstehung internationaler Truste, andere sind die<br />

Entstehung einer Finanzoligarchie und der Kapitalexport. Lenins Werk gipfelte in der Feststellung:<br />

"Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung."<br />

Die von Lenin beschriebene Finanzoligarchie ist eine sehr russische Konstante: wenige<br />

Finanzmagnaten steuerten vor 1916 ähnlich wie in der Ära Jelzin-Putin mit dem Segen des Zaren und<br />

in großer Abhängigkeit von ihm die russischen Geldströme.<br />

In Preußen wurde die Verzahnung der privat geführten Montanindustrie über staatlich organisierte<br />

Syndikate seit den achtziger Jahren des 19. Jh. vorangetrieben, den Höhepunkt erreichte diese<br />

Entwicklung im ersten Weltkrieg, wo diese Syndikate Zahnriemen der Kriegsrohstoffabteilung im<br />

besonderen und der Kriegswirtschaft im allgemeinen wurden. Rußland war eine asiatische Despotie<br />

und Preußen eine Armee mit angeschlossener Wirtschaftsabteilung. Insofern war der Imperialismus in<br />

diesen Ländern am ausgeprägtesten. Frei waren aber die anderen Staaten von imperialistischen<br />

Erscheinungen am Beginn des 20. Jh. keineswegs.<br />

177 Protokoll der Reichstagsdebatte am 24.3.1884<br />

121


In England waren zu jener Zeit etwa 50 % der Betriebe in Wirtschaftsverbänden organisiert, in<br />

Deutschland gar 95 %. Zudem gab es in Deutschland neben den Industrieverbänden noch<br />

Arbeitgeberverbände.<br />

Das graduelle des korporatistisch-imperialistischen Geistes kann man auch an der Höhe der<br />

Zollschranken im Jahre 1914 erkennen, die einerseits durch den Reifegrad des marktwirtschaftlichen<br />

bzw. nichtmarktwirtschaftlichen Systems bestimmt wurden, durch landwirtschaftliche, aber auch<br />

industrielle protektionistische Interessen, die sich politisch artikulierten:<br />

England 0 %<br />

Niederlande 4 %<br />

Schweiz, Belgien 9 %<br />

Deutschland 13 %<br />

Dänemark 14 %<br />

Österreich, Italien 18 %<br />

Frankreich, Schweden 20 %<br />

USA 30 %<br />

Russland 38 %<br />

Spanien 41 % 178<br />

Die Tendenz der Monopolisierung der Produktion hatte in verschiedenen Ländern unterschiedliche<br />

Richtung: In Deutschland nahm der Wettbewerb zwischen 1900 und 1914 ab, in den Vereinigten<br />

Staaten nahm er im gleichen Zeitraum zu. In Deutschland hatten die Zölle auf Grund des Drucks der<br />

Agrarier eher steigende Tendenz, in den Vereinigten Staaten deutlich umgekehrt.<br />

Hinsichtlich Rußland kann man die Frage stellen, ob für <strong>das</strong> Kochrezept des Imperialismus eine<br />

kapitalistische Beilage überhaupt erforderlich ist, oder ob <strong>das</strong> reine Staatseigentum als Zutat<br />

ausreichend ist. Karl Marx beispielsweise bezweifelte grundsätzlich, daß Rußland ein kapitalistisches<br />

Land ist, und auch hinsichtlich Preußen kamen ihm immer wieder hartnäckige Zweifel, sein berühmter<br />

polemischer Vergleich der Preußen als Vorderrussen und der Russen als Hinterrussen ist für seine<br />

Wertung Preußens bezeichnend. Und diese Zweifel bestätigen sich durch die weitere Entwicklung<br />

nach seinem Tod. Sowohl der Stalinismus als Sozialismus in einem Land wie der Nationalsozialismus<br />

als Sozialismus einer Rasse kamen ganz ohne Konkurrenzkapitalismus aus, monopolisierten alle<br />

wichtigen Produktionsentscheidungen, wobei der Kern des Pudels imperialistische<br />

Weltherrschaftspläne waren, wie Karl Kautsky sie 1912 in der "<strong>Neue</strong>n Zeit" beschrieben hatte.<br />

Der Verdacht ist begründet, daß der Imperialismus eher eine Gesellschaftsform des unterentwickelten<br />

Ostens ist, als die dauerhafte Form eines entwickelten Kapitalismus. Der Imperialismus als höchstes<br />

Stadium des östlichen Despotismus oder der Imperialismus als berufsständisch geprägter Rückfall der<br />

mitteleuropäischen Gesellschaft in <strong>das</strong> Mittelalter - so könnte man es pointierend zuspitzen.<br />

Die Entwicklung des preußischen Kapitalismus aus der Sicht von Heinrich Mann<br />

Vielfach ist Heinrich Mann als Liebediener der Kommunisten gescholten worden, während Thomas<br />

Mann als Herold der Bürgerlichkeit anerkannt und gepriesen wurde.<br />

In dieser Konsequenz trifft <strong>das</strong> nicht den Kern. Tatsächlich trottete Heinrich Mann an seinem<br />

Lebensabend hinter dem stalinistischen Karren her. Thomas Mann fiel jedoch bereits 1918 als elitärer<br />

Antidemokrat auf, indem er sich von der Parteienherrschaft angewidert abwandte. In den<br />

"Betrachtungen eines Unpolitischen" verteidigte er die kulturstolze deutsche Bürgerlichkeit mit ihrem<br />

Gegensatz von Geist und Macht gegen den aufklärerischen westlichen "Terrorismus der Politik".<br />

Der junge Heinrich Mann war vielleicht auch kein lupenreiner Demokrat, aber immerhin ein<br />

scharfsichtiger und unbestechlicher Beobachter des Kaiserreichs. In seinem "Untertan" setzte er dem<br />

alten Heßling, der sich noch als Kapitalist der freien Konkurrenz betätigte, und dem alten Buck, der als<br />

Demokrat der politische Arm dieses europäischen Kapitalismus war, den jungen Diederich Heßling<br />

entgegen, der diese Gestalten des kapitalistischen Zeitalters aus seiner überlegenen Position als<br />

neue gesellschaftliche Kraft symbolisch beerbte und verdrängte. Die Überlegenheit der Position des<br />

jungen Heßlings ergab sich aus der geschickten Nutzung der vorbürgerlichen Machtmittel des<br />

178 Tabelle aus Hobsbawn: „Das imperiale Zeitalter“, S. 57<br />

122


preußischen Staates, um seine ökonomische Macht als Staatskapitalist zu etablieren. Das Ziel wurde<br />

erreicht, nachdem der Kapitalist Lauer eine Gefängnisstrafe wegen Majestätsbeleidigung zu verbüßen<br />

hatte und Diederich Heßling auf Grund seines Patriotismus den Staatsauftrag für Papierlieferungen<br />

ohne Ausschreibung erhält. Auch die Entwicklung der Sozialdemokratie von der Interessenvertretung<br />

der Arbeiter im Konkurrenzkapitalismus zur korrumpierten staatserhaltenden Kraft wird an der Gestalt<br />

des Napoleon Fischer dargestellt. Viele Fragen zur Metamorphose Preußens im Wilhelminismus<br />

erledigen sich, wenn man die Figuren des "Untertan" als Stellvertreter für die gesellschaftlichen<br />

Hauptkräfte begreift. Nie bleibt ein Zweifel, welches <strong>das</strong> bestimmende Verhältnis ist. Es ist die<br />

umfassende Verschränkung des Staats mit der Wirtschaft.<br />

Besuch Heßlings beim Präsidenten v. Wulckow:<br />

"Diederich wartete vergeblich auf den Diener, lange Minuten. Dann aber trat der Wulckowsche<br />

Hund ein, schritt riesenhaft und voll Verachtung an Diederich vorbei und kratzte an der Tür. Sofort<br />

ertönte es drinnen: "Schnaps! komm herein!" - worauf die Dogge die Tür aufklinkte. Da sie vergaß,<br />

sie wieder zu schließen, erlaubte sich Diederich, mit hereinzuschlüpfen. Herr von Wulckow saß in<br />

einer Rauchwolke am Schreibtisch, er wendete den ungeheuren Rücken her. "Guten Tag, Herr<br />

Präsident", sagte Diederich, mit einem Kratzfuß. "Na nu quatscht du auch schon, Schnaps?" fragte<br />

Wulckow, ohne sich umzusehen. Er faltete ein Papier, zündete langsam eine neue Zigarre<br />

an...`Jetzt kommt es´ dachte Diederich. Aber dann begann Wulckow etwas anderes zu schreiben.<br />

Interesse an Diederich nahm nur der Hund. Offenbar fand er den Gast hier noch weniger am Platz,<br />

seine Verachtung ging in Feindseligkeit über; mit gefletschten Zähnen beschnupperte er<br />

Diederichs Hose, fast war es kein Schnuppern mehr. Diederich tanzte so geräuschlos wie möglich,<br />

von einem Fuß auf den anderen, und die Dogge knurrte drohend aber leise, wohl wissend, ihr Herr<br />

könne es sonst nicht weiterkommen lassen. ....Dann hatte der Hund genug von dem Spiel, er ging<br />

zum Herrn und ließ sich streicheln; und neben Wulckows Stuhl hingelagert, maß er mit kühnem<br />

Jägerblicken Diederich, der sich den Schweiß wischte. `Gemeines Vieh´ dachte Diederich - und<br />

plötzlich wallte es auf in ihm. Empörung und der dicke Qualm verschlugen ihm den Atem, er dachte<br />

mit unterdrücktem Keuchen: `Wer bin ich, daß ich mir <strong>das</strong> muß bieten lassen? Mein letzter<br />

Maschinenschmierer läßt sich <strong>das</strong> von mir nicht bieten. Ich bin Doktor. Ich bin Stadtverordneter!.<br />

Dieser ungebildete Flegel hat mich nötiger, als ich ihn!.... Und wer bezahlt die frechen<br />

Hungerleider? Wir!´ Gesinnung und Gefühle, alles stürzte in Diederichs Brust auf einmal<br />

zusammen, und aus den Trümmern schlug wie wild die Lohe des Hasses. `<strong>Menschen</strong>schinder!<br />

Säbelraßler! Hochnäsiges Pack!....Wenn wir mal Schluß machen mit der ganzen Bande -!´ Die<br />

Fäuste ballten sich in ihm selbst, in einem Anfall stummer Raserei sah er alles niedergeworfen,<br />

zerstoben: die Herren des Staates, Heer, Beamtentum, alle Machtverbände, und sie selbst, die<br />

Macht! Die Macht, die über uns hinweggeht und deren Hufe wir küssen! Gegen die wir nichts<br />

können, weil wir sie alle lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung drin haben! Ein<br />

Atom sind wir von ihr, ein verschwindendes Molekül von etwas, <strong>das</strong> sie ausgespuckt hat!... Von der<br />

Wand dort, hinter blauen Wolken, sah eisern nieder ihr bleiches Gesicht, eisern, gesträubt,<br />

blitzend: Diederich aber in wüster Selbstvergessenheit erhob die Faust. Da knurrte der<br />

Wulckowsche Hund, unter dem Präsidenten her aber kam ein donnerndes Geräusch, ein<br />

langhinrollendes Geknatter - und Diederich erschrak tief. Er verstand nicht, was dies für ein Anfall<br />

gewesen war. Das Gebäude der Ordnung wieder aufgerichtet in seiner Brust, zitterte nur noch<br />

leise. Der Herr Regierungspräsident hatte wichtige Staatsgeschäfte. Man wartete eben bis er einen<br />

bemerkte; dann bekundete man gute Gesinnung und sorgte für gute Geschäfte. "Na Doktorchen?"<br />

sagte Herr von Wulckow und drehte seinen Sessel herum. "Was ist mit Ihnen los? Sie werden ja<br />

der reine Staatsmann. Setzen Sie sich mal auf diesen Ehrenplatz." "Ich darf mir schmeicheln",<br />

stammelte Diederich. "Einiges habe ich schon erreicht für die nationale Sache." Wulckow blies ihm<br />

einen mächtigen Rauchkegel ins Gesicht, dann kam er ihm ganz nahe mit seinen warmblütigen,<br />

zynischen Augen und ihrer Mongolenfalte. "Sie haben erstens erreicht, Doktorchen, daß Sie<br />

Stadtverordneter geworden sind. Wie, <strong>das</strong> wollen wir auf sich beruhen lassen. Jedenfalls konnten<br />

Sie es brauchen, denn Ihr Geschäft soll ja ´ne ziemlich faule Karre sein." Da Diederich<br />

zusammenzuckte, lachte Wulckow dröhnend. "Lassen Sie nur, Sie sind mein Mann. Was meinen<br />

Sie, was ich da geschrieben habe?" Das große Blatt Papier verschwand unter der Pranke, die er<br />

darauf legte. "Da verlange ich vom Minister einen kleinen Piepmatz für einen gewissen Doktor<br />

Heßling. In Anerkennung um seine Verdienste um die gute Gesinnung in Netzig. ...Für so nett<br />

haben Sie mich wohl gar nicht gehalten?" setzte er hinzu, denn Diederich, mit einer Miene,<br />

geblendet und wie mit Blödheit geschlagen, machte von seinem Stuhl herab immerfort<br />

Verbeugungen...."Na nun nehmen Sie sich mal ´ne Zigarre", schloß Wulckow; und Diederich<br />

begriff, daß jetzt die Geschäfte kamen. Schon inmitten der Hochgefühle waren ihm Zweifel<br />

aufgestiegen, ob Wulckows Gnade vor allem anderen nicht eine ganz besondere Ursache habe. Er<br />

123


sagte versuchsweise: "Für die Bahn nach Ratzenhausen wird die Stadt nun doch wohl den Beitrag<br />

bewilligen." Wulckow streckte den Kopf vor. "Ihr Glück. Wir haben sonst ein billigeres Projekt,<br />

darauf wird Netzig überhaupt nicht berührt. Also sorgen Sie dafür, daß die Leute Vernunft<br />

annehmen. Unter der Bedingung dürft Ihr dann auch dem Rittergut Quitzin euer Licht liefern." "Das<br />

will der Magistrat auch nicht." Diederich bat mit den Händen um Nachsicht. "Die Stadt hat Schaden<br />

dabei, und Herr von Quitzin zahlt uns keine Steuern...Aber jetzt bin ich Stadtverordneter, und als<br />

nationaler Mann -" "Das möchte ich mir ausbitten. Mein Vetter, Herr von Quitzin, baut sich sonst<br />

einfach ein Elektrizitätswerk, <strong>das</strong> hat er billig, was glauben Sie, zwei Minister kommen bei ihm zur<br />

Jagd - und dann unterbietet er euch, hier in Netzig selbst." Diederich richtete sich auf. "Ich bin<br />

entschlossen, Herr Präsident, allen Anfeindungen zum Trotz in Netzig <strong>das</strong> nationale Banner<br />

hochzuhalten." Hierauf mit gedämpfter Stimme: "Einen Feind können wir übrigens loswerden;<br />

einen besonders schlimmen, jawohl den alten Klüsing in Gausenfeld." "Der?" Wulckow feixte<br />

verächtlich. "Der frißt mir aus der Hand. Er liefert Papier für die Kreisblätter." "Wissen Sie, ob er für<br />

schlechte Blätter nicht mehr liefert? Darüber, Herr Präsident verzeihen, bin ich doch wohl besser<br />

informiert." "Die ´Netziger Zeitung´ ist jetzt in nationaler Hinsicht zuverlässiger geworden." "Und<br />

zwar -", Diederich nickte gewichtig, "seit dem Tage, an dem der alte Klüsing mir, Herr Präsident,<br />

einen Teil der Papierlieferung hat anbieten lassen. Gausenfeld sei überlastet. Natürlich hatte er<br />

Angst, daß ich mich an einem nationalen Konkurrenzblatt beteilige. Und vielleicht hatte er auch<br />

Angst" - eine bedeutsame Pause -, "daß der Herr Präsident <strong>das</strong> Papier der Kreisblätter lieber bei<br />

einem nationalen Werk bestellt." "Also, Sie liefern jetzt für die ´Netziger Zeitung´?" "Niemals, Herr<br />

Präsident, werde ich meine nationale Gesinnung so sehr verleugnen, daß ich an eine Zeitung<br />

liefere, solange noch freisinniges Geld drin ist." "Na schön." Wulckow stemmte die Fäuste auf die<br />

Schenkel. "Jetzt brauchen Sie nichts mehr zu sagen. Sie wollen bei der ´Netziger Zeitung´ <strong>das</strong><br />

Ganze. Die Kreisblätter wollen Sie auch. Wahrscheinlich auch die Papierlieferungen für die<br />

Regierung. Sonst noch was?" 179<br />

Alle diese Wünsche sollten mit Wulckows Hilfe in Erfüllung gehen, dienten sie doch der nationalen<br />

Sache.<br />

Wurde Wulckow durch die wirtschaftlichen Interessen Heßlings geleitet und angestachelt, oder<br />

versuchte Heßling, die Abneigung Wulckows gegen den Freisinn wirtschaftlich auszubeuten? Egal<br />

wie, die Entscheidungen fielen nicht auf dem Markt, sondern im Regierungspräsidium. Und <strong>das</strong><br />

zeichnet eine Zentralverwaltungswirtschaft aus.<br />

Alle ökonomischen Stände hat Heinrich Mann 1914 im "Untertan" charakterisiert. Der alte<br />

demokratische Knebelbart Buck als Vertreter des Richter´schen Liberalismus (ohne steifen Kragen,<br />

sondern mit seidener Halsbinde), Napoleon Fischer für die in den Revisionismus hinüberwachsende<br />

kaiserliche Sozialdemokratie, Heßling als Archetyp des gebundenen Unternehmers, den jungen Buck<br />

als neudeutschen Reformtyp und Lauer als sozial gesalbten Kapitalisten mit<br />

gesellschaftsreformerischen Ideen.<br />

1892 (Heinrich Mann nennt in seinem Roman sogar <strong>das</strong> Jahr) wurde Heßling bei einem Privatissimum<br />

bei Herrn von Barnim in die politischen Ideen eingewiesen, die der Hofprediger Stöcker ausgebrütet<br />

hatte:<br />

"...eine ständische Volksvertretung, wie im glücklichen Mittelalter: Ritter, Geistliche,<br />

Gewerbetreibende, Handwerker. Das Handwerk mußte, der Kaiser hatte es mit Recht gefordert,<br />

wieder auf die Höhe kommen wie vor dem Dreißigjährigen Krieg. Die Innungen hatten Gottesfurcht<br />

und Sittlichkeit zu pflegen. Diederich äußerte sein wärmstes Einverständnis. Es entsprach seinen<br />

Trieben, als eingetragenes Mitglied eines Standes, einer Berufsklasse, nicht persönlich, sondern<br />

korporativ im Leben Fuß zu fassen. Er sah sich schon als Abgeordneten der Papierbranche...." 180<br />

Die Arbeiterparteien und der Begriff der Arbeit<br />

„Arbeit ist die Religion des Sozialismus“ hatte Friedrich Ebert am 10.12.1918 verkündet. Der<br />

Arbeitsbegriff ist ein weiterer Schlüsselbegriff für <strong>das</strong> Verständnis der Weimarer Republik, und nicht<br />

nur für <strong>das</strong> Verständnis dieser Republik. Aber für die Weimarer Republik war er besonders wichtig, da<br />

179 Heinrich Mann: Der Untertan, Reclam, Leipzig, 1978, S. 276 ff<br />

180 H. Mann, Der Untertan, Reclam, Leipzig 1978, S. 45 f.<br />

124


gerade in den zwanziger Jahren eine Weiterentwicklung des Bilds von der Arbeit erfolgte, eine<br />

Weiterentwicklung der Arbeitsdarstellung für die breite Öffentlichkeit.<br />

Zum Beginn gab es die Arbeiterbewegung des Kaiserreichs, die durch die Idee von Karl Marx<br />

beeinflusst war, <strong>das</strong>s der Wert der Arbeit durch den Wert der gewohnheitsmäßig notwendigen<br />

Lebensmittel des Durchschnittsarbeiters bestimmt wird. Sie nährte <strong>das</strong> Opferbild der Arbeiterschaft<br />

und entsprach der Klassengesellschaft, in der sich Arbeiter und Kapitalist gegenübertraten, um die<br />

Arbeitsbedingungen auszuhandeln.<br />

Am Ende gab es neben der tradierten Arbeiterpartei SPD zwei reformistische Parteien mit<br />

Arbeiteranhang, die nicht marxistisch waren, NSDAP und KPD. Die KPD führte auf Geheiß Moskaus<br />

den Kampf gegen die Kultursklaverei, auf den wir noch kommen werden. Die NSDAP nannte Arbeit<br />

von Anfang an nicht Arbeit, sondern Schaffen.<br />

Mitte der zwanziger Jahre begann man in der NSDAP intensiv über die Rolle der Arbeit<br />

nachzudenken. Klaus Theweleit erwähnt in seinem Buch "Männerphantasien" in diesem<br />

Zusammenhang insbesondere den NS-Roman "Michael" von Goebbels. Die Arbeit sei der<br />

Zentralbegriff, eine Unterform des Kampfes, sie erhält den Mann am Leben, aber nicht wegen des<br />

Lohns, sondern weil die Tätigkeit den Mann vor dem Fragmentieren und Zusammenbrechen<br />

bewahrt. 181 Die Arbeit wurde nicht als Phänomen des physischen Verschleißes, des körperlichen<br />

Martyriums und des menschlichen Kräfteverzehrs, sondern als physischer und moralischer Kraftquell<br />

erkannt und gedeutet. Die zwar unmarxistische, aber populistische linke Mär vom Energieverlust bei<br />

der Arbeit, wo zunächst aus dem Verzehr von Lebensmitteln Kraft entsteht, aus der gewonnenen Kraft<br />

ein Produkt und ein entkräfteter Arbeiter, der im Durchschnitt gerade soviel Lebensmittel verzehren<br />

kann, um sich zu regenerieren, wurde überwunden. Der neue Arbeiter produzierte durch seine Kraft<br />

ein materielles Produkt und als ideelles Abfallprodukt zusätzlich mentale Stärke. Die Zeit der<br />

energetischen Schrumpfphysiologie ging dem Ende zu.<br />

Nicht nur der nationalsozialistische Arbeiter, auch der nationalsozialistische Bauer und der<br />

nationalsozialistische Handwerker leisteten im Unterschied zur späteren stalinistisch-elitaristischen<br />

Epoche gleichwertige Arbeit, sogar geistige Arbeit wurde als solche anerkannt, wenngleich auf dem<br />

nationalsozialistischen Plakat Schaufel, Sense und Sturmgewehr im Vordergrund standen, und nicht<br />

der Zirkel. Der Arbeiter, der Bauer und der Soldat als Garant und Bewacher der Arbeit waren die<br />

Lieblingsakteure der Arbeitsdarstellung, so daß <strong>das</strong> Körperliche der Arbeit in der Propaganda in den<br />

Vordergrund gerückt blieb. Wie sollte die Scholle dampfen und <strong>das</strong> Blut wallen bei geistiger Arbeit?<br />

Dampfender Boden, dampfende Leiber, heute im Zeitalter des Deo-Sprays als Leitbild für viele kaum<br />

nachvollziehbar.<br />

Arbeiter, Bauer und sogar der Soldat wurden mit Handwerkzeugen dargestellt, die der Produktions-<br />

und Kriegstechnik des 19. Jh. entsprechen. Den maschinenbedienenden Industriearbeiter oder den<br />

Ingenieur sucht man vergebens.<br />

Nicht mehr der abgehärmte halbverhungerte Proletarier, der in der grauen Masse zwischen<br />

halbverfallenen Fabrikruinen durch den grauen Dampf der Schlote mit schmutzigroten Fahnen<br />

demonstriert, gleichsam alles die Illustration des verfaulenden Kapitalismus; der während des Porträts<br />

vor Hunger bereits halbtot ist und allenfalls Mitleid erheischt, bleiben die Unhelden oder Objekte der<br />

Arbeitsdarstellung, sondern der kraftvolle Germane, der mit wild entschlossenem Blick den Hammer<br />

schwingt, der Bauer, der zwar schwitzend, aber vor Zähigkeit strotzend in der Sonne pflügt oder mäht,<br />

<strong>das</strong> sind die neuen Helden der Arbeit. Etwa gleichzeitig löste in Rußland der sozialistische Realismus<br />

den Kubismus, Konstruktivismus und andere östlich-westlich-dekadente Ismen ab. Auch dort schauten<br />

den Betrachter von der Leinwand dralle Genossenschaftsbäuerinnen und hämmernde Prachtkerle an,<br />

während in der harten Wirklichkeit Millionen verhungerten. Ein Typ wie Arnie Schwarzenegger als<br />

Conan der Barbar wurde sowohl in der Sowjetunion, als auch bei den Nationalsozialisten zum Leitbild.<br />

Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und so weiter.....<br />

Joseph Goebbels blickte fasziniert herüber nach Russland, um Vergleiche zu ziehen und Innovationen<br />

zu generieren. Vielleicht sah er nun die bolschewistischen Propagandaplakate, wo die Arbeiter und<br />

Bauern nach der vermeintlichen Abschüttlung des zaristischen Jochs ihr Selbstbewusstsein<br />

demonstrierten und Stärke zeigten?<br />

181 Klaus Theweleit: Männerphantasien, S. 223 ff.<br />

125


Die SPD dagegen wusste nicht recht, wie sie den Arbeiter darstellen sollte: einmal erschien er wie auf<br />

stalinistischen Plakaten kraftvoll mit dem großen Hammer, oder optimistisch am Steuerrad der<br />

Planwirtschaft, ein andermal war er weiter <strong>das</strong> Objekt der Ausbeutung.<br />

Die Darstellung des selbstbewußten, kraftvollen Arbeiters in einer positiven Umgebung schloß die<br />

Darstellung der Ausbeutung mehr oder weniger aus. Die Darstellung der Ausbeutung erlaubte nicht,<br />

Supermänner als Helden der Arbeit darzustellen. Wie kann man Selbstbewußtsein und Kraft<br />

zusammen mit den Insignien der Ausbeutung ins Bild setzen? Das überforderte den Künstler, egal<br />

was er darstellen wollte. Der Arbeiter mußte die Ausbeutung abschütteln, die Kuhketten des<br />

Kapitalismus zerschlagen, um in der Sowjetunion oder im Dritten Reich vom Objekt zum Subjekt zu<br />

mutieren.<br />

In der bildenden Kunst gab es, soweit der Arbeiter und die Arbeit dargestellt wurden, immer wieder<br />

Annäherungen zwischen dem sozialistischen Realismus in Rußland und nationalsozialistisch<br />

inspirierter Malerei, und so gibt es auch Annäherungen des Arbeitsbegriffs. Boshaft könnte man von<br />

einem nationalsozialistischen Realismus sprechen, dabei würde man in letzter Konsequenz allerdings<br />

in die Irre gehen, denn im Unterschied zu Rußland sollte es in Deutschland auch nach 1933<br />

verschiedene Richtungen der darstellenden Kunst geben. Der Bildhauer Arno Breker, der für Hitler die<br />

Allegorien der Partei und der Wehrmacht als muskelbepackte Germanen mit Fahne beziehungsweise<br />

Schwert schuf, erhielt 1939 ein Arbeitsangebot Josef W. Stalins. An einem fähigen Bildhauer für<br />

Supermänner bestand gemeinsamer Bedarf, denn jene Supermänner waren <strong>das</strong> Symbol des Elitären,<br />

mit Heroenbildern wurde dem kleinen Mann auf der Straße seine Ungleichheit und Unfähigkeit, seine<br />

gesellschaftliche Impotenz abgebildet und verdeutlicht.<br />

Eine ähnliche Annäherung wie bei der Arbeitsdarstellung gab es übrigens auch in der Architektur, die<br />

in Deutschland und Rußland auf einen nationalen Historismus hinauslief, so daß man die neuen<br />

Gauforen und die Stalinallee nicht deutlich unterscheiden kann. Die Steine des Glockenturms von<br />

Buchenwald stammten von der Baustelle des Gauforums in Weimar und waren für den Campanile des<br />

Forums bestimmt, bis sie zur Erinnerung an die Opfer des KZ eine neue Verwendung fanden, ohne<br />

daß die frischgebackenen Bauherren vom geringsten Skrupel heimgesucht wurden. Es war eben wie<br />

es war. Der fertige Glockenturm wurde unfreiwillig, aber nicht ohne kulturgeschichtlich-ästhetischen<br />

Zusammenhang Adolfs letzte Rache, aus seinem Grab wächst keine Hand, sondern ein Turm.<br />

Zwischen der sowjetischen Kunst und der nationalsozialistischen Kunst gab es eine Annäherung, und<br />

es ist nur die Frage, wer schneller auf dem Weg in den optimistischen Schwulst war (der<br />

Staatsbürgerkundelehrer sprach vom Erkenntnisoptimismus der Arbeiterklasse). Aber zwischen der<br />

Kunst der traditionellen linken Arbeiterbewegung und der nationalsozialistischen Ästhetik tat sich Ende<br />

der zwanziger Jahre ein Unterschied auf, da die linke Szene im Westen den Tendenzen der<br />

Sowjetkunst nicht schnell genug folgte. Die Linken produzierten teilweise noch "Opferkunst", den<br />

Arbeiter als Objekt, und sprachen die jüngere Generation nicht mehr an.<br />

Immer mehr zeigte sich ein kleiner Unterschied: Die Arbeit war im Nationalsozialismus als Kraftquell<br />

oder als nationale Arbeit im Kampf gegen die Außenwelt definiert und nicht als auszehrende Arbeit<br />

einer Klasse unter dem Joch der Ausbeutung.<br />

Die Arbeit war vom Klassenbegriff getrennt worden, sie war Arbeit des klassenlosen Volksgenossen.<br />

Mit der Umwandlung des frühkapitalistischen Systems in ein berufsgenossenschaftliches<br />

Konsenzmodell mit gefolgstreuen Wirtschafts- und Arbeitsfrontführern, war die Auseinandersetzung<br />

zwischen Arbeiter und Kapitalist ein Ungedanke, denn alle Festlegungen zu Arbeitsbedingungen und<br />

Entgelten waren aus der Verantwortungssphäre der direkt am Produktionsprozeß Beteiligten entrückt.<br />

Genausowenig waren die Verhältnisse zwischen Arbeitern und Betriebsleitern im Sozialismus ein<br />

Gegenstand von Klassenkämpfen. Die Parteileitung entschied über die Verteilung der Früchte der<br />

Arbeit nach geheimen und internen Entschlüssen entsprechend dem System "Basta!".<br />

Mit dem Abschied vom Begriff der Klassen und der Praxis des Klassenkampfes, der mit dem Abschied<br />

von der Wirtschaftsverfassung des Kapitalismus eng verknüpft war, mit dem Übergang zu<br />

korporatistischen Formen des Wirtschaftens, gehörte die sozialkritische Betrachtung der Arbeit der<br />

Vergangenheit an. Oft gehörte ein dampfender Boden zur Arbeitsdarstellung, manche Gemälde aus<br />

der Arbeitswelt, insbesondere von Großbaustellen unterscheiden sich nur durch ein gelegentlich<br />

eingestreutes Hakenkreuz von späteren Darstellungen aus der sowjetrussischen Zeit. Die Arbeit war<br />

klassenübergreifend.<br />

126


Walter Ulbricht versuchte dieses scheinbar erfolgreiche klassenübergreifende Modell mit dem Begriff<br />

der sozialistischen <strong>Menschen</strong>gemeinschaft für seine Ziele fruchtbar zu machen, aber sein Nachfolger<br />

Honecker hob den Proletarier als führende Kraft wieder allein auf den Sockel. Nur die sogenannte<br />

produktive Arbeit, die Arbeit von Handlangern, Reparaturschlossern oder Maschinenbeschickern<br />

wurde als vollwertige Arbeit anerkannt, andere Arbeiten waren nicht produktiv, waren ein Moment der<br />

Gemeinkosten und damit ein notwendiges Übel oder minderwertig. Es war und bleibt ein<br />

kommunistisches Paradoxum: Gerade nachdem oder obwohl die Kommunisten den Kapitalismus und<br />

die Warenproduktion und damit auch die warenproduzierende Arbeit abgeschafft hatten, wurde nur<br />

die Arbeit geachtet, die im Kapitalismus Waren produziert. Die warenproduzierende Arbeit war als<br />

vermeintlich sozialismusstiftender Faktor in den Bernstein der Erinnerung gegossen worden und führte<br />

von nun an ein von den Realitäten abgesondertes Eigenleben.<br />

An den ökonomischen Kategorien der Arbeitsproduktivität und der Gemeinkosten, die es vor dem<br />

Kapitalismus nicht gab und die im Sozialismus keinen Sinn machten, wurde von der Parteiführung<br />

festgehalten; man klammerte sich an Begriffe, für die man nicht reif war, und die im sozialistischen<br />

Milieu nur Verwirrung stifteten. Die körperlichen Kräfte der Innovation, die Ingenieure, wurden so zu<br />

Handlangern der Produktion stilisiert, was sie im Sozialismus und in anderen vorbürgerlichen<br />

Gesellschaften auch objektiv überall waren.<br />

Das zweite Paradoxum steht mit der Missachtung der nicht warenproduzierenden Arbeit in einem<br />

innigen Verhältnis. Es besteht in der Hochachtung der Sozialisten, Kommunisten und<br />

Nationalsozialisten gegenüber der Technik und gegenüber dem technischen Fortschritt. Die<br />

Fortschrittsgläubigkeit und Technikbegeisterung nutzten aber nichts: Selten entstand sowenig<br />

Innovatives wie unter den genannten sozialistischen Systemen. Hitler fehlten zum Schluß am Endsieg<br />

<strong>das</strong> Radar und die Atombombe, die derweilen im angelsächsischen Raum entwickelt wurden, Ulbricht<br />

und Honecker führten den Erfindergeist ständig im Munde, aber es war, als sprächen Blinde von der<br />

Farbe. Hitler war auf die traditionellen Waffensysteme des Ersten Weltkriegs fixiert. Er begriff nicht die<br />

entscheidende Rolle des Radars, der Atomspaltung, des schallgesteuerten Torpedos und der<br />

thermisch gesteuerten Boden-Luft-Rakete. Gegen den Rat der Techniker verzögerte er die<br />

Entwicklung des Düsenflugzeugs Me 262. Als es endlich gebaut werden durfte, mußte es gegen die<br />

Überzeugung der Fachleute auf einsamen Entschluß des größten Feldherrn aller Zeiten als Bomber<br />

und nicht als Jäger hergestellt werden. Das Leitbild des schwitzenden Arbeiters hing über jenem des<br />

denkenden und nicht transpirierenden Wissenschaftlers und Technikers.<br />

Tatsächlich und faktisch betrug der Anteil der abhängig Beschäftigten in der Weimarer Zeit um 66 %.<br />

Von den abhängig Beschäftigten fühlten sich nicht alle als Arbeiter und es waren auch nicht alle<br />

abhängig Beschäftigte Arbeiter. Die deutsche Arbeit und mit ihr die deutschen Arbeiter waren seit der<br />

Jahrhundertwende immer gefährdet, da die deutsche Arbeit im internationalen Vergleich bereits<br />

damals Hochlohnarbeit war.<br />

Friedrich Naumann schrieb 1908 zu diesem Thema:<br />

"An billiger Massenarbeit ist nichts zu verdienen. Sie muß auch gemacht werden, aber mit<br />

deutschen Kräften kann man auch besseres leisten. Die geringeren Arbeiten nehmen früher oder<br />

später halbgebildete Völker an sich. Was tun wir dann? Dann sind wir entweder ein Volk, dessen<br />

Stil und Geschmack sich in der Welt durchgesetzt hat, oder wir hungern mit den Orientalen um die<br />

Wette, nur um zu sehen, wer die billigsten Massenartikel aus Fleisch, Blut und Eisen<br />

herauspressen kann." 182<br />

Heute beklagen Nationalsozialisten und Globalisierungskritiker die Auswirkungen der Globalisierung<br />

auf Deutschland, insbesondere auf den Arbeitsmarkt und geben billigeren Arbeitern aus dem Ausland<br />

die Schuld, daß deutsche körperliche Arbeit entwertet wird. Umgekehrt wollen sie die Bauern von<br />

Chiapas vor dem Weltmarkt schützen und abgeschlossene Infantilgesellschaften mit völkischer<br />

Ernährungsbesonderheit erhalten. In der Weimarer Republik waren die Siegermächte mit ihren<br />

Reparationen, die Bestimmungen des Versailler Vertrags und die Ausbeutung durch die Juden in den<br />

Augen der Nationalsozialisten an den meisten Übeln und der Entwertung der deutschen Arbeit schuld.<br />

Wenn nur die Nationalsozialisten diese Meinung vertreten hätten, wäre es gegangen, aber durch die<br />

Gesellschaft der Spätkaiserzeit und der Zwischenkriegszeit zog sich ein breites<br />

globalisierungskritisches Band.<br />

182 Friedrich Naumann: Die Kunst im Zeitalter der Maschine, Buchverlag der Hilfe, Berlin, 1908<br />

127


Aspekte des Welthandels, der internationalen Märkte, der Rohstoffreserven spielten in der Kaiserzeit<br />

und zwischen den Weltkriegen psychologisch eine größere Rolle als faktisch. Der run auf die<br />

afrikanischen und asiatischen Stammeskönigreiche verlief in den 80er und 90er Jahren des 19.<br />

Jahrhunderts mit fieberhaftem Enthusiasmus, die Begeisterung beim Hissen der Fahne der<br />

Mutterländer in den Steppen der Dritten Welt verstellte den Blick auf die dürftigen ökonomischen<br />

Realitäten. Es gab kaum eine Kolonie, die dem Mutterland auf Dauer wirtschaftliche Freude bereitete.<br />

Nach dem zweiten Weltkrieg trennten sich die Kolonialmächte leichten Herzens von ihren<br />

überseeischen Besitztümern, denn die Erkenntnis hatte sich durchgesetzt, <strong>das</strong>s in Afrika und Asien<br />

nur Geld verbrannt wird. Die Globalisierungsdebatte hat sich in 100 Jahren kaum gewandelt, Handel,<br />

Rohstoffe, Migration und wirtschaftliche Ungleichgewichte sind Dauerthemen der Diskussion, <strong>das</strong><br />

Thema der Kolonialpolitik als Besitznahme ist durch weltweite Umwelt- und Handelsaspekte ersetzt.<br />

Immer wenn die deutsche Arbeit gefährdet war, wurde sie zusätzlich in die Globalisierungsdebatte mit<br />

einbezogen. Das war im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik so, lediglich<br />

<strong>das</strong> Dritte Reich und die DDR igelten sich ein und kapselten sich von der Weltwirtschaft ab, sie hatten<br />

eine Auseinandersetzung mit dem Weltmarkt für eine begrenzte Zeitdauer scheinbar nicht nötig, bis<br />

sie von der Welt wieder eingeholt wurden.<br />

Doch zurück zum Arbeitsbegriff: Die Arbeit selbst änderte ihren Charakter im Zeitraum der Weimarer<br />

Republik nicht merklich, es änderte sich nur die Auffassung von der Arbeit und deren Ästhetisierung.<br />

Dem geänderten Arbeitsbegriff folgte die Darstellung der Arbeit in der bildenden Kunst: Von der<br />

grauen Masse zum kraftvollen Heroen der Arbeit. Die Vergötzung des Arbeiters in der Kunst erfolgte<br />

in einem Atemzug mit seiner Vermassung in der Kaserne oder auf den Großbaustellen des<br />

Bolschewismus oder Nationalsozialismus. Es ist <strong>das</strong> Problem jeder Renaissance schlechthin. Wo <strong>das</strong><br />

Individuum plötzlich einzeln heraustritt aus der Masse, begibt es sich in Gefahren, nicht zuletzt in die<br />

Gefahr, den Boden unter den Füßen zu verlieren und sich vom Rest der Gesellschaft abzusondern.<br />

Das Absondern kann wunderlich oder absonderlich sein und in seltene individualistische Sackgassen<br />

der persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung führen, es führt aber auch zum Absolutismus und<br />

zur Überhebung von Herrschern, die man seit dem Spätkaiserreich bis ins tausendjährige Reich<br />

Führer nannte.<br />

Plakat von Louis Oppenheim 1919: "Zurück zur Besonnenheit, zur Arbeit! Arbeit ist Rettung, Arbeit ist Zukunft und<br />

Glück." Zwei Jahre zuvor sah Oppenheim die Rettung im Krieg. Er erhielt 1917 eine Auszeichnung für die<br />

Werbung für Kriegsanleihen. Fast jedes fünfte deutsche Kriegsplakat wurde von ihm gemalt.<br />

Religion des Sozialismus war die Arbeit für Friedrich Ebert. Aus der Religion des Sozialismus wurde<br />

unter den Bedingungen der Arbeitslosigkeit am Ende der zwanziger Jahre eine sehr bedrohliche<br />

Droge. Arbeit war am Ende der Weimarer Republik eine Religion, der die Substanz abhanden<br />

gekommen war. Die Vergötzung der Arbeit bereitete den Boden für Demagogen, die die Schuld am<br />

Fehlen der Arbeit unter anderen den Sozialdemokraten gaben.<br />

Das traditionelle Christentum zeigte sich auch in der Krise geeigneter als der Religionsersatz Arbeit,<br />

da seine Substanz, die Nächstenliebe in allgemeinerer Form und ständig in der Gesellschaft<br />

vorhanden ist. Das Christentum bietet auch für Arbeitslose einen Halt in Krisenzeiten, die Arbeit nicht.<br />

Die relative Stabilität der christlichen Parteien in der Weltwirtschaftskrise verdeutlicht <strong>das</strong>. Es gibt kein<br />

<strong>Menschen</strong>recht auf Wirtschaftswachstum und deshalb auch kein <strong>Menschen</strong>recht auf Arbeit bei<br />

mitlaufender Lohnerhöhung. Und wenn es ein <strong>Menschen</strong>recht auf Arbeit gäbe, dann gäbe es kein<br />

Recht auf jedes Jahr anwachsende Löhne, weil es eben kein <strong>Menschen</strong>recht auf<br />

Wirtschaftswachstum gibt. Es gibt nur die Chance auf Wachstum, Arbeit und höhere Löhne.<br />

Die Kirche als solche und die christlichen Gemeinden im besonderen waren von modernen Einflüssen<br />

leider nie frei. Ein Hang, auch die christliche Religion mit Arbeit zu versetzen oder durch Arbeit<br />

anzureichern, läßt sich für diese Zeit immer wieder nachweisen. Es ist ein Nachhall auf den<br />

arbeitswütigen und arbeitsversessenen protestantischen Pietismus. Auf jedem dritten<br />

Küchenhandtuch stand beispielsweise: "Zwei Lebensstützen brechen nie: Gebet und Arbeit heißen<br />

sie."<br />

Sozialistischer Realismus<br />

Ein möglicher Gedankengang, welcher Kultur, Ökonomie und Politik logisch und historisch<br />

miteinander verknüpft, führt von der Wirtschaft über die Arbeit zur Arbeitsdarstellung. Letztere ist ein<br />

128


kulturelles Phänomen. Die Periode verschiedener Zwangsarbeitsbrigaden in Arbeits-, Konzentrations-,<br />

Umerziehungs- und Vernichtungslagern korrespondiert mit der Blütezeit des sozialistischen<br />

Realismus.<br />

Ein inhaltlicher Ursprung des Sozialistischen Realismus läßt sich in die traditionelle Malerei des 19.<br />

Jh. zurückverfolgen, weil es ihm um die Arbeitsdarstellung und des Arbetsethos ging. In vielen<br />

Klassenzimmern hing um 1960 <strong>das</strong> Bild von den Steinbrechern von Robert Sterl. Den Steinbrechern<br />

schauten <strong>das</strong> Elend und die Ausbeutung aus allen Knopflöchern. So konnten sich die Schüler unter<br />

Anleitung der sozialistischen Lehrerschaft aus diesem Bild <strong>das</strong> Bild des Kapitalismus und der Arbeiter<br />

formen. Aber schon als <strong>das</strong> Bild gemalt wurde, handelte es sich um eine vorindustrielle,<br />

vorkapitalistische und vorbürgerliche handwerkliche Arbeitsdarstellung. Steine wurden in vielen<br />

deutschen Landgemeinden <strong>das</strong> erste Mal zum Faustkeil verarbeitet und <strong>das</strong> letzte Mal in den fünfziger<br />

oder sechziger Jahren des 20. Jh. zur Straßeninstandsetzung geklopft und <strong>das</strong> mußten die Bauern in<br />

Fron machen, als feudale vorindustrielle Tradition.<br />

Richtig ist, daß immer nur ein Teil der Arbeit als industrielle mechanisierte Arbeit anfällt. Es blieben<br />

immer vorindustrielle Arbeitsmethoden erhalten, ob im Handwerk, in der Bauindustrie, im<br />

Transportwesen oder bei zahlreichen Dienstleistungen. Aber die industrielle Arbeit war im 20. Jh. die<br />

beherrschende Form, die der Gesellschaft als Klassengesellschaft ihr Gesicht gab. Dieses Gesicht<br />

spiegelte sich im sozialistischen Realismus kaum wieder.<br />

Riesige Kerle mit Unterarmen wie Elephantenbeine zerschmetterten mit Riesenhämmern die<br />

Kuhketten des Weltkapitalismus und germanische Godzillas mähten <strong>das</strong> Getreide mit der Sense oder<br />

stampften barfüßig hinter dem Pflug her, daß die arme Erde bebte. Rotfront verteidigte Sowjetrußland<br />

mit bloßer Faust; Achim Preiss stellte kürzlich fest, daß die Symbole des Kommunismus, Hammer und<br />

Sichel, Werkzeuge von Kleingärtnern und Heimwerkern seien.<br />

Auch in der Sowjetunion wurde die Steinzeit gemalt. Im Bild "Die Bauarbeiter schreiben einen Brief an<br />

Stalin" waren Schaufel und Handsäge <strong>das</strong> einzige Werkzeug im näheren Umkreis. Nicht einmal ein<br />

Hammer stand zur Verfügung. "Die Hand im Haus ersetzt die Axt" hätte Friedrich v. Schiller anläßlich<br />

dieser fatalen Situation getextet.<br />

Arbeit an der Maschine war die bestimmende Arbeit, aber sie wurde nicht dargestellt. Sie transportiert<br />

nicht <strong>das</strong> Bild der kapitalistischen Ausbeutung als Anklage in die Gesellschaft. Dieses Bild erfordert<br />

immer die Darstellung körperlicher Anstrengung und damit die Darstellung vorindustrieller Arbeiten.<br />

Auch die von der kapitalistischen Ausbeutung "befreite" Arbeit wurde nicht immer im Zusammenhang<br />

mit Maschinen dargestellt, da auch hier der Aspekt der Anstrengung fehlt.<br />

Neben dem inhaltlichen kann man die formale Definition des sozialistischen Realismus beleuchten. Er<br />

war formal ein Coctail aus <strong>Romantik</strong> und Realismus, in welchem keine Strohhalme strammstanden,<br />

sondern russische und deutsche Einfaltspinsel.<br />

„Hierbei sollte die Art der Darstellung als Methode dem Realismus entnommen werden, der<br />

positive Geist und die Emotionen hingegen der <strong>Romantik</strong>, und so eine neue, revolutionäre<br />

<strong>Romantik</strong> entstehen. Es wurde auch darauf hingewiesen, <strong>das</strong>s die Wurzeln des sozialistischen<br />

Realismus weniger in der <strong>Romantik</strong> als vielmehr im Klassizismus zu finden seien. In beiden Fällen<br />

wurden alte Formen wiederverwendet um neue, gesellschaftspolitisch konforme Inhalte zu<br />

transportieren, häufig auf triviale Weise.“ 183<br />

Der befohlene sozialistische Realismus von Stalin, Hitler und Ulbricht wurde von den Werktätigen<br />

auch durchaus kritisch beleuchtet. In einem zeitgenössischen Witz hieß es: Der Impressionist malt<br />

was er sieht; der Expressionist malt was er fühlt; der sozialistische Realist malt was er hört.<br />

183 Wikipedia: Sozialistischer Realsimus<br />

129


Die Novemberrevolution und die Nationalversammlung<br />

Der Krieg, wenn er weitergeht, wird weitergehen gegen den Westen allein ...<br />

Mit dem Ausscheiden Rußlands aus der Entente im Frühjahr 1918 waren Frankreich, Großbritannien<br />

und die Vereinigten Staaten als Feinde an der Westfront verblieben. Das Deutsche Reich kämpfte nun<br />

bis zum Waffenstillstand von Compiegne nur noch mit „kapitalistischen“ Feinden; nach dem<br />

Ausscheiden des vorbürgerlichen Russlands aus dem Feindbund wurde in der Wahrnehmung der<br />

deutschen Intellektuellen ein ideologisch noch klarerer umrissener Kampf der idealistischen Kultur mit<br />

dem westlichen Mammonismus und Demokratismus daraus stilisiert.<br />

In den „Betrachtungen eines Unpolitischen“, die 1918 erschienen, als Russland aus dem Krieg schon<br />

ausgeschieden war, schüttete beispielsweise und exemplarisch Thomas Mann seine gelb gewordene<br />

Galle über den wahren Feind der Menschheit aus. Der westlichen Zivilisation stellte er die deutsche<br />

Kultur als Leitbild entgegen: Dem Begriff der deutschen Kultur entsprächen der „Wille zur Macht und<br />

Erdengröße“ sowie „<strong>das</strong> Soldatische“, während „Deutschlands Feind im geistigsten, instinktmäßigsten,<br />

giftigsten, tödlichsten Sinn ... der pazifistische, tugendhafte, republikanische Rhetor-Bourgeois“„ sei.<br />

Dessen Attribute eskortierte Mann allesamt mit Gänsefüßchen, um beim Leser den Verdacht zu<br />

implizieren, <strong>das</strong>s alles Heuchlerei sei. Der deutsche kosmopolitische Bürger der geographischen,<br />

sozialen und seelischen Mitte bleibe Träger deutscher Geistigkeit, Menschlichkeit und Anti-Politik. 184<br />

Wo Thomas Mann und andere von Geistigkeit träumten, da wähnten sich Ökonomen und Philosophen<br />

wie Friedrich Naumann, Edgar Jaffé, Werner Sombart, Johann Plenge und Oswald Spengler im<br />

Reiche des Deutschen Sozialismus, der in Wirklichkeit die vom Mittelalter inspirierte Verzunftung von<br />

Industriestrukturen meinte. Nicht nur in Deutschland erfreute sich der Durchschnittsökonom am knockout<br />

des Kapitalismus; auch auf <strong>das</strong> Ausland wurde diese Sichtweite projiziert: Der Nationalökonom<br />

und Kathedersozialist Lujo Brentano feierte die russische Oktoberrevolution als nationalen Aufstand<br />

gegen <strong>das</strong> anglo-amerikanische Kapital, welches im Ausgleich für russische Schulden<br />

Konzessionsgebiete von der Größe des europäischen Russlands erhalten hätte. 185<br />

Der Friede im Osten war von Deutschland organisiert worden: Lenin durfte durch Deutsches<br />

Staatsgebiet nach Stockholm fahren, um Russland zu erreichen und zu revolutionieren. Mit deutschen<br />

Millionen wurde die bolschewistische Parteipresse zur leistungsfähigsten in Russland gemacht. Im Juli<br />

1917 druckten die Bolschewiki 320.000 Zeitungen täglich. Im Dezember 1917 sollen 15 Millionen<br />

Reichsmark den Weg zum Waffenstillstand von Brest-Litowsk geebnet haben.<br />

Der außenpolitisch immmer bewegliche, um nicht zu sagen umtriebige Kaiser Wilhelm II regte<br />

folgerichtig an, zu untersuchen, ob man mit dem bolschewistischen Russland nicht in ein Bündnis-<br />

oder Freundschaftsverhältnis kommen könne. Genauso tat es sein reformistischer Untertan Thomas<br />

Mann.<br />

„Wenn Seelisches, Geistiges überhaupt als Grundlage und Rechtfertigung machtpolitischer<br />

Bündnisse dienen soll und kann, so gehören Russland und Deutschland zusammen: ihre<br />

Verständigung für jetzt, ihre Verbindung für die Zukunft ist seit den Anfängen des Krieges der<br />

Wunsch und Traum meines Herzens, und mehr als eine Wünschbarkeit: eine weltpolitische<br />

Notwendigkeit wird diese Verständigung und Verbindung sein, falls ... der Zusammenschluß des<br />

Angelsachsentums sich als dauerhaft erweisen sollte.“<br />

Am Tage des Waffenstillstands mit Russland schrieb er:<br />

„Friede mit Russland!, Friede zuerst mit ihm! Und der Krieg, wenn er weitergeht, wird weitergehen<br />

gegen den Westen allein, gegen die , gegen die , die ,<br />

die Politik, den rhetorischen Bourgeois!“ 186<br />

184 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 59<br />

185 Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 129<br />

186 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 139<br />

130


Kundige Zeitgenossen hatten sehr früh eine dunkle Ahnung vom mehr intellektuell-elitaristischen und<br />

weniger proletarisch-marxistischen Charakter der Oktoberrevolution: Im Januar 1918 schrieb Alfons<br />

Paquet, der mit dem bolschwistischen Kommissar Karl Radek im ständigen Gedankenaustausch<br />

stand, in sein Stockholmer Tagebuch, Russland sei ein asiatischer Elefant, geritten von zwei Zürcher<br />

Privatdozenten, Lenin und Trotzki. Ähnlich wie Rudi Dutschke 60 Jahre später sah er den<br />

Bolschwismus als nichts anderes als einen nach Links gewendeten russischen rechtgläubigen<br />

fanatischen Imperialismus. Die Wahrnehmung der intellektuell-elitaristische Seite der revolutionären<br />

Aktivitäten implizierte wie wir im folgenden sehen werden bei vielen elitaristischen Intellektuellen <strong>das</strong><br />

Suchen nach Affinitäten.<br />

Der kaiserliche Legationssekretär im AA, Lersner versicherte der OHL im September 1917, daß die<br />

Bolschewiki-Bewegung ohne unsere stetige weitgehende Unterstützung nie den Umfang hätte<br />

annehmen können, den sie heute besitzt. Alle Anzeichen sprächen für eine weitere Ausdehnung.<br />

Der frühere Redakteur der Frankfurter Zeitung, Gustav Mayer befand sich wie Paquet im Auftrage des<br />

AA in Stockholm, lernte den Kommissar Radek kennen und rühmte „die stärkste geistige<br />

Persönlichkeit, der ich bisher begegnet bin“. Ostjuden und Russen trügen noch weite Flächen<br />

unbebauten Brachlandes in der Seele, dort, wo bei uns jedes Grundstück bebaut und jeder Garten<br />

bestellt sei.<br />

„..sie aber, die <strong>Neue</strong>n, die Jungen, ihnen ist die heutige Welt, an der sie keinen Teil haben, dem<br />

Untergange geweiht. Aus Krieg und Revolution sehen sie die Umrisse einer neuen Welt<br />

auftauchen.“ 187<br />

Arthur Luther äußerte sich ähnlich; daß unser ganzes westeuropäisches Leben eng und klein<br />

gegenüber dem uferlosen russischen Idealismus sei. Die Metaphorik des Zarathustra überwucherte<br />

bei den Jugendbewegten jeden rationalen und vernünftigen Gedanken. Zusätzlich ergötzte man sich<br />

an der antibürgerlichen Aufmachung der Kommissare. Lederhosen, Ziegenbärte, Lederjacken: <strong>das</strong><br />

war 1917/18 Jugendmode. Kommissar Radek trug eine Art Mao-Habit; letzterer führte in seinem Auto<br />

am 6. Juli 1918 eine antibürgerliche Kiste Handgranaten mit sich, als er nach dem Attentat auf den<br />

deutschen Gesandten Graf Mirbach in der deutschen Gesandschaft kondolierte.<br />

Mit dem Brester Frieden schienen die Aussichten Deutschlands auf den Endsieg gestiegen zu sein.<br />

Am 22.03.1918 notierte Paquet in sein Tagebuch, <strong>das</strong>s ein neuer Siebenjähriger Krieg drohe, nur weil<br />

die Kriegsgener ihre Niederlage nicht eingestanden hätten. Es sei ein Krieg der Freimaurerei, der<br />

Verbindung von Kapitalismus und Demokratie, die gegen Deutschland als Kulturstaat gerichtet sei. 188<br />

Immer wieder traf er sich mit Karl Radek, um ihm politische Geheimnisse zu entlocken. Im August<br />

1918 muß sich Radek mehrmals in dem Sinne geäußert haben, <strong>das</strong>s er mit dem deutschen<br />

Imperialismus bzw. der deutschen Kriegspartei zusammenarbeiten würde, ja wenn er nicht auf der<br />

Seite des internationalen Proletariats stünde, würde er für die deutsche Sache kämpfen. 189<br />

Im Oktober gar soll Lenin die Aufstellung von 3 Millionen Rotarmisten befohlen haben, um<br />

Deutschland gegen die Entente zu Hilfe zu kommen. Er entwickelte die biologistische Metapher der<br />

„Zwei Kücken unter einer Schale“, Deutschland und Russland sollten gemeinsam die imperialsitische<br />

Schale zerbrechen, um der pax americana Paroli zu bieten. Dazu hätte es neben der russischen einer<br />

deutschen Anstrengung bedurft. Allein in Deutschland stießen die Vorschläge des Reichskanzlers<br />

Max von Baden und von Walther Rathenau zu einer letzten Generalmobilmachung im Oktober 1918<br />

auf taube Ohren. Ebert, Scheidemann und Noske hatten sich auf einen Waffenstillstand und<br />

Friedenschluß festgelegt, egal zu welchen Bedingungen, gerade auch um den Einfluß Russlands zu<br />

begrenzen.<br />

Exemplarisch für viele andere Intellektuelle sei hier die Reaktion von Alfons Paquet auf die deutsche<br />

Niederlage und auf die ausbleibende elitaristische Revolution dargestellt: Er notierte in sein Tagebuch,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> deutsche Volk es nicht besser verdient habe, als jetzt am Ende eines mit wahnsinnigen<br />

Opfern geführten Krieges als Bettler dazustehn. Es sei unaufrichtiges schielendes Gesindel,<br />

Sklavenmasse, Dickköpfe. Unsere wollten ohne Genie einen Krieg gegen die ganze Welt<br />

gewinnen, nur mit roher Kraft. „Hol sie der Teufel.“ Innerhalb von Stunden waren aus den Helden der<br />

Kulturnation schieläugige Untermenschen geworden. Paquet war fertig mit Deutschland und träumte<br />

187 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 123<br />

188 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 147<br />

189 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 159ff.<br />

131


von der Oktoberrevolution, obwohl er außer einer dreitägigen Marx-Lektüre und hochwertigem<br />

Rotwein bei Radek nie etwas mit der Arbeiterbewegung zu tun gehabt hatte. Den Haß auf England,<br />

den Kapitalismus und die Demokratie konnte man als Sympatisant der Bolschewiki abarbeiten, und<br />

vorerst nicht mehr als deutscher Geistiger. „Nirgends ein klarer Blick und fester Wille“ notierte er in<br />

Berlin. 190 Die vormalige übergroße Verehrung für alles Deutsche schlug von Stund an in Selbsthaß<br />

um, nur um die Fiktionen des , der und des<br />

zu retten. Heinrich Vogeler beispielsweise malte keine „nordischen<br />

Marienbilder“ im Worpsweder Moor, sondern den Kreml als transluzente Kegelpyramide. Käthe<br />

Kollwitz kämpfte nicht mehr um die angemessene Höhe der Vergütung originär deutscher Kunstwerke,<br />

sondern für die KPD. Bertold Brecht waren deutsche Ehre und Würde nicht mehr aller Opfer wert, er<br />

wurde Autor von widerlichen stalinistischen Lehrstücken. Ein Teil der literatischen Koterie übte den in<br />

der KPD generalstabmäßig organisierten Hochverrat, wurde erst Leninist und dann Stalinist, um nur<br />

noch einem zweifellos aristokratisch aufgestellten ausländischen Geheimdienst devot untertan zu<br />

sein. Im Zweifel ließ man sich von dieser Tscheka oder GPU wollüstig zermalmen, wie jene<br />

verblendeten Hindus, welche sich freiwillig unter Juggernautens tonnenschweres blutiges Rad warfen,<br />

um am Straßenrand als Aas liegen zu bleiben. Einige Führer des deutschen Expressionismus endeten<br />

als Eisbärfutter in Sibirien, z. B. Walden und Vogeler, andere überwinterten lieber unversehrt in der<br />

wohlgeheizten Zentrale des erzkapitalistischen Satans, den verhaßten Vereinigten Staaten.<br />

Gerd Koenen hat die Frage bewegt, in welchem Maße und warum sich Alfons Paquet dem<br />

bolschewistischen Russland trotz aller ihm bekannten Greuel immer mehr verbunden fühlte.<br />

„Am offenkundigsten ist der Zusammenhang mit dem Verlauf des Weltkriegs. Paquets Attachement<br />

wuchs in dem Maße, in dem der Stern der deutschen Armeen im Westen sank. Über alle<br />

militärisch-politischen Kalküls hinaus ging es um eine neue Weltteilung, in der die <br />

bürgerlich-kapitalistischen Mächte des Westens einem Block Mächte gegenüberstehen<br />

würden. ... es war klar, <strong>das</strong>s der Krieg, wenn, dann mit ganz neuartigen, eben revolutionären<br />

Methoden weitergeführt werden musste; und <strong>das</strong>s gerade nach einer militärischen Niederlage<br />

neue Wege der und politischen Unterminierung gefunden werden mussten. ...<br />

Dazu passte Paquets Vorstellung von den Bolschewiki als den , einem<br />

verschworenen politisch-militärischen Machtorden mit Zügen einer neuen Aristokratie, der einen<br />

Staat neuen Typs auf einem immensen Territorium mit heterogener Bevölkerung gründete, aber<br />

auch überall sonst auf der Welt zu operieren vermochte. Hatte er in seinen Vorkriegsschriften von<br />

einem als Medium deutscher Weltpolitik geträumt, einem<br />

, der <br />

leben sollte, so schien dieser Weltorden in Gestalt der Bolschewiki und ihrer neuen Internationale<br />

Tat zu werden. ... Erschienen die in seinen Kriegsschriften noch als konservativ,<br />

unbeweglich und als Träger einer überkommenen Despotie, so wirkten sie im Lichte der Revolution<br />

nun ganz anders: . Kurzum,<br />

im Vergleich zu den Nichtrussen und selbst zu den Deutschen erschienen die Russen ihm jetzt als<br />

<strong>das</strong> ungleich leidenschaftlichere, aktivistischere Volk, <strong>das</strong> sich über alle spießerhaften<br />

Eigeninteressen zu erheben vermochte, wo es um Menscheitsfragen ging. 191<br />

Ausreisend aus Russland fabulierte Paquet von „Schönheit der Verwilderung“, „Jubel des<br />

Untergangs“, „anarchischer Geburt des neuen Wesens“. Das verhaßte Zeitalter der Geschäfte sei<br />

wahrhaftig hingemordet.<br />

„Roh und gespenstig bauen sich größte Entwürfe, unsichtbare Türme eines entfesselten idealen<br />

Willens in <strong>das</strong> geräumige Nichts“. 192<br />

Paquet hatte aus dem Zitatenschrein Zarathustras alle abgefahrensten Verheißungen ausgekramert,<br />

als er in <strong>das</strong> besiegte Deutschland zurückfuhr.<br />

Als sich der Trubel der Rätekongresse gelegt hatte, bekannte sich Alfons Paquet immer noch<br />

hartnäckig zu der Doktrin, <strong>das</strong>s die Revolution und nicht der Friede an die Stelle des Krieges treten<br />

werde. So wie Kaffeetrinker in der Not zur Zichorienwurzel als Kaffeeersatz griffen, so wurde die<br />

Revolution für Alfons Paquet wie für viele deutschen Intellektuellen zum Kriegsersatz. Der Weltkrieg<br />

190 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 167ff.<br />

191 Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 185f.<br />

192 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 186f.<br />

132


selbst wurde im Nachhinein neu ausgedeutet: Der russische Bolschwismus sei bereits die Eröffnung<br />

eines allgemeinen Kriegs gegen Mammonismus und Imperialismus, und in erster Linie gegen den<br />

englischen Hyperimperialismus, gegen den der deutsche Imperialismus 1914<br />

vergeblich angetreten sei. Als Kampf gegen den außerordentlich mächtigen und selbstsicheren<br />

Imperialismus und Kapitalismus der Ententeländer wäre der Weltkrieg ein Kampf mit untauglichen<br />

Mitteln gewesen. 193 Die Rolle Deutschlands wurde nicht nur von Paquet, sondern von vielen<br />

ehemaligen Kriegstreibern umgekehrt dargestellt, als bei Kriegsbeginn. Vom uneingeschränkt<br />

idealistischen, antikapitalistischen Widerpart Englands zu einem materialistischen, kapitalistischen<br />

Nachahmer Englands. Diese nachträgliche Systemberichtigung war erforderlich, um die per Definition<br />

erklärte Sieghaftigkeit des Idealismus über den Mammonismus angesichts der deutschen Niederlage<br />

festzuhalten.<br />

Der Nietzsche-Leser wird sich an dieser Stelle an die Ausfälle des Meisters gegen <strong>das</strong> Deutsche<br />

erinnern:<br />

„Soweit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur.“ 194<br />

„Alle großen Cultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen!...Die<br />

Deutschen haben Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten grossen Zeit, der Renaissancezeit<br />

gebracht, in einem Augenblicke, wo eine höhere Ordnung der Werthe, wo die vornehmen zum<br />

Leben ja sagenden, die Zukunft-verbürgenden Werthe am Sitz der entgegengesetzten, der<br />

Niedergangs-Werthe zum Siege gelangt waren – und bis in die Instinkte der dort Sitzenden hinein!<br />

Luther, dieses Verhängnis von Mönch, hat die Kirche, und, was tausend Mal schlimmer ist, <strong>das</strong><br />

Christenthum wiederhergestellt, zum Augenblick, wo es unterlag... Das Christenthum, diese<br />

Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben!“ 195<br />

Genauso wie Nietzsche den Deutschen Luther verübelte, so die Freiheitskriege:<br />

„Die Deutschen haben endlich, als auf der Brücke zwischen zwei décadence-Jahrhunderten eine<br />

force majeure von Genie und Willen sichtbar wurde, stark genug aus Europa eine Einheit, eine<br />

politische und wirtschaftliche Einheit, zum Zwecke der Erdregierung zu schaffen, mit ihren<br />

Europa um den Sinn, um <strong>das</strong> Wunder von Sinn in der Existenz Napoleon´s<br />

gebracht, - sie haben damit Alles, was kam, was heute da ist, auf dem Gewissen, diese<br />

culturwidrigste Krankheit und Unvernunft, die es giebt, den Nationalismus, diese névrose nationale,<br />

an der Europa krank ist, diese Verewigung der Kleinstaaterei Europa´s, der kleinen Politik: Sie<br />

haben Europa selbst um seinen Sinn, um seine Vernunft – sie haben es in eine Sackgasse<br />

gebracht.“ 196<br />

Die Nietzschekenner unter den Intellektuellen konnten also Deutschlands Niederlage leichten Herzens<br />

verkraften, bewegte sich ihr Denken doch in keinem nationalen Gefängnis, sondern vom Anfang an im<br />

Wahn einer Weltherrschaft, die sich nun als Weltherrschaft des internationalen Proletariats offenbarte.<br />

Darum auch die zahlreichen Vergleiche, die Alfons Paquet zukünftig zwischen Napoleon und Karl<br />

Radek konstruieren sollte.<br />

Paquets Charakterisierung der Deutschen als „unaufrichtiges schielendes Gesindel, Sklavenmasse“<br />

könnte ebenfalls direkt durch Nietzsche inspiriert sein:<br />

„Der ist meine schlechte Luft: ich athme schwer in der Nähe dieser Instinkt<br />

gewordnen Unsauberkeit in psychologicis, die jedes Wort, jede Miene eines Deutschen verräth....<br />

Aber Psychologie ist beinahe der Maassstab der Reinlichkeit oder Unreinlichkeit einer Rasse...<br />

Und wenn man nicht einmal reinlich ist, wie sollte man Tiefe haben? Man kommt beim Deutschen,<br />

beinahe wie beim Weibe, niemals auf den Grund, er hat keinen... Das erste, worauf hin ich mir<br />

einen <strong>Menschen</strong> , ist ob er ein Gefühl von Distanz im Leibe hat, ob er überall Rang,<br />

Grad, Ordnung zwischen Mensch und Mensch sieht, ob er distingiert: damit ist man gentilhomme;<br />

in jedem anderen Fall gehört man rettungslos unter den weitherzigen, ach! So gutmüthigen Begriff<br />

193 zitiert aus: Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 211<br />

194 F. Nietzsche, ecce homo, dtv München, 2005, S. 42<br />

195 s.o. S. 116f.<br />

196 s.o. S. 117<br />

133


der canaille. Aber die deutschen sind canaille – ach! Sie sind so gutmüthig... Man erniedrigt sich<br />

durch den Verkehr mit Deutschen: der Deutsche stellt gleich...“ 197<br />

Auf einen weiteren Aspekt ist hinzuweisen: Die säuberliche Trennung zwischen Leninismus,<br />

Rechtsautokratismus und Faschismus hat es erst in der rückwärtsblickenden Perspektive gegeben.<br />

Alfons Paquet beispielsweise unterschied in roten, weißen und schwarzen Bolschewismus, wobei er<br />

unter dem weißen Bolschwismus den der Vegetarier und Pazifisten verstand, unter dem schwarzen<br />

Bolschwismus eine rachsüchtige uniformtragende Variante. Er ließ es offen, ob er die russischen<br />

Schwarzhunderter oder die italienischen Schwarzhemden meinte oder beide. 198 Der Bolschewismus<br />

als Überbegriff sollte wohl den aktivistischen auf die TAT gerichteten Kern der jeweiligen Lehre treffen.<br />

Neben der KPD bildete sich eine weitere widerwärtige Dependance des Bolschewismus, die DDP.<br />

Nicht nur Rathenau schwärmte von Räterußland, auch andere führende Mitglieder bauten ein<br />

bolschewistisches Deutschland als Drohkulisse gegen die Siegermächte auf: Max Weber schlug in der<br />

„Frankfurter Zeitung“ im März 1919 vor, mit Russland eine Interessengemeinschaft zu bilden. Der<br />

ehemalige Kolonialstaatssekretär Dernburg, nun frischgebackener DDP-Abgeordneter in der<br />

Nationalversammlung drohte im „Berliner Tageblatt“:<br />

„Wir können den Damm aufrecht erhalten, aber wir können auch die Schleusen öffnen. ... Kommen<br />

Deutschland aus dem Westen nicht die Hoffnung und die Sicherheit seiner Fortexistenz..., so muß<br />

es entschlossen sein Auge nach Osten richten.“<br />

Hjalmar Schacht als Präsident der Nationalbank träumte im April 1919 vom zukünftigen<br />

Hauptwirtschaftsgebiet Sowjetrußland. Im Februar 1920 insistierte Rathenau im Namen von<br />

deutschen Industriellen gegenüber Reichspräsident Ebert schon wieder für für eine natürliche<br />

Interessengemeinschaft mit Russland und gegen eine Politik des Abwartens. Maximilian Harden<br />

druckte zum selben Zeitpunkt – ein Schelm, der wegen der zeitlichen Nähe zu Rathenaus Aktivität und<br />

der Bekanntschaft zwischen beiden eine koordinierte Aktion vermutet – in seiner Zeitschrift „Zukunft“<br />

ein Plädoyer für den Einsatz deutscher Fachleute als Pioniere der Zusammenarbeit. 199<br />

Diese Drohungen mit einer Bolschewisierung bzw. der engen Anlehnung an Sowjetrußland waren ein<br />

gefährliches Spiel mit dem Feuer. Sie wurden in Ungarn und München in die Tat umgesetzt. Die<br />

ungarischen Kommunisten forderten die deutschen Arbeiter zum endgültigen Bruch mit Paris und zum<br />

Bündnis mit Moskau auf. Letztendlich hatte die Reichsleitung soviel Angst vor der physischen<br />

Vernichtung durch die Bolschewisten, <strong>das</strong>s man die Münchner Räterepublik durch Reichsexekution<br />

möglichst schnell aus der politischen Welt beförderte. Wenn man sich überlegt, <strong>das</strong>s Adolf Hitler im<br />

Winter 1918/19 seinen Dienst als Obergefreiter auf der Münchner Bahnhofskommandantur leistete,<br />

eine sehr vernünftige Entscheidung.<br />

Eine weitere aufschlussreiche Episode der deutsch-sowjetischen Freundschaft spielte sich in der<br />

Berliner Wohnung des Freiherrn von Reibnitz ab. Der Kommissar Radek war nach Liebknechts<br />

Januarputsch im Zuchthaus Moabit festgesetzt worden. Dort verwandelte sich seine Zelle im Laufe<br />

von Monaten in einen diplomatischen Salon. Der Staatsgefangene empfing Walther Rathenau und<br />

Felix Deutsch vom Elektrokonzern AEG, den Herausgeber der „Zukunft“ Maximilian Harden, den<br />

Aktionisten Arthur Holitscher, den Chefredakteur des „Vorwärts“, Friedrich Stampfer, den ehemaligen<br />

Außenminister Admiral von Hintze, die von der Entente gesuchten Jungtürken Enver und Taalat<br />

Pascha, Alfons Paquet und verschiedene KPD-, USPD- und SPD-Größen. Im Dezember 1919<br />

siedelte er mit behördlicher Genehmigung in oben genannte Wohnung des Freiherrn über. Dort stellte<br />

sich als Frühstücksgast Oberst Max Bauer vor, der Erfinder der „Judenzählung“ im Heer 1916 und der<br />

„Dolchstoßlegende“. Im Auftrag der „Nationalen Vereinigung“, eines konspirativen<br />

Zusammenschlusses von Wehrverbänden und Militärs erkundete er die sowjetrussische Haltung zu<br />

einer ostpreußischen Militärrevolte, die als Ludendorff-Lüttwitz-Putsch wenige Wochen später auch<br />

stattfand. Radek schrieb 1926 in seine Erinnerungen, <strong>das</strong>s die Putschoffiziere verstanden hätten,<br />

<strong>das</strong>s Sowjetrußland unbesiegbar sei und Verbündeter Deutschlands im Kampf gegen die Entente. 200<br />

197 s.o. S 119 f.<br />

198 Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 214<br />

199 Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 279f, 286 und 288.<br />

200 Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 281ff.<br />

134


Wann entstand die Republik?<br />

Der Beginn der Weimarer Republik könnte der Zusammentritt der Nationalversammlung am<br />

06.02.1919 sein, es könnte der Wahltag zur Nationalversammlung am 19.01.1919 sein, der Tag des<br />

Waffenstillstands am 11.11.1918 oder der Tag der Ausrufung der Republik am 09.11.1918. Diese<br />

Tage und viele andere auch sind Meilensteine, aber die Weimarer Republik als politische Erscheinung<br />

entstand schleichend und fast unbemerkt im ersten Weltkrieg.<br />

Am 29.07.1917 hatte sich ein interfraktioneller Ausschuß des Reichstages, dem Sozialdemokraten,<br />

Katholiken und Reformisten angehörten, zu einer Friedensresolution durchgerungen: "Der Reichstag<br />

erstrebt einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker. Mit einem<br />

solchen Frieden sind erzwungene Gebietserwerbungen und politische, wirtschaftliche oder finanzielle<br />

Vergewaltigung unvereinbar".<br />

Als eine vergleichbare Geste legte der amerikanische Präsident Wilson dem Kongreß ein 14-Punkte-<br />

Programm vor, der unter anderem die Wiederherstellung Belgiens und Polens sowie die Abtretung<br />

Elsaß-Lothringens an Frankreich vorsah. Eine Kriegsschuldzuweisung und Reparationen wurden im<br />

14-Punkte-Plan nicht erwähnt.<br />

Im März 1918 wurde der Krieg an der Ostfront durch einen Friedensschluß mit den Bolschewiken<br />

beendet. Dieser Friedensschluß wurde in Deutschland als erster Schritt zum Siegfrieden missdeutet<br />

und führte zeitweise und bei bestimmten Bevölkerungsgruppen zu einer politischen Euphorie. Nun<br />

konzentrierte sich der Krieg vor allem auf die Westfront. Im August 1918 erkannte die Oberste<br />

Heeresleitung (OHL) die Aussichtslosigkeit der weiteren Kriegführung. Am 28./29.09.1918 beschloß<br />

die OHL ein Waffenstillstands- und Friedensangebot. Einen Tag später erfolgte der<br />

Parlamentarisierungserlaß, der die Verantwortung für den Staat und <strong>das</strong> Militär aus der Hand des<br />

Kaisers in die des Parlaments legte. Der Grund für diese plötzliche und unerwartete Wendung lag in<br />

der Erkenntnis des Kommandierenden der OHL, Ludendorff: "Der Krieg ist nicht mehr zu gewinnen"<br />

und seiner Folgerung: "Die anderen sollen die Suppe auslöffeln". Die anderen waren die<br />

Sozialdemokraten, Katholiken und gemäßigten Reformisten. Dem feindlichen Ausland sollte eine<br />

demokratische Regierung präsentiert werden, die für den Kriegsausbruch nicht die Verantwortung<br />

trug. Der 30.09.1918 ist der eigentliche Zeitpunkt der Einführung einer parlamentarischen Demokratie.<br />

Den Demokraten wurde durch kaiserliches Patent befohlen, die Macht zu übernehmen.<br />

Die tragenden Kräfte dieser verordneten parlamentarischen Demokratie steckten vom ersten bis zum<br />

letzten Tag der parlamentarischen Demokratie in der Klemme, löffelten die Weltkriegssuppe aus und<br />

machten nicht einmal den Versuch, den Topf umzustoßen.<br />

Politisch entstand die Republik mitten im ersten Weltkrieg auf Befehl der Obersten Heeresleitung. Ihre<br />

politische und kulturelle Wochenstube liegt viel weiter zurück, im Hambacher Fest von 1832, in der<br />

Vormärzbewegung bärtiger Demokraten und der Arbeiterbewegung der Bismarckzeit. Die<br />

Lebensreformbewegungen der Spätkaiserzeit argumentierten dezidiert antidemokratisch und<br />

aristokratisch, also unrepublikanisch. Sehr junge elitaristische Tendenzen hatten in den ersten<br />

Weltkrieg gemündet, viel ältere, fast schon als überlebt empfundene demokratische Impulse führten<br />

zur Geburt der parlamentarischen Weimarer Republik. Das Ansehen der Demokratie befand sich was<br />

die jüngeren Jahrgänge betrifft, im Meinungstief, als die demokratische Verfassung installiert wurde.<br />

Die Arbeiter- und Soldatenräte - <strong>das</strong> Personal der Novemberrevolution<br />

Immer wieder begegnen sich in Revolutionen Leute, die mental in verschiedenen Geschichtsepochen<br />

zu Hause sind. Das zu analysieren macht den revolutionären Reiz aus. Es bezeichnet die<br />

Unterschiede und führt eine allgemeine Revolutionstheorie, die über Gemeinplätze hinausgeht ad<br />

absurdum.<br />

Pruodhon schrieb über die Revolution von 1848, <strong>das</strong>s sie die Revolution der Intellektuellen, der<br />

Professoren, Studenten und Arbeiter gewesen sei; sie wurde von Rechtsanwälten vorbereitet, von<br />

Künstlern ausgeführt, von Novelisten und Poeten geleitet. Diese Wertung ist pointierend zugespitzt;<br />

ganz so schlimm war es natürlich nicht. Der wahre Kern war, <strong>das</strong>s die Revolution gleichzeitig völlig<br />

divergierende Interessen bedienen sollte. Das Interesse der Handwerker nach der Wiederaufrichtung<br />

der Zünfte, der Traum der Industriellen von der Schaffung eines ihren Bedürfnissen angepaßten<br />

Wirtschafts- und Rechtsraums, <strong>das</strong> Streben der Arbeiter nach Organisation in als pressure groups<br />

135


angelegten Gesellenverbänden, der Wunsch der Intellektuellen nach Aufhebung der Zensur und <strong>das</strong><br />

Interesse der Studenten an einem Befreiungskrieg gegen Dänemark. Es passte fast nichts konsistent<br />

zusammen, da verschiedene Zeitalter ihr Recht forderten. Die einen trauerten dem<br />

Reichsdeputionshauptschluß hinterher, die anderen wollten ihre Industrieprodukte national als<br />

Massenware verkaufen, die einen wollten die französischen Ideale von Freiheit, Gleichheit und<br />

Brüderlichkeit importieren, die anderen befreiten Schleswig von der Fremdherrschaft. Es paßte wie<br />

gesagt fast nichts zusammen und so verlief man sich, nachdem man sich kennengelernt hatte.<br />

Erfolgreiche Helden hat diese Revolution in Deutschland nicht produziert, höchstens ein paar Märtyrer<br />

und zahlreiche Emigranten. Der glücklichste 48er war Carl Schurz, der in Amerika Staatssekretär<br />

wurde, Friedrich Engels wurde ebenfalls mit Sitz im Ausland ein angesehener Publizist.<br />

Auch die Revolution von 1989 versammelte in den verschiedensten Gruppierungen ein Sammelsurium<br />

von Ideen, Überzeugungen, Erfahrungen und divergierenden Interessen. Einheitsgegner und<br />

Einheitsbefürworter, Planwirtschaftler und Marktwirtschaftler, bärtige Sandalenträger und geleckte<br />

Ostberliner Rechtsanwälte mit Pilotenkoffern, FrauenrechtlerInnen und lüsterne Männer, die endlich<br />

einen Blick ins St. Pauli-Magazin werfen wollten, Vegetarier und Werktätige aus der Tierproduktion,<br />

Schriftsteller, die ihr Monopol auf Westreisen verteidigten und Handwerker, die einmal einen Baumarkt<br />

von innen sehen wollten, Musiker, die sich im gesamtdeutschen Markt kein Echo mehr erhoffen<br />

durften und Rentner, die von Westmedikamenten ein längeres Leben erwarteten. Es war kaum zu<br />

glauben: vom völkischen Zivilisationspessimisten über den Nationalsozialisten bis zum Trotzkisten<br />

hatten alle Ideologien die DDR überlebt, wahrscheinlich wie in einem Weckglas nach Konservierung<br />

unter Luftabschluß. Man lernte sich kennen, und lief nicht auseinander, weil Helmut Kohl und Hans-<br />

Dietrich Genscher die Leitung der revolutionären Angelegenheit übernommen hatten. Charakteristisch<br />

war, <strong>das</strong>s die Revolutionsteilnehmer die dreißig deutlich überschritten hatten. Studenten, Schüler und<br />

Soldaten suchte man in den Revolutionsgruppen vergeblich, in den Demonstrationen liefen<br />

wenigstens die Lehrlinge und Fußballfreunde von den berühmt-berüchtigten Stehplätzen in den<br />

Trommlerkurven voran. In der revolutionären Stimmung liefen insbesondere im <strong>Neue</strong>n Forum und im<br />

Demokratischen Aufbruch, aber auch in der SDP aus jedem ideologischen Dorf die Hunde zusammen.<br />

Bei Ein-Themen-Bewegungen - und die USPD war hinsichtlich der Kriegskreditverweigerung genauso<br />

eine solche wie <strong>das</strong> <strong>Neue</strong> Forum hinsichtlich der Brechung des Machtmonopols der SED - ist die<br />

Kohäsion spätestens dann aufgehoben, wenn <strong>das</strong> Ziel erreicht wird. 1918 und 1990 hatten die<br />

politischen Elfen die jeweiligen Wünsche in Erfüllung gehen lassen und die Mitglieder der<br />

Wunschvereine zerstreuten sich in verschiedene Richtungen. Auffällig ist bei revolutionären Ein-<br />

Themen-Bewegungen der Anteil von politikunfähigen Träumern, querulantischen Zauderern,<br />

fanatischen Besserwissern und sektiererischen Reißbrettpolitikern. Über Weltkatastrophen und<br />

Heilungskonzepte wissen sie theoretisch fast immer sehr viel; in der Praxis ist es ihnen zu mühsam<br />

den Gemeinderat davon zu überzeugen, ein sinnloses Verkehrsschild in einer Nebengasse zu<br />

entfernen. Das ist die intellektuelle Abneigung gegen Kleinarbeit. Ohne diese ist man jedoch<br />

politikunfähig, weil alle großen Resultate in kleinen Schritten erkämpft werden.<br />

Die deutsche Novemberrevolution war kein politischer, kein kultureller und kein ökonomischer Bruch,<br />

sondern nur ein Abschaffen des Kaisers. Das Auswechseln der Regierungsform hatte bereits im<br />

Frühherbst 1918 stattgefunden. Die Novemberrevolution nahm auf die kulturelle Reformbewegung der<br />

Jahrhundertwende keinen Bezug, sie ignorierte den stürmischen Aufbruch der Jugend zur Sonne und<br />

zu neuen Ufern. Normale Revolutionen wurden durch eine Kulturrevolution vorbereitet. Das war vor<br />

1789 in Frankreich so, <strong>das</strong> war auch vor 1989 in Osteuropa noch so. Die Novemberrevolution erfüllte<br />

mit der Einführung der Republik eine liberale Forderung von 1848, sie erfüllte mit dem 8-Stunden-Tag<br />

eine sozialdemokratische Forderung der 60er Jahre des vorhergehenden Jahrhunderts. Und sie<br />

erfüllte mit dem Frauenwahlrecht eine Forderung August Bebels aus dem Bestseller "Die Frau und der<br />

Sozialismus". Die mit dem allgemeinen Wahlrecht verbundene parlamentarische Demokratie<br />

widersprach jedoch geradezu der avantgardistischen Haltung der Reformkräfte der Spätkaiserzeit, die<br />

am liebsten eine Erziehungsdiktatur entweder als okkulte Priesterherrschaft, als Herrschaft der<br />

Geistigen oder als Diktatur des Proletariats errichtet hätten. Insofern lief die Weimarer Republik als<br />

parlamentarisches und demokratisches Projekt der vorhergehenden elitären jugendbündlerischen<br />

Kulturwende geradezu zuwider. Wehler bemerkt durchaus zutreffend, daß die Novemberrevolution<br />

ohne studentische Mitwirkung stattfand, in den Freikorps seien die Studenten dagegen zahlreich<br />

vertreten gewesen. 201 Bezeichnenderweise hielten sich Studenten auch von der Revolution von 1989<br />

fern, mit der die nietzscheanische Erziehungsdiktatur endgültig zu Grabe getragen wurde.<br />

Hermann Hesse brachte <strong>das</strong> Nachkriegsgefühl im Demian auf den Punkt:<br />

201 Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, C. H. Beck, München, 2003, S. 466<br />

136


„Ich hatte meinen ganzen Tag für mich, wohnte still und schön in altem Gemäuer vor der Stadt und<br />

hatte auf meinem Tisch ein paar Bände Nietzsche liegen.“<br />

Kulturell und wirtschaftlich wurde nach dem Ersten Weltkrieg <strong>das</strong> fortgeführt, was vor dem Krieg<br />

begonnen hatte: elitäre, antidemokratische und diktatorische Strukturen triumphierten in den Medien,<br />

im Kulturbetrieb und in der Wirtschaft. Insofern ist die Weimarer Republik keine gesonderte Epoche,<br />

sondern sie fügt sich in <strong>das</strong> Vorher und Nachher widerstandslos und nahtlos ein. Die Änderung der<br />

Regierungsform in eine parlamentarische war nicht nur kulturell, sondern auch in Bezug auf die<br />

Wirtschaftsverfassung ein Anachronismus. Die verzunftete Vorkriegs-, Kriegs- und<br />

Nachkriegswirtschaft wäre mit dem Kaiserreich besser klargekommen, und sie sollte zukünftig mit<br />

dem Nationalsozialismus besser harmonieren, als mit einer parlamentarischen Republik. Es wird<br />

immer behauptet, die Revolution von 1918 wäre verspätet gewesen: Hätte sie rechtzeitig vor Friedrich<br />

Nietzsche und Friedrich Naumann stattgefunden, zu Lebzeiten von Friedrich Engels? Auch vor<br />

Nietzsche und Naumann, vor der elitaristischen Kulturrevolution, hätte sie sich mit dem<br />

Romantizismus und seinem ökonomischen Fundament, dem ständegesellschaftlichen Überhang, den<br />

umfangreichen Überbleibseln des korporatistischen Mittelalters auseinandersetzten müssen, und wäre<br />

an diesen "Resten" mit hoher Wahrscheinlichkeit gescheitert oder auf <strong>das</strong> Maß an Zielen<br />

zurechtgestutzt worden, welches sich mit den Tricks des tapferen Schneiderleins erreichen ließ.<br />

Ein grelles Schlaglicht auf den ideologischen Zustand der USPD und der links von der<br />

Sozialdemokratie stehenden Revolutionäre wirft die Münchner Räterepublik. Noch heute ist<br />

Schwabing der ungläubigste bayrische Wahlkreis. Nach dem Ersten Weltkrieg war fast ganz München<br />

ein einziges Schwabing. Das reformistische USPD-Mitglied Kurt Eisner, ein Student von Kant und<br />

Nietzsche, bärtiger Theaterkritiker der "Münchner Post" wurde Ministerpräsident der Räterepublik. Die<br />

Münchner wurden von glühenden Reden vom Reich des Lichts, der Schönheit und der Vernunft<br />

genervt, sie antworteten mit dem Spottlied "Revoluzilazilizilazi hollaradium, alls drah ma um, alls kehr<br />

ma um, alls scheiß ma um, bum, bum!" Thomas Mann schrieb am 16. November 1919 in sein<br />

Tagebuch:<br />

„Der eigentliche Proletarier-Terrorismus droht. (...) Andererseits Progrom-Stimmung in München,<br />

Widersetzlichkeit gegen <strong>das</strong> Judenregiment.“<br />

Bei den Parlamentswahlen im Januar 1919 erlitt die USPD eine vernichtende Niederlage. Als Eisner<br />

gerade im Begriff war zurückzutreten, wurde er vom Grafen Arco-Valley ermordet. Nach Eisners Tod<br />

errichtete der Zentralrat unter dem Sozialdemokraten und späteren Nationalbolschewisten Ernst<br />

Niekisch eine Diktatur, bis der anarchistische Schriftsteller und Schwärmer Erich Mühsam sowie der<br />

expressionistische Kriegsverherrlichungsliterat Ernst Toller die Welt per Erlaß in eine Wiese voller<br />

Blumen, in der jeder sein Teil pflücken könne verwandelten.<br />

Sie befahlen den Zeitungen auf der Titelseite Gedichte von Hölderlin und Schiller zu publizieren,<br />

neben den neuesten Revolutionsdekreten. Mühsams politischer Beitrag beschränkte sich im<br />

wesentlichen darauf, unter dem Titel „Der Lampenputzer“ die Mehrheitssozialdemokraten zu<br />

attackieren.<br />

Der revolutionäre Außenminister Dr. Franz Lipp schrieb ein Telegramm an den „Genossen Papst,<br />

Peter-Kathedrale, Rom“, in welchem er den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoffmann<br />

beschuldigte, mit den Schlüsseln zur Toilette durchgebrannt zu sein. 202<br />

Nach dem durch diese kindischen und schöngeistigen Eskapaden provozierten Rücktritt von Niekisch<br />

und den meisten Ministern ergriff im entstandenen geistigen und personellen Vakuum auf Geheiß<br />

Moskaus eine Gruppe von elitaristischen Berufsrevolutionären um Max Lewien, Eugen Leviné und<br />

Paul Borissowitsch Axelrod, die letzteren beiden russische Geheimagenten, die Macht.<br />

Beschlagnahmekommissionen, Geiselverhaftungen, Geiselerschießungen, revolutionäre Willkür und<br />

der Hunger gewannen die Oberhand. 203 Von expressionistischen Bohèmiens bis zu leninistischen<br />

Berufsrevolutionären war nacheinander alles, was die Lebensreform ausgebrütet hatte, als<br />

heterodoxes Allerlei an die Hebel der Münchner Ohnmacht geraten. Fast überflüssig zu erwähnen,<br />

daß sich der Gefreite Adolf Hitler der Roten Armee unterstellte, Quartier in der Kaserne in<br />

Oberwiesenfeld nahm und bis zu seiner Verhaftung durch <strong>das</strong> in München einrückende Freikorps Epp<br />

202 Gordon A. Craig, Germany 1866 bis 1945, Oxford University Press 1981,übersetzt von Jörg Fröse<br />

203 J. Fest: Hitler, Ullstein, S. 169 ff.<br />

137


Träger der roten Armbinde war. 204 Er ließ sich mehrfach zu einem der Vertrauensleute seines<br />

Regiments wählen. Ein Foto aus dieser Zeit zeigt Hitler im Trauerzug für den ermordeten Kurt<br />

Eisner. 205 Hunderte Revolutionsteilnehmer wurden bei der Wiederherstellung der Ordnung in<br />

überschießendem Eifer erschossen, Hitler überlebte. Vor diesem Hintergrund erscheint die<br />

Räterepublik im Gegensatz zur politischen Klasse der frühen Weimarer Republik als konzentrierter<br />

Ausfluß der Reform- und Jugendbewegung. Elitarismus, Expressionismus, Vagabundismus waren die<br />

Bausteine und <strong>das</strong> faszinierende und eigentlich logische ist: die durch die Spätkaiserzeit vorgeprägten<br />

Massen folgten den amorphen Ideen der Revolutionsführer eine Weile lang. Zumindest einige<br />

Augenblicke lang, solange es nicht lästig wurde, erschien dem Volk die bunte Republik als ein<br />

natürliches Glied in der geschichtlichen Abfolge. Ein weiteres Zufallsfoto zeigt Adolf Hitler im Winter<br />

1919 als Teilnehmer einer revolutionären Versammlung. Links und Rechts hatten sich nicht wirklich<br />

geschieden, gerade in der Revolution zeichnet die simple Links-Rechts-Schablone kein zutreffendes<br />

Lagerpanorama. Die Räterepublik stand unter dem unausgesprochenen Motto: „Elitaristen aller<br />

Länder, vereinigt Euch!“<br />

Der harte gewerkschaftlich organisierte Kern der SPD blieb explizit elitaristischen Überzeugungen<br />

unzugänglich, am intellektuellen Rand bröckelte die Führung wie auch die Basis. Neben<br />

Parteiintellektuellen wurden beim Auseinanderbrechen der SPD auch viele Arbeiter zur USPD und<br />

KPD mitgerissen. Viele Mitglieder der frühen KPD waren vorher Mitglieder der SPD gewesen.<br />

Thälmann trat 1903 in die SPD ein, 1918 in die USPD und 1920 in die KPD. Wilhelm Pieck war seit<br />

1895 SPD-Mitglied, 1916 USPD- und Spartacus-Mitglied, 1918 erfolgte der KPD-Beitritt. Franz<br />

Dahlem war seit 1910 in der SPD aktiv, seit 1917 Mitglied der USPD und seit 1920 der KPD. Die<br />

Aufzählung ließe sich umfangreich erweitern. Personell läßt sich eine Genese der KPD aus der SPD<br />

herleiten, ideologisch kam es zwischen 1900 und 1920 zu einem Paradigmenwechsel auf beiden<br />

SPD-Flügeln. Der eine wurde egalitär-revisionistisch und ließ sich auf <strong>das</strong> parlamentarische System<br />

ein, der andere elitaristisch und antiparlamentarisch.<br />

Der Übertritt von der SPD zur USPD war ein Massenphänomen; wie man an den obigen Namen sieht,<br />

waren auch viele Arbeiter unter den Überläufern. Ein besonders interessantes Phänomen ist jedoch,<br />

<strong>das</strong>s fast alle Parteiintellektuellen zu den Unabhängigen übertraten, während die gewerkschaftsnahen<br />

„Ökonomisten“ in der SPD verblieben. Zu den zur USPD übergetretenen Intellektuellen gehörten Karl<br />

Kautsky, der 1920 von Lenin heruntergeputzt wurde 206 , Eduard Bernstein, der 1920 aus der USPD<br />

ausgeschlossen wurde und wieder in die SPD eintrat, Rudolf Breitscheid, der ebenfalls zur SPD<br />

zurückkehrte, der Theaterkritiker Kurt Eisner, Rosa Luxemburg, die zu den Spartakisten abdriftete und<br />

Georg Ledebour. Letzterer brachte es zum Vorsitzenden der USPD.<br />

Auch nach der Abspaltung der USPD/KPD kam es nicht zu einer wirklich tiefgreifenden Abgrenzung<br />

der SPD von stark reformistischen Einflüssen. Es war, als entstünden im Reagenzglas der Partei<br />

durch Urzeugung immer neue Ungeheuer: Der „Hofgeismarer Kreis“ des Nationalbolschewisten Ernst<br />

Niekisch entwickelte nach 1923 schwärmerisch-phantastische Ideen von der Neugeburt der deutschen<br />

Nation und des Reiches aus dem „Geist von Potsdam“. August Bebel, der erklärtermaßen keinen<br />

Mann und keinen Groschen für <strong>das</strong> Potsdamer System hergeben wollte, hätte sich im Grabe<br />

herumgedreht. Gestützt auf die „Aristokratie der Arbeit“ sollten die Klassen durch die wahrhaft<br />

nationale Volksgemeinschaft vernichtet werden. Das Rebellentum gegen den „Geist von Locarno“<br />

müsse erweckt werden, die Zurückeroberung einer großen einflussreichen Weltstellung sei <strong>das</strong> Ziel.<br />

Niekisch wurde nicht ausgeschlossen, sondern verließ 1926 die SPD auf eigenen Wunsch.<br />

Wir hatten eben die sehr unterschiedlichen Temperamente der Münchner Räterepublikaner erwähnt.<br />

Eisner, Mühsam, Dr. Lipp, Gesell, Axelrod, Hitler, Niekisch, Lewien und Toller verband nur eine sehr<br />

verschwommene Vorstellung vom neuen <strong>Menschen</strong> und einer neuen Zeit und der Wunsch in diese<br />

neue Menschheitsperiode einzutauchen. Wenn man letzteres nicht versteht, so versteht man weder<br />

die Novemberrevolution noch die Weimarer Republik. Die von der Front und von den Schlachtschiffen<br />

nach Hause strebenden Soldaten waren naturgemäß soziologisch zusammengewürfelt und 18 bis<br />

etwa 50 Jahre alt. Diese männliche Jugend kam nun nachdem sie des langen Kriegs müde geworden,<br />

auf dem Wege nach Hause an einer Revolution von Literaten, Theaterkritikern, Malern und Poeten<br />

vorbei. Die Hoffnung dieser Kunstbeflissenen: Vielleicht ließ sich neben Russland wenigstens<br />

Deutschland auf den Pfad des Idealismus, einer ganzheitlichen geistigen Gesellschaft trimmen, wenn<br />

dieser Versuch auch zunächst militärisch gescheitert war.<br />

204 J. Fest: Hitler, Ullstein, S. 136<br />

205 www.LEX.donk.de: Adolf Hitler<br />

206 In der Schrift: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky<br />

138


Es war sehr merkwürdig: Max Beckmann malte am Jahreswechsel 1918/19 <strong>das</strong> Bild „Die Nacht“, in<br />

welchem eine Familie in ihrer Wohnung Besuch von drei Mördern erhält. Er kommentierte, <strong>das</strong>s man<br />

über dem Gegenständlichen <strong>das</strong> Metaphysische nicht vergessen solle. Es handelte sich um eine<br />

bemerkenswert gedämpfte Revolutionsstimmung. Der rechte Mörder trägt übrigens Leninmütze und -<br />

bart. Mord offensichtlich nicht aus materiellen Motiven, sondern aus Spaß an der Freude.<br />

Vernünftige Analytiker hätten sich natürlich gefragt, ob vielleicht alles mit der Vorkriegsideologie<br />

gestimmt hätte, ob der deutsche Weg nicht manchmal gescheitert sei, weil er historisch unmodern und<br />

kulturell wie wirtschaftlich minderwertig war. Aber es waren keine Analytiker, es waren<br />

Vulgäridealisten, die wie Roboter bei ihrer Programmierung blieben. Wenn der Krieg verloren war, so<br />

lag <strong>das</strong> nicht an einer falschen Theorie, sondern an der schlechten Umsetzung in der Praxis. Gerade<br />

konservative Ideologen waren begeistert über den Zusammenbruch eines Regimes, <strong>das</strong> nicht<br />

idealistisch genug gewesen war, um echten Konservatismus zu verkörpern.<br />

Die Vertreter der Jugendbewegung sowie die an der Front mit ihnen in Berührung gekommenen<br />

Jungbauern und Handelsgehilfen trafen auf die von der SPD abgesplitterten Intellektuellen, die sich in<br />

der USPD versammelt hatten, marxistisch orientierte sozialdemokratische Arbeiter und<br />

Gewerkschafter sowie ein Häuflein Spartakisten. Karl Liebknecht, Muck Lamberty, Kurt Eisner, Emil<br />

Nolde, Friedrich Ebert, Mario Gesell, Paul Borissowitsch Axelrod, Heinrich Freisler, Philipp<br />

Scheidemann, Lujo Brentano, Rosa Luxemburg, Adolf Hitler, Heinrich Mann, Hugo Haase und Karl<br />

Radek gehörten alle zum Personal der Revolution; sofort und auch auf Dauer hatten sie nicht nur<br />

gemeinsame, sondern im Detail auch unterschiedliche Prägungen und Vorstellungen.<br />

Die Revolution musste sehr schnell gehen, denn die Massen waren auf dem Weg nach Hause. 14<br />

Divisionen des Feldheers lösten sich nach Berlin einmarschiert innerhalb von nur 2 Tagen bis auf 800<br />

Mann auf. Hartnäckig wurden die Arbeiter- und Soldatenräte von den Heidenpriestern des Marxismus-<br />

Leninismus als proletarische Massenbewegung gepriesen. Wenn aber der leninistische Geist die<br />

Frontrückkehrer ergriffen hatte, warum liefen die Räte so schnell auseinander, wie sie<br />

zusammengeströmt waren? Wodurch war die geringe Halbwertszeit der revolutionären Isotopen<br />

bedingt?<br />

Es waren in der Masse eben keine marxistischen Proletarier, die sich zum Klassenkampf mit einem<br />

Generalstreik für bessere Lebensbedingungen formierten, denn die Forderungen nach Einführung der<br />

Republik, dem 8-Stunden-Tag, der Anerkennung der Gewerkschaften und dem Frauenwahlrecht<br />

waren in den ersten 14 Revolutionstagen alle erreicht.<br />

Nicht zuletzt trafen in den Arbeiter- und Soldatenräten auch die Fraktionen der Reformbewegung<br />

aufeinander. Eine Ahnung von den Ursachen der Kurzatmigkeit der Revolution erhält man, wenn man<br />

in Biografien und Verlautbarungen stöbert: Muck Lamberty, Johannes R. Becher und Hugo Ball haben<br />

die Revolutionsstimmung in Flugblättern, Gedichten und Stücken sowie einer Broschüre gerinnen<br />

lassen.<br />

Kriegsende und Revolution erlebte Lamberty im Lazarett. In der Revolution sah er eine Chance zur<br />

Verjüngung und Erneuerung des deutschen Volkes. Er war begeistert und wollte <strong>das</strong> Werden der<br />

Volksgemeinschaft mitgestalten. Muck gab sein Erspartes für den Druck von Flugblättern aus. Im<br />

Soldatenrat fehlte ihm die Solidarität unter den Revolutionären. Muck wendet sich von den<br />

konservativen und sozialistischen Kontrahenten ab. 207 In seinem Flugblatt an die Freideutschen griff er<br />

viele zeitgenössische reformistisch geprägte Vorstellungen auf:<br />

"... Wir sind uns über <strong>das</strong> Wesen der geistig Alten schon lange klar und hoffen unter den vielen<br />

lebendigen Deutschen der anderen Gemeinschaften, Freunde zu finden. - Es wird ein frisches<br />

Ringen sein mit den Altnaturen, die ihre Interessen und den Wert des <strong>Menschen</strong> erst in zweiter<br />

Linie stellen.<br />

Die zuschauenden Altdingsnaturen und die 'Bürgerlichen' sie haben kein Heimatschwingen, haben<br />

kein junges Klingen mehr im Blute. Sie sind von den Ereignissen überrascht worden; fast scheints,<br />

als ob sie den Kopf verloren haben. Sie waren am Tage des Umsturzes nicht zur Stelle, sie waren<br />

nicht unter den Soldatenräten, standen nicht vor der großen Schaar der Unzufriedenen, weil sie die<br />

Revolution fürchteten als eine Parteisache der Unzufriedenen und Gewalttätigen. Sie wußten ja<br />

nicht, daß so viele junge deutsche Gemeinschaften schon lange die Auseinandersetzung mit den<br />

207 Ulrich Linse, Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre, 1986, S. 113<br />

139


starren Formen wünschten. Die Alten nahmen die Revolution - <strong>das</strong> Jüngerwerden, als eine<br />

unbequeme Erscheinung; wurden sie doch in ihrer Behaglichkeit gestört. Mit guter Miene fügten sie<br />

sich und glauben noch immer, daß alles so bliebe. Auch ihr jetziger Ruf nach Nationalversammlung<br />

entspricht nicht immer dem Willen, Gerechtigkeit in allen Dingen zu schaffen; sie haben oft nicht<br />

den Mut, die kleinlichen Interessen aufzugeben, den <strong>Menschen</strong> und <strong>das</strong> Werk wieder an erster<br />

Stelle zu setzen.<br />

... Schon schauen die echten <strong>Menschen</strong> nach neuen Männern aus, nach jungen heimatstarken<br />

Mannen, zu denen sie Vertrauen haben können. Und wir jungen Heimatsucher, Heimatgestalter,<br />

und -Erhalter müssen zur Stelle sein, um in dieser Stunde vorzuschnellen, anzutreten als eine<br />

Gemeinschaft von Führern aller aufsteigenden, verjüngenden Ideen der Heimatgenesung; einer<br />

aus dem Boden, unserer Art, aufsteigenden Kultur.<br />

... Aller innere Hader in den vielen Zeitschriften unserer Bewegung muß den neuen Aufgaben<br />

weichen. Wir stehen im neuen Kriege - die geistigen Kämpfe werden geschlagen, von den Alten<br />

mit dem Gift der Berechnung und scheinbaren <strong>Menschen</strong>liebe, von den Jungen mit der Glut zur<br />

Heimat und mit dem vollem Herzen.<br />

Weil wir anspruchslos sind, - sind wir stark. Kein wirtschaftliches Durcheinander kann uns<br />

kommen, da wir der Sache uns hingeben. Ein Weiterwachsen wird sein, ein Aufsteigen des jungen<br />

deutschen Volkes, und, hoffen wir, ein Gleichklang mit den vielen jungen Bestrebungen in den<br />

anderen Ländern, mit denen wir bereits vor dem Kanonenmessen in Fühlung standen. Dann erst<br />

kann für Europa die Grundlage für eine neue Kulturstufe gelegt werden.<br />

Lernen wir erkennen, daß sich jetzt die Jungnaturen als eine Tatgemeinschaft zeigen können; als<br />

eine Gemeinschaft, die Lebenskraft aus den Wellen der Heimat gewann, die aus sich schafft,<br />

Opfer bringen kann, keine Not fürchtet und gewillt ist, alles in den Dienst der Heimatgenesung zu<br />

stellen. In mir ist ein feines Klingen mit den alten hungernden Bachanten vor 1914. Ueberall in<br />

deutschen Landen trafen wir diese jungen rotbackigen Denker. In Deutschland, Oesterreich,<br />

Schweiz, Holland, Nordstaaten usw. Kommt auf den Hohen Meißner wieder. Laßt uns dort aus der<br />

Not der Zeit heraus den<br />

Bund der Freideutschen<br />

zur Volksgemeinschaft erweitern.<br />

.... Umschaffung der Geistesgemeinschaften. Umwertung des Bildungswesens - Volkserziehung -<br />

Volkshochschulen - Volksfeste - Volksspiele - Pflege der Sitten - Lieder - Tanzspiele.<br />

Schaffung von Volkslesehallen aus dem Volksleben heraus.<br />

<strong>Neue</strong>s Studententum - Studentengemeinschaften - Studentenheime auf genossenschaft-licher<br />

Grundlage. Verjüngung der Universität - Wenn notwendig durch eine geistige Revolution.<br />

Wirtschaftliche Neubegriffe.<br />

Siedlungswesen - bedingte Freigabe von Land für lebenskräftige <strong>Menschen</strong> - Bildung von<br />

Künstlergenossenschaften mit Umwertungstellen-Betriebstellen - Handwerker-Landge-meinden zur<br />

Belebung des Handwerks als Wertarbeit.<br />

Landheime als Hort des Geisteslebens - Landbüchereien für den Handwerker – Landgenossenschaften.<br />

Aufgaben während der Soldatenzeit - Die Kaserne als Bildungstätte - Der Soldat als Heimatsucher<br />

- Heimaterkenner - Heimatbildner - Heimaterhalter - Soldatenbüchereien - Lehrkurse.<br />

Neubildung des Offizierslebens - Abschaffung der Kaste als solche - Beispielerziehung.<br />

Die Berufsfrage - Die Dinge dürfen nicht wieder die Seele des <strong>Menschen</strong> erfassen, der Mensch<br />

muß über die Dinge stehen.<br />

Duldung kleiner religiöser Gemeinschaften - freireligiöse Prediger.<br />

Bankwesen - bedingte Auflösung der Anleihen. Sie sollen <strong>das</strong> Junge nicht allzusehr hemmen.<br />

Umgestaltung des Auslands-Dienstes - Beziehungen zu den jungen Bestrebungen in den anderen<br />

Völkern - Fortsetzung der Wanderungen in den anderen Ländern zum gegenseitigen Kennenlernen<br />

- Andere Wertung als durch Kanonen und Gas.<br />

Zusammenfassung der Lebensreform - Körperkultur - Aufklärung - als Grundbau der kommenden<br />

Gemeinschaft.<br />

... Die Gedanken liegen in der Zeit. Der Bund ist nicht klein. Von den starren Formen der Parteien<br />

haben wir Jungen genug. Tragen wir jetzt frisch und mutig unsere Gedanken zu den Suchenden;<br />

durch Vorträge, durch Aussprachen, fischen wir die Besten und Lebendigsten durch Aussprachen<br />

in den großen 'Onkel'- und 'Tanten'-Versammlungen. Zeigen wir den Werteschaffenden unsere Art<br />

zu leben, zu sinnen und zu bilden. Lassen wir aus innerer Wahrhaftigkeit den <strong>Menschen</strong>, in Treue<br />

zur Heimat, werden.<br />

Haben wir uns getroffen, so treten wir mit klarem Willen an die Regierung heran. Wir werden<br />

beweisen, daß wir es ernst meinen mit unserer Aufgabe, Gut und Blut dafür einzusetzen gewillt<br />

140


sind. Man wird unsern gerechten Sinn achten und uns als eine Schar willkommen heißen, zum<br />

Neubau unseres Volkstums. Muck" 208<br />

Lambertys Vorstellungswelt war viel weniger durch Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg geprägt, viel<br />

stärker durch den Hohen Meißner. Es ging ihm nicht um eine politische, sondern eine Kulturrevolution.<br />

Ein anderes Beispiel für diese idealistische Aufbruchsstimmung lieferte Johannes R. Becher. Er<br />

schloß sich wie viele Expressionisten der neu gegründeten KPD an, ohne eine konsequent<br />

marxistische Herangehensweise an die Nöte der Arbeiterklasse zu entwickeln. Eher war sein Gestus<br />

expressionistisch-pseudoreligiös. Auf Hiddensee schrieb er <strong>das</strong> Festspiel<br />

„Arbeiter, Bauern, Soldaten – der Aufbruch eines Volkes zu Gott“. „Wandelt euch, zerschlagt eure<br />

Götzen, brecht, Sklaven, auf aus der Wüste, aus trüber Verlassenheit eigener Knechtschaft.“<br />

Gerd Koenen hat den Weg Bechers vom schwärmerischen Germanophilen zum Kommunisten<br />

nachgespürt: 1914 hatte Becher patriotische Kleist-Hymnen verfasst, in denen Preußen verklärt<br />

wurde, 1916 drechselte er an Dostojewski-Hymnen, 1917 phantasierte er bereits von Aljoscha, der<br />

Gott tötet, und sich über ihn setzt; der der Armut Land und Hermelin reicht. 1919 war es endlich so<br />

weit, <strong>das</strong>s er den „Gruß des deutschen Dichters an die russische föderative Sowjet-Republik“<br />

verfasste:<br />

Der Dichter grüßt dich -: Sowjet-Republik.<br />

Zertrümmert westliche Demokratien!<br />

Schon sternt ein Beil ob Albions Stier-Genick.<br />

Dein Sieg, oh Frankreich, muß dich niederziehn!<br />

Der Haß auf den Kapitalismus und die Demokratie war die Konstante im Leben Bechers, die<br />

Verkleidung dieses Hasses wurde in einem Umdenkungsprozeß gewechselt. Nachdem Deutschland<br />

als Speerspitze des Kampfes gegen den Westen versagt hatte, wurde ohne zu zögern auf Russland<br />

gesetzt.<br />

Hugo Ball war 1915 nach Zürich emigriert, um sich der Wehrpflicht zu entziehen und war im Kabarett<br />

Voltaire 1916 zum Vater des Dadaismus geworden. Etwa 1918 schrieb er die Broschüre „Zur Kritik der<br />

deutschen Intelligenz“, die Anfang 1919 erschien und den „Führern der moralischen Revolution“<br />

gewidmet war.<br />

Bereits der Titel ließ erahnen, <strong>das</strong>s keine politische, sondern eine moralische Revolution auf der<br />

Tagesordnung stünde. Die ganze Studie wirkt vom logischen Aufbau etwa so, als wäre sie auf ihre<br />

Schlussfolgerung hingeschrieben worden, denn der rote Faden von der Diagnose zum Rezept weist<br />

zahlreich Knoten und ins Leere laufende Enden auf.<br />

In der Einleitung zeigte Ball durchaus treffend einige typisch deutsche Schwächen:<br />

„Sie protestierten, sie erfanden jene »sittliche Weltordnung«, von der sie behaupten, daß sie von<br />

ihnen bewahrt und gerettet werden müsse; sie nannten sich <strong>das</strong> auserwählte, <strong>das</strong> Gottesvolk,<br />

ohne doch sagen zu können, weshalb sie es seien; sie verdrehten die Werte, suchten ihren Stolz<br />

im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus, vor dessen hochtrabender und auf Schrauben<br />

ruhender Pose die übrige Welt in Gelächter ausbrach. Sie rühmten alle ihre Schwächen, ja ihre<br />

Laster und Verbrechen als Vorzüge und Tugenden und travestierten damit die Moralität der<br />

andern, denen sie sich überlegen fühlten.“ (...) „Nie verliebte man sich in andere Nationen, stets<br />

fühlte man sich als Richter, Rächer und Vormund.“<br />

Als Verantwortliche für den deutschen Sonderweg benannte er Luther, Kant, Lassalle und Bismarck.<br />

„Luther trennte Deutschland von Rom und schuf damit die Voraussetzung für die Unabhängigkeit<br />

des heutigen deutschen Feudalismus. Er lieferte den deutschen Fürsten und Reichsherolden wie<br />

Treitschke und Chamberlain die Ideologie für jene egozentrische Selbstüberhebung, die sich in den<br />

Köpfen alldeutscher Generäle und Subalternpropagandisten zu einem Delirium ausgewachsen hat.<br />

Von den Zeiten der Reformation an gelang es den Päpsten nicht mehr, die deutsche Macht unter<br />

eine geistige Obhut zu beugen. Luther wurde ein Angelpunkt der Geschichte. Von Luther an<br />

208 Muck-Lamberty, An die Freideutschen! Bramwalde (Weser) Flugblatt vom 14.11.1918<br />

141


eginnt sich ein neuer Universalstaat vorzubereiten, in dessen Zentrum nicht mehr die ganz<br />

klerikale, sondern die ganz profane Gewalt steht.“<br />

Die Studierstube Kants geißelte Ball als Kreißsaal der moralfreien Wissenschaft:<br />

„Es ist nicht erforderlich, hier auf die gefährliche Separation einzugehen, die Kant zwischen<br />

Intellekt und Moral, zwischen geistiger Persönlichkeit und sozialem Wirken statuierte, indem er <strong>das</strong><br />

Einheitsgewissen zersprengte und jene beiden von einander untrennbaren Gewissenskräfte,<br />

Verstand und Gefühl gesondert abzuleiten versuchte. (...) So aber trennte der ganze von Moral und<br />

Sozietät absehende Kult der Experimentalwissenschaft, deren vergötterte Methode die<br />

Verstandesanalyse und deren Folge die Zersetzung ist. In Deutschland wütete die »objektive<br />

Wissenschaft« zumeist. Man hatte am meisten Ursache, Moral und Sozietät ungepflügt auf sich<br />

beruhen zu lassen. Hier war die abstrakte Wissensdoktrin zu Hause und <strong>das</strong> Land der höchst<br />

entwickelten Erkenntnistheorie und Technik schlug den Rekord der Immoralität, als die Zeiten reif<br />

geworden waren. Nirgends so schlimm als in Deutschland zeigte sich der Verlust des Einklangs<br />

zwischen Intellekt und sozialem Empfinden, zwischen menschlicher und theoretischer Kritik. Der<br />

Intellektuelle aus Metier, der fachgelehrte Teufel, dies Nonplusultra einer deutschen »Kultur«, die<br />

sich berüchtigt machte, ohne die Wurzel ihrer Abscheulichkeit auch nur zu ahnen – von Kants<br />

»Kritik der reinen Vernunft« sind sie entsprungen.“<br />

Die Diagnose Hugo Ball´s war eine überwiegend moralisch-philosophische, die ökonomische,<br />

politische und kulturelle Aspekte weitgehend aussparte. Immer waren es die Totengräber der Moral,<br />

die für alle Missgeschicke verantwortlich waren: Die Verhandlungen zwischen Ferdinand Lassalle und<br />

Otto von Bismarck wurden als „deutsch-jüdische Konspiration zur Zerstörung der Moral“ gegeißelt.<br />

Und so gerieten auch die Vorschläge zur Therapie moralisch-philosophisch:<br />

„Die neue Demokratie, an die wir glauben, und um deren Prinzipien heute die Welt kämpft, ist nicht<br />

in der Ansicht beschlossen, daß die »Freiheit in Gott« gleichzeitig bestehen kann mit der Unfreiheit<br />

im Gesetz, der Vergewaltigung im Staat und der Tyrannei im Absolutismus; nicht darin<br />

beschlossen, daß ein parlamentarisches System in Deutschland nach dem Muster der westlichen<br />

Demokratien die Lösung aller Konflikte bringt, die Deutschland heute trennen von der Welt. Es ist<br />

schlimmste deutsche Tradition, auf die politische Freiheit zu verzichten unter Hinweis auf die<br />

berühmte intelligible »Freiheit in Gott«, und die Revolution von 1793 zu verwerfen, weil sie zur Zeit<br />

ihres Ausbruchs »die Religion abschaffte«. Aber ebenso unsinnig wäre es, den heutigen deutschen<br />

Regierungs-Satanismus ohne die Freiheit in Gott bekämpfen zu wollen mit den demokratischliberalistischen<br />

Tendenzen, die in England, Frankreich, Amerika und Italien politische<br />

Errungenschaft geworden sind. Das kaiserliche Deutschland repräsentiert heute die<br />

ungeheuerlichste Akkumulation der reaktionären Methoden dreier Kaiserreiche und des<br />

Papsttums, und die Bekämpfung dieses antichristlichen Bollwerks, dessen Zentrale Berlin ist, führt<br />

notwendigerweise zu einer Prüfung gerade der revolutionärsten Gedanken des vorigen<br />

Jahrhunderts auf ihren Freiheitsgehalt. So nur bieten sich Hebel, die es ermöglichen, jene<br />

satanische Residenz aus den Angeln zu heben.“ 209<br />

Hugo Ball betonte genau wie die von ihm bekämpften Hohenzollern seinen Abstand zur<br />

parlamentarischen Demokratie und strebte trotz der Verantwortung der deutschen Intellektuellen für<br />

den Ausbruch des Weltkriegs nach der Beseitigung der institutionellen Kirchen und der Schöpfung<br />

einer demokratischen Kirche der Intelligenz:<br />

„Eine Syntax freier Gottes- und <strong>Menschen</strong>rechte aber wird die demokratische Kirche der Intelligenz<br />

konstituieren, an die die Verwaltung der Heiligtümer und des Gewissens übergeht.“<br />

Mit der Verwaltung der Heiligtümer des Gewissens waren im „Rat der geistigen Arbeit“, welcher der<br />

Räteherrschaft assistierte, so unterschiedliche Persönlichkeiten wie der spätere Mussolini-Verehrer<br />

Rainer Maria Rilke, der Expressionist Arthur Holitscher, der Autor des „Untertan“ Heinrich Mann, Lujo<br />

Brentano und Bruno Walter vertreten. In Berlin gehörten dem Arbeitsrat für Kunst der Maler Otto<br />

Müller, <strong>das</strong> spätere NSDAP-Mitglied Emil Nolde, der Brückenkommunarde Karl Schmidt-Rottluff sowie<br />

209 die genannte satanische Macht war keineswegs der Rat der Volksbeauftragten oder die Regierung der<br />

Weimarer Koalition, sondern <strong>das</strong> Hohenzollernreich. Das Buch war im zweiten Halbjahr 1918 geschrieben<br />

worden.<br />

142


die Werkbündler Bruno Taut und Walter Gropius an. 210 Die Intellektuellen standen auf dem<br />

revolutionären Gaspedal, die in der SPD organisierten gewerkschaftlichen Ökonomisten hatten ihr<br />

Schäfchen mit dem Stinnes-Legien-Abkommen bereits am 15. November 1918 ins Trockene gebracht<br />

und traten energisch die konterrevolutionäre Bremse. Die revolutionäre Luft war aus den<br />

Großbetrieben kurz und schmerzlos entwichen.<br />

Wie abgefahren die Mitglieder des Arbeitsrates waren, kann man daran erkennen, womit sie sich<br />

gerade beschäftigten. Es waren nicht die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse, sondern der Bau<br />

von Pyramiden, der Bruno Taut umtrieb. Er hatte gerade sein Buch über die Stadtkrone vollendet,<br />

worin er für die jeweilige Stadtmitte die Errichtung einer Kathedrale der Sinnlosigkeit vorschlug. Von<br />

dort aus sollte die Geschossigkeit zum Stadtrand hin abnehmen. Nicht ein kommerzieller oder<br />

religiöser Zweck sollte <strong>das</strong> Stadtzentrum dominieren, sondern ein Tempel der reinen Schönheit.<br />

„Die Stadtkrone“. Eine Innenstadt, in der man in kurzer Zeit mit kurzen Wegen möglichst viel erledigen<br />

kann war <strong>das</strong> nicht. Es war eine Stadt, in der Diktatoren bei langweiligen Paraden ihre Macht<br />

demonstrieren können.<br />

Bruno Taut schrieb nach dem verlorenen Krieg so naßforsch, als hätte die deutsche Intelligenz den<br />

Eliten der Siegermächte und anderen Völkern noch irgend etwas mitzuteilen:<br />

„Völker Europas! Bildet Euch die Heiligen Güter – Baut! Seid ein Gedanke Eures Sterns, der Erde,<br />

die sich schmücken will durch Euch! Ja unpraktisch und ohne Nutzen! Aber sind wir vom Nutzen<br />

glücklich geworden? Immer Nutzen: Comfort, Bequemlichkeit, – gutes Essen, Bildung – Messer,<br />

Gabel, Eisenbahnen, Closets und doch auch – Kanonen, Bomben, Mordgeräte! Bloß Nützliches<br />

und Bequemes wollen ohne höhere Ideen ist Langeweile. Langeweile bringt Zank, Streit und Krieg:<br />

Lüge, Raub, Mord, Elend, millionenfach fließendes Blut. Predigt: Seid friedfertig! predigt die soziale<br />

Idee: Ihr seid alle Brüder, organisiert Euch, ihr könnt alle gut leben, gut gebildet sein und in Frieden<br />

leben. Eure Predigt verhallt, solange Aufgaben fehlen, Aufgaben, die die Kräfte bis zum Äußersten,<br />

aufs Blut anspannen. Spannt die Masse in eine große Aufgabe ein, die sie alle erfüllt, vom<br />

Geringsten bis zum Ersten, die ungeheure Opfer, Mut, Kraft und Blut von Milliarden verlangt. Die<br />

aber sinnfällig deutlich für alle in der Vollendung ist.... Alle dienen der Idee, der Schönheit – als<br />

Gedanke der Erde, die sie trägt. Die Langeweile verschwindet und mit ihr der Zank, die Politik und<br />

<strong>das</strong> verruchte Gespenst Krieg.... Vom Frieden <strong>braucht</strong> niemand mehr zu sprechen, wenn es nicht<br />

mehr Krieg gibt. Es gibt nur noch rastloses, mutiges Arbeiten im Dienste der Schönheit, im<br />

Unterordnen unter <strong>das</strong> Höhere.“<br />

Taut ging 1932 auf dem Höhepunkt der Stalinschen Aufbau- und Vernichtungsexzesse nach<br />

Sowjetrußland, um dabeizusein, als Millionen eingespannt wurden, ihr Blut für große Aufgaben<br />

vergossen und sich dem Höheren unterordneten.<br />

Der Werkbündler Osthaus eskortierte Tauts Ideen; auch er hatte nicht begriffen, <strong>das</strong>s die deutschen<br />

Ideologen gerade eine kleine internationale Sendepause hatten:<br />

„Heute ... wird es sich darum handeln, die ganze Menschheit zu Monumenten aufzurufen, in deren<br />

Schöpfung sie die Gräuel dieser Zeit des Hasses und der Rache vergißt.“<br />

Er empfahl der verwunderten Welt die Erbauung eines Tempels für den geistigen Brandstifter<br />

Nietzsche als <strong>das</strong> »erste Menschheits-Monument auf deutschem Boden« und schrieb 1918 dazu:<br />

»Ein Gedanke, erhaben genug, um die Völker der Erde zur gemeinsamen Durchführung zu<br />

vereinen! ... Dieser Gedanke, einmal gefaßt, wird nicht wieder erlöschen. Er steht wie eine<br />

ungeheuere Forderung über der Menschheit, ein ragender Fels, an dem die Dämonen der Habgier<br />

und des Hasses zerschellen werden. Wie einst Tempel und Kathedralen, so werden auch heute<br />

die Schönheitsfanale der bauenden Demut die Menschheit erlösen, sie emporheben aus der<br />

grauenvollen Öde materiellen Tuns zu heiterer Schöpferlust, und es wird die unverlierbare Ehre<br />

Deutschlands sein, daß die erlauchtesten Geister der Zeit auf seinem Boden <strong>das</strong> erste den Göttern<br />

wieder geweihte Heiligtum errichten wollten.“<br />

Nach den <strong>Menschen</strong>verlusten, die Europa für die Gewaltsphantasien des Zarthustra erlitten hatte, war<br />

<strong>das</strong> mehr als dummdreist; es war provokant.<br />

210 Dietmar Elger: Dadaismus, Taschen, S. 15<br />

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Die deutsche Arbeiterklasse ließ die Bewutseinsrevolutionäre, die die Arbeiter erst gegen England in<br />

den Schützengraben gehetzt hatten, und nun schon wieder neue blutige Opfer im Dienste der<br />

Schönheit forderten, im Stich. Die Ökonomisten in der SPD hatten statt des Baus von innerstädtischen<br />

Pyramiden zunächst materielle Verbesserungen für die Arbeiter anvisiert. Die ökonomischen<br />

Veränderungen, die neue Macht der Gewerkschaften als exklusiver Tarifpartner, der 8-Stunden-Tag<br />

bei vollem Lohnausgleich, die Bildung von Arbeiterausschüssen in den Betrieben und <strong>das</strong> Recht der<br />

überlebenden Kriegsteilnehmer auf ihren verwaisten Arbeitsplatz waren ohne nennenswerten<br />

Widerstand und ohne Aufhebens erreichte Ziele, die Bewußtseinsrevolution blieb den Revolutionären<br />

übrig; sie war bei den jugendlichen Mitläufern der Räte oft angesagter, als der Kampf um<br />

Lohnerhöhungen, den sozialdemokratischen Zukunftsstaat oder ein demokratisches Palaver von<br />

bärtigen Demokraten der älteren Jahrgänge. Wegen diesen grundlegenden Divergenzen zwischen<br />

gewerkschaftlichen Ökonomisten und intellektuellen Träumern liefen die Räte auseinander; desto<br />

mehr überflüssiges nietzscheanisches Kulturbewusstsein der Gehirnsschwamm aufgesogen, desto<br />

eiliger verschwanden die Intellektuellen in ihren bündischen Nischen.<br />

Selbst kaiserliche Regierungskader strömten in die Räte. Quasi die ganze Führung der kaiserlichen<br />

Kriegsrohstoffabteilung war auf dem Marsch in die neue Administration. Am 10. November 1918 als es<br />

aus der Moskauer Perspektive so aussah, als habe in Deutschland die Räterevolution gesiegt, bat<br />

auch der Mitarbeiter des Auswärtigen Amts Alfons Paquet dem im Aufbruch nach Berlin begriffenen<br />

Karl Radek, in Berlin mitzuteilen, <strong>das</strong>s sich Paquet dem deutschen Arbeiter- und Soldatenrat zur<br />

Verfügung stelle. 211<br />

Es gab wirklich überhaupt keinen Mangel an jugendbewegten Reformisten im revolutionären Kader.<br />

Im demokratischen Nest der Nationalversammlung, <strong>das</strong> von den politisierenden Vätern und<br />

Großvätern gebaut wurde, lag von Beginn an ein kulturrevolutionäres antidemokratisches Kuckucksei.<br />

Kontinuität der kulturellen und wirtschaftlichen Eliten<br />

Der Begriff des Wendehalses wurde erst 1989 geprägt. Diese edlen Vögel gab es jedoch immer<br />

schon, wo eine Wende eingeleitet wurde. Viele Väter der Weimarer Republik hatten in verschiedenen<br />

Positionen dem Kaiser treu gedient, einige hatten insbesondere die deutsche Kriegsmaschine nach<br />

Kräften geölt.<br />

Walther Rathenau (DDP) wurde bereits im August 1914 Leiter der Kriegsrohstoffabteilung (KRA), die<br />

bald zu einer obersten Reichsbehörde ausgebaut wurde. Rathenau legte großen Wert auf die<br />

Beschaffung von Rohstoffen in den besetzten Gebieten und formte eine staatlich gelenkte<br />

Mangelbewirtschaftung als Mischung aus staatlichen Eingriffen und industrieller Selbstverwaltung, in<br />

deren Gefolge rund 200 Kriegsrohstoffgesellschaften gegründet wurden. Diese Gesellschaften waren<br />

letztlich Zwangssyndikate, in denen alle Produzenten der kriegsnotwendigen Erzeugnisse vereint<br />

wurden. Von diesen Zwangsvereinigungen hat sich die deutsche Wirtschaft bis 1945 nicht mehr<br />

verabschiedet. Der Amtsnachfolger von Rathenau in der KRA, Koeth, organisierte die Demobilisierung<br />

im Auftrage der deutschen Räte. Die Beamten der kaiserlichen Kriegsmaschinerie und die<br />

Revolutionsführer verstanden sich offensichtlich prächtig.<br />

Ab Oktober 1914 war Matthias Erzberger (Zentrum) als Leiter der "Zentralstelle für den<br />

Auslandsdienst" für die planvolle Steuerung der öffentlichen Meinung im Ausland zuständig. Bereits<br />

1912/13 hatte er als Zentrumsabgeordneter Im Reichstag eine starke deutsche Aufrüstung unterstützt.<br />

Zu Beginn des Weltkriegs forderte er die Einverleibung Belgiens.<br />

Gustav Stresemann (DVP) hatte sich besonders im "Deutschen Kolonialverein" hervorgetan und sich<br />

ebenfalls für die Angliederung von Gebieten stark gemacht.<br />

Wilhelm von Payer (DDP) war Vizereichskanzler gewesen. Als solcher hatte er noch im Oktober 1918<br />

verkündet, Deutschland werde nach dem erhofften „Wilson-Frieden“ die natürliche Schutzmacht der<br />

von Russland abgefallenen und vom Bolschewismus bedrohten Randstaaten sein. „Gegen Osten ist<br />

die Welt wieder offen für uns.“ Dort sei für uns Frieden und bleibt für uns Frieden, mag es unseren<br />

westlichen Feinden gefallen oder nicht. 212<br />

211 Gerd Koenen: der Russland-Komplex, C.H.Beck, 2005, S. 179<br />

212 Zitiert in: Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 277<br />

144


Der spätere Reichskanzler Wilhelm Cuno war während des Krieges Leiter der Reichsgetreidestelle.<br />

Als solcher war er an der Bildung des Kriegsernährungsamtes beteiligt.<br />

Bernhard Dernburg (DDP) war seit 1908 Staatssekretär im Kolonialministerium gewesen.<br />

Viele andere, vor allem Sozialdemokraten, unterstützten die Kriegspolitik passiv durch den<br />

sogenannten Burgfrieden und die Zustimmung zu den Kriegskrediten, z.B. Friedrich Ebert, Phillipp<br />

Scheidemann, Hermann Müller.<br />

1917 begann ein Umdenken bei vielen dieser Politiker, sie drängten auf einen Verständigungsfrieden<br />

ohne Annexionen. Dieses Umdenken wurde denen zum Verhängnis, die sich besonders intensiv für<br />

einen Neuanfang einsetzten und die Verantwortung für den überfälligen Friedensschluß übernahmen:<br />

Sie wurden nach dem Friedensschluß als Novemberverräter bezeichnet.<br />

Erzberger und Rathenau wurden ermordet, auf Scheidemann wurde ein Säureanschlag verübt, Ebert<br />

(wegen eines Beleidigungsprozesses verschleppte Blinddarmoperation), Müller (verpatzte<br />

Gallenoperation) und Stresemann (Herzinfarkt) wurden totgeärgert. Am Tag, als Stresemann starb,<br />

notierte Goebbels:<br />

"Hingerichtet durch einen Herzschlag. Ein Stein auf dem Weg zur deutschen Freiheit weggeräumt.<br />

Gut so! Er hat sich dem kommenden Strafgericht entzogen."<br />

Bis hierher ist nur von Politikern berichtet worden. Zu den Wendehälsen gehörten natürlich auch jene<br />

Expressionisten, die sich von Kriegslyrikern oder Kriegsfreiwilligen zu Pazifisten oder Anklägern des<br />

imperialistischen Krieges wandelten. Hierzu gehörten beispielsweise Ernst Toller, Max Beckmann,<br />

Käthe Kollwitz, Otto Dix, Thomas Mann, Johannes R. Becher, Kurt Tucholsky und Bertold Brecht.<br />

Wenn man die extreme politische Gefährlichkeit und Skrupellosigkeit des deutschen Idealismus studieren will, so<br />

gibt es mehrere besonders traurige Exempel: Ferdy Horrmeyer malte im zeitlichen Abstand von weniger als<br />

einem Jahr Werbung für die letzte Kriegsanleihe und für den Pazifismus.<br />

„Was sind <strong>das</strong> für Köpfe: sie pappen Bolschewistenplakate an die Mauern, aber als unsre Väter,<br />

Brüder und Söhne in den Gräben verdreckten und verlausten, als sie zu Tausenden verreckten –<br />

da warben sie für die Kriegsanleihen, und kaum eine Hand rührte sich für die unschuldigen Opfer<br />

einer verbrecherischen Politik.“ 213<br />

Diese Frage stellte ausgerechnet Kurt Tucholski, der selber für die letzte Kriegsanleihe geworben<br />

hatte. Er wusste aus erster Hand, worüber er sprach.<br />

1918 war die Zahl der politischen, künstlerischen und wirtschaftlichen Newcomer wesentlich geringer,<br />

als nach der Revolution von 1989. Wo findet man in der Weimarer Republik maßgebliche Politiker, die<br />

ihre Wirksamkeit erst nach 1918 entfalteten? Der reformistische Ausländer Adolf Hitler und seine Alten<br />

Kameraden sind relativ seltene Beispiele, und gleich schlechte. Wie sah es bei den Künstlern und<br />

Wirtschaftskapitänen aus? Einige <strong>Neue</strong> Sachliche, wie Hans Fallada und Erich Kästner gehen in<br />

einem Meer von Altgedienten fast unter und spielten erst am Ende der Republik eine Rolle. Ansonsten<br />

auch hier einige Nationalsozialisten wie Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels.<br />

In der Bundesrepublik hat sich weitgehend eine naive Auffassung der Gutmenschen von der<br />

Gesellschaft durchgesetzt. Im Kurztext zu Hans Mommsens "Aufstieg und Untergang der Republik<br />

von Weimar" heißt es:<br />

"Die deutsche Demokratie von Weimar entsprang der nichteingestandenen Niederlage<br />

Deutschlands im ersten Weltkrieg. Ihre Schöpfer versagten aus nationalpolitischen Rücksichten vor<br />

der Aufgabe, einen klaren politischen und moralischen Trennungsstrich zu den Verfechtern einer<br />

verfehlten Weltpolitik und zu den Verteidigern einer überholten sozialen Ordnung zu vollziehen. Die<br />

abgebrochene deutsche Revolution erleichterte die liberal-parlamentarische Verfassungsgebung,<br />

aber erschwerte es, sie mit demokratischen Inhalten zu füllen. Der Weg der Weimarer Republik in<br />

den Untergang ergab sich aus einer unaufrichtigen Allianz heterogener Interessen und<br />

213 Die Weltbühne 08.05.1919, Nr. 20, S. 532.<br />

145


ideologischer Strömungen, die nur in der Kampfstellung gegen den Liberalismus und Sozialismus<br />

übereinstimmten."<br />

Dagegen ist einzuwenden, daß die Republik nicht an einem Mangel an Eingeständnissen, einem<br />

Mangel an Moralin, einem Mangel an Lichterketten und auch nicht einer Verschwörung antiliberaler<br />

und antisozialistischer Bösewichte zugrunde ging.<br />

Sie ging vielmehr daran zugrunde, daß dieselben Leute, die vor dem Weltkrieg für die Verbreitung der<br />

Lebensreform sorgten, kulturellen und politischen Sonnenkult trieben, den <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong><br />

erdachten, Gewalt verherrlichten, eine kalkülunfähige hasardierende Außenpolitik entwarfen, bei allem<br />

die tradierten Grundsätze der praktischen Vernunft leichtfertig über Bord warfen, sich nach dem<br />

Weltkrieg als Ärzte am Krankenbett Deutschlands betätigten, um eben jene Krankheit zu kurieren, die<br />

sie selbst ausgebrütet und verschleppt hatten.<br />

Die Verderber des Neuanfangs waren viel weniger die vielgescholtenen Generäle, Richter und<br />

Beamten des Kaisers, die oft in preußischer Pflichterfüllung eine ungeliebte Republik nach dem<br />

Buchstaben des Gesetzes lustlos oder widerwillig tolerierten, sondern mehr die Eliten der Politik,<br />

Wirtschaft und Kultur. Nicht nur die Ludendorffs, Hindenburgs, Rantzaus und Schleichers verdarben<br />

<strong>das</strong> Land, sondern auch die Rathenaus, Moellendorffs, Wissels, Sombarts und Cunos. Über dem<br />

Wirtschaftsbetrieb Nachkriegsdeutschlands lag immer noch der Mehltau der Kriegswirtschaft und des<br />

Imperialismus und auf den republikanischen Kulturschreinen standen wie vor dem Krieg nackte<br />

Gigantenstelen auf Hakenkreuzdeckchen bzw. neben Hammer- und Sichelstandarten. Auch Fidus,<br />

Gropius, Hesse, Th. Mann, Gropius, Graf Kessler, Rilke, Tucholsky, George, Grosz, Zetkin und<br />

andere Antidemokraten leisteten ihren unheilschwangeren Beitrag zur Sabotage eines Neuanfangs.<br />

Der höhere Beamtenapparat wurde im Laufe der Weimarer Republik personell neu ausgestattet. 1914<br />

war jedes zweite preußische Landratsamt durch Vertreter des Adels besetzt, 1922 war der Adelsanteil<br />

auf 12 % gesunken, 1931 auf 7 %. In der Generalität hatten die preußischen Adligen 1914 einen<br />

Anteil von 70 %, 1921 waren noch 21,7 % adlig und 1930 nach der Verkleinerung der Reichswehr 34<br />

%. Die Zahl der adligen Ministerialbeamten in Preußen schrumpfte von 1914 bis 1931 von 203 auf 34.<br />

Die Zahl der adligen Oberpräsidenten schrumpfte im gleichen Zeitraum von 18 auf 0. Zwei Fünftel der<br />

Polizeipräsidenten wurden durch republiktreue Beamten ersetzt. Neben die preußischen<br />

Berufsbeamten wurden bis 1928 1084 politische Beamte gestellt, von denen 20 % dem Zentrum, 16<br />

% der SPD und 15 % der DDP angehörten. Nur noch in der Richterschaft blieb die Häufung von<br />

Angehörigen der alten Oberschicht weitgehend unangetastet. 214 In der Wirtschaft, in der Kultur und in<br />

den tradierten Parteien dagegen blieben alle auf ihren Pöstchen und Posten, außer denen, die endlich<br />

in Rente gingen oder von Gott selbst von ihrer Tätigkeit abberufen worden sind.<br />

Nicht soviel personelle Erneuerung wie in der Verwaltung gab es in der Wirtschaft. Die wirtschaftliche<br />

Grundlage des Spätkaiserreichs war einerseits aus einer Konstellation gewachsen, als Preußen noch<br />

eine Armee mit Land war, als Waffenmanufakturen staatlich waren. Andererseits zogen die<br />

wirtschaftlichen Verwerfungen ihre Kraft und ihren Bestand auch aus dem ständegesellschaftlichen<br />

Überhang, <strong>das</strong> Träumen von der Kraft der Korporationen des Mittelalters nahm kein Ende. Es war<br />

eine staatlich und planwirtschaftlich beeinflußte Privatwirtschaft, die sich im Krieg zur ausgeprägt<br />

reglementierten Kriegswirtschaft weiterentwickelte. Ausgeprägt reglementiert bedeutet, daß die<br />

Privateigentümer in einem planwirtschaftlichen System nur sehr begrenzt Einfluß auf die Produktion<br />

nehmen konnten. Preise, Mengen, Rohstoffe, Absatz waren wie im Mittelalter bei den Zünften ihrer<br />

Einflußnahme weitgehend entzogen. Sie waren im Weltkrieg Organisatoren des<br />

Produktionsprozesses, die aus einer bestimmten Menge Vorprodukten in einer bestimmten Zeit mit<br />

einer bestimmten Menge Arbeitskräften eine bestimmte Menge Endprodukte zu liefern hatten. Dieser<br />

Typus wurde früher Zunftmeister, später Betriebsführer genannt und noch später unter Walter Ulbricht<br />

Betriebsleiter. Mit dem Begriff des Kapitalismus ist dieses Organisationsverhältnis begrifflich nicht in<br />

Übereinstimmung zu bringen, denn kapitalistisches Eigentum bedeutet Verfügungsgewalt. Verfügt<br />

wurde woanders als in den Betrieben, in übergeordneten Reichsstellen und<br />

Selbstverwaltungsorganisationen, die wiederum den Reichsstellen unterstanden. Das Privateigentum<br />

an den industriellen Produktionsmitteln beweist keineswegs, daß es sich um Kapitalismus handelte.<br />

Privateigentum gab es in Europa seit den Griechen, Römern und Germanen, Privateigentum gab es in<br />

der germanischen Markverfassung, im europäischen Feudalismus und in den Stadtrepubliken<br />

Süddeutschlands. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, daß es unter Kaiser Augustus, Karl dem<br />

Großen oder Maria Theresia eine kapitalistische Wirtschaftsordnung gab, für die Kriegswirtschaft von<br />

214 H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C.H. Beck, München, 2003, S. 326 ff.<br />

146


1915 bis 1945 wird <strong>das</strong> immer wieder behauptet oder wenigstens stillschweigend angenommen bzw.<br />

vorausgesetzt. Es ist jedoch ganz klar nicht zutreffend, da die Strukturen des Agierens der<br />

Privateigentümer sehr tradiert waren und auf eindeutig vorbürgerliche Gebräuche verweisen. Wenn<br />

Deutschland zwischen 1914 und 1945 ein kapitalistisches Land war, so könnte man <strong>das</strong> auch für die<br />

Republik Venedig, die Republik Ragusa oder die Republik Genua behaupten.<br />

Von den Machern der kriegswirtschaftlichen Reglementierung, Rathenau, Moellendorff, Koeth sowie<br />

von einem Teil der damals tonangebenden modischen Wirtschaftswissenschaftler, und solchen, die<br />

sich dafür hielten, z.B. Werner Sombart, Wladimir Iljitsch Lenin und Rudolf Hilferding wurde diese<br />

zentralistische marktferne Ordnung als gesellschaftlicher Fortschritt verstanden und einige der Macher<br />

aus der Kriegsrohstoffabteilung und dem Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt saßen folgerichtig<br />

nach der Revolution in der Sozialisierungskommission.<br />

Lenin und Hilferding hatten diese planwirtschaftliche Rückwärtsrolle als staatskapitalistische<br />

Entwicklung gedeutet und so verstanden, daß aus dem Staatskapitalismus, den Lenin Imperialismus<br />

nannte, der Sozialismus hervorgehen würde. Oberflächlich war <strong>das</strong> gut und scharf beobachtet, denn<br />

aus dem Wirtschaftssystem der Weimarer Republik entstand Sozialismus. Aber der Weg in den<br />

"Staatskapitalismus" war kein Fortschritt, sondern eine historische, ökonomische und politische<br />

Sackgasse der gesellschaftlichen Evolution.<br />

Auf der Tagesordnung der Revolution hätte die Rückkehr zum Konkurrenzkapitalismus als Grundlage<br />

der parlamentarischen Demokratie gestanden, wenn man die parlamentarische Demokratie denn<br />

wollte. Konservative, Reformisten, Klerikale, Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängige<br />

Sozialdemokraten standen fest auf dem Boden des Kaiserreiches, indem sie die Rückkehr zum<br />

Kapitalismus und nach Europa nicht im Programm hatten und eher den Status Quo oder eine<br />

genossenschaftlich-berufsständische Ordnung in Deutschland anstrebten.<br />

Es ging nicht um die Aufgabe, einen klaren politischen und moralischen Trennungsstrich zu den<br />

Verfechtern einer verfehlten Weltpolitik und zu den Verteidigern einer überholten sozialen Ordnung zu<br />

vollziehen, wie von Hans Mommsen gefordert. Es ging vielmehr zunächst um eine notwendige<br />

Wirtschaftsreform, um die bürgerliche Demokratie mit ihrem Wettbewerb politischer Konzeptionen mit<br />

einem Wettbewerb von Produzenten zu verbinden, den politischen Wettbewerb durch den<br />

wirtschaftlichen Wettbewerb zu untersetzen und zu stabilisieren. Notwendig war ein wirtschaftlicher<br />

Trennungsstrich, die Rückkehr zur modernen westeuropäischen Wirtschaftsordnung, um damit im<br />

Zusammenhang politische, kulturelle und moralische Trennungsstriche zu ziehen.<br />

Wenn man ganz leidenschaftslos betrachtet, wo sich auf der Welt parlamentarisch-demokratische<br />

Verhältnisse etablieren konnten, und wo nicht, so stößt man darauf, daß Planwirtschaften zur Diktatur<br />

neigen, Mischsysteme aus Plan- und Marktwirtschaft oft ein Mischsystem zwischen Diktatur und<br />

Demokratie entwickeln und Marktwirtschaften ein parlamentarisches System aufweisen. Das war in<br />

den zwanziger und dreißiger Jahren nicht anders.<br />

Während England und die Vereinigten Staaten keine nennenswerten Probleme mit der<br />

Aufrechterhaltung der parlamentarischen Demokratie hatten, sah es auf dem europäischen Kontinent<br />

ganz anders aus. Der totalitäre Bazillus breitete sich aus.<br />

Rußland wurde seit unvordenklichen Zeiten autoritär regiert. In Italien wurde 1922 die Mussolini-<br />

Diktatur errichtet. Polen und Litauen wurden seit 1926 autoritär regiert. Albanien folgte 1927,<br />

Jugoslawien 1929, Portugal 1930, Österreich und Deutschland 1933, Lettland, Estland und Bulgarien<br />

1934, Griechenland und Spanien 1936 und Rumänien 1938.<br />

Im Osten Europas wurde 1938 nur die Tschechoslowakei noch demokratisch regiert, im Westen<br />

Frankreich, <strong>das</strong> Vereinigte Königreich, Irland, die Niederlande, Belgien, die Schweiz und Luxemburg<br />

sowie die skandinavischen Staaten.<br />

Die autoritär-diktatorische Seuche ging um in Europa. Sie war die Folge der übermäßigen<br />

Verseuchung der Volkswirtschaften mit planwirtschaftlichen Ansätzen. Autoritäres Wirtschaften denkt<br />

nun einmal autoritäres Regieren voraus. Eduard Stadler hatte <strong>das</strong> bereits im März 1919 in seiner<br />

Broschüre „Die Revolution und <strong>das</strong> alte Parteiwesen“ angedeutet: „Echt ist ... die Tendenz, an Stelle<br />

der Formaldemokratie des 19. Jahrhunderts etwas <strong>Neue</strong>s zu setzen, nämlich die politische Macht der<br />

gegliederten Gesellschaft.“ 215<br />

215 zitiert in: Gerd Koenen, Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 249<br />

147


An der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik ist diese Auffassung weitgehend vorbeigegangen.<br />

Statt dessen Verschwörungen finsterer Kräfte, falsche Kampfstellungen, Mangel an aufrechter<br />

Gesinnung. Alles was sich in den Weimarer Köpfen abspielte, sind jedoch auch Kollateralschäden<br />

eines ver<strong>braucht</strong>en, aber weiterhin für richtig gehaltenen und aufrechterhaltenen Wirtschafts- und<br />

Gesellschaftsmodells. Von der heutigen deutschen Geschichtsschreibung wird offenbar nach der<br />

Devise verfahren "Das haben wir schon immer so gemacht."<br />

Erforderlich ist eine Weiterentwicklung der Geschichtsbetrachtung, die <strong>das</strong> Scheitern des<br />

berufsständisch korporativen Gesellschaftskonzepts in weiten Teilen Europas und des elitaristischen<br />

Kulturmonopols in Preußen-Deutschland verarbeitet. Mit Moralin und Lichterketten können auf Dauer<br />

keine Republiken gerettet werden, weder damals noch heute.<br />

Alle Revolutionen, nicht nur die Novemberrevolution von 1918/19, haben heterodoxe und<br />

unerreichbare Ziele, denn mit den Revolutionen ändern sich nicht automatisch die <strong>Menschen</strong>. Die<br />

Macher der Revolution verkünden oft Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit in der einen oder anderen<br />

Art als Ziele und den Regierungswechsel als Garant der Erreichung dieser Ziele. Da Revolutionen nie<br />

perfekt diese Ziele erreichen, gibt es regelmäßig Enttäuschung und eine Rückerinnerung an die Zeit<br />

vor der Revolution. Die Revolution frißt ihre Kinder, sie ist irgendwann zu Ende und es überleben nicht<br />

die Revolutionäre, sondern mehr oder weniger revolutionäre Institutionen, in der Weimarer Zeit zum<br />

Beispiel die republikanische Verfassung und <strong>das</strong> allgemeine Wahlrecht. Wenn diese Institutionen die<br />

Generation derer überleben, die sich noch an die Zeit vor der Revolution erinnern können, dann<br />

haben die revolutionären Institutionen eine gewisse Chance, einen längeren Zeitraum zu überdauern.<br />

Das war bei der Weimarer Republik nicht der Fall. Sie wurde von Nietzscheanern aller Couleur,<br />

darunter dichtenden, musizierenden, bauenden und politisierenden Elitaristen zur Stecke gebracht<br />

und als politisches System überlebt. Vollkornverzehrende Eigenbrötler, vom schönen Mittelalter<br />

träumende Zunftmeister und -gesellen, leninistische Parteiavantgardisten, deutschtümelnde<br />

"Globalisierungsgegner", kapitalismuskritische Antisemiten, von Blutreinigung und <strong>Menschen</strong>zucht<br />

besessene Landkommunenindianer, Heimatschützer, die <strong>das</strong> Arten- und Brauchtumssterben<br />

betrauerten, klassenkampfmüde Volksgemeinschaftssoftis, kriegsbegeisterte Waffennnarren und<br />

Querulanten in Reformsandalen bildeten ein zivilisationskritisches und demokratiefeindliches buntes<br />

Netzwerk. Die politischen Arme dieses kulturellen Netzwerks waren elitäre jugendoptimistische Bünde,<br />

dem Führerprinzip verpflichtete völkische Vereinigungen, Parteien und Landbünde, die Kommunisten<br />

im Gewand der Elitepartei „<strong>Neue</strong>n Typus“ und als Erben der meisten dieser Organisationen die<br />

Nationalsozialisten, die die Republik mit offenem Visier bekämpften und zerstörten. Die passive Seite<br />

bildeten die Weimarer Parteien DDP, SPD und Zentrum, die den demokratischen Staat durch eine<br />

fehlende ökonomische und kulturelle Fundamentierung dem schnellen Verfall preisgaben. Spätestens<br />

seit 1930 hatten die erklärten Todfeinde und Gegner der parlamentarischen Republik die Mehrheit der<br />

Wähler auf ihrer Seite. Nicht durch diesen Wählerwillen und auch nicht durch die Einigkeit der<br />

Demokraten, sondern nur bedingt durch die präsidentiale Übermacht und den Immobilismus des<br />

uralten Präsidenten 216 konnte die Weimarer Republik als politisches System noch bis 1933 überleben,<br />

dann war sie endgültig sturmreif, und ihre Verteidiger hatten keinen Mut, keinen Überlebenswillen und<br />

kein Selbstvertrauen mehr. Die parlamentarischen und demokratischen Institutionen der Republik<br />

wurden binnen kurzer Zeit abgeschafft, sie waren sowenig im Volk verwurzelt, daß nur eine schwache<br />

Erinnerung die 12 Jahre des tausendjährigen Reichs überdauerte. Die Großelterngeneration konnte<br />

sich um 1960 vor allem an Straßenkämpfe in Berlin und an viele Bettler, die mit einem Teller Suppe<br />

beköstigt wurden, erinnern. Daneben erinnerte sie sich an die Zeit, wo der Gottesdienst noch nicht<br />

regelmäßig durch <strong>das</strong> Trommeln der Hitlerjugend gestört wurde.<br />

Von den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur Novemberrevolution hatte es einen<br />

Paradigmenwechsel gegeben. Die demokratischen Rauschebärte, die für Deutschland eine<br />

parlamentarische Republik erträumten, waren in der Spätkaiserzeit langsam in die Defensive geraten.<br />

Mehr und mehr setzte sich beim Bildungsbürgertum der Glaube an die Kraft von Führern durch, die<br />

ihre Legitimation nicht durch Wahlen, sondern durch Charisma, Gewalt, Kraft und geistige<br />

216 Seltsamerweise wird in der Geschichtsliteratur untersucht, wie Hindenburg, Schleicher, Brüning und Papen<br />

die Republik zerstörten. Diesen Herren vorauseilend verabschiedeten sich die Wähler als unmittelbare<br />

Repräsentanten des Volks bei allen drei Wahlen von 1930 bis 1932 von der republikanischen Ordnung. Der Logik<br />

des Mechanismus von Wählerwillen und Regierungsausübung würde es entsprechen, zu untersuchen, warum die<br />

oben genannten Herren die Umsetzung des zum Schluß 3fach erklärten Wählerwillens unter Aufbietung aller<br />

Künste der politischen Hinhaltetaktik um fast 3 Jahre hinauszögerten.<br />

148


Überlegenheit bezogen. Der Masse wurde mehr und mehr die Vernunft abgesprochen, diese<br />

politischen Titanen zu erkennen und zu wählen. Aus der allgemeinen Wahl würden politische<br />

Pygmäen als Sieger hervorgehen. Das demokratische Paradigma befand sich auch deshalb in der<br />

Krise, weil die Demokraten es zwischen 1848 und 1914 nicht fertiggebracht hatten, ihre Macht<br />

evolutionär oder revolutionär zu erweitern. Es blieb in Preußen beim Dreiklassenwahlrecht, es blieb<br />

bei der Beherrschung des Reichstags durch den Reichskanzler. Bismarck wurde als Dompteur der<br />

Volksvertretung geehrt, und nicht als deren politischer Arm. Die Deutschen Kriege hatte Bismark<br />

gegen <strong>das</strong> Abgeordnetenhaus vorbereitet und nicht mit den Mehrheitsliberalen.<br />

Die älteren Jahrgänge hielten noch an demokratischen Leitbildern und Vorstellungen fest, die jüngere<br />

Generation neigte zur elitaristischen Gewaltspolitik, wie sie seit Nietzsche propagiert worden war. In<br />

dieser Situation des labilen Gleichgewichts der Generationen und der Konzeptionen begann der Erste<br />

Weltkrieg als Erfolg der nietzscheanischen Kriegs- und Gewaltspropheten. Er endete nicht wirklich mit<br />

einer Krise des Paradigmas vom überlegenen fröhlichen Krieger und von der Sieghaftigkeit des<br />

idealistischen Weges über den materialistischen britischen Kraken.<br />

Bei den Intellektuellen gab es nach dem verlorenen Krieg eine ideologische Verunsicherung. Thomas<br />

S. Kuhn hat für die Wissenschaftler auf dem Gebiet der Physik folgende Gesetzmäßigkeit entdeckt:<br />

„Wenn sie auch beginnen mögen, den Glauben zu verlieren und an Alternativen zu denken, so<br />

verwerfen sie doch nicht <strong>das</strong> Paradigma, <strong>das</strong> sie in die Krise hineingeführt hat. Das heißt also, sie<br />

behandeln die Anomalien nicht als Gegenbeispiele, obwohl Anomalien im Vokabular der<br />

Wissenschaftstheorie genau <strong>das</strong> sind.“ 217<br />

Der Elitarismus, die Gewaltsphilosophie und der Führerglaube wurden nach dem Ersten Weltkrieg<br />

nicht verworfen, auch von denen nicht, die sich von Kriegstreibern zu Pazifisten gewendet hatten. Kurt<br />

Tucholsky beispielsweise bewunderte Mussolini und Stalin. Kuhn stellte fest:<br />

„Sie selbst können und werden jene philosophische Theorie nicht falsifizieren, denn deren<br />

Verteidiger werden <strong>das</strong> tun, was wir die Wissenschaftler schon haben tun sehen, wenn sie mit<br />

einer Anomalie konfrontiert waren. Sie werden sich zahlreiche Artikulierungen und ad hoc-<br />

Modifikationen ihrer Theorie ausdenken, um jeden scheinbaren Konflikt zu eliminieren.“ 218<br />

Der Konflikt hieß: Obwohl der deutsche Idealismus über den englischen Kapitalismus überlegen ist,<br />

hat er den Krieg verloren.<br />

Eine verbreitete ad hoc-Modifikationen war die Begeisterung für die Oktoberrevolution. So konnte <strong>das</strong><br />

kriegerische nietzscheanische Paradigma gerettet werden, allerdings unter Aufgabe des Glaubens an<br />

die deutsche Überlegenheit.<br />

Nun ging einfach im Osten die Sonne auf. <strong>Neue</strong> Artikulierungen waren auch <strong>das</strong> Bauhaus, <strong>das</strong><br />

personell den Blauen Reiter und inhaltlich den Futurismus sowie den Expressionismus beerbte, und<br />

die Logokratie, die aus dem Vorkriegs-Expressionismus und –aktivismus hervorging. Kuhn stellte fest,<br />

<strong>das</strong>s eine Theorie, die einmal den Status eines Paradigmas erlangt hat, nur dann für ungültig erklärt<br />

wird, wenn ein neues Paradigma so entwickelt ist, <strong>das</strong>s es seinen Platz einnehmen kann. Die<br />

mitteleuropäische Intelligentsia war für einen Paradigmenwechsel noch nicht gerüstet, obwohl die<br />

bellizistische Theorie gerade in Deutschland und Österreich in die Irre einer Niederlage geführt hatte.<br />

Thomas S. Kuhn hat <strong>das</strong> Exemplarische in einer solchen ideologischen Krisensituation in Bezug auf<br />

die Paradigmen der Physik so beschrieben:<br />

„Wenn er (der Wissenschaftler) sich nun auch darüber klar ist, <strong>das</strong>s die Regeln der modernen<br />

Wissenschaft nicht ganz richtig sein können, wird er sie doch strenger als je befolgen, um zu<br />

sehen, wo und wie weit sie im Bereich der Störungen angewandt werden können. Gleichzeitig wird<br />

er Wege suchen, den Zusammenbruch zu vergrößern, ihn deutlicher und vielleicht auch<br />

aufschlussreicher zu machen, als er sich in den Experimenten darstellt, deren Ergebnis man im<br />

voraus zu erkennen glaubte.“ 219<br />

217 Thomas S, Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Ffm, S. 90<br />

218 Thomas S, Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Ffm, S. 91<br />

219 Thomas S, Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Ffm, S. 100<br />

149


Diese Verhaltensweise von Forschern liegt im Psychologischen begründet, und daraus ergibt sich die<br />

Frage, ob Ideologen, Politiker und Künstler nicht ähnlich auf eine Krise reagieren: Die strengere<br />

Befolgung der elitaristischen Theorie gegenüber den Verhältnissen im Spätkaiserreich verlangte die<br />

Bewunderung und Förderung so stringenter Führerstaaten wie Mussolinis Italien, Lenins und Stalins<br />

Russland und Hitlers Deutschland. Tatsächlich wurden in Russland und Deutschland alle Rekorde im<br />

Vernichten von Existenzen gebrochen, der Zusammenbruch unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte<br />

vergrößert, so <strong>das</strong>s 1945 und 1989 aufschlußreiche unzweideutige praktische Erkenntnisse vorlagen,<br />

die den längst fälligen theoretischen Paradigmenwechsel nahe legten.<br />

Der Kampf um die Reinheit im parteipolitischen Reformtempel<br />

Die DDP wurde Ende November 1918 gegründet. Den Gründungsaufruf veröffentlichte am 16.11.1918<br />

der Chefredakteur des "Berliner Tageblattes" Theodor Wolff. In der Wolff-Biografie von Wolfram<br />

Köhler ist der Gründungsaufruf im O-Ton des Zeitgeistes wiedergegeben: Am 16. November hatte<br />

Wolff in seiner Wohnung am Tiergarten sechs Herren empfangen, die ihm antrugen, die Gründung<br />

einer neuen demokratischen Bürgerpartei in die Hand zu nehmen, weil er dazu "wegen seiner Haltung<br />

während des Krieges der richtige Mann sei" und weil "die alten liberalen Parteien, also die schon im<br />

Reichstag vertretene liberale Fortschrittliche Volkspartei (FVP) und die mehr rechten Nationalliberalen<br />

ihre Rolle ausgespielt hätten; jetzt müßte eine neue Partei <strong>das</strong> Bürgertum sammeln und zu<br />

politischem Handeln führen, und zwar Schulter an Schulter mit der Arbeiterschaft". Wolff erklärte sich<br />

sofort bereit, "eine Anzahl gut ausgesuchter, nicht kompromittierter Personen" für die Parteigründung<br />

zu gewinnen und einen entsprechenden Aufruf zu verfassen. Im Aufruf hieß es: Die Zeit erfordere, "für<br />

monopolistisch entwickelte Wirtschaftsgebiete die Idee der Sozialisierung aufzunehmen, die<br />

Staatsdomänen aufzuteilen und zur Einschränkung des Großgrundbesitzes zu schreiten". Zu den<br />

handverlesenen Gründungsmitgliedern gehörten Albert Einstein, Max Weber, Alfred Weber, Hjalmar<br />

Schacht, Otto Schott, Friedrich Naumann und Hugo Preuß. Gustav Stresemann, der spätere<br />

Reichsaußenminister und Friedensnobelpreisträger wurde bei einer Vorbesprechung zur Gründung<br />

der DDP am 18. November 1918 abgewiesen, weil man ihn als Stütze des Kaiserreichs verdächtigte.<br />

Stresemann gründete Ende Dezember 1918 mit ehemaligen Mitgliedern der Nationalliberalen die<br />

Deutsche Volkspartei.<br />

Die Szenerie erinnert an die Gründung der Bürgerbewegungen im Herbst 1989. Das "<strong>Neue</strong> Forum"<br />

ließ einige nicht herein, die dann den "Demokratischen Aufbruch" bildeten. Auch 1989 behauptete<br />

jeder, der es nötig hatte, oder auch nicht, daß er nicht kompromittiert wäre. Auch war die Wahl<br />

unbelasteter Parteiführer schwierig. Zum Schluß stellte sich heraus, daß fast alle Parteiführer der SED<br />

oder dem Ministerium für Staatsicherheit auf die eine oder andere Weise gedient hatten: Schnur<br />

(Demokratischer Aufbruch), Böhme (Sozialdemokratische Partei), Maiziere (CDU), Gysi (SED-PDS)<br />

und Neumann (Grüne).<br />

Genauso hatten viele Politiker der Weimarer Republik treu dem Kaiser gedient, insbesondere im<br />

Weltkrieg. Der Rausschmiß Stresemanns erinnert an die Differenzen zwischen den Bürgerbewegten<br />

70 Jahre später. Es ist ein Detail, <strong>das</strong> im persönlichen Umgang für Berlin besonders typisch ist:<br />

Ausgrenzen und Wegbeißen.<br />

Mit der Reinheit des Personals der DDP sollte es bald nach dem Gründungsaufruf sein Bewenden<br />

haben, Wendehälse drangen in die Partei ein. Die Gründungsväter traten im Laufe der Zeit fast alle<br />

aus.<br />

Bereits im Wahlkampf zur Nationalversammlung wurde die Forderung nach Sozialisierung<br />

fallengelassen, eine weichgewaschene schwammige Formulierung, auf die sich alle Richtungen<br />

einigen konnten, und die keinem weh tat wurde entwickelt: Eine "Ordnung, die <strong>das</strong> Interesse des<br />

einzelnen am Erwerb lebendig hält" 220 wurde angestrebt und propagiert. Darunter konnte sich jeder<br />

vorstellen, was er wollte.<br />

Christian Morgenstern höhnte über diese Berliner Schwammigkeit:<br />

„In Berlin empfängt man ihn ...<br />

Zwar erblickt man ihn nicht leiblich,<br />

denn wie ja schon dargeziehn,<br />

ist er weder männ- noch weiblich,<br />

220 H. Fenske: Deutsche Parteiengeschichte S. 155<br />

150


sondern schlechterdings ein Geist,<br />

dessen Nichtsehn unausbleiblich.“<br />

Die unbestimmte Programmatik läßt sich nur verstehen, wenn man in die Geschichte des Liberalismus<br />

der Kaiserzeit zurückblickt. Die nationalliberalen und linksliberalen Strömungen hatten spätestens seit<br />

1910 kein klares marktwirtschaftliches Profil, ja sie hatten um es auf den Punkt zu bringen seit dem<br />

Tod von Eugen Richter überhaupt keine Präferenz für die Marktwirtschaft.<br />

Die Programmatik der DDP war mit ihrem völligem Verzicht auf die Marktwirtschaft also nicht ein Kind<br />

des Weltkriegs und der folgenden Novemberrevolution, sondern des Spätkaiserreichs und des<br />

Imperialismus. Sie knüpfte an die Fortschrittliche Volkspartei an und war so unliberal, so dem<br />

imperialistischen Zeitgeist verhaftet, daß es ausgeschlossen erscheint, die DDP als liberale Partei zu<br />

betrachten. Ähnlich schwer fällt <strong>das</strong> bei der gleichzeitig gegründeten Deutschen Volkspartei. Beide<br />

Parteien waren Mittelstandsparteien mit mehr oder weniger Reformwillen, mit mehr oder weniger<br />

Hang zum Antiklerikalismus und mit einer Präferenz für den Erhalt des Privateigentums. Sie waren<br />

aus der parteikritischen Gesellschaft des Kaiserreichs hervorgegangen, waren den Begriffen des<br />

Kaiserreichs ohne es zu wollen letztlich verpflichtet und mit dem Ende der rückwärtsgewandten<br />

Perspektive auf <strong>das</strong> Kaiserreich am Ende der zwanziger Jahre verschwanden sie. Statt liberale<br />

Produkte wie Marktwirtschaft und Konkurrenz zu führen, bedienten sie von Anfang an die<br />

Reformkundschaft mit Halbheiten, sie waren nichtsozialistische antiklerikale Reformparteien, sie<br />

definierten sich vor allem dadurch, was sie nicht waren und nicht wollten. Was sie wirklich waren und<br />

was sie wirklich wollten, <strong>das</strong> sah man am Ende der Republik, sie waren ab 1930 nichts und sie wollten<br />

nichts. Sie werden konsequenterweise im folgenden nicht als liberale Parteien, sondern als gemäßigte<br />

Reformparteien bezeichnet. Bezeichnenderweise war der erste Vorsitzende der DDP Friedrich<br />

Naumann, der bereits vor dem Weltkrieg den neuen nationalsozialen Kurs durchgedrückt hatte.<br />

Neben Naumann gehörten weitere schillernde Persönlichkeiten des Imperialismus, des<br />

Expressionismus und des neudeutschen Wegs der Wirtschaftsverfassung zu den Gründern der DDP.<br />

Walther Rathenau, der als Kriegswirtschaftsführer im Ersten Weltkrieg die letzten Reste der<br />

Marktwirtschaft durch Planwirtschaft ersetzt hatte, wurde im Zusammenhang mit dem deutschen<br />

Sonderweg der Wirtschaftsverfassung bereits erwähnt. Hjalmar Schacht gehörte zeitlebens zur<br />

Reformsekte der Freimaurer, was ihn nicht hinderte, später Hitlers Bankier zu werden. Harry Graf<br />

Kessler hatte die Expressionisten gefördert. Otto Schott gehört zweifellos zu den fortschrittlichen<br />

Industriellen in Deutschland, die Firma seines Betriebs "Jenaer Glaswerk Schott & Gen." weist jedoch<br />

auf seine Affinität zum Genossenschaftswesen hin. Das Genossenschaftswesen ist solange nichts<br />

schlechtes, es ist sogar etwas gutes, solange es nicht als alleinseligmachende<br />

Sonderwirtschaftsweise der Germanen gepriesen wird und solange es nicht in einem<br />

planwirtschaftlichen Umfeld gedeiht. Es wurde in der Zeit um den Ersten Weltkrieg jedoch<br />

überwiegend als Keim der Planwirtschaft, als Grundlage der Volksgemeinschaft und als deutsches<br />

Spezifikum gewertet und verstanden.<br />

Nicht erst 1919 fehlte die Marktwirtschaft im Parteiprogramm. Das Programm war deshalb Selbstmord<br />

auf Raten.<br />

Ein programmatisches Ziel der DDP war es, eine neue Volksgemeinschaft zu schaffen. Dieses Ziel<br />

hätte auch als Drohung verstanden werden können, es wurde 1933 endlich erreicht, jedoch ohne die<br />

DDP.<br />

Die Generalität und die Republik<br />

1916/17 hatte sich die SPD nach russischem Vorbild gespalten. Wie in Rußland gab es bei der<br />

Spaltung der Sozialdemokraten Mehrheitler und Minderheitler. Im Unterschied zu Rußland nannte sich<br />

der rechte Flügel der Arbeiterbewegung Mehrheitssozialdemokratische Partei (MSPD) und die linke<br />

Minderheit nannte sich Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD).<br />

Die MSPD hatte mit Aufmerksamkeit verfolgt, wie die russischen Bolschewiken, die eigentlich die<br />

Parteiminderheit repräsentierten, die Menschewiken ermordeten und ihre blutige Diktatur errichteten.<br />

In Deutschland wollten die Führer der MSPD, insbesondere Friedrich Ebert und Gustav Noske, eine<br />

entsprechende Wiederholung verhindern, nach der Macht im Staate streben und diese Macht auch<br />

gegen die Linkselitaristen behaupten.<br />

151


Am 6. November wurde der russische Gesandte Joffe, der monatelang bolschewistische Wühlarbeit<br />

verrichtet hatte, aus Deutschland ausgewiesen: übrigens mit Billigung der Sozialdemokraten. Lenin<br />

schloß daraus:<br />

„Deutschland kapituliert vor der Entente und bietet ihr seine Dienste im Kampf gegen die russische<br />

Revolution an. Das ist des Rätsels Lösung.“ 221<br />

Es begann eine hektische Gesprächsoffensive der Bolschewiken. Am 14. November versuchten die<br />

Kommissare Tschitscherin und Radek die Unabhängigen Sozialdemokraten Cohn und Haase von<br />

einem Bündnis zu überzeugen, wobei sie Brot für Deutschland aus geplanten Beschlagnahmungen in<br />

der Ukraine anboten. Haase ließ die Kommissare abblitzen und riet ihnen, die angebotenen<br />

Getreidelieferungen lieber im eigenen Land bei der Bekämpfung des Hungers einzusetzen. Radek war<br />

tief beleidigt und nannte Haase einen Ju<strong>das</strong> Ischariot.<br />

Eine andere Allianz scheiterte nicht, nämlich die zwischen General Wilhelm Groener und Friedrich<br />

Ebert. Bereits am 10. November hatte Groener telefonisch seine Hilfe bei der Niederschlagung<br />

antidemokratischer Revolten angeboten, und Ebert ging unverzüglich darauf ein. Das Bündnis<br />

Friedrich Eberts mit General Groener war <strong>das</strong> Greifen nach einer Rationalität der Machtausübung, wie<br />

sie ein schwerfälliger Apparat wie eine Armee mit sich bringt. Dieser Apparat war in dem Moment wo<br />

er ge<strong>braucht</strong> wurde, jedoch schwer angeschlagen.<br />

Das Deutsche Heer löste sich auf dem Rückweg von der Westfront nach dem Grenzübertritt rasch auf,<br />

denn die Soldaten waren kriegsmüde. Als Notlösung ließ die Regierung am 9. Januar 1919 die<br />

Bildung von Freiwilligenverbänden zu. Die Zahl der Freiwilligen, die von 1918 bis 1921 die Brände<br />

löschten und beim Ludendorff-Lüttwitz-Putsch den Brand verursachten wird auf über 400.000<br />

geschätzt. 222 Das Personal der Freiwilligenverbände bestand überwiegend aus Berufssoldaten.<br />

Reformimpulse brachen und unterlagerten die traditionelle konservative Biografie in vielen Fällen. Es<br />

gilt der Satz: Je jünger, desto reformorientierter und desto weniger traditionell geprägt. Franz Ritter<br />

von Epp, Ernst von Salomon, Albert Schlageter, Hermann Ehrhardt, Friedrich Wilhelm Heinz, Manfred<br />

von Killinger, General Maercker und Gerhard Roßbach waren Berufssoldaten, die überwiegend aus<br />

Pfarrhäusern, von Gutshöfen und aus Offiziersfamilien kamen. Die Älteren gehörten mehr oder<br />

weniger zu den Stehkragen-Konservativen, die jüngeren waren den neuen expressiven Impulsen<br />

gegenüber sehr aufgeschlossen. Früher oder später, teilweise bereits vor der Machtübernahme,<br />

teilweise danach überwarfen sich fast alle mit dem Reformkind Hitler. Reine und glasklare<br />

Reformsozialisationen zeigten Ernst Jünger, der den Umweg über die Wandervogel-Bewegung<br />

machte, und Kurt Eggers, der ausgedehnte Ausflüge in die völkische Vereinslandschaft unternahm<br />

und sich als nationaler Theologie versuchte.<br />

Die sich als Elite verstehenden Freikorps räumten mit der sich ebenfalls als Elite verstehenden Vorhut<br />

der Arbeiterklasse auf. Heimatschutz war im Selbstverständnis der Jugendbewegung nicht nur<br />

Grenzschutz, sondern er umfaßte den Schutz des Brauchtums, der Landschaft und der Natur.<br />

Leitfigur und Stichwortgeber war wiederum F. Nietzsche:<br />

„Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige?<br />

Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt.“<br />

General Maercker wiederum gehörte zu den klar dem alten konservativen Lager zuzuordnenden<br />

Individuen. Er hielt bei der Aufstellung seines freiwilligen Landjägerkorps 1919 folgende Ansprache:<br />

"Kameraden, ich bin ein alter Soldat. Ich habe drei Kaisern 34 Jahre lang treu gedient. Ich habe in<br />

fünf Kriegen und drei Erdteilen für sie gekämpft und geblutet. Ich liebe und verehre Wilhelm II.<br />

heute noch ebenso wie vor 34 Jahren, als ich ihm Treue schwor. Aber er ist heute nicht mehr mein<br />

Kaiser, sondern ein Privatmann. An die Stelle der kaiserlichen Regierung ist die des<br />

Reichskanzlers Ebert getreten. Sie ist gegenwärtig in schwierigster Lage, denn sie hat keinerlei<br />

Machtmittel. ... Es hat schon einmal in Preußen eine Zeit gegeben, in der solche Freikorps<br />

geschaffen wurden. Als vor 106 Jahren Preußen in ebensolcher Schande und tiefer Schmach<br />

darniederlag wie jetzt <strong>das</strong> Deutsche Reich, da fanden sich in Breslau unter dem Kommando des<br />

221 Lenin Werke Bd. 28, Dietz, 1959, S. 145<br />

222 Hauke Haien: Rüstung und Politik in den Konzeptionen der Kampfbünde und Wehrverbände in der Weimarer<br />

Republik, members.aol.com/haukehaien/weimar.htm<br />

152


Majors von Lützow freiwillige Jäger zusammen. ... An jene Schar habe ich gedacht, als ich es<br />

übernahm, eine Freiwilligentruppe zu bilden." 223<br />

So traditionssuchend und nüchtern fand sich nicht jeder in die neue Lage. Die Jüngeren hatten jene<br />

Expressivität, die die Reformgeneration zeichnete:<br />

"Wir schlagen uns auf den Schlachtfeldern des Nachkriegs, wie wir uns an der Ostfront geschlagen<br />

hatten: singend, frei, dem Abenteuer, dem Angriff entgegen, und schweigend, haßerfüllt und<br />

gnadenlos in der Schlacht".<br />

So bekannte sich Friedrich Wilhelm Heinz. Gerhard Rossbach schrieb:<br />

"Sammeln von Männern, um Soldaten daraus zu machen, Händel suchen, trinken, lärmen und<br />

Fenster einschlagen, zerstören und in Stücke hauen, was zerstört werden soll. Skrupellos leben<br />

und unerbittlich hart sein." 224<br />

"War es nicht, als spürte ich an den zuckenden Metallteilen des Gewehres, wie <strong>das</strong> Feuer in<br />

warme, lebendige <strong>Menschen</strong>leiber schlug? Satanische Lust, wie, bin ich nicht eins mit dem<br />

Gewehr? Bin ich nicht Maschine - kaltes Metall? Hinein, hinein in den wirren Haufen..."<br />

So phantasierte der jugendbewegte Ernst von Salomon. 225<br />

"Die Männer springen auf, wie hochgepeitscht. Sie krümmen sich zum Ansprung nach vorn, als<br />

spürten sie sich selbst Geschosse. Es faucht durch die glasig gewordene Luft, es heult, es bebt,<br />

flimmert, grollt. Der Wald, der Fluß, <strong>das</strong> Feld, alles zuckt wie lebendig..." 226<br />

"Schnell, nur schnell, jetzt muß getötet werden! Jetzt gibt es nur eine Erlösung, eine Erfüllung und<br />

ein Glück: <strong>das</strong> fließende Blut. Gleich wird man zupacken können und man empfindet eine<br />

dämonische Vorfreude in dem Bewußtsein, daß man als der stärkere, als der Unwiderstehliche<br />

auftreten wird. Wartet nur, gleich sind wir da! Ich fühle, wie sich meine rechte Hand wie ein<br />

Schraubstock um den Pistolenkolben spannt, und die Linke um den kurzen Bambusstock. Ich<br />

fühle, wie mir <strong>das</strong> Blut siedend in <strong>das</strong> Gesicht geschossen ist, wie sich die Zähne<br />

aufeinanderpressen, und wie die hellen Tränen unaufhaltsam über <strong>das</strong> Gesicht herunterfließen." 227<br />

Man kann diese Zitate endlos verlängern, ohne einen weiteren Erkenntnisgewinn zu erzielen: Der<br />

ehemalige Wandervogel Jünger spielte ebenso wie seine Offizierskollegen begeistert <strong>das</strong> Lied vom<br />

Tod und <strong>das</strong> Moment des Tötens wurde in einen rauschhaften expressionistischen Kontext gestellt.<br />

Wie Heym und Meidner es vor dem Kriege komponiert hatten, so sangen es die Soldaten. Es war ein<br />

Refrain auf die gleichzeitige expressionistische Welle der Kunst.<br />

Die Kavallerie hatte ihre militärische Bedeutung im Jahre 1917 längst verloren, die Soldaten wurden<br />

mit Fernwaffen zerfetzt. Durch die Köpfe der Jugendbewegung geisterten die Ideale einer ritterlichen<br />

Schlacht auf edlen Pferden.<br />

Was Expressionisten mit schreienden Farben und wankenden Vertikalen ausdrückten, <strong>das</strong> versuchten<br />

Freikorps-Soldaten als Aktionskünstler mit dem Maschinengewehr als blutiges Happening<br />

darzustellen.<br />

„Arbeiten! Rausch! Gehirn zerschmettern! Kauen, Fressen, Schlingen, Zerwühlen! Wonnevolle<br />

Schmerzen des Gebärens! Krachen des Pinsels, am liebsten Durchstoßen der Leinwände,<br />

zertrampeln der Farbtuben!“<br />

Das Zitat stammt nicht von einem malenden Freischärler, sondern vom Maler Max Pechstein 1920.<br />

223<br />

aus www.freiporps.net/zitate.htm<br />

224<br />

s.o.<br />

225<br />

Salomon: Die Geächteten, S. 100, zitiert in Theweleit, Männerphantasien Bd. 2, S 180<br />

226<br />

F. Nord, Der Krieg im Baltikum, zitiert in Theweleit, Männerphantasien Bd. 2, S 181<br />

227<br />

E. Jünger: Feuer und Blut, S. 139 f., zitiert in Theweleit, Männerphantasien Bd. 2, S 121<br />

153


Nicht nur in Deutschland, im ganzen antibürgerlichen alten Europa wimmelte es nicht nur von<br />

überflüssigen Soldaten, sondern auch von malenden intellektuellen ego-shootern: André Breton<br />

phantasierte:<br />

„Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die<br />

Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht einmal im<br />

Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der<br />

Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen – der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat<br />

den Wanst ständig in Schusshöhe.“<br />

General Maercker hatte Deutschland mit der Bildung seines Freikorps vor dem Chaos retten wollen,<br />

was historisch kurzzeitig auch gelang. Rückblickend beklagte Ernst von Salomon dagegen 1930 in<br />

seinem autobiografischen Roman „Die Geächteten“ zwei Sünden gegen den Geist: Im Baltikum habe<br />

man als Söldner Englands einen Schutzwall gegen den geheimnisvollen Aufbruch eines Volkes<br />

errichtet, danach habe man <strong>das</strong> Vaterland vor dem Chaos gerettet, statt dem Chaos seinen Lauf zu<br />

lassen, was dem Werdenden günstiger gewesen wäre, als die Ordnung. 228 Maercker war kaiserlicher<br />

Ordnungsfaktor, Salomon nietzscheanischer Seilkletterer über dem Abgrund.<br />

Am 19. Dezember 1918 reiste der sowjetrussische Revolutionär Karl Radek als österreichischer<br />

Soldat verkleidet nach Berlin und betrieb mit Erfolg die Gründung der KPD und die Organisation des<br />

Aufstands. Zwischen Rosa Luxemburg und ihm war <strong>das</strong> sozialdemokratische Tischtuch seit 1912<br />

zerschnitten. Luxemburg hatte seinen ehrenrührigen Rausschmiß aus der polnischen<br />

Sozialdemokratie erreicht und seinen Ruf auch in Deutschland ruiniert. Nun stand er nach sechs<br />

turbulenten Jahren quasi als ihr Vorgesetzter in der kommunistischen Türe. Rosa Luxemburg gehörte<br />

im tiefsten Inneren zu den letzten Marxisten in der Linken. Im Programm des Spartakusbundes hatte<br />

sie geschrieben: „Die proletarische Revolution ... ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die<br />

Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmasse des<br />

Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in<br />

die Wirklichkeit umzusetzen.“ Da war wieder Marxens Mission und Marxens Notwendigkeit, die des<br />

Führerimpulses nicht bedurften, sondern der Wechsel, der sich naturgesetzlich abspielen sollte. Die<br />

Metapher des Modelns war offenbar dem Kommunistischen Manifest entlehnt. Bei Luxemburg hieß<br />

es:<br />

„Der Spartakusbund wird nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren<br />

unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Massen in Deutschland.“<br />

Radek hatte dagegengesetzt, <strong>das</strong>s die Revolution nie und nirgends als Tat der Mehrheit der<br />

Bevölkerung beginnen werde. Die Diktatur des Proletariats sei generell die Diktatur einer<br />

Minderheit. 229<br />

So standen sich am Vorabend der KPD-Gründung <strong>das</strong> marxistische und <strong>das</strong> reformistische Konzept<br />

gegenüber, <strong>das</strong> marxistische vertreten durch Luxemburg und <strong>das</strong> reformistische durch Liebknecht<br />

und Radek. Koenen schreibt, <strong>das</strong>s sich Liebknecht im Zuchthaus als Anti-Materialist mit<br />

„Bewegungsgesetzen menschlicher Entwicklung“ beschäftigt habe. Zum Problem der<br />

„materialistischen“ Rosa Luxemburg sollte es werden, und ihr Schicksal wurde dadurch besiegelt,<br />

<strong>das</strong>s sie sich ohne erkennbare Not und gegen frühere Erkenntnisse mit bösen elitaristischen Buben<br />

einließ.<br />

Liebknecht hatte Anfang Januar in einer spontanen Aktion ein dreiköpfiges Revolutionskomitee<br />

gebildet und die Regierung Ebert-Scheidemann am 6. Januar 1919 für abgesetzt erklärt. Ebert ging<br />

entschlossen gegen die reformistische Gefahr vor. Am 12. Januar 1919 erschien im „Vorwärts“<br />

folgendes Gedicht, welches den moralischen Boden für <strong>das</strong> demokratische roll-back vorbereitete:<br />

»Ich sah der Massen räuberische Streife,<br />

sie folgten Karl dem blinden Hödur nach,<br />

sie tanzten nach des Rattenfängers Pfeife,<br />

der ihnen heuchlerisch die Welt versprach.<br />

Sie knieten hin vor blutigen Idolen,<br />

bauchrutschten vor der Menschheit Spott und Hohn,<br />

228 Ernst von Salomon: Die Geächteten, Berlin, 1930, S. 107 f.<br />

229 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 198<br />

154


vor Rußlands Asiaten und Mongolen,<br />

vor Braunstein, Luxemburg und Sobelsohn.« 230<br />

Gustav Noske als Oberbefehlshaber in den Marken setzte zur Niederwerfung des elitaristischen<br />

Putsches sowohl eigene republikanische Truppen ein, deren Effizienz im Nachhinein umstritten ist, als<br />

auch Freiwilligenverbände, die sogenannten Freikorps.<br />

Die Linkselitaristenpresse vermutete eine Mordprämie der SPD und Gerge Grosz malte 1920 die<br />

Karikatur „Die SPD und <strong>das</strong> Militär“<br />

Nach der Ermordung von Luxemburg und Liebknecht kam es zu einem Prozess, bei dem auch<br />

Reichswehrminister Gustav Noske aussagte. Seither wird vermutet, <strong>das</strong>s der russische<br />

Sozialdemokrat Parvus Finanzier der Noske´schen Freiwilligenverbände war, insbesondere des<br />

„Regiment Reichstag“. 231<br />

Der Einsatz der in einem kulturellen Ausnahmezustand befindlichen Freikorps hatte einen hohen<br />

Preis. Die Freikorps arbeiteten nicht immer mit dem Bürokratismus einer Armee, sondern auch mit<br />

expressionistischem Eifer, wie sich den Darstellungen vieler Freichorpsführer entnehmen läßt.<br />

Dadurch kam es verschiedentlich zu unnötigen Gewalteskalationen, die einer geordneten<br />

Machtausübung schadeten.<br />

Diese Auswüchse direkt mit der Reichswehr in Verbindung zu bringen ist richtig und falsch<br />

gleichermaßen. Auf der einen Seite handelte es sich beim Führungspersonal der Freikorps in aller<br />

Regel um ehemalige preußische Offiziere. Die Befehlskette von der Zentrale zu den Freikorps war<br />

jedoch teilweise zusammengebrochen oder fragmentarisch, eine nationale Leitung existierte nicht, im<br />

Baltikum entwickelten sich die Anführer zu lokalen warlords, im ungünstigen Fall machte jeder was er<br />

wollte, und im günstigsten Fall <strong>das</strong>, was über Jahrzehnte militärische Routine geworden war.<br />

Nach der Neustrukturierung der Reichswehr waren der politischen Führung die Hände bei der Reform<br />

dieser Institution weitgehend gebunden, eine Mischung aus Verpflichtung und Erpressung schuf eine<br />

ungute mentale Abhängigkeit. Die Reichswehr sollte sich teilweise mit dem Führungspersonal des<br />

Kaiserreichs als Staat im Staate behaupten. Solange Groener selbst die Fäden der Reichswehr in der<br />

Hand behielt, blieb ein Mindestmaß an Loyalität der Reichswehr zur Republik gewahrt. Dieses<br />

Mindestmaß bestand in der kritischen Situation des Ludendorff-Lüttwitz-Putsches in einer<br />

unerfreulichen und unzureichenden Neutralität der Reichswehr gegenüber der gewählten Regierung.<br />

Immer wenn es darum ging, hinter dem Rücken der Verfassungsorgane mit der Roten Armee die<br />

Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrags zu unterlaufen, war die Reichswehr aktiv und<br />

kümmerte sich kaum darum, daß sie mit Bolschewiken hantierte. Immer wenn die Bolschewiken in<br />

Deutschland einen Putschversuch unternahmen, stellte sich die Reichswehr in den Weg.<br />

Die Reichswehr war ein notwendiges Ordnungsinstrument, <strong>das</strong> nicht ohne Nebenwirkungen<br />

angewendet werden konnte. Die Wirkung bestand in der Aufrechterhaltung der republikanischen<br />

Ordnung, die Nebenwirkung in der gleichzeitigen Infragestellung dieser Ordnung. Die Reichswehr<br />

bewies der politischen Führung immer wieder ihr politisches Pygmäentum, ihre Abhängigkeit und ihre<br />

Unfähigkeit, eigene Machtmittel zu schaffen.<br />

In korporatistischen Ideen gefangen<br />

Im Zentrum hatte es bereits im Weltkrieg eine Spaltung zwischen Durchhaltefanatikern und<br />

Anhängern eines Verständigungsfriedens gegeben. Auf der einen Seite war seit dem 1. November<br />

1917 der Gegner des Parlamentarismus und der Friedensresolution Georg Hertling Reichskanzler und<br />

ölte die Kriegsmaschinerie nach Kräften. Auf der anderen Seite hatte sich eine Gruppe um Erzberger<br />

gebildet, die für Frieden eintrat. Diese Spaltung des Zentrums reichte bis in die Novemberrevolution<br />

hinein, als Konzepte für die Zukunft entwickelt werden mußten.<br />

In der Revolution war der antiklerikale unabhängige Sozialdemokrat Adolph Hoffmann preußischer<br />

Kultusminister geworden. Er begann eine sozialistische Kulturpolitik zu betreiben, die Trennung von<br />

230 Mit Braunstein ist Kommissar Trotzki gemeint, mit Sobelsohn Kommissar Radek.<br />

231 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, Fußnote auf S. 206<br />

155


Kirche und Staat, die Abschaffung der Schulaufsicht der Kirchen und die Abschaffung der Religion als<br />

Schulfach standen auf seinem Programm. Einerseits entsprachen diese <strong>Neue</strong>rungen dem Zeitgeist,<br />

denn die Mehrheit der Deutschen war bereits in der Kaiserzeit nicht mehr streng konfessionell<br />

gebunden, andererseits war die Trennung von Kirche und Staat in den katholischen Gebieten im<br />

Westen und Süden politisch nicht durchsetzbar.<br />

Oft erreicht man mit Ungeschick <strong>das</strong> Gegenteil dessen, was man erreichen will. Das Schreckgespenst<br />

eines neuen Kuturkampfs einte <strong>das</strong> Zentrum. Durch die sozialistischen Experimente wurde der<br />

Zusammenhalt der Katholiken gestärkt und die Frontstellung der frühen Kaiserzeit, in der sich die<br />

Katholiken gegen den Rest Deutschlands einigelten, wieder hergestellt. Der Wahlkampf der<br />

Katholiken zur Nationalversammlung richtete sich folgerichtig vor allem gegen MSPD und USPD.<br />

Das politische Programm des Zentrums vor der Wahl zur Nationalversammlung trug einige weltfremde<br />

Illusionen in sich, die darauf schließen ließen, daß die Parteiführung die Tragweite der deutschen<br />

Niederlage nicht verstanden hatte, oder aber ihrer Wählerschaft diese Realitäten bewußt nicht<br />

vermitteln wollte. Ein baldiger Friedensschluß, die Installation eines Völkerbundes, zwischenstaatliche<br />

Schiedsgerichtsbarkeit, völkerrechtlich gesicherte Unabhängigkeit des Heiligen Stuhls, die Schaffung<br />

von Kolonialgebieten und die Missionierung der Eingeborenen, Abrüstung, Einberufung der<br />

Nationalversammlung und Schaffung einer Verfassung, Sicherung des Berufsbeamtentums,<br />

Meinungs-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, die Erhaltung des Privateigentums auch an<br />

Produktionsmitteln, eine gemeinwohlorientierte Privatwirtschaft, der Fortbestand der konfessionellen<br />

Volksschule und die Freiheit der kirchlichen Gesellschaften und Vereine wurden angestrebt. Am 30.<br />

Dezember wurden die Erhaltung des föderalistischen Systems, die Kulturhoheit der Länder und die<br />

Einführung von Grundrechten nachgeschoben. Was beim Zentrum programmatisch wie bei DDP und<br />

DVP fehlte, war die klare Forderung nach marktwirtschaftlichen Strukturen in der<br />

Nachkriegswirtschaft.<br />

Diese fehlende westliche Orientierung der Katholiken hatte offensichtlich mit dem Sitz der<br />

Kirchenzentrale in Rom zu tun. Italien war wie Deutschland eher ein Refugium zünftiger und<br />

genossenschaftlicher Wirtschaftsformen. Und im Banne dieser Traditionen predigten die Päpste<br />

korporatistische Wirtschaftsmodelle: Die Konflikte sollten verbandsmoderiert mit der Bibel unterm Arm<br />

gelöst werden, manche Vorstellung war genossenschaftlich angehaucht oder gewerkschaftlichsyndikalistisch<br />

beeinflußt. Die Päpste orientierten sich offensichtlich an der Wirtschaftspraxis im<br />

näheren Umfeld und in der vorbürgerlichen Vergangenheit.<br />

Katharina Runkel hat in ihrer Hausarbeit „Der Volksverein für <strong>das</strong> katholische Deutschland in der<br />

Weimarer Republik“ die Defizite der katholischen Wirtschaftspolitik deutlich gemacht:<br />

„Dem Volksparlament (eine undefinierte Masse) sollte“ (...) „eine besondere Vertretung der<br />

wirtschaftlichen Stände gegenüber stehen, der sogenannte Reichswirtschaftsrat. Dieser sollte<br />

weder von einer Partei noch von einer Masse beherrscht werden, und alle Stände sollten gleich<br />

viele Vertreter wählen.“<br />

Dieses ständische Modell war ein Modell, welches teilweise mit dem Reichswirtschaftsrat auch<br />

umgesetzt wurde, und <strong>das</strong> zur Abgrenzung gegenüber den konservativen und nationalsozialistischen<br />

Konzepten nicht geeignet war. Zur Abgrenzung geeignet war einzig und alleine ein<br />

marktwirtschaftliches Modell.<br />

Der hartnäckige Kampf des Zentrums für eine staatliche Kartellaufsicht von 1909 bis 1914, als <strong>das</strong><br />

Zentrum bei den jährlichen Etatberatungen im Reichstag immer wieder Kartelldebatten provozierte<br />

darf nicht mit einem Kulturkampf gegen die Kartelle schlechthin verwechselt werden. Dr. Mayer, der<br />

die vom Zentrum eingebrachte Entschließung am 5.3.1908 begründete, betonte:<br />

„Wir sind keinesfalls Kartellgegner, im Gegenteil, meine Herren! Wir alle wissen, den Kartellen ist<br />

wesentlich, durch völlige oder doch mögliche Beseitigung des freien Wettbewerbs die eigene Lage<br />

zu verbessern. Wir haben ...in dem freien Wettbewerb niemals <strong>das</strong> Allheilmittel unserer<br />

Volkswirtschaft erblickt, und wir müssen auch sagen, ein Zusammenschluß, wie ihn die Kartelle<br />

erstreben, mit dem Zweck, die Produktion dem Bedarf anzupassen und alle überflüssigen<br />

156


Produktionsmittel auszuschalten, entspricht uns vielmehr als der durch den freien Wettbewerb<br />

geschürte Kampf aller gegen alle...“ 232<br />

Im Zweifel für die Tradition<br />

Am 9. Januar 1919 veröffentlichte die Reichsleitung um Friedrich Ebert im Reichsanzeiger folgenden<br />

Aufruf:<br />

“Spartakus kämpft jetzt um die ganze Macht. Die Regierung, die binnen 10 Tagen die freie<br />

Entscheidung des Volkes über sein eigenes Schicksal herbeiführen will, soll mit Gewalt gestürzt<br />

werden. Das Volk soll nicht sprechen dürfen. Seine Stimme soll unterdrückt werden. Die Erfolge<br />

habt Ihr gesehen. Wo Spartakus herrscht, ist jede persönliche Freiheit und Sicherheit aufgehoben:<br />

Die Presse ist unterdrückt, der Verkehr lahmgelegt. Teile Berlins sind die Stätte blutiger Kämpfe.<br />

Andere sind schon ohne Wasser und Licht. Proviantämter werden gestürmt, die Ernährung der<br />

Soldaten- und Zivilbevölkerung wird unterbunden. Die Regierung trifft alle notwendigen<br />

Maßnahmen, um diese Schreckensherrschaft zu zertrümmern und ihre Wiederkehr ein für allemal<br />

zu verhindern. Entscheidende Handlungen werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Es<br />

muss aber gründliche Arbeit getan werden, und die bedarf der Vorbereitung. Habt nur noch kurze<br />

Zeit Geduld! Seid zuversichtlich, wie wir es sind, und nehmt Euren Platz entschlossen bei denen,<br />

die Euch Freiheit und Ordnung bringen werden. Gewalt kann nur mit Gewalt. bekämpft werden. Die<br />

organisierte Gewalt des Volkes wird der Unterdrückung und der Anarchie in Ende machen.<br />

Einzelerfolge der Feinde der Freiheit, die von ihnen in lächerlicher Weise aufgebauscht werden,<br />

sind nur von vorübergehender Bedeutung. Die Stunde der Abrechnung naht!“<br />

Einen Tag vor der Wahl zur Nationalversammlung replizierte Rosa Luxemburg in der "Roten Fahne:<br />

"Der Bürgerkrieg, den man aus der Revolution mit ängstlicher Sorge zu verbannen sucht, läßt sich<br />

nicht verbannen. Denn Bürgerkrieg ist nur ein anderer Name für Klassenkampf, und der Gedanke,<br />

den Sozialismus ohne Klassenkampf durch parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse einführen zu<br />

können, ist eine lächerliche kleinbürgerliche Illusion."<br />

Sie wich von ihrer esoterischen Überzeugung ab, vertrat letztlich die Linie ihrer innerparteilichen<br />

Gegner Liebknecht und Radek und begründete den Aufstand mit den Argumenten, daß die deutsche<br />

bürgerliche Gesellschaft eine reißende Bestie sei, ein Hexensabbat der Anarchie und ein Pesthauch<br />

für Kultur und Menschheit. Falls sie damit die Kriegsliteraten gemeint haben sollte, so hätte sie<br />

natürlich recht gehabt. Sie meinte jedoch eher <strong>das</strong> kapitalistische System, <strong>das</strong> es in Deutschland nicht<br />

mehr gab, welches also eine Einbildung der Expressionisten und Rosa Luxemburgs war. Mit der<br />

Abneigung gegen eine freiheitliche und parlamentarische Ordnung hütete sie dieselben<br />

Ressentiments, aus denen die Kriegstreiber ihre Zerstörungskräfte bezogen, nämlich die<br />

nietzscheanische Überzeugung vom Vorrang des Krieges vor der Politik, den Kult der Tat und der<br />

Aktion, seine Abneigung gegen die Demokratie und die mit ihr verbundenen Parteien. Die lächerlichen<br />

Kleinbürger blieben vorerst bei ihren parlamentarischen Illusionen und während die Wahl zur<br />

Nationalversammlung am 19.01.1919 stattfand wurde der von Liebknecht befohlene spartakistische<br />

Aufstand durch Freikorps und republikanische Kampftruppen niedergeschlagen.<br />

Einen Tag vor der Wahl zur Nationalversammlung hatte die Pariser Friedenskonferenz unter<br />

Ausschluß Deutschlands begonnen. Die Friedensbedingungen waren gerade in Arbeit. Spätere<br />

Abtretungsgebiete wie <strong>das</strong> Saarland, Westpreußen, Schleswig und Oberschlesien wählten deshalb<br />

noch mit.<br />

Die Wahl vom Januar 1919 zeigte gegenüber der letzten Reichstagswahl vor dem Weltkrieg im Jahr<br />

1912 eine Tendenz zur Stärkung der Parteien, die 1917 die Friedensresolution in den Reichstag<br />

eingebracht hatten. Die SPD hatte sich in Ökonomisten und Reformisten gespalten, die Konservativen<br />

waren nach dem Rücktritt des Kaisers noch geschwächt und demoralisiert, die Deutsche<br />

Demokratische Partei hatte sich im wesentlichen aus Mitgliedern der Fortschrittlichen Volkspartei neu<br />

gegründet, sonst hatte sich wenig geändert. Durch die Abtretung von Elsaß-Lothringen und Gebieten<br />

in Ostelbien spielten die polnischen, dänischen und französischen Minderheiten keine große Rolle als<br />

Wähler mehr und Deutschland war etwas protestantischer geworden.<br />

232 Reichstagsdebatte vom 5.3.1908, zitiert im Discussion Paper 04/10 des Max-Planck-Instituts für<br />

Gesellschaftsforschung<br />

157


1919 1912<br />

SPD 37,9 % (34,8 %)<br />

USPD 7,6 % ( 0,0 %)<br />

DDP 18,6 % (12,3 % Fortschrittliche Volkspartei)<br />

DVP 4,4 % (13,6 % Nationalliberale Partei)<br />

Antisemiten 0,0 % ( 2,9 % Deutschsoziale Reformpartei)<br />

DNVP 10,3 % (12,2 %, 1912 Konservative und Reichspartei)<br />

Zentrum 19,7 % (16,4 %)<br />

Sonstige 1,6 % ( 7,7 %)<br />

Unter den Stimmen für die Sonstigen waren 1912 insgesamt 3,6 % von Polen und 1,3 % von Elsaß-<br />

Lothringern gezählt worden, die sich im Januar 1919 bereits teilweise außerhalb des Reichsgebiets<br />

befanden.<br />

Wenn man die Stimmen von 1912 auf <strong>das</strong> Gebiet von 1920 bereinigt, so ergibt sich ungefähr<br />

folgendes Ergebnis:<br />

1912<br />

SPD (38,0 %)<br />

DDP (13,5 % Fortschrittlichen Volkspartei)<br />

DVP (14,5 % Nationalliberale Partei)<br />

Antisemiten ( 3,0 % Deutschsoziale Reformpartei)<br />

DNVP (12,0 %, Konservative und Reichspartei)<br />

Zentrum (16,0 %)<br />

Sonstige ( 3,0 %)<br />

Es ist dadurch bedingt, <strong>das</strong>s in den Abtretungsgebieten Polen, Franzosen, Dänen, <strong>das</strong> Zentrum und in<br />

Westpreußen auch die Konservativen überproportional gewählt wurden. Sozialdemokratische<br />

Hochburgen gingen dagegen nicht verloren.<br />

Das sozialdemokratische Industriemilieu (MSPD) ging aus der Wahl zur Nationalversammlung mit<br />

37,9 % geringfügig gestärkt hervor. Das gemäßigte Reformmilieu hatte insgesamt Zustimmung<br />

verloren: 23,0 % statt fast 30 % 1912. Dafür hatten heterodoxe Linke (USPD) einen Zugewinn von 7,6<br />

%. Das konservativ-protestantische Milieu (DNVP) hatte mit 10,3 % bedingt durch die militärische<br />

Niederlage etwas Zustimmung verloren. Das katholische und christliche Zentrum war dagegen etwas<br />

gestärkt worden.<br />

Neu gegenüber 1912 war die Spaltung der Sozialdemokraten in ein traditionell marxistisches und ein<br />

heterodoxes Reformlager, <strong>das</strong> sich wiederum spaltete: Die Spartakisten um Liebknecht und<br />

Luxemburg, die anläßlich der Wahl zur Nationalversammlung den Putsch versucht hatten, traten<br />

wegen ihrer Abneigung gegen den Parlamentarismus und die Demokratie bei der Wahl nicht an.<br />

Die USPD strebte auf dem linken Flügel die Diktatur des Proletariats an, der rechte Flügel setzte auf<br />

den Parlamentarismus, wollte ihn jedoch mit Räte-Elementen anreichern. 233 Anhand des<br />

Wahlergebnisses kann der von Moskau ausgelöste Versuch, die Diktatur des Proletariats zu errichten,<br />

trotz des spartakistischen Wahlboykotts als Versuch einer sehr kleinen Minderheit angesehen werden,<br />

nach Petersburger Vorbild die Macht an sich zu reißen. Die Voraussetzungen für eine<br />

bolschewistische Machtübernahme waren in Europa nicht günstig und sie wurden auch im Verlauf der<br />

20er Jahre nicht besser, weil in Europa die spezifisch russische Tradition der völligen<br />

Eigentumslosigkeit und der absoluten Rechtlosigkeit gegenüber dem Staate fehlte.<br />

Im folgenden werden die Wahlergebnisse sortiert. Die außerpreußischen werden in norddeutsche und<br />

süddeutsche gesondert, die preußischen in ostelbische und westliche. Wahlergebnis nach<br />

Wahlbezirken:<br />

Norddt. Länder SPD USPD DDP DVP DNVP Zentrum<br />

Anhalt 57,6 1,9 31,5 0,6 7,5 0,9<br />

Braunschweig 29,8 28,4 18,3 0,1 23,3 0,1<br />

233 H. Feske: Deutsche Parteiengeschichte S. 172<br />

158


Bremen 42,1 18,2 33,5 0,3 4,0 1,8<br />

Hamburg 51,3 6,7 26,3 11,7 2,7 1,2<br />

Lippe 49,9 0,5 23,5 2,2 21,0 3,0<br />

Lübeck 58,9 0,0 30,5 0,5 10,1 0,0<br />

Meckl.-Schwerin 47,9 0,0 29,5 5,8 13,5 0,0<br />

Meckl.-Strelitz 49,0 0,0 35,6 0,8 14,2 0,0<br />

Oldenburg 31,8 6,4 30,9 9,5 2,2 19,1<br />

Sachsen 46,0 14,1 22,1 4,0 12,8 1,0<br />

Schaumburg-Lippe 55,6 0,0 20,4 8,5 14,8 0,7<br />

Thüringen 38,7 20,4 23,0 0,0 16,9 1,1<br />

Waldeck 38,8 0,0 23,5 10,7 2,8<br />

Süddeutsche Länder SPD USPD DDP DVP DNVP Zentrum<br />

Baden 34,8 0,0 21,5 0,0 7,5 36,2<br />

Bayern 33,6 3,7 13,5 2,7 3,6 34,6<br />

Hessen 44,3 1,9 19,0 11,2 6,6 18,0<br />

Württemberg 35,9 2,8 25,4 0,0 14,1 21,5<br />

Preußen, Ostprov. SPD USPD DDP DVP DNVP Zentrum<br />

Berlin 36,4 27,9 16,0 5,6 9,3 5,1<br />

Brandenburg 42,3 11,5 21,3 7,6 14,6 2,7<br />

Niederschlesien 49,0 0,1 19,9 0,0 14,7 16,4<br />

Oberschlesien 32,7 4,9 6,9 0,0 7,2 48,4<br />

Ostpreußen 46,1 5,0 18,8 7,9 11,9 10,3<br />

Pommern 41,0 1,9 21,7 10,9 24,0 0,6<br />

Posen-Westpreußen 24,4 3,2 26,3 6,3 27,1 12,8<br />

Prov. Sachsen 34,5 24,8 23,0 2,7 10,9 4,0<br />

Schleswig-Holstein 45,7 3,5 27,2 8,0 7,3 1,0<br />

Preußen, Westprov. SPD USPD DDP DVP DNVP Zentrum<br />

Hannover 40,5 2,2 14,7 10,5 3,5 23,6<br />

Hessen-Nassau 41,2 4,4 22,0 6,4 8,1 17,9<br />

Hohenzollern 17,3 0,4 12,1 0,0 1,5 68,3<br />

Rheinprovinz 25,2 5,5 11,0 3,0 7,1 48,2<br />

Westfalen 35,4 4,0 9,2 2,9 12,1 36,4<br />

In den norddeutschen Kleinstaaten und den preußischen Ostprovinzen gab es fast überall linke<br />

Mehrheiten, in den süddeutschen Staaten und den preußischen Westprovinzen wurden diese linken<br />

Mehrheiten wegen der Stimmen für <strong>das</strong> Zentrum nicht erreicht.<br />

Ideengeschichtlich sind die Sozialdemokraten und <strong>das</strong> Zentrum die beiden politischen Pole, die von<br />

der mitteleuropäischen Kulturrevolution der Jahrhundertwende am wenigsten beeinflußt waren. Das<br />

Relative dieser Feststellung muß ausdrücklich betont werden. Dazwischen spannt sich ein<br />

reformistisches Kontinuum. Die USPD mit ihrem linken leninistisch beeinflußten Flügel und die DDP<br />

mit ihrem genossenschaftlich-korporatistischen Übergewicht standen in der Mitte des neuzeitlichen<br />

Geistes, bei der antiklerikalen, rechtsstaatlichen, aber planwirtschaftlichen DVP sowie den<br />

antikapitalistischen und antisemitischen Konservativen verbanden sich traditionelle Vorstellungen der<br />

Frühkaiserzeit mit reformistischen der Spätkaiserzeit.<br />

Am Beginn der Weimarer Republik gab es entsprechend dem Wahlergebnis politisch-ideologische<br />

Bollwerke: die SPD als fortschritts- und technikgläubiger Experimentierclub für Luftschlösser aus<br />

Gemeinwirtschaft und Demokratismus, die KPD als elitaristische Schmiede des <strong>Neue</strong>n Proletariers,<br />

<strong>das</strong> Zentrum als einzige Volkspartei im modernen Sinne, die DNVP als metamorphes Gestein aus<br />

altpreußischen Sedimenten der Zeit des Soldatenkönigs, Friedrichs II. und Bismarcks, die in der<br />

Spätkaiserzeit im Reformbackofen teils expressiv-jugendlich verflüssigt und wieder erkaltet waren, die<br />

janusköpfigen Mittelparteien DDP und DVP, in eine Richtung mittelalterlichen Zunftträumen<br />

159


nachhängend, in die andere Richtung demokratische Illusionen verbreitend und in der Mittel- und<br />

Spätphase der Republik die nationalsozialistische Kehrmaschine, die alle in den korporatistischen<br />

Zahnrädern zermalmten reformistisch-elitaristischen Trümmerchen aufsaugte, heilte und<br />

synthetisierte. Viele der vorgenannten Ideologien waren relativ neu und führten deshalb weniger zur<br />

Stabilisierung, sondern trugen mehr zum Durcheinander bei. Einigermaßen stabilisierende Kräfte<br />

waren nur der Katholizismus und der traditionelle Marxismus.<br />

Das katholische Zentrum war von den staatstragenden Kräften politisch am erfahrensten, da es<br />

bereits während der Kaiserzeit zeitweilig mitregiert hatte. Der sozialdemokratische Marxismus war in<br />

vierzigjähriger Opposition gereift, Kritiker sprachen von Revisionismus, und auf die Machtübernahme<br />

einigermaßen vorbereitet. Die Sozialdemokratie verhielt sich in der politischen Praxis von einigen<br />

folgenschweren Aussetzern abgesehen in pragmatischer Klientelpolitik gefangen, in der Theorie<br />

dagegen dogmatisch. Kaum ein Wahlkampf, kaum ein Parteitag, auf dem nicht ideologisches<br />

Feuerwerk gezündet wurde.<br />

Alle Reformideologien dagegen, ob leninistisch-elitaristische, reformistisch-nationalistische,<br />

antikapitalistisch-antisemitische oder seltsam verschrobene, waren zur Zeit des Spätkaiserreichs<br />

ausgebrütet worden, waren relativ neu und destabilisierend.<br />

Wir sind es gewöhnt, Wählerwanderungen dort zu vermuten, wo die Parteien nach dem Links-Rechts-<br />

Schema der Sitzordnung in den Parlamenten aneinandergrenzen. Diese Vorstellung ist im modernen<br />

Parteiensystem der Bundesrepublik oft falsch, noch unzutreffender ist diese Vermutung für die<br />

Weimarer Republik. So wie heute der Weg von der Linken zur NPD für manche Wähler kurz ist (wenn<br />

die Linke beispielsweise wie die NPD von Fremdarbeitern schwadroniert), so war auch der Weg von<br />

der KPD zur NSDAP eine gangbare Alternative. Mit dem Nationalbolschewismus gab es eine wenig<br />

massenwirksame Synthese, viel wichtiger als Verbindungselemente waren der Führer- und<br />

Personenkult, der aus einer zeitgemäßen elitaristischen Grundüberzeugung herrührte, der damit<br />

verbundenen Zentralismus der Gesellschaftsstruktur, der sich aus ebenderselben Vorstellungswelt<br />

generierte und der mit zentralistischen und elitaristischen Strukturen korrespondierende Sozialismus.<br />

Überflüssig zu erwähnen, daß auch die nietzscheanischen Verdikte über Gott in roten und braunen<br />

Kreisen rezipiert wurden. Es sind aber nicht nur die heiß umstrittenen Berührungsflächen zwischen<br />

ganz links und ganz rechts, auch zwischen Katholizismus und Kommunismus, zwischen gemäßigtem<br />

Reformismus und Nationalsozialismus, zwischen Konservatismus und Sozialdemokratie gab es<br />

häufigeren Wählerwechsel, als beispielsweise zwischen SPD und DDP, zwischen SPD und Zentrum,<br />

zwischen Zentrum und DDP oder zwischen Konservativen und Katholiken. Diese Änderungen des<br />

Wahlverhaltens werden uns im folgenden beschäftigen, da sie die kulturelle und ideologische<br />

Landschaft der Republik beschreiben.<br />

Die USPD war am Anfang der Republik in den industriellen Zentren Mitteldeutschlands<br />

überproportional vertreten, die SPD und die DDP in den ländlichen und protestantischen Gebieten<br />

Norddeutschlands, <strong>das</strong> Zentrum im Westen und Süden und die Deutschnationalen in Ostelbien. Diese<br />

regionalen Schwerpunkte entsprachen in etwa denen der Vorkriegszeit.<br />

Das gute Abschneiden von SPD, Zentrum und DDP erklärt sich aus der taktischen Überlegung vieler<br />

Wähler, daß die Wahl dieser Parteien, die hinter der Friedensresolution des Reichstags von 1917<br />

standen, die Kriegsgewinner bei der Festlegung der Friedensbedingungen milde stimmen würde. Das<br />

war freilich nur eine Hoffnung und eine Spekulation.<br />

Die Wahl zur Nationalversammlung zeigt uns <strong>das</strong> parteipolitische Bild an der erkalteten Oberfläche<br />

der tektonischen Platten der deutschen Politik, die sich auf einem heißen Meer politischen Magmas<br />

aneinander rieben. Viel interessanter, als die leidlich erkaltete Oberfläche waren jedoch jene Kräfte,<br />

die sich noch in der flüssigen Phase befanden; jene partei- und parlamentarismuskritischen Kräfte, die<br />

die politisch-parlamentarische Oberfläche aus grundsätzlicher Ablehnung des parlamentarischen<br />

Tageslichts mieden.<br />

Alfons Paquet, der ein gefragter Gesprächspartner von Ebert und Scheidemann sowie die Experten<br />

des AA war, verachtete diese Sozialdemokraten als gelernter Elitarist zutiefst. In sein Tagebuch<br />

schrieb er am 29. Januar:<br />

„Die Nationalversammlung enthält allein 87 Parteisekretäre. Sie ist ganz Vertretung des<br />

Stimmzettel schwingenden Deutschlands. Interessenvertretung. Die Reden ohne Schwung, ohne<br />

160


neuen Zug. Ein Kongress von Gas- und Wasserfachleuten wäre mir lieber. ... Merkwürdig, <strong>das</strong>s<br />

jetzt <strong>das</strong> deutsche Reich von einer Gruppe Volksschulabsolventen regiert wird.“ 234<br />

Der Geist von Weimar<br />

Die erste gesamtdeutsche Republik wurde nach der Stadt benannt, in der die Nationalversammlung<br />

tagte. Die Rolle Weimars jedoch nur auf die Gründungszeit und den Gründungsort der Republik zu<br />

reduzieren, würde mit einer verkürzenden zweidimensionalen Betrachtungsweise einhergehen, die nur<br />

Zeit und Ort umfaßt. Im vorrepublikanischen Weimar waren Friedrich Nietzsche mit seiner Idee des<br />

„<strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>“, Harry Graf Kessler mit der des "<strong>Neue</strong>n Weimar" und die Kunstgewerbeschule mit<br />

dem Jugendstilarchitekten Henry van de Velde ansässig. Als die Nationalversammlung tagte, strömten<br />

die wichtigsten Maler des „Blauen Reiters“ nach Weimar ins Bauhaus. Viele suchten den langen<br />

Schatten Goethes oder zumindest wollten sie vom Ruf Weimars als Kulturstadt profitieren, an der<br />

deutschen <strong>Klassik</strong> schmarotzen. Die kulturgeschichtlichen Phänomene der Jahrhundertwende, die der<br />

Republik zeitlich unmittelbar vorausgingen, kreisen um Weimar, so daß der Name Weimarer Republik<br />

einen hintergründigen tieferen Sinn hat. Die nachklassische Weimarer Kultur mit ihrem<br />

Zusammentreffen verschiedener Rückwege in die vorchristliche Kultur bildet die dritte, die inhaltliche<br />

Dimension bei der Suche nach Weimarer Beiträgen zur Republikgründung.<br />

Damit sind alle Zutaten für die Gültigkeit eines historischen Gesetzes von Leopold von Ranke<br />

gegeben, welches lautet:<br />

„Nicht Blindheit ist es, nicht Unwissenheit, was die <strong>Menschen</strong> und Staaten verdirbt. Nicht lange<br />

bleibt ihnen verborgen, wohin die eingeschlagene Bahn sie führen wird. Aber es ist in ihnen ein<br />

Trieb, von ihrer Natur begünstigt, von der Gewohnheit verstärkt, dem sie nicht wiederstehn, der sie<br />

wieder vorwärts reißt, solange sie noch einen Rest von Kraft haben.“<br />

Der Ortsgeist Weimars selbst ist ein sehr einfacher. Goethe ließ im Ilmpark ein aus Sandstein<br />

gehauenes Denkmal aufstellen, <strong>das</strong> eine Schlange darstellt, die sich einen Denkmalsockel<br />

heraufwindet, um zwei dort oben auf dem Postament liegende Semmeln zu erlangen. Huis genius loci<br />

- dem Geist des Ortes ließ er als Inschrift draufmeißeln. Millionen Besucher sind zum Denkstein<br />

geführt worden, nur wenige Goethe-Psychologen haben den Sinn verstanden. Die Stiftung Weimarer<br />

<strong>Klassik</strong> hält ein heiles Weimar-Bild aufrecht und will aus kommerziellen Gründen keine<br />

ernstzunehmende Antwort auf <strong>das</strong> Rätsel des Denksteins geben. Die Deutung ist aber einfach. An der<br />

Ilmwindung, wo <strong>das</strong> Denkmal steht, gab es um 1800 keine dicke Schlangen, auch ist narrensicher,<br />

daß sich hier keine Bäckerei befand. Es ist Weimar der Ort, auf welchen Goethe den Denkstein<br />

bezog. Die Semmeln sind <strong>das</strong> Sinnbild der Banalität, die Schlange <strong>das</strong> der Hinterlist und Tücke. Die<br />

Tücke widmet sich in Weimar banalen Gegenständen, ganz ungedenk der Dichterfürsten. Es waren<br />

immer Auswärtige und Zugereiste, wie Nietzsche, Kessler, van de Velde und Gropius, die dafür<br />

sorgten, daß Tücke sich kolossale Themen wählte.<br />

Die Gründer der Republik hielten nach dem verlorenen Weltkrieg, im Angesicht verlorener Gebiete<br />

und nach der Abdankung der herrschenden Dynastien ein Moment der Kontinuität für erforderlich und<br />

wünschenswert. Die Politiker flüchteten mit der Wahl von Weimar als Gründungsort der Republik unter<br />

den großen Mantel von Goethe. Der Krieg war verloren, <strong>das</strong> Elsaß war verloren, Poznan war verloren,<br />

aber die deutsche Kultur konnte kein Sieger den Deutschen nehmen, konnte kein marokkanischer<br />

Zuave besudeln.<br />

In seinem Festvortrag zur Hauptversammlung der Goethegesellschaft 1920, der den Titel “Goethes<br />

Elsaß” trug, beschwor der Schriftsteller Friedrich Lienhard diese Eigenschaft Weimars:<br />

“Wie auch der Feind unser deutsches Vaterland peinigen mag; wie auch unsre Parteien fortfahren<br />

mögen, sich untereinander zu zerfleischen und ihr eigenes Volk zu zerrütten: in edelster<br />

Parteilosigkeit und doch als deutschester Besitz erheben sich hier im Herzen Deutschlands die<br />

Leuchtgestalten der großen Dichtermenschen. Ihren Namen aussprechen heißt in diesem Umkreis<br />

böse Geister bannen, heißt einen heiligen Hain betreten, heißt jenes friedevolle Olympia im Lande<br />

Elis erneuern.” 235<br />

234 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H. Beck, S. 207<br />

235 Justus H. Ulbricht, Wartburg, Wittenberg, Weimar oder: In Kaisersaschernland, Vortrag auf der Konferenz<br />

„Mythical Landscapes“, Jerewan, 14.-17.09.05<br />

161


Statt einer politischen Runderneuerung, statt einer Reformierung der gesamten kulturellen,<br />

wirtschaftlichen und politischen Institutionen des Kaiserreichs, statt der auf der Tagesordnung<br />

stehenden Verwestlichung Deutschlands wurde der Weg des geringsten Widerstands gewählt: Es<br />

wurde wie wir sehen werden, fast alles beim Alten gelassen. Das Mäntelchen der Weimarer Kultur<br />

sollte über den fehlenden Reformwillen hinwegtäuschen und die gemeinsame Identität aller<br />

Deutschen stiften. Wenn der vieldeutige Goethe den Deutschen den Weg weisen sollte, so fand man<br />

nur einen schwer zu ergründenden Kompaß. "Euch zur Nation zu bilden, hoffet ihr Deutschen<br />

vergebens", hatte der Geheimrat prophezeit. Viel irritierender noch war <strong>das</strong> nachklassische "<strong>Neue</strong><br />

Weimar". Die Jugendbewegten der Jahrhundertwende waren mit "Also sprach Zarathustra" im<br />

Marschgepäck in den Krieg gezogen, Hermann Hesse forderte wie viele Gleichgesinnte nach dem<br />

verlorenen Weltkrieg eine Erneuerung Deutschlands im Geiste Zarathustras, also keine<br />

demokratische Wende mit ihrer Entscheidungsfindung im Wettbewerb der Meinungen, sondern eine<br />

Reinigung unter elitärer Hegemonie und Kontrolle. Welche Gedanken aus dem "Zarathustra" meinte<br />

Hesse der demokratischen Republik in die Wiege legen zu müssen?<br />

"Dass Jedermann Lesen lernen darf, verdirbt auf Dauer nicht allein <strong>das</strong> Schreiben, sondern auch<br />

<strong>das</strong> Denken."<br />

"Voll ist die Erde von Überflüssigen, verdorben ist <strong>das</strong> Leben durch die Viel-zu-Vielen."<br />

"Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden."<br />

"Seht mir doch diese Überflüssigen! Krank sind sie immer, sie erbrechen ihre Galle und nennen es<br />

Zeitung." 236<br />

An der Weimarer Wiege der Demokratie agierten intellektuelle Zauberer, denen die ganze<br />

demokratische Richtung nicht passte; sie entfalteten ihre elitaristischen Konzepte als Gegenentwurf<br />

zur Demokratie. Weimar steuerte nicht nur <strong>das</strong> Großherzogliche Theater als Tagungsort bei, sondern<br />

auch die vom Großherzog geförderte und alimentierte Kulturrevolution.<br />

Schon Goethe hatte als Vermächtnis keine brauchbare politische Notapotheke hinterlassen,<br />

weswegen er zum Beispiel von Ludwig Börne angefeindet wurde; bei Nietzsche waren die Weisungen<br />

noch ungefährer: völkische Traditionalisten und internationalistische Klassizisten zerrten an seinem<br />

Nachlaß herum und jeder fand <strong>das</strong>, was ihn bestätigte. An die ganze intellektuelle Herde verteilte er<br />

seine license to kill. Weimar würde trotzdem die propagandistische Seife liefern, mit der die blutigen<br />

Spuren des Weltkriegs von der weißen deutschen Weste weggewaschen werden könnten, so lautete<br />

<strong>das</strong> politische Kalkül der Republiksgründer. Und der Weimarer Geist sollte den militaristischen Geist<br />

von Potsdam ersetzen. Hätte es sich tatsächlich alleine um den Geist des klassischen Weimars<br />

gehandelt, so hätten Kosten und Nutzen der republikanischen Hofhaltung in Weimar sich<br />

wahrscheinlich die Waage gehalten.<br />

Nietzsche hatte in Naumburg und Weimar sowohl die bis dahin christlich geprägten Werte der<br />

Menschlichkeit umgewertet als auch die Aufklärung verhöhnt. Der modische Ungeist versammelte sich<br />

in Weimar; die Typografie des Einbands des „Zarathustra“ wurde in Weimar entwickelt: von Henry van<br />

de Velde.<br />

Nietzsche und seine neuheidnischen Jünger hatten jedoch politische Konzeptionen ausgebrütet, die<br />

der demokratischen Auffassung vom Verhältnis Volk - Volksvertretung - Regierung diametral<br />

entgegenliefen, für die demokratische Regierungsausübung durchaus ihre Tücken und Fallstricke<br />

bereit hielten. Insofern hatte der Weimarer Geist wie der von Potsdam seine Schwächen und<br />

Kehrseiten. Der Potsdamer Geist war weniger irreführend, da er polternd, befehlend und trampelnd<br />

daherkam und weil er gerade nach dem Weltkrieg auf dem politikwissenschaftlichen Seziertisch der<br />

Siegermächte und der deutschen Intellektuellen lag. Der nachklassische Weimarer Geist kam<br />

dagegen schleichend, scheinbar friedlich und mit einer intellektuellen Larve maskiert daher, und darin<br />

lag seine Gefahr. Weimar war neben Schwabing, Worpswede, Friedrichshagen, Darmstadt, Murnau<br />

und Berlin als Ausgangsort einer Kulturrevolution bereits um die Jahrhundertwende auch<br />

Ausgangspunkt einer geseiften Rutschbahn ins Dritte Reich geworden. Und die Väter der Republik<br />

verkannten und unterschätzten den Ungeist des "<strong>Neue</strong>n Weimar", sie waren sich nicht darüber<br />

bewußt, auf welch dünnem Eis sie agierten.<br />

236 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Erster Theil, Die Reden Zarathustras<br />

162


Die Herrschaft über Sonne, Mond und Sterne<br />

Max Stirner hatte 1840 herum den Kampf der Elite gegen die Masse begonnen, Nietzsche hatte ihn zu<br />

einer Ersatzreligion getrimmt und die Expressionisten hatten ihn in der Vorkriegszeit gemalt. Was war<br />

nach dem Kriege von der barbarischen Elitetheorie noch vorhanden?<br />

Walter Benjamin beklagte, <strong>das</strong>s im Angesicht der total mobil gemachten Landschaft <strong>das</strong> deutsche<br />

Nationalgefühl einen ungeahnten Aufschwung genommen habe. Die Friedensgenien, die diese<br />

Landschaft so sinnlich besiedelten, seien evakuiert worden,<br />

„und soweit man über den Grabenrand blicken konnte, war alles umliegende zum Gelände des<br />

deutschen Idealismus selbst geworden, jeder Granattrichter ein Problem, jeder Drahtverhau eine<br />

Autonomie, jeder Stachel eine Definition, jede Explosion eine Satzung und der Himmel darüber bei<br />

Tag die kosmische Innenseite des Stahlhelms, bei Nacht <strong>das</strong> sittliche Gesetz über ihr. Mit<br />

Feuerbränden und Laufgräben hat die Technik die heroischen Züge im Antlitz des deutschen<br />

Idealismus nachziehen wollen.“<br />

Max Klinger malte "Arbeit – Wohlstand – Schönheit" (1918). Das Gemälde entstand in der<br />

euphorischen Periode zwischen dem Siegfrieden mit Russland und der deutschen Kapitulation. Es<br />

war der verklärte Blick vom Naumburger Weinberg auf die <strong>Neue</strong> Unstrut<br />

Durch die deutsche Niederlage war <strong>das</strong> Gesicht des deutschen Idealismus über die deutschen<br />

Grenzen hinaus bekannt geworden und <strong>das</strong> deutsche Gesellschaftsmodell im Überlegenheitscontest<br />

gescheitert. Die Verbreitung des deutschen Wesens auf den Rest der Welt war zunächst nicht<br />

durchführbar. Die Herrschaft der deutschen Geistigen über die westlichen Materialisten rückte erst<br />

einmal in weite Ferne.<br />

Der verlorene kriegerische Wettbewerb der Nationen führte bei den Intellektuellen zu einer Reaktion,<br />

welche man rückblickend als trotzkistisch bezeichnen würde: die Theorie sei richtig, nur die praktische<br />

Anwendung dieser Theorie habe nicht funktioniert. Man müsse <strong>das</strong> ganze noch einmal wiederholen.<br />

Die Jünger der Theorie spalteten sich in zwei Lager: Die einen sahen in der jungen Sowjetunion <strong>das</strong><br />

Reich der aufgehenden Sonne, die anderen wollten Deutschland noch einmal verjüngen und dann zur<br />

nächsten Runde des Kräftemessens antreten. Beide Seiten, die vor dem Kriege noch in elitaristischer<br />

Wohngemeinschaft miteinander gelebt hatten und gelegentlich die Konkubine, den Pinsel, die<br />

Malfarbe und die Kunstgazette miteinander geteilt hatten, vergaßen ihr Herkommen und ihre<br />

Gemeinsamkeiten, um in zwei Parallelgesellschaften einzutauchen, die einen heißen und kalten<br />

Bürgerkrieg miteinander führten und nur noch gelegentlich, zum Beispiel als Bewunderer Mussolinis<br />

oder beim Stalin-Hitler-Pakt zusammentrafen.<br />

Der Freikorpsführer Eggert etwa äußerte sich im völkischen Sinne vor dem Sturm auf den Annaberg:<br />

„Wachst über die Norm der Tapferen hinaus in die einsame Höhe der großen Einsamen der<br />

deutschen Nation! Das ist kein Befehl mehr! Das ist die Botschaft einer neuen Welt, die mit eurem<br />

Sieg beginnt oder die mit unser aller Untergang als Sehnsuchtstraum der kommenden zu den<br />

Sternen steigt! – Das Freikorps rückt in die Ausgangsstellung!“<br />

Hauptmann Bertold verschränkte <strong>das</strong> deutsche und <strong>das</strong> internationale psychologistisch:<br />

“Wenn ein Mensch aus der Masse herausdrängt und sich größere Lebensziele steckt, wenden sich<br />

alle von ihm ab, nur ganz wenige verstehen ihn. Sieht man Deutschland an, <strong>das</strong> Leben der Völker,<br />

es ist gleichsam verkörpert im Einzelwesen. Der ganze Feindbund gegen uns ist aufgebaut auf<br />

Haß und Neid gegen den unermüdlich vorwärtsstrebenden, rastlos arbeitenden Deutschen.“ 237<br />

Man soll sich nichts vormachen: Das Motiv des Siegens gegen den Rest der Welt, mit dem Risiko,<br />

<strong>das</strong>s Deutschland in Scherben geht, hatte sich in die intellektuelle Phantasie eingebrannt. Es fehlten<br />

nur noch die cleveren Ideologen, die dem deutschen Volk als Masse die <strong>Neue</strong> Deutsche Wolle auf<br />

ihrem leeren Webstuhl zeigten und deren Vorzüge erläuterten.<br />

237 Zitate aus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 2, S. 54<br />

163


Große elitaristische Lebensziele steckten sich auch die Dadaisten. Johannes Baader verkündete<br />

seinen Anspruch auf die Weltherrschaft und verteilte Visitenkarten als „Präsident des Erdballs“, die<br />

Berliner Dadaisten insgesamt bildeten den „dadaistischen Zentralrat der Weltrevolution“.<br />

„Ich bin der präsident der weltenrepublik, der alle sprachen in der universalen rede spricht.“<br />

„Dada ist groß, und John Heartfield ist sein Prophet“, verkündete ein kindisches Plakat. Raoul<br />

Hausmann präsentierte sich als „Präsident der Sonne, des Mondes und der kleinen Erde<br />

(Innenfläche). „Wir werden Weimar in die Luft sprengen“, verkündeten die Berliner Dadaisten und<br />

Hannah Höch schuf die Collage „Schnitt mit dem Küchenmesser durch die letzte Weimarer<br />

Bierbauchkulturepoche Deutschlands“.<br />

Der Dadaismus wollte nach eigenem Bekunden „die Täuschungen der Vernunft zerstören und eine<br />

irrationalistische Ordnung entdecken“ (Hans Arp), er forderte ein „Denkdiktat ohne jede Kontrolle<br />

durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegungen“ (André Breton im Ersten<br />

Manifest des Surrealismus 1924). Emotionales Denken sollte durch mechanisches Denken ersetzt<br />

werden, dadurch würde eine mechanische, rationalistische und friedliche Welt entstehen. Der Kopf<br />

wurde deshalb oft als mechanisches Konstrukt dargestellt, zum Beispiel von Raoul Hausmann in der<br />

Montage „Tatlin lebt zu Hause“ oder in der Assemblage „Mechanischer Kopf“.<br />

Diese Sehnsucht nach einer irrationalistischen friedlichen Ordnung speiste sich einerseits aus dem<br />

Ekel gegenüber den Greueln des Ersten Weltkriegs, andererseits aus einem latenten Unglauben in<br />

die Vernunft. Das irrationalistische intellektuelle Brausen der Vorkriegszeit, die Kriegssehnsucht der<br />

Expressionisten, die mit den Kategorien der Vernunft nicht zu erklären war, sollte mit dadaistischem<br />

Irrationalismus ausgetrieben werden. Bellizistische Expressionisten und pazifistische Dadaisten<br />

standen beide auf dem ratiofeindlichen ideologischen Boden des Nietzscheanismus. In einigen<br />

Biografien ist diese enge Berührung manifest. Nachdem Richard Huelsenbeck einen dadaistischen<br />

Ausflug nach Zürich gemacht hatte, kehrte er Anfang 1917 nach Berlin zurück und schloß sich der<br />

Zeitschrift „<strong>Neue</strong> Jugend“ an. Im Mai 1917 veröffentlichte er in dieser Zeitung seine Hymne „Der neue<br />

Mensch“.<br />

„Der neue Mensch muß die Flügel seiner Seele weit ausspannen, seine inneren Ohren müssen<br />

gerichtet sein auf die kommenden Dinge und seine Knie müssen sich einen Altar erfinden, vor dem<br />

sie sich beugen können.“ 238<br />

Nichts mehr von Dada, <strong>das</strong> war reinster Expressionismus. Dadaist wurde er erst wieder 1918. Der<br />

neue Mensch war anpassungsfähig. Vom Jugendstil über den Expressionismus, Aktionismus,<br />

Futurismus, Faschismus und Dadaismus bis zum Leninismus durchdrang er alle ideologischen<br />

Zellwände, der nietzscheanische Virus infizierte jeden künstlerischen und politischen Organismus.<br />

Es gab in der Zeit von 1890 bis 1945 keine konkurrierende Ideologie und keine konkurrierende<br />

kulturelle Bewegung, die neu war, insofern, als sie <strong>das</strong> Gewaltsszenarion in Frage stellte. Den<br />

Dadaismus zum Widerstand gegen den Elitarismus hochzustilisieren, <strong>das</strong> funktioniert nicht, da die<br />

Dadaisten mit einem Bein im elitaristischen Sumpf steckten. Nur die alten Festungen des<br />

Katholizismus und des traditionellen Marxismus standen dem Siegeszug des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> noch<br />

im Wege. Diese alten Festungen verteidigten den Demokratismus der Massen gegen die langsam<br />

anschwellenden Heerhaufen der Einzigen. Eines der ohnmächtigsten Häuflein waren die Dadaisten.<br />

Die Weltherrschaft hatten sie nicht zu bieten, ganz ohne Machtgelüste ging es aber auch nicht; es<br />

musste die Herrschaft über Sonne, Mond und Sterne sowie <strong>das</strong> Erdinnere genügen.<br />

An der Spitze der jungen Völker<br />

In neokonservativen Kreisen begann man den Jugend-, Gewalt- und Führerkult auf andere Weise<br />

aufzuarbeiten und an die Nachkriegsordnung anzupassen. Zu den Neokonservativen der ersten<br />

Stunde gehörten zweifellos Oswald Spengler, Graf Westarp von der DNVP, der Sekretär des „Bundes<br />

deutscher Gelehrter und Künstler“ Heinrich von Gleichen, Eduard Stadtler, Arthur Moeller van den<br />

Bruck und Otto Hoetzsch. Einige Mitläufer wie Heinrich Brüning vom Zentrum, Georg Bernhardt von<br />

der DDP, der sozialdemokratische Staatssekretär August Müller und der Sozialwissenschaftler Franz<br />

Oppenheimer, bei dem der junge Ludwig Erhard studierte bildeten mit den oben genannten zunächst<br />

238 Dietmar Elger, Dadaismus, Taschen, S. 14<br />

164


den „Juni-Klub“, später den „Ring des deutschen Volkes“. Die Überparteilichkeit war sicherlich gewollt,<br />

war man sich doch eigentlich nur in der Ablehnung des westlichen Parlamentarismus einigermaßen<br />

einig. Die Stimmung in diesen Kreisen war nicht konservativ im Sinne einer Rückehr zum Kaiserreich,<br />

der Sinn war eher vorwärts gerichtet.<br />

Oswald Spengler bedauerte nicht den Sturz des Kaisers, sondern die Kraft- und Stillosigkeit der<br />

Novemberrevolution:<br />

„Kein mächtiger Augenblick, nichts Begeisterndes; kein großer Mann, kein bleibendes Wort, kein<br />

kühner Frevel“ 239<br />

Der „große Mann“ und der „kühne Frevel“ waren offensichtlich Entlehnungen aus dem<br />

allgegenwärtigen „Zarathustra“ und dem Nietzsche-Werk im allgemeinen; auch „die Erde“ und „<strong>das</strong><br />

Chaos“ sind zentrale Begriffe daraus:<br />

Deutschland hätte es in der Novemberrevolution versäumt, Sozialismus und Nation miteinander zu<br />

verschmelzen und sich an die Spitze der „jungen Völker“ zu stellen. Die jungen Völker waren nach den<br />

damaligen Thesen überlegen, weil sie noch stark und fruchtbar wären, unver<strong>braucht</strong>e barbarische<br />

Kraft der Mythenbildung in sich trügen, der Erde und dem schöpferischen Chaos näher stünden. Zu<br />

den jungen Völkern wurden im allgemeinen Deutsche, Russen, Japaner, Amerikaner und Italiener<br />

gerechnet.<br />

Zu den alten Völkern wurden in der Logik der Kapitalismuskritik Franzosen und Engländer gerechnet.<br />

Weil sie den jungen Völkern Deutschland und Russland geographisch im Wege lagen, konnten<br />

Tschechen und Polen, Slowaken und Litauer, Rumänen und Ungarn, Esten und Letten keine neuen<br />

Völker sein. Es war alles Schweinelogik mit offensichtlichen Ungereimtheiten.<br />

Von Anfang an suchte der Neokonservatismus den Schulterschluß der jungen Völker gegen <strong>das</strong><br />

Versailler System. Stadtler beispielsweise pries bereits 1920 die Diktatur Lenins: dort regiere ein<br />

Herrscher, der einzige in Europa. 1922 nach dem Marsch auf Rom favorisierte er ein Bündnis<br />

Deutschlands mit dem faschistischen Italien, mit den Jungtürken Atatürks und mit dem<br />

„Sowjetfaschismus“. 240<br />

Unter dem Titel „Der Sieg Lenins“ freute sich Stadtler im März 1921 über die Erstickung des angeblich<br />

von Frankreich angezettelten Kronstädter Matrosenaufstands im Blut.<br />

„Als Deutsche sind wir gezwungen, uns über die französische Niederlage im Osten zu freuen.“<br />

Die Annahme einer Verwicklung Frankreichs in diesen Aufstand ist überaus spekulativ; Stadtler wollte<br />

den „heuchlerischen schieberischen Antibolschewismus Frankreichs“ an den propagandistischen<br />

Pranger stellen; der Wunsch war wohl Vater dieses Gedankens.<br />

Die nationalsozialistischen Rassetheorien lehnte man in altpreußischer Tradition ab, da Preußens<br />

Stärke auch durch die Aufnahme fremder Völker, z.B. der Hugenotten und österreichischer<br />

Protestanten vermehrt worden sei. Stadtler lobte beispielsweise „die belebende Wirkung von<br />

Völkermischungen für die Bildung überschwänglicher Rassekraft“. 241<br />

Das Paradigma der Notwendigkeit von „Rassekraft“ war verbindend, nur <strong>das</strong> woher war zwischen<br />

Hitler und den meisten Neokonservativen umstritten. Der Umgang mit Juden war bei den<br />

Neokonservativen ambivalent. Es gab kaum einen neokonservativen Verschwörer, der nicht<br />

irgendwann mit dem sowjetrussischen Kommissar Radek konspiriert hatte. Das hinderte nicht, ihn in<br />

der „Deutschen Zeitung“ als „Radek-Sobelsohn“, „russischen Judenführer“ zu bezeichnen.<br />

Wir werden die Spuren der Neokonservativen eine Weile verlassen, um unsere Aufmerksamkeit<br />

anderen Erscheinungen zu widmen. In den Kapiteln über den Ruhrkampf, <strong>das</strong> Rapallo-Abkommen<br />

und die Schleicher-Regierung werden wir die Spur wieder aufzunehmen.<br />

239 Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus, München 1919, S 11<br />

240 Gert Koenen: Der Russland-Komplex, München S. 321 ff.<br />

241 s.o. S. 331<br />

165


Wir alle müssen zum Handwerk zurück!...<br />

Die beginnende Weimarer Republik begleiteten ein manirierter Spät-Jugendstil sowie dessen<br />

Derivate, sowohl in der Illustration, in der Malerei als auch auf dem Wahl- und Agitationsplakat. Nicht<br />

nur der Jugendstil, fast alle Reformsekten wie Expressionisten, Okkultisten, Nudisten, Aktivisten,<br />

Vegetarier, Völkische, Siedler und Ästhetizisten retteten sich über den Weltkrieg hinweg. Vom Blauen<br />

Reiter strömten die Maler ins Bauhaus, die Kriegsliteraten wurden die schärfsten Kritiker der<br />

Rüstungsindustrie, die Expressionisten und Wandervögel begehrten in Scharen Einlaß in die KPD und<br />

in völkische Landkommunen, die Kriegsplakatillustratoren und „litterarischen“ Heldenverschönerer<br />

wurden Pazifisten. Da die Lebensreform viel mehr war als ein Protest gegen <strong>das</strong> verkrustete<br />

Kaiserreich, da sie <strong>das</strong> konservative Kaiserreich der siebziger und achtziger Jahre mit dem Transport<br />

eines neuen biologistischen und vitalistischen Welt- und <strong>Menschen</strong>bildes in die Gesellschaft kulturell<br />

aufrieb, weil sie darüber hinaus die Verlierer der Industrialisierung ansprach, so überlebte sie den<br />

Kaiser. Für die Kostgänger des Kaiserreichs änderten sich die Aspekte: Nicht mehr der Blick in eine<br />

grenzenlose Zukunft, sondern der Rückspiegel in <strong>das</strong> Kaiserreich und <strong>das</strong> sich-messen am<br />

Kaiserreich war die ersten Jahre der Republik eine neue Perspektive vor allem der älteren Generation.<br />

Aber für die jüngeren Reformisten war und blieb <strong>das</strong> Ziel nach wie vor der Marsch in die biologistisch,<br />

vitalistisch, sozialistisch, kosmogen und / oder rassistisch geprägte Zukunft.<br />

Der hohe Anspruch einer der Reformfraktionen wurde 1918 z.B. im Manifest des absoluten<br />

Expressionismus formuliert, unter anderem als Wahnvorstellung von einem glühenden rotierenden<br />

Rad, <strong>das</strong> in den Raum geschleudert wurde, und dort kreisend nach vorne reißt. 242 Viele kosmogene<br />

Phantasien der Vorkriegszeit wurden in der Nachkriegszeit weitergeführt, dem <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong><br />

wurde in der Nachkriegszeit so gehuldigt, wie vor dem Kriege. Es ist keine Frage, ob der "Weiße<br />

Mann" von Lyonel Feininger (1906) ein <strong>Neue</strong>r Mensch war. Die langen Beine sprechen dagegen, daß<br />

Feininger einen Krüppel gemalt hat; einem zeitgenössischen Interpreten, Alois Schardt, kam 1919<br />

eine Assoziation mit Übermenschlichkeit in den Sinn. 243 Der lange Feininger ging nach dem Weltkrieg<br />

ins Bauhaus.<br />

Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Brutalismus und Konstruktivismus lassen sich nicht nur<br />

negativ als Protestbewegungen deuten, sondern auch positiv als kosmogene und raumgreifende,<br />

manchmal auch mechanistische durch Zahnräder symbolisierte Gesellschafts- und<br />

Zukunftsvorstellungen, freilich in der Praxis verbunden mit einem Hasten in einen<br />

menschenfeindlichen und antichristlichen Taumel. Am deutlichsten wird <strong>das</strong> bei den italienischen<br />

Futuristen und Dadaisten, die bereits Anfang der Zwanziger Jahre mit großer Zielsicherheit und<br />

Konsequenz die Radikalisierung der italienischen faschistischen Bewegung antrieben.<br />

Zwischen der Vor- und der Nachkriegszeit gab es keinen essentiellen Unterschied: Die kulturellen<br />

Eliten trachteten vorher und nachher danach, alle neuen und unübersichtlichen Entwicklungen in<br />

Wirtschaft und Gesellschaft unter ihre ideologische Kontrolle zu bringen. Nach dem Krieg wurden<br />

diese Versuche auf der äußersten Linken noch gesteigert. Bei Lenin hieß dieser Kontrollversuch<br />

"Primat der Politik über die Ökonomie". Es war der Abschied vom Marxismus und Liberalismus des<br />

19. Jh. als Abschied von allen evolutionären Fortschrittstheorien.<br />

Das Bauhaus war wie andere kulturelle Erscheinungen der Zeit auch ein Zersatzprodukt des<br />

Jugendstils und des Werkbunds, aber auch jüngerer Einflüsse, wie des Expressionismus, und des<br />

italienischen Futurismus, der zu den bunten Quadraten die vielen Zahnräder beisteuerte. Nicht nur<br />

inhaltlich, auch personell lässt sich eine Kontinuität herleiten. Wassily Kandinsky, Paul Klee und<br />

Lyonel Feininger kamen vom Münchner „Blauen Reiter“ nach Weimar und bildeten 1924 mit Alexej<br />

von Jawlensky die Gruppe „Die Blauen Vier“<br />

"Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück!... Bilden wir also eine neue<br />

Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer<br />

zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte!"<br />

So hieß es im Manifest des Bauhauses von Walter Gropius. Wichtig ist auch der Hinweis auf den<br />

"<strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>" im Manifest. Durch diesen Hinweis läßt sich die ideengeschichtliche Genese des<br />

242<br />

C. Hofstaetter: Carl Peter Röhl und die Versuchungen eines Jahrhunderts: in Aufstieg und Fall der Moderne,<br />

Hatje Cantz Verlag, S. 379<br />

243<br />

Katalog Aufstieg und Fall der Moderne, Hatje Cantz, S. 301<br />

166


Bauhauses auch abseits vom Handwerkskult rekonstruieren, der herrschende Geist auf Nietzsche<br />

zurückverfolgen.<br />

Dem Bauhaus vorausgegangen war vor dem ersten Weltkrieg der Jugendstil, der ein Versuch war, der<br />

Industriemassenware einen handwerklichen Zuckerguß zu verpassen bzw. die industrielle Ware durch<br />

vom Handwerk beeinflußte Designereinzelanfertigungen zu ersetzen.<br />

In diesem Spannungsbogen zwischen Industrieform, Zuckerguß, Designerware und Kunsthandwerk<br />

bewegten sich der Jugendstil und auch <strong>das</strong> frühe Bauhaus. Bereits am Anfang des Jugendstils gab es<br />

Quertreiber, die gegen <strong>das</strong> Ornament und die Dekoration zu Felde zogen. Adolf Loos verfaßte den<br />

Artikel "Ornament und Verbrechen", er erreichte 1903 große Bekanntheit durch die karge<br />

schmucklose Gestaltung des "Cafe Museum" in Wien, <strong>das</strong> den Spitznamen "Cafe Nihilismus" erhielt.<br />

Der Werkbündler Hermann Muthesius verfaßte bereits 1902 den Aufsatz "Stilarchitektur und<br />

Baukunst", in dem er sich darüber beklagte, daß "die Forderung, neben den historischen Stilen einen<br />

neuen Stil, den Stil der Gegenwart zu erfinden, nur auf reine Äußerlichkeiten abziele."<br />

"Zu solchen Versuchen müssen auch diejenigen allerneuesten Leistungen gezählt werden, die <strong>das</strong><br />

Wesen eines modernen Stils darin suchen, daß sie...den Fensterumrahmungen statt der früheren<br />

geraden Umrißlinien solche von geschwungener Form geben. Diese Art modernen Stils ...gehört<br />

durchaus noch in <strong>das</strong> Gebiet der im Formalismus befangenen Architekturmalerei, von der wir<br />

füglich genug haben sollten." 244<br />

Die Diskussion im Werkbund verlief kontrovers, viele Teilnehmer des Diskurses forderten die<br />

Industrieform, hingen in der Praxis aber der geschwungenen Linie und der handwerklichen<br />

Ausführung an, ein prominentes Beispiel ist Henry van de Velde. Selbst wenn rein industrielle<br />

Maschinenmöbel hergestellt wurden, wie in Hellerau, so nannte sich diese Fabrik bezeichnenderweise<br />

"Deutsche Werkstätten für Handwerkskunst".<br />

1908 griff der Reformpolitiker Friedrich Naumann mit seinem Aufsatz "Die Kunst im Zeitalter der<br />

Maschine" in die Werkbund-Debatte ein. Er beschwor den Gedanken, daß die Zukunft der deutschen<br />

Industrie zu einem guten Teil von der Kunst abhinge, die den deutschen Produkten ihren Wert geben<br />

würde.<br />

"Den Spielraum des Lebens, den wir unserem Volke von Herzen wünschen, können wir ohne<br />

Erhöhung seiner künstlerischen Leistungen gar nicht erlangen. Und zwar handelt es sich dabei gar<br />

nicht blos um Erziehung von Ingenieuren und Zeichnern, nein, es handelt sich um eine ganz in sich<br />

einheitliche Kultur, die sich anderen Völkern einprägt und aufprägt, um deutschen Volksstil im<br />

Maschinenzeitalter."<br />

Dabei überhöhte er die Rolle der Eisenindustrie<br />

"Unsere Maschinen sind die ersten und tiefst wirkenden Erzeugnisse des deutschen Geistes."<br />

Naumann beschwor die Wichtigkeit des handwerklichen Designs für den Erfolg der Industrie.<br />

"Als die Maschine sah, daß sie nur geringe Arbeit machte, setzte sie sich wieder hinter den<br />

Handwerker und sah ihm, nun selber geduldiger werdend, seine Kunst ab....Und die Maschine<br />

muß sich demütigen und sagen: je besser die Ware, desto mehr bin ich nur Dienerin! bei geringer<br />

Produktion ist sie Herrin und erniedrigt die <strong>Menschen</strong> zur Sklaverei, auch bei guter Massenware ist<br />

sie noch <strong>das</strong> Maßgebende, sie gibt <strong>das</strong> Tempo an und verlangt nur gut geleitet zu werden, aber je<br />

höher der Formenwert der Herstellung steigt, desto mehr steigt der schaffende Mensch wieder in<br />

die Höhe, und <strong>das</strong> Ziel ist der Mensch, den die Maschinen umgeben, wie willige Tiere, der über<br />

ihnen steht, ihr Herr und Meister." 245<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg differenzierte sich die Stellung zur gestalterischen Qualität immer mehr,<br />

aber was alle Umschwünge in der Formensprache überdauerte, was letztlich blieb, was die Konstante<br />

war: der Gedanke der handwerklichen Produktion, die Illusion, die Industrie auf Dauer als<br />

Kunstgewerbe in die Knechtschaft von handwerkelnden Künstlern und künstelnden Handwerkern zu<br />

zwingen. Mit dem Aufstand von Adolf Loos gegen <strong>das</strong> Ornament wurde der Weg in die <strong>Neue</strong><br />

244 Hermann Muthesius: Stilarchitektur und Baukunst, Mühlheim, 1903, S. 50 f.<br />

245 Friedrich Naumann: Die Kunst im Zeitalter der Maschine, Verlag der Hilfe, Berlin 1908<br />

167


Sachlichkeit geebnet. Das missing link zwischen dem handwerkelnden kunstgewerblichen<br />

ornamentalen Jugendstil und der sich der Industrieform annähernden <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit war <strong>das</strong> von<br />

der Industrieform träumende, handwerkelnde kunstgewerblich-abstrakte Formen schaffende Weimarer<br />

Bauhaus. Das Weimarer Bauhaus schuf geometrische Formen mit handwerklichen Mitteln, es war ein<br />

Jugendstil ohne geschwungene Linien. Es ging umgekehrt zu, als wie bei des Kaisers neuen Kleidern:<br />

Die Bauhäusler zeigten dem geneigten Kunden nicht den leeren Maschinenwebstuhl, sondern sie<br />

zeigten Gewebe vom Handwebstuhl vor, und sie behaupteten, daß <strong>das</strong> Zeug auch mit einem<br />

maschinellen Webstuhl hätte gefertigt werden können, der jedoch aus verschiedenen Gründen nicht<br />

zum Einsatz gekommen wäre.<br />

Nicht nur Naumann, der Werkbund und <strong>das</strong> Bauhaus suchten den Platz des Handwerks in der<br />

industriellen Welt und fanden die Synthese von Handwerk, Volksstil und Antimoderne. Auch der<br />

völkische Drechsler „Muck“ Lamberty schwärmte von Meistern, Wanderbrüdern, Stiften, Bräuchen,<br />

Volksfesten und deutscher Wertarbeit.<br />

Walter Gropius machte alle künstlerischen und ideologischen Moden zeitnah mit. 1911 schuf er die<br />

erste industriell gefertigte Glasfassade für ein Industrieunternehmen, machte also einen frühen<br />

Ausflug zur Industrieform und zur klassischen Moderne. 1914, zeitnah zum Ausbruch des Weltkriegs,<br />

passend zum byzantinischen Führungsstil Wilhelms II. ägyptisierte er Glas-Stahlfassaden, 1919<br />

begab er sich in <strong>das</strong> Spannungsfeld von Expressionismus, Handwerk und Kunstgewerbe, um nach<br />

1923 schrittweise wieder zur Industrieform zurückzukehren (unter dem Motto: „Kunst und Technik –<br />

eine neue Einheit). Diese Rückkehr hatte ihre Tücken, 1931 war er Teilnehmer eines<br />

Architektenwettbewerbs für den Sowjetpalast in Moskau. Im Erläuterungsbericht beschrieb er die<br />

Grundidee:<br />

"Der Sowjet-Palast ein neuer Pol! Ein Monument der Idee der UdSSR. Deshalb: ein einziger<br />

gewaltiger mit einem Blick erfaßbarer Raumkörper über dem Kreis, als dem Symbol der Bindung<br />

der Volksmassen zu einer menschlichen und politischen Großeinheit."<br />

Der Entwurf war über konzentrischen Kreisen aufgebaut, wobei der große Saal für 15.000 und der<br />

kleine Saal für 6.000 Plätze als Kreissegment dienten für Massendurchzüge und Demonstrationen.<br />

Dieser radiale Aufbau der Baugruppe sollte sowohl den Inhalt ausdrücken als auch den schnellen Zu-<br />

und Abgang der <strong>Menschen</strong>massen ermöglichen. Wie bei Brechts epischem Theater sollte die<br />

"Aktivierung aller Teilnehmer an profanen und feierlichen Schauvorgängen durch organisierte<br />

Wechselbeziehungen zwischen Zuschauerplatz und Aktionsfläche" erzielt werden. 246 Gropius blieb<br />

auch nach seiner Rückkehr zur Industriearchitektur solange er in Deutschland weilte, ein Baumeister<br />

des Führerkults, ein Bühnen- und Kulissenbauer des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> in der Spezies des homo<br />

sowjeticus und ein Kämpfer gegen die sogenannte Kulturknechtschaft des Proletariats.<br />

Manchmal möchten die Linken aus dem Bauhaus einen fortschrittlichen modernen Laden und aus<br />

Gropius einen Demokraten machen. So einfach ist <strong>das</strong> nicht. Schon der Einfluß des italienischen<br />

Futurismus auf <strong>das</strong> Bauhaus bereitet ernste Abgrenzungsschwieriegkeiten auch nach rechts. Der<br />

Futurismus war nun einmal zuerst die Kinderstube des Faschismus, und nach seinem Scheitern der<br />

faschistische Rückzugsraum; Mussolini kann man nicht einfach in die heimatkünstlerische Ecke<br />

stellen oder in einen Gegensatz zur sogenannten Moderne bringen. In dem Artikel „Zweideutige<br />

Beziehungen“ von Renato Nicolini, der auf der Internetseite von www.ilmanifesto einzusehen ist, wird<br />

die Ambivalenz des Verhältnisses von Architekten und Regime deutlich. Und <strong>das</strong> betraf nicht nur<br />

italienische Architekten, sondern Le Corbusier 247 genauso wie viele deutsche Kollegen.<br />

Ein weiterer Hinweis auf <strong>das</strong> in den 20er Jahren nur sehr unvollkommen erfolgte Schisma zwischen<br />

links und rechts war <strong>das</strong> persönliche Lebensumfeld von Walter Gropius, und zwar gerade in der<br />

Gründungszeit des Bauhauses. Von 1915 bis 1920 war er mit Alma Mahler-Gropius-Werfel<br />

verheiratet, die im Ruf steht, Antisemitismus und Lebensphilosophie angehangen zu haben. In diese<br />

beiden Disziplinen eingeführt wurde sie durch Max Burckhard, der bis 1898 Direktor des Wiener<br />

Burgtheaters war, „wobei er sich besonders um die Pflege des modernen Dramas große Verdienste<br />

erwarb. Er brachte Ibsen, Hauptmann, Schnitzler und Hofmannsthal zur Erstaufführung und schrieb<br />

Beiträge für «Ver Sacrum», der berühmten Zeitschrift der Künstler der «Wiener Secession». Ab 1895<br />

förderte Max Burckhard als ständiger Gast im Hause Moll Almas erwachendes Interesse an<br />

klassischer und neuerer Literatur, brachte in Waschkörben die Basisliteratur der <strong>Klassik</strong> und Moderne,<br />

246 www.cad.architektur.tu-darmstadt.de/architectura_virtualis/Bauh.../projekttext.htm<br />

247 Ettore Janulardo: Le Corbusier et l´Italie in www.lesmemoires.free.fr/LeCorbusier/LeCorbusier.html<br />

168


aber als Antisemit schulte er auch ihre Judenfeindlichkeit. Besonders die Philosophie Nietzsches<br />

schmiedete die beiden als «Verschworene im Geiste» aneinander, sein Satz «Wer fällt, den soll man<br />

auch noch stoßen!» wurde zu einem Lebensmotto Almas, unter dem viele ihrer erfolglosen<br />

Bewunderer zu leiden hatten.“ 248 Über ihre erste Liebesbeziehung mit Alexander von Zemlinsky<br />

schrieb sie beispielsweise in ihr Tagebuch: "Er so häßlich - so klein, ich so schön - so groß". Sie nahm<br />

alsbald vom Gedanken an eine Heirat Abstand, sonst müßte sie ja "kleine degenerierte Judenkinder<br />

zur Welt bringen". Nach der Heirat mit Gropius hinderte sie nichts daran, ihren frischgebackenen<br />

Ehemann mit Oskar Kokoschka zu hintergehen.<br />

Legitime Eifersucht von Gropius beantwortete sie ungnädig: "Auf die Knie vor mir, wenn ich bitten<br />

darf!" „Doch schon war ein anderer, künstlerisch hochtalentierter Geschlechtsverkehrskandidat<br />

aufgetaucht: der damals revolutionär gesonnene Lyriker Franz Werfel, in Almas Originalton “. 249 Gropius „war der<br />

einzige Mann, der sich nach ihren Worten «rassisch mit ihr messen konnte». "Gropius war arisch und<br />

blond. Sonst habe ich immer Juden gehabt, der Mahler war so und der Franz Werfel auch", zog sie<br />

rückblickend die Bilanz ihrer sexuellen Aktivität. Noch während ihrer Ehe mit Gropius war Alma Anfang<br />

1918 von Werfel schwanger geworden, <strong>das</strong> Baby Martin kam infolge und während des<br />

Geschlechtsverkehrs mit Werfel als Frühgeburt zur Welt. Es war zehn Monate später tot, eine Folge<br />

von Werfels «verkommenem Samen», wie Alma es ausdrückte. 250 Während Gropius und Werfel sich<br />

in Frau Alma teilen mussten, ließ Oskar Kokoschka eine Puppe aus Stoff und Holzwolle nähen, die<br />

Alma nachgebildet war. Von einer Zofe musste diese Nachbildung rum um die Uhr im fullservice<br />

betreut werden. Die Puppe wurde von Kokoschka eines Tages geköpft, mit Rotwein bekleckert und in<br />

den Garten geworfen; die Zofe verschwand spurlos. Man kann Frau Alma sicher vorwerfen, es mit der<br />

ehelichen Treue nie wirklich ernst genommen zu haben. Niemand blieb unbetrogen und unbeleidigt.<br />

Anhand ihrer Tagebucheintragungen kann man auch mit Verlaub feststellen, <strong>das</strong>s sie ihr<br />

Geschlechtsteil bewusst als rassehygienisches Versuchslabor betrieben hat. Das häusliche Sodom<br />

des Bauhaus-Gründers Gropius korrespondierte mit seinem beruflichen Gomorrha. Alma schwärmte<br />

später der Reihe nach für die Politiker Mussolini, Hitler und Franco, warum sollte Gropius nicht<br />

versuchen, Baumeister des Genossen Stalin zu werden?<br />

Erst in England und Amerika machte Walter Gropius ideologische Lockerungsübungen. Er konnte dort<br />

nicht mehr handwerklich dilletieren, keine durchgeistigte Form abliefern und er wollte es wohl auch<br />

nicht mehr. In Amerika fehlte die handwerkliche Tradition und <strong>das</strong> mit dieser verbundene in <strong>das</strong><br />

Mittelalter zurückrufende Echo. Gropius warf ideologischen Ballast ab, Amerika ergab sich der<br />

Bauhausarchitektur.<br />

Das kulturelle Echo des Handwerks war notgedrungen immer ein rückwärts gewandtes, denn <strong>das</strong><br />

Handwerk wurde durch die Industrie seit dem 18. Jh. bedrängt. Das Handwerk befand sich in der<br />

Defensive. Das Weimarer Bauhaus war ein Versuch des roll-back, ein Versuch die Initiative wieder zu<br />

gewinnen. Dieser Versuch scheiterte letztlich weil die Industrie die künstlerischen Versuche des<br />

Bauhauses weitgehend ignorierte.<br />

Der erfolgreiche Wettbewerbsbeitrag von Karl Peter Röhl zum Signet des Bauhauses wird hier aus<br />

rechtlichen Gründen nicht gezeigt, befindet sich aber im Eingang der Bauhaus-Ausstellung in Weimar.<br />

Das kosmologische Weltbild des Molzahn-Kreises spiegelt sich wider. „Streichholzmännlein, warum<br />

hast du so einen komischen Hakenkreuzgürtel?“<br />

Zum anderen wurde die hochmütige Mauer zwischen Handwerk und Kunst in Weimar nicht<br />

eingerissen. Durch den eitlen und anmaßenden Führungsanspruch der Künstler wurden die braven<br />

Weimarer Handwerker verprellt, und ebenso die Adressaten der designerischen Bemühungen, die<br />

Industriellen. In Weimar entstand schnell ein ablehnendes Klima. Vielfach wird es auf den<br />

reaktionären Geist der Stadt zurückgeführt. Dieser Geist war sicher vorhanden, denn <strong>das</strong> Handwerk<br />

und die ehemaligen Hofschranzen dachten mehr in die gute alte Zeit, als an <strong>das</strong> jetzt und heute. Zum<br />

Krieg zwischen Bauhaus und Stadtgesellschaft trug aber auch die mangelnde Diplomatie der<br />

Bauhäusler und eine gewisse Überheblichkeit bei, die feststehende Überzeugung, die Weisheit mit<br />

Löffeln gefressen zu haben. Am sogenannten Vestibülstreit zog sich <strong>das</strong> Feldgeschrei zwischen<br />

Bauhäuslern und der Stadtgesellschaft hoch, wenn man die Akteure des Streits um die Gestaltung<br />

248 www.alma-mahler.at<br />

249 Die Welt 16.10.2004, Wild, blond, gewalttätig, saufend, Oliver Hilmes schildert <strong>das</strong> Leben von Alma Mahler-<br />

Werfel, und Anna Mahler erinnert sich an ihre Tigermami, von Ulrich Weinzierl<br />

250 www.alma-mahler.at<br />

169


des Eingangs des Bauhauses näher betrachtet, so war es ein Streit zwischen abstrakt orientierten<br />

Bauhäuslern einerseits und Vertretern der klassischen Moderne andererseits, zwischen<br />

Expressionisten und Impressionisten. Richard Engelmann, Felix Meseck oder Alexander Olbricht kann<br />

man nicht einfach in die reaktionäre Heimatstil-Ecke stellen, sie waren beim Jugendstil und beim<br />

Weimarer Impressionismus stehen geblieben, waren also auch der Lebensreform- und<br />

Jugendbewegung verpflichtet, aber sie weigerten sich, die neuesten Moden mitzumachen, darum ging<br />

der Streit. Es war kein Streit zwischen Monarchisten und Republikanern, es war ein sektiererisches<br />

Zerwürfnis innerhalb der Reformbewegung, <strong>das</strong> allerdings von Freunden und Feinden des Bauhauses<br />

als finaler Kampf zwischen Gut und Böse mißdeutet wurde, um falsche Frontstellungen zu erzeugen.<br />

Das ist ihnen bis heute im wesentlichen gelungen.<br />

Achim Preiss deutet die Formergebnisse dieser frühen Moderne als ideologische Herrschaftszeichen,<br />

die ohne eine despotische Gesellschaftsverfassung nicht durchsetzbar waren und ohne diese<br />

Geistesdespotie auch nicht sinnvoll gewesen wären.<br />

"Demokratische Tugenden wie der Respekt vor Minderheiten oder die Tolerierung von<br />

Gegenmeinungen gingen den Anhängern dieses Stils völlig ab, und an einen Fortschritt aus dem<br />

Spiel der freien Kräfte glaubten sie auch nicht. Vor dieser Vision verblaßten natürlich die<br />

tatsächlichen Probleme und Nöte der Bevölkerung, die nicht im Detail oder gar individuell gelöst<br />

werden sollten, sondern mit einer generellen Umstrukturierung der Gesellschaft. Die angestrebte<br />

Zusammenarbeit mit der Industrie war daher auch nur pathetischer Natur, es ging um die<br />

Indienstnahme eines Herrschaftsinstruments zwecks Massenverbreitung der modernen Formideen<br />

in allen Lebensbereichen. Dabei verkannten die Modernen die tatsächliche Funktionsweise der<br />

Industrie, die ohne eine Massenkundschaft nicht existieren kann, die herstellen muß, was der<br />

Markt verlangt, die Entwürfe <strong>braucht</strong>, die den Geschmack des Publikums treffen und für die<br />

schließlich die Veränderung des Geschmacks zuerst eine Frage des Investitionsaufwands und der<br />

Gewinnerwartung darstellt. Sie hatten nicht begriffen, daß auf dem industriellen Markt nichts<br />

vorgeschrieben sein darf, um alles anbieten und verkaufen zu können. Durch den Marktgang der<br />

Moderne wurden aus den sehr konsequent ausgearbeiteten Kunstwerken exotische, den meisten<br />

Kunden völlig unverständliche Warenangebote, die nur als Komplettsatz, als Gesamtausstattung<br />

gekauft werden konnten, da sie mit anderen Produkten nicht kombinierbar waren. In <strong>das</strong> Haus am<br />

Horn konnte man keine anderen Möbel stellen, als die von den Bauhaus-Werkstätten hergestellten,<br />

auf die Architektur exakt abgestimmten. Die Benutzung und der Konsum setzte<br />

Gesinnungsgenossenschaft voraus, die Moderne wurde zum Etikett einer intellektuellen Elite und<br />

erreichte nie die soziale Kompetenz, die sie aber ständig beanspruchte." 251<br />

Die Bauhausmeister Johannes Itten und Georg Muche waren Mazdaznanjünger und glaubten als<br />

solche durch strikte Befolgung von Ernährungsvorschriften ihre baldige Vergeistigung zu erreichen.<br />

Kandinsky war Okkultist und Gropius wegen der schlechten Behandlung durch seine Frau Alma<br />

Masochist. Als Gropius 1923 von Handwerk auf Industrie umschaltete kam es zum Streit mit und zur<br />

Kündigung von Itten. Bis 1932 hatten nach dem Wechsel von Gropius zu Meyer und nach der<br />

Übernahme durch Mies van der Rohe alle Altmeister gekündigt. Jeder Leitungswechsel war mit<br />

konzeptionellen Änderungen verbunden und jede Änderung wegen der ideologischen Aufladung der<br />

Bauhauslehrinhalte mit reformistischen Zerwürfnissen. Gropius hatte <strong>das</strong> Bauhaus 1919 exrem<br />

ideologielastig konzipiert: Er wollte eine Gemeinschaft der Geister gründen, kleine in sich<br />

abgeschlossene Bünde, Logen, Hütten, Verschwörungen, die ein Geheimnis, einen Glaubenskern<br />

hüten. 252<br />

„Fahren Sie eine Woche nach Weimar, und sie können den Rest ihres Lebens keine Quadrate mehr<br />

sehen.“ So lautete ein zeitgenössischer Witz über <strong>das</strong> Bauhaus. Auch Meyer lästerte über die roten,<br />

blauen, gelben, grauen, schwarzen und weißen Würfel von Gropius nur und politisierte <strong>das</strong> Bauhaus.<br />

Kommunistische Ideen wetteiferten in Meyers Denkerstirn mit den alten völkischen Ideen des<br />

Volkslebens, der Volksseele und der Volksgemeinschaft sowie des neuen <strong>Menschen</strong> und des jungen<br />

<strong>Menschen</strong>. 253 Auch dem darauffolgenden Chef Mies van der Rohe war jede reformistische Richtung<br />

recht: er wollte die „Frankfurter Zeitung“, die „Rote Fahne“ und den „Völkischen Beobachter“ bestellen,<br />

um allen reformistischen Richtungen gerecht zu werden. Den sozialdemokratischen „Vorwärts“ oder<br />

ein katholisches Blatt gab es im Bauhaus bezeichnenderweise nicht zu lesen. Statt dessen durfte<br />

Hans Freyer, der Propagandist der „Revolution von Rechts“ und des „totalen Staats“ im Bauhaus<br />

251 Achim Preiss: Abschied, VDG, S. 148 ff<br />

252 Magdalena Droste, Bauhaus, Taschen 2007, S. 60f.<br />

253 Magdalena Droste, Bauhaus, Taschen 2007, S. 63f.<br />

170


einen Vortrag halten. Gegen jeden demokratischen Luftzug wurden alle Ritzen des Bauhauses<br />

abgedichtet, jede totalitäre Kakerlake durfte durch dieselben reformistischen Spalten hereinschlüpfen.<br />

Die Demokratie- und Glaubwürdigkeitsdefizite, die mit elitaristischen Konzepten einhergingen, zeigten<br />

sich auch in der Stellung und Hierarchie der Meister: Die Formmeister des Bauhauses wurden<br />

grundsätzlich höher vergütet, als dessen Handwerksmeister. Während die proletarischen Käufer von<br />

Dessau-Törtens Wohnsilos mit straßenweiser einfacher Gleichheit abgespeist wurden, wurde in den<br />

Meisterhäusern am anderen Ende von Dessau avantgardistisches Geltungsbewusstsein zelebriert.<br />

Ob Törtens Billigwohnzeilen, <strong>das</strong> Meisterhaus am Horn in Weimar oder die Meisterhäuser in Dessau,<br />

alle diese Experimentalbauten waren nicht nachhaltig und hatten gewaltige Baumängel. Das<br />

Verhältnis von Kubatur zu Außenfläche war durch <strong>das</strong> Würfelstapeln nicht immer günstig, am<br />

ungünstigsten bei den Dessauer Meisterhäusern; der Bau litt an dünnen Wändchen, Wärmebrücken<br />

und Feuchteschäden und war somit bautechnischer Pfusch.<br />

Das Dessauer Bauhaus war tendenziell bereits ein anderes, als <strong>das</strong> Weimarer mit seinen<br />

kunsthandwerklichen Schrulligkeiten. Ähnlich waren sich <strong>das</strong> Weimarer und <strong>das</strong> Dessauer Institut<br />

noch im elitaristischen Anspruch. Dieser zeigte sich unter anderem in der teutonischen Phraseologie.<br />

Die einfache Wahrheit form follows function wurde sehr deutsch und „innerlich“ ausgedrückt. Die<br />

Dinge seien durch ihr Wesen bestimmt und <strong>das</strong> Wesen des Dings müsse zunächst erforscht werden,<br />

damit <strong>das</strong> Ding richtig funktioniert. 254 Mit dem Dessauer Bauhaus erfolgte dennoch der Übergang zur<br />

neuen Sachlichkeit. Bereits in der baulichen Hülle der beiden Bauhaus-Standorte Weimar und Dessau<br />

zeigt sich <strong>das</strong>. Dieser Übergang zur Moderne wurde vom Bauhaus nicht alleine gerade um 1925<br />

vollzogen. Das Jahr 1925 ist eine Zäsur in der darstellenden Kunst überhaupt.<br />

Arno Breker beispielsweise entwickelte sein Gußverfahren der "reinen Form", <strong>das</strong> für die<br />

idealisierende Typisierung seines Schaffens im Nationalsozialismus stilprägend wurde, bereits<br />

1927. 255<br />

Der Jugendstil und <strong>das</strong> Weimarer Bauhaus sind aus der handwerklichen Tradition Deutschlands und<br />

einer gegen die Industrie gewandten Grundstimmung zu erklären. Die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit und die<br />

Suche nach der Industrieform waren Aufstände der jüngeren Generation gegen 30 Jahre krummen<br />

Ornamentenschwulst und reine Formen sowie der beginnende Aufschwung des Industriedesigns.<br />

Preußen der böse Geist Europas...<br />

Wie wir noch sehen werden, waren in fast allen Politikfeldern fast alle Politiker und Parteien einig.<br />

Insbesondere betraf <strong>das</strong> die Einbettung Deutschlands in die Staatengemeinschaft, die Frage des<br />

Verhältnisses zu Frankreich, England und den USA, die Frage der historischen Mission Deutschlands,<br />

die Frage nach der Mitteleuropakonzeption der deutschen Außenpolitik.<br />

Die deutsche Außenpolitik wurde nach dem verlorenen Weltkrieg nicht wirklich neu konzipiert. Sie<br />

wurde weitergeführt, aber zunächst ohne die Machtmittel des Kaiserreiches, als Schatteninszenierung,<br />

als Reminiszenz. Von vornherein wurden mögliche neue Allianzen nicht überdacht, der Gedanke nach<br />

Revanche, auf deutsch Rache, überwucherte sehr schnell alle vernünftigen Planungen, verhinderte<br />

eine nüchterne langfristige Entwicklung von Optionen. So wie Deutschland 1914 alles auf die eine<br />

Karte des Blitzkriegsplans gesetzt hatte und beim Versagen dieses Plans keine Joker mehr setzten<br />

konnte, so wurden nach der Niederlage wieder keine ernsthaften und tragfähigen Varianten<br />

entwickelt. Es blieb im wesentlichen bei dem Spiel "Einer gegen Alle", bei der Fehleinschätzung des<br />

Kräfteverhältnisses, die den ersten Weltkrieg mit verursacht hatte. In dieser Fehleinschätzung der<br />

Kräfte, in dieser einsamen Kraftpose, in der Überzeugung allein die Zivilisation gegen die Barberei zu<br />

vertreten, in einer bündnisunfähigen Außenpolitik liegt die eigentliche Kriegsschuld Preußens am<br />

ersten Weltkrieg. Mit der fehlenden oder falschen Analyse der Kräfteverhältnisse nach dem Krieg und<br />

254 Ein Normaler hätte gefordert, die Funktion zu erforschen, und nicht <strong>das</strong> Wesen. „Worin besteht <strong>das</strong> Wesen der<br />

Diktatur des Proletariats“ lautete noch in den siebziger Jahren des 20. Jh. eine Prüfungsfrage für <strong>das</strong> „Abzeichen<br />

für gutes Wissen“ (kein Mensch der siebziger Jahre hatte klare Vorstellungen, was <strong>das</strong> Wesen sei, es war etwas<br />

verwabertes, wolkiges. Die handfeste Diktatur des Proletariats schickte sich an, mittels Übergang durch <strong>das</strong><br />

teutsch-idealistische Wesen einen metaphysischen Heiligenschein zu erlangen)<br />

255 www.dhm.de/lemo/html/biografien/BrekerArno<br />

171


der fehlenden und falschen Analyse der Kriegsursachen wurde bereits die nächste Runde der<br />

internationalen Auseinandersetzungen eingeläutet.<br />

Bereits kurz nach der Wahl zur Nationalversammlung, noch bevor die zukünftige Richtung der<br />

Außenpolitik sich abzeichnete, bevor die ersten außenpolitischen Böcke geschossen wurden, hatte<br />

Konrad Adenauer ein schlechtes Gefühl, er versuchte <strong>das</strong> Unmögliche. Für den 1. Februar 1919 lud er<br />

Vertreter verschiedener Parteien nach Köln ein, um die Rheinische Republik zu gründen. Die<br />

Abtrennung des Rheinlandes sollte die protestantische Fremdherrschaft beenden.<br />

"Nach den Erfahrungen, die Deutschland mit dem Hegemonialstaat Preußen gemacht hat,<br />

nachdem die Hegemonie Preußens nicht zufällig, sondern als Folge eines Systems zum<br />

Zusammenbruch geführt hat, wird Preußens Hegemonie von den anderen Bundesstaaten nicht<br />

mehr geduldet werden....In der Auffassung unserer Gegner ist Preußen der böse Geist<br />

Europas....Preußen wurde nach ihrer Meinung von einer kriegslüsternen, gewissenlosen<br />

militärischen Kaste und dem Junkertum beherrscht, und Preußen beherrschte Deutschland,<br />

beherrschte auch die in Westdeutschland vorhandenen, nach ihrer ganzen Gesinnungsart an sich<br />

den Entente-Völkern sympatisierenden Stämme. Würde Preußen geteilt werden, die westlichen<br />

Teile Deutschlands zu einem Bundesstaat, der Westdeutschen Republik zusammengeschlossen,<br />

so würde dadurch die Beherrschung Deutschlands durch eine vom Geist des Ostens, vom<br />

Militarismus beherrschtes Preußen unmöglich gemacht...."<br />

Das gab Adenauer zu bedenken.<br />

Adenauer sprach am 1. Februar noch von einem deutschen Bundesstaat. Später bekam die<br />

Rheinlandbewegung separatistische Tendenzen. Auf die Rheinische Republik mußte Adenauer 30<br />

Jahre warten, dann ging sein Wunsch in Erfüllung.<br />

Adenauers Konzept war auf die Schwächung des preußischen Militarismus und die Änderung der<br />

außenpolitischen Ziele gerichtet und hätte, selbst wenn Adenauer erfolgreich gewesen wäre nur einen<br />

Teil der Probleme gelöst. Der elitaristische und antimoderne Zeitgeist, der auch West- und noch<br />

stärker Süddeutschland ergriffen hatte, hätte auch in der Rheinischen Republik nicht vernichtet,<br />

sondern bestenfalls gezügelt werden können. Es war eben weniger <strong>das</strong> konservative Altpreußen am<br />

Ausbruch des Weltkriegs schuld, sondern mehr die intellektuelle Gewalts-, Kriegs- und<br />

Reinigungsphantasie der Vorkriegszeit. Die Masse der Deutschen und auch der Rheinländer <strong>braucht</strong>e<br />

einen weiteren verlorenen Weltkrieg und vor allem die Anwesenheit von amerikanischen<br />

Besatzungstruppen, um 1945 den Kurs grundsätzlich zu ändern.<br />

Ähnlich wie im Rheinland ging es in Bayern zu. Auch hier hatte man die Berliner Vorherrschaft satt. Im<br />

Programm der Bauerischen Volkspartei hieß es deshalb:<br />

„Die bisherige weitgehende staats-, wirtschafts- und steuerpolitische Abhängigkeit Bayerns von<br />

dem übermächtigen Norden muss unter allen Umständen aufhören. Wir lehnen auf allen diesen<br />

Gebieten die bisherige einseitige, rücksichtslose preußische Vorherrschaft ab. Jenes Maß<br />

politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit aber, welches durch die Gemeinsamkeit der<br />

Bedürfnisse der deutschen Staaten von Natur aus sich ergibt, wünschen wir durchaus. Wir werden<br />

uns bestreben, hierfür den geeigneten Rahmen zu finden. Der Forderung, <strong>das</strong>s alle Einzelstaaten<br />

aufgehoben werden und eine einheitliche deutsche Republik geschaffen wird, werden wir den<br />

äußersten Widerstand entgegensetzen. (...) Wir haben es satt, für die Zukunft von Berlin aus bis<br />

ins kleinste regiert zu werden. Berlin darf nicht Deutschland werden und Deutschland nicht Berlin.<br />

Voraussetzung des Zusammenschlusses der deutschen Staaten ist, <strong>das</strong>s die Grundlagen, welche<br />

<strong>das</strong> Wesen der politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Selbständigkeit Bayerns bilden, Bayern<br />

verfassungsgemäß gewährleistet und gegen Verfassungsänderungen, die wider den Willen<br />

Bayerns erfolgen könnten, sichergestellt werden. In diesem Sinne fordern wir: Bayern den Bayern.“<br />

Der Herr des Ausnahmezustands<br />

Wie wir gesehen haben, hatten sich die politischen Eliten des Kaiserreichs als Wendehälse über den<br />

militärischen Zusammenbruch gerettet und saßen nun in der verfassungsgebenden<br />

Nationalversammlung. Entsprechend wurde die neue Weimarer Verfassung eine Wiedererfindung der<br />

Institutionen des Kaiserreichs.<br />

172


Neben einer geringen Verbesserung gab es viele Verschlechterungen gegenüber der alten<br />

Reichsordnung.<br />

Die geringe Verbesserung bestand daraus, daß der neue Kaiser ab nun gewählt wurde und<br />

Reichspräsident hieß. Er war jedoch mit etwa denselben Vollmachten ausgestattet, als vordem der<br />

Kaiser, ja in einigen Bereichen mit mehr. Von Anfang an wurde deshalb von einem Ersatzkaisertum<br />

gesprochen und später, daß der Souverän der Herr des Ausnahmezustands sei. Im wesentlichen<br />

waren die Ausnahmebefugnisse des Reichspräsidenten im § 48 verankert. Das Notverordnungsrecht,<br />

<strong>das</strong> Auflösungsrecht des Reichstags, <strong>das</strong> Ernennungs- und Entlassungsrecht des Reichskanzlers, der<br />

Oberbefehl über die Reichswehr und die Befugnis, direkt den Volkswillen zu befragen, stellten eine<br />

ungeheure Machtfülle dar.<br />

Die Verschlechterung bestand in der unklaren Machtbalance zwischen Reich und Ländern. Das Recht<br />

der Steuererhebung ging von den Ländern an <strong>das</strong> Reich über, zahlreiche Bundesländer wurden<br />

beseitigt und Bayern wurde die eigene Armee weggenommen. Mit der Machtfülle des<br />

Reichspräsidenten verband sich nun eine in ihrer Bedeutung geschwächte Ländervertretung, die dem<br />

Reich nichts entgegenzusetzen hatte.<br />

Die Lösungen der Weimarer Verfassung entbehrten nicht einer inneren Logik. Das Kaiserreich<br />

beschritt einen langen Weg in die Planwirtschaft. Nach dem deutsch-französischen Krieg mit<br />

französischen Reparationsmilliarden aufgepumpt, marschierte die Wirtschaft mit vielen<br />

Zwischenstationen in die zwangs- und planwirtschaftliche Zentralverwaltungswirtschaft des<br />

Weltkriegs. Die Tendenz zur Monopolisierung der wirtschaftlichen Entscheidungen ließ sich besonders<br />

in der Endphase, dem Weltkrieg, nicht mehr bestreiten. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn auf der<br />

Basis dieser über Jahrzehnte gewachsenen strammstehenden und grüßenden Kriegs- und<br />

Planwirtschaft ein pluralistischer Bürgerstaat errichtet worden wäre.<br />

Vielmehr erforderte und gebar die Kriegswirtschaft ein zentralistisches und bürokratisches Monstrum<br />

als Staatsüberbau. Es gab in der Nachkriegszeit (und die ganze Weimarer Republik war<br />

Nachkriegszeit) kaum ernsthafte Versuche der Demokratisierung, Dezentralisierung und<br />

Entmonopolisierung.<br />

Ganz anders waren die Notwendigkeiten. Erforderlich wäre ein Bruch mit den Institutionen des<br />

Kaiserreichs gewesen, um die Weltkriegsfolgen zu überwinden, etwa wie später nach dem zweiten<br />

Weltkrieg.<br />

Diese Notwendigkeiten sahen die großen Parteien nicht. MSPD und USPD hatten vom Marxismus<br />

inspirierte Programme und dachten eher an Vergesellschaftung und zentrale Steuerung, als an<br />

marktwirtschaftliche Impulse. In der DDP gaben die Verfechter der planwirtschaftlichen<br />

Gemeinwirtschaft unter Einschluß des Genossenschaftsgedankens den Ton an. Im Zentrum führte die<br />

Betrachtung der Wirtschaft unter den Aspekten der Soziallehre ebenfalls zu unklaren Positionen, denn<br />

die Soziallehre hatte ein durchaus kritisches Verhältnis zur Marktwirtschaft und idealisierte die kleinen<br />

überschaubaren Wirtschaftskreisläufe und korporatistische Wirtschaftsweisen. Für die Verhältnisse<br />

der Großindustrie war <strong>das</strong> unpassend.<br />

USPD, DNVP und DVP hatten keinen großen Einfluß auf die Verhandlungen der verfassunggebenden<br />

Versammlung, ihre Konzepte hätten bei einer Entfaltung als politischer Impuls ebenfalls keine<br />

vorwärtsweisenden Effekte gebracht.<br />

Eigentlich gab es keine kompakte Kraft, die gegen <strong>das</strong> gesellschaftliche System der Kaiserzeit<br />

energisch oder auch nur zögerlich aufmuckte. Ergebnis der Verhandlungen zwischen den<br />

Verfassungsparteien MSPD, Zentrum und DDP war der kleinste gemeinsame Nenner: Alle größeren<br />

Veränderungen in die eine oder in die andere Richtung wurden verhindert, der Status Quo war <strong>das</strong><br />

überwiegende Maß der Dinge. Ergebnis war eine monarchische Republik mit einem Wahlkaiser, der<br />

sich Reichspräsident nannte. Ergebnis auf wirtschaftspolitischem Gebiet war die Schaffung des<br />

Reichswirtschaftsrats, einer Art Ständekammer.<br />

Ein Versuch, Deutschland zu orientalisieren<br />

Staatswirtschaften sind geschichtlich eine Begleiterscheinung des Orients. Im Zweistromland, in<br />

Ägypten, in China und später durch den Mongolensturm auch nach Rußland verschleppt, war <strong>das</strong><br />

173


Wirtschaftsmodell der Staatswirtschaft auch ohne sozialistische Umwälzung tradiert. In Deutschland<br />

sollte diese Errungenschaft Asiens als Bestandteil des Zukunftsstaats eingeführt werden, allerdings<br />

mit der Illusion verbunden, daß der Staat absterben werde. 256 Die Sowjetbürger beispielweise haben<br />

auf <strong>das</strong> Wunder des Absterben des sozialistischen Staats über 70 Jahre vergeblich gewartet. Bereits<br />

im November 1918 noch vor der Nationalversammlung war durch den sozialdemokratisch besetzten<br />

Rat der Volksbeauftragten die Sozialisierungskommission gegründet worden, der die Aufgabe<br />

zukommen sollte, die Verstaatlichung der Schwerindustrie voranzubringen. Mitglieder dieser<br />

Kommission waren zum Beispiel Karl Kautsky (USPD), der spätere Wirtschaftsminister Hilferding<br />

(SPD) und der Wirtschaftstheoretiker Schumpeter. In die zweite Sozialisierungskommission hatte es<br />

auch der kaiserliche Krigswirtschaftsführer Rathenau geschafft. Im Februar 1919 war der<br />

Gewerkschafter Rudolf Wissel (SPD) Reichswirtschaftsminister geworden. Wissel und sein Mitarbeiter<br />

Wichard von Moellendorff, stoppten die direkten Verstaatlichungspläne und traten demgegenüber für<br />

eine staatlich gelenkte Privatwirtschaft ein. Mit dieser staatlich gelenkten Wirtschaft hatte<br />

insbesondere Moellendorff reichlich Erfahrung, denn er kam direkt aus Walther Rathenaus Waffen-<br />

und Munitionsbeschaffungsamt (Wumba) und der kaiserlichen Kriegsrohstoffabteilung (KRA).<br />

Hauptergebnisse der Sozialisierungspolitik waren <strong>das</strong> Sozialisierungsgesetz, <strong>das</strong> Kollektivität als Ziel<br />

der Regierung und Pflicht der Bürger bezeichnete und <strong>das</strong> Kohlenwirtschaftsgesetz, <strong>das</strong> einen<br />

Reichskohlenverband aus Regierung, Management und Gewerkschaften vorsah.<br />

Es ist unschwer zu erkennen, daß die Kriegswirtschaft in den Frieden herübergerettet werden sollte,<br />

und daß eine unheilvolle personelle Kontinuität (v. Moellendorff, Koeth, Rathenau) diesen Vorgang<br />

begleitete. Wieviel Kritik ist zu Recht oder zu Unrecht am Einfluß der Schwerindustrie auf den Staat<br />

geübt worden! Gegen den Einfluß des Staates auf die Schwerindustrie ist dagegen nur sehr wenig<br />

polemisiert worden. Aber dieser Einfluß war während der Weimarer Republik und insbesondere<br />

während des Dritten Reiches unheilvoll. Das Ziel des Staates war es, Macht zu erhalten und zu<br />

gewinnen und dafür aufzurüsten.<br />

Schwer verständlich ist es aus heutiger Sicht, wenn führende Politiker der frühen Weimarer Zeit die<br />

enge Allianz der Kriegszeit aufrechterhalten wollten. Jede Lösung, die eine Distanz zwischen Staat<br />

und Rüstungsindustrie gefördert hätte, wäre besser gewesen. Jede Lösung, die diese Entfernung<br />

verringerte, war schlecht.<br />

Adolf Hitler hätte die staatlichen Reichswerke Hermann Göring nicht gegründet, wenn er der<br />

Überzeugung gewesen wäre, daß diese Staatlichkeit der Aufrüstung nicht nützt. Adolf Hitler hätte nicht<br />

bereits 1934 <strong>das</strong> Anleihestockgesetz erlassen, wenn er der Überzeugung gewesen wäre, daß die<br />

Zwangsanlage von Gewinnen in der Rüstungsindustrie der Aufrüstung nicht nützt. Adolf Hitler ging es<br />

von Anfang an nur um Aufrüstung und er griff zum Mittel der staatlich gelenkten Privatwirtschaft,<br />

ebenso wie zum Mittel der Staatswirtschaft, wo sich dieses anbot. Adolf Hitler machte die Kapitalisten<br />

zu Betriebsführern. Als solche waren sie Befehlsempfänger und Befehlsgeber in einem. Er kam auf<br />

die Institutionen der Kriegswirtschaft des ersten Weltkrieges zurück und war sicher nicht unglücklich,<br />

daß er nicht alles neu erfinden und durchsetzen mußte, und daß die parlamentarischen Trottel<br />

während der Weimarer Zeit nichts wesentliches verändert oder beschädigt hatten, von der<br />

unterbliebenen Zerstörung der Kriegswirtschaft ganz zu schweigen. Das nationalsozialistische<br />

Wirtschaften war letztlich durch die Tradition des Kaiserreiches und der Weimarer Republik geheiligt<br />

und damit entzog es sich als offensichtlich konsenzfähig der Hinterfragung. Das Dritte Reich bediente<br />

sich des erprobten Konzepts der Gemeinwirtschaft. Auf jedem Markstück stand: Gemeinnutz geht vor<br />

Eigennutz.<br />

Eine weitere Orientalisierung Deutschlands mit der Verstaatlichung der Schwerindustrie konnte 1919<br />

verhindert werden, aber dieser Stillstand reichte nicht aus, da die planwirtschaftlichen Strukturen der<br />

Kriegswirtschaft erhalten blieben. Nötig wäre eine Europäisierung Deutschlands gewesen, die<br />

Entflechtung der Konzernstrukturen und die Schaffung einer möglichst großen und dauerhaften<br />

Distanz zwischen Schwerindustrie, Staat und Reichswehr.<br />

Eine unheilvolle hundertjährige Kontinuität vom Wilhelminismus bis zum Zusammenbruch 1989<br />

begünstigte durch ihren Hang zur Zentralisierung wirtschaftlicher Entscheidungen letztlich den Hang<br />

zur Zentralisierung politischer Entscheidungen.<br />

256 August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, JHW Dietz Nachf. Berlin, 55. Aufl. 1946, S. 466 f.<br />

174


Die Friedensbedingungen und ihre ersten Auswirkungen<br />

Die Periode der Nationalversammlung war durch die frustrierenden Verhandlungen zum Versailler<br />

Vertrag, die beginnende Inflation, Rohstoff- und Nahrungsmangel sowie einen allgemeinen Rückgang<br />

der Erzeugung auf vielen Gebieten gekennzeichnet. Fidus interpretierte diese Zeit auch als geistige<br />

Not.<br />

Fidus malte die Deutsche Not 1919, der Kriegspropagandisten und überzeugte Sozialist Louis<br />

Oppenheim malte ein Plkat zur Aufklärung über die Verluste, die Deutschland durch Versailles<br />

Versailles erlitten hatte. So sahen die führenden Karikaturisten Karl Arnold, Thomas Theodor Heine<br />

und Wilhelm Schulz den Versailler Vertrag: Karl Arnold beschwor abstruse Ängste herauf: „Die<br />

Verbreitung exotischer Seuchen ist im Versailler Vertrag nicht verboten – Also ist sie erlaubt“. Heine<br />

sah die Völkerbund-Friedensengel auf dem deutschen Michel stehen. Schulz malte <strong>das</strong> begrabene<br />

Deutschland.<br />

Besonders ungünstig für <strong>das</strong> Ansehen der Regierung waren die Abtretung der Provinzen Posen und<br />

Westpreußen im Februar 1919, die spartakistischen Märzunruhen 1919 und die Inempfangnahme der<br />

Friedensbedingungen im Mai 1919.<br />

Die Reparationszahlungen übertrafen alle Befürchtungen. Das lag auf der einen Seite an deren Höhe,<br />

auf der anderen Seite an dem Umstand, daß die Regierenden die Hoffnung genährt hatten, daß es<br />

schon nicht so schlimm kommen würde. Der Erwartungshorizont ist für die Aufnahme einer Botschaft<br />

entscheidend. Statt eines kurzen Aderlasses stand die jahrzehntelange Schröpfung des deutschen<br />

Patienten auf dem alliierten Therapiezettel.<br />

Die Räumung der Provinzen Posen und Westpreußen im Februar 1919 nach der dritten<br />

Waffenstillstandsverlängerung trug zu einem Stimmungsumschwung der Bevölkerung bei. Bis dahin<br />

wurden die Friedensverhandlungen positiver bewertet, danach nur noch negativ. Das hing damit<br />

zusammen, <strong>das</strong>s von der Reichsleitung während der ganzen Waffenstillstandszeit von Oktober bis<br />

Februar die Illusion genährt worden war, <strong>das</strong>s sich die Gebietsabtretungen auf den Westen<br />

beschränken würden, während <strong>das</strong> Reich im Osten als antibolschwistisches Bollwerk ungerupft<br />

davonkommen würde. Die Entente jedoch setzte auf eigenständige Staaten, wie die<br />

Tschechoslowakei, Polen und Rumänien als Puffer gegen Russland und gleichzeitig baute es diese<br />

Staaten der direkten Verbindung von Deutschland mit Russland in den Weg. Polen grenzte an<br />

Rumänien, um eine ungarische Grenze zu Russland zu verhindern. Zusätzlich erhielt die<br />

Tschechoslowakei noch eine Verlängerung in die ukrainischen Karpathen, um doppelt abzuisolieren.<br />

Die verschiedenen elitaristischen Krankheitsherde Europas: Russland, Deutschland, Österreich und<br />

Ungarn sollten voneinander abisoliert werden, um den gegenseitigen Transfer reformistischer<br />

Seuchen zu verhindern. Die Hoffnung auf den Erhalt des deutschen Siegfriedens im Osten wurden<br />

durch die Entente aprupt zerstört und der Gefühlshaushalt der Deutschen und Russen, die sich an<br />

ihre polnische Kolonialherrschaft über die bleierne Zeit von 120 langen Jahren gewöhnt hatten, ins<br />

Wanken gebracht.<br />

Neben erheblichen Gebietsverlusten im Westen und Osten sah der Vertrag den Verlust der Kolonien,<br />

die Abgabe der Hochseeflotte, Reparationszahlungen in nicht bestimmter Höhe, Besetzungen des<br />

Rheinlands, Rüstungsbeschränkungen und die Zuweisung der alleinigen Kriegsschuld vor. Zur<br />

Sicherung der Reparationen wurden Kontroll- und Interventionsrechte verankert.<br />

Wegen der Ablehnung der Friedensbedingungen trat die SPD-geführte Regierung Scheidemann im<br />

Juni zurück. Die über Nacht von Friedrich Ebert installierte SPD-geführte Regierung Bauer nahm die<br />

Friedensbedingungen mit den Stimmen von Zentrum und MSPD an, um den im Falle einer Ablehnung<br />

unmittelbar bevorstehenden französischen Einmarsch zu verhindern. Folgerichtig galten in Lenins<br />

Moskauer Terrorzentrale und bei den deutschen Reformisten <strong>das</strong> Zentrum und die SPD als<br />

Hauptagenten der westlichen Siegermächte.<br />

DDP und DVP lehnten die Friedensbedingungen ab, in der zutreffenden Erwartung, daß andere<br />

zustimmen würden. Damit entfernten sie sich aus der Übernahme von Verantwortung. Die im<br />

Reichstag nicht vertretene KPD und die DNVP waren überhaupt grundsätzlich gegen <strong>das</strong> Entente-<br />

Diktat.<br />

Gleichzeitig wurde durch die Siegermächte <strong>das</strong> Habsburger Reich abgewickelt. Ende 1918 hatte die<br />

Bildung der benachbarten Tschechoslowakischen Republik aus den Trümmern Habsburgs begonnen.<br />

175


So wie <strong>das</strong> Habsburger Reich war die Tschechoslowakei von Anfang an ein Vielvölkerstaat. 45 %<br />

Tschechen standen 25 % Deutsche, 20 % Slowaken und knapp 10 % Ungarn gegenüber.<br />

Die deutschösterreichische Minderheit verpasste durch den Boykott der konstituierenden<br />

Versammlung ihre Gestaltungsmöglichkeiten und hatte einen entsprechend schlechten Start im neuen<br />

Staat. Zu den tschchischen Regierungsparteien gehörte zum Beispiel die nationalsozialistische Partei<br />

von Edward Benes, die zum <strong>Menschen</strong>bild der katholischen Christenheit kein besseres Verhältnis<br />

hatte, als ihr Name erahnen ließ. Nicht nur die deutschen Eliten hatten ein zu positives Bild von der<br />

eigenen Nation, <strong>das</strong>selbe traf auf Italiener, Russen, Tschechen und andere zu. Mitteleuropa war in der<br />

Zeit um die Weltkriege alles andere als ein Mädchenpensionat. Ein Maß für die kulturelle und<br />

politische Verderbtheit einer Region war zum Beispiel die Dichte der elitaristischen Bauten. In Prag<br />

stand genausoviel Jugendstil herum, als in Wien oder Darmstadt und nicht alle Bauherren waren<br />

Deutschösterreicher gewesen. Durch die neue Lage der Deutschösterreicher in der Tschechoslowakei<br />

wurde <strong>das</strong> Bild der internationalen Politik aus deutscher Sicht weiter mit unguten Emotionen belastet.<br />

Ein besonderes Problem neben den sonstigen Friedensbedingungen war die Reduzierung der<br />

Reichswehr auf 100.000 Mann. Für die vorbürgerliche preußische Armee spielten die<br />

Kriegsschuldartikel des Versailler Vertragswerks eine überragende Rolle. Mit Gebietsabtretungen und<br />

Reparationen fand man sich ab, mit der Beschädigung der Ehre definitiv nicht. Es überwog ein Gefühl,<br />

lieber in Ehre unterzugehen, als Deutschland in Unehren vor den Franzosen zu bewahren.<br />

Die Politiker des Zentrums und der MSPD entschieden sich pragmatisch gegen die Ehre und für die<br />

Annahme der Friedensbedingungen.<br />

Auf den Gedanken, dem Gegner eine Kriegsschuld zuzuweisen, hatten die Ententemächte kein<br />

Patent. 1919 beklagte man allerdings allenthalben „Siegerjustiz“.<br />

Damit und mit der von der Reichsregierung erzwungenen Rückkehr der Freikorps aus dem Baltikum<br />

war der Boden für den Ludendorff-Lüttwitz-Putsch bereitet, der nach wenigen Tagen im März 1920<br />

durch einen Generalstreik zusammenbrach.<br />

Die von den Ideen der Jugendbewegung stark geprägten Verbände wollten dem in ihren Augen<br />

widerwärtigen parlamentarischen Spuk in Berlin ein Ende bereiten. Sie rechneten nicht mit der<br />

Abwehrbereitschaft der Arbeiter und der Gewerkschaften. Diese waren die Nutznießer der Weimarer<br />

Zeit und verteidigten die gerade erst errungenen Privilegien des Tarifrechts und den 8-Stunden-Tag.<br />

1920 hatte der ADGB noch 8 Millionen Mitglieder. Im Gegensatz zur späteren Zeit waren die<br />

gewerkschaftlich Beschäftigten in den Großbetrieben, die sogenannte Arbeiteraristokratie, von der<br />

übrigen Arbeiterschaft noch nicht in dem Maße isoliert, wie am Ende der 20er Jahre, als die Zahl der<br />

Gewerkschaftsmitglieder auf 3,5 Millionen zurückgegangen war. Andererseits organisierte Moskau<br />

den Kampf gegen die SPD noch nicht so perfekt, wie in den 30er Jahren. Die Arbeiterklasse war am<br />

Anfang der 20er Jahre noch eine Macht. Der Ludendorff-Lüttwitz-Putsch war wie alle<br />

Auseinandersetzungen dieser Zeit auch ein Bruderkrieg. Beispielsweise kämpfte Gregor Strasser auf<br />

der Seite der Putschisten, sein Bruder Otto Strasser als Mitglied der SPD auf der Seite der Regierung.<br />

Die Strasser-twins wurden wenig später hohe NSDAP-Führer und verkrachten sich am Anfang der<br />

Dreißiger Jahre mit Adolf Hitler.<br />

Viele nationalrevolutionäre Putschisten, so zum Beispiel Ernst von Salomon, hatten sich eine<br />

nationale Regierung versprochen, die sich auf ein Bündnis von Soldaten und Arbeitern stützen sollte.<br />

„Stattdessen sahen die Putschisten sich, trotz ihrer Kontaktaufnahme zur radikalen Linken, als<br />

monarchistische Reaktionäre angeprangert, und einer geschlossenen Front der streikenden und<br />

bewaffneten Arbeiter gegenüber.“ 257<br />

Der Hakenkreuzhelm, den die Putschisten getragen haben, zeigt die Nähe zur Reformbewegung. Die<br />

Putschleitung legte Wert auf die Feststellung, <strong>das</strong>s es sich um keinen Monarchistenputsch handele.<br />

Das konnte sie den Medien jedoch nicht adäquat vermitteln und es wurde letztlich nicht geglaubt,<br />

obwohl es zutraf.<br />

Der Generalstreik wurde von sozialdemokratischen Ministern ausgerufen und lief insofern aus dem<br />

Ruder, als er nicht einfach abbestellt werden konnte, nachdem die Putschisten aufgegeben hatten.<br />

257 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, München, 2005, S. 338<br />

176


Der linke Rand der Beteiligten gründete eine Rote Armee und forderte letztlich eine Arbeiterregierung.<br />

Statt der Bildung der Arbeiterregierung wurde der Generalstreik mit den Truppen beendet, die bei der<br />

Bekämpfung des Putsches abwartend im Abseits gestanden und mit den Putschisten im Stillen<br />

geliebäugelt hatten.<br />

George Grosz malte "Republikanische Automaten" (1920). Die Malweise wurde durch die italienischen<br />

Künstler der pittura metafisika beeinflußt. Surreal überhöhte Gegenständlichkeit und tektonischplastischer<br />

Realismus waren Bausteine der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit. Die neue Kunstrichtung war nicht mit<br />

einem Paradigmenwechsel in der politischen Aussage verbunden. Es wurden nie die jugendlichen<br />

Freischärler der Freicorps angegriffen, nie die jugendlichen Kriegsliteraten, sondern grundsätzlich<br />

immer ältere Jahrgänge, wie in diesem Bild. Die bündische Jugend konnte Verbrechen begehen, wie<br />

sie wollte: sie wurde nicht kritisiert.<br />

Die Regierung Bauer war durch den Putsch beschädigt, trat zurück und Hermann Müller (SPD) bildete<br />

bis zur Wahl des ersten Reichstages ein Kabinett aus SPD, Zentrum und DDP.<br />

Die Wahl zum ersten Reichstag Mitte 1920 sollte als Quittung der Wähler für den Versailler Frieden<br />

und für <strong>das</strong> unsichere Agieren der Regierung gegenüber Kriegsverursachern, Siegern und<br />

Putschisten ausfallen.<br />

Das Saarstatut<br />

Bei der Wahl zur Nationalversammlung hatte <strong>das</strong> Saargebiet als Teil des Rheinlandes bzw. Bayerns<br />

noch als Teil des Reichsgebiets mit abgestimmt. Am 10. Januar 1920 schied es aus dem Reichsgebiet<br />

aus. Für die Dauer von 15 Jahren wurde <strong>das</strong> Gebiet dem Völkerbund unterstellt und wurde durch eine<br />

Regierungskommission aus einem Franzosen, „einem Nichtfranzosen, der aus dem Saarland stammt“<br />

und drei Mitgliedern, die nicht aus Frankreich und Deutschland stammen verwaltet. 1935 war eine<br />

Volksabstimmung über den anschließenden Status vorgesehen. Die Kohlengruben gehörten<br />

Frankreich und im Juni 1923 wurde der Franc als Zahlungsmittel eingeführt.<br />

Das Saarstatut beinhaltete demokratische Defizite, da eine Volksvertretung nicht vorgesehen war.<br />

1922 wurde auf Drängen der Saarländer eine Landesvertretung geschaffen. Die Rechte dieser<br />

Vertretung waren insofern eingeschränkt, als sie der französischen Demokratietradition entsprachen.<br />

Der Präsident wurde von der Regierungskommission ernannt, die Vertretung durfte keine<br />

Gesetzesanträge stellen, der Haushalt wurde lediglich zur Kenntnis gegeben, Änderungen an<br />

Regierungsvorlagen durften nicht vorgenommen werden, die Exekutive konnte nicht kontrolliert<br />

werden und die Abgeordneten besaßen keine Immunität. Es handelte sich um eine bestenfalls<br />

beratende Versammlung, wie sie sich einige Emire, Sultane und Scheichs im Nahen Osten halten, um<br />

die Kooperationsbereitschaft der Stammesältesten und Notabeln zu erkunden.<br />

Störende Details im Verhältnis zwischen den französischen Arbeitgebern und den deutschen<br />

Arbeitnehmern waren ein Hundert-Tage-Streik der Bergarbeiter und die stark nationalistisch gefärbte<br />

Propaganda der Kommunisten, die die Sozialdemokraten, die auf den Ausgleich mit Frankreich<br />

bedacht waren, in der Wählergunst bereits 1928 überholten. Nicht zur Freude der Besatzer erfolgte<br />

die Teilnahme vieler saarländischer Vereine an der Rheinischen Jahrtausendfeier 1925. Nicht zur<br />

Freude der Saarländer wurde in den Schulen, die den französischen Minenbezirken unterstanden,<br />

auch französisch unterrichtet.<br />

Der Verlust des Saarlandes bedeutete für die deutsche Zentrumspartei einen großen politischen<br />

Schaden, da <strong>das</strong> Gewicht des Zentrums im verbleibenden Restdeutschland verringert wurde.<br />

Wahlen zum Landesrat:<br />

Jahr 1922 1924 1928 1932<br />

Wahlbeteiligung 54,5 % 67,6 % 66,1 % 77,3 %<br />

Zentrum 47,7 % 42,8 % 46,4 % 43,2 %<br />

SP 15,1 % 18,4 % 15,6 % 9,9 %<br />

KPD 7,5 % 15,9 % 16,7 % 23,2 %<br />

NSDAP - - - 6,7 %<br />

Sonstige 29,7 % 22,9 % 21,3 % 17,0 %<br />

177


Im katholischen Saarland erreichten die elitaristischen Parteien 1932 nur rund 30 %. Anders als in<br />

Deutschland errangen <strong>das</strong> Zentrum und die Sozialdemokratie auch 1932 eine Mehrheit der Stimmen.<br />

Außenhandel wie im Kriege<br />

Bis zum 22. März 1920 galt die Verordnung über die Regelung der Einfuhr vom 16. Januar 1917<br />

unverändert. 258 Die Strafbestimmungen wurden nun geändert, die Straftatbestände blieben aber<br />

bestehen.<br />

"Wer Waren ohne die im § 1 vorgesehene Bewilligung einführt oder den Bedingungen, an welche<br />

die Bewilligung geknüpft ist, zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis nicht unter einem Monat, bei<br />

mildernden Umständen mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft. Neben der Gefängnisstrafe ist<br />

auf Geldstrafe zu erkennen, die mindestens dem dreifachen Wert der Waren, auf die sich die<br />

strafbare Handlung bezieht, gleichkommen muß; ist dieser Wert nicht zu ermitteln, so ist auf<br />

Geldstrafe bis zu fünfhunderttausend Mark zu erkennen. Der Versuch ist strafbar. Ist die Handlung<br />

fahrlässig begangen, so ist auf Gefängnis bis zu einem Jahre und auf Geldstrafe bis zu<br />

einhunderttausend Mark oder auf eine dieser Strafen zu erkennen."<br />

Einfuhrbestimmungen wie im dritten Kriegsjahr, unter diesen Bedingungen sollte sich die<br />

Weltwirtschaft erholen.<br />

Einen Monat später, am 8. April 1920, wurden Ausführungsbestimmungen zu der Verordnung über die<br />

Außenhandelskontrollen vom 20. März 1919 erlassen. 259 Das Konzept der Außenhandelskontrolle<br />

fußte auf dem Konzept der Selbstverwaltung, <strong>das</strong> Dr. Rathenau der Kriegswirtschaft zugrunde gelegt<br />

hatte, nur daß jetzt der Sozialdemokrat Schmidt Reichswirtschaftsminister war.<br />

"Die Außenhandelsstellen werden als fachliche Selbstverwaltungsorgane der verschiedenen<br />

Wirtschaftsgruppen mit räumlicher Zuständigkeit für <strong>das</strong> Reich gebildet....Der<br />

Reichswirtschaftsminister kann den Außenhandelsstellen Rechtsfähigkeit verleihen. Er ist<br />

ermächtigt, die Außenhandelsstellen aufzulösen."<br />

Diese Machtvollkommenheit des Reichswirtschaftsministers Schmidt erinnert rückwirkend an den<br />

Kaiser, andererseits ahnt man bereits den Grundzug des Gesetzes zur Vorbereitung des organischen<br />

Aufbaus der deutschen Wirtschaft von 1934 voraus.<br />

"Die Außenhandelsstellen unterstehen der Aufsicht und den Weisungen des Reichskommissars,<br />

der über die Beschwerden entscheidet und für die einheitliche und den öffentlichen Interessen<br />

sowie den Interessen der Gesamtwirtschaft entsprechende Handhabung der<br />

Außenhandelskontrolle zu sorgen hat. Die Außenhandelsstellen werden von dem<br />

Reichsbevollmächtigten und der erforderlichen Anzahl von Stellvertretern geleitet, welche nach<br />

Anhörung der beteiligten Kreise vom Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung bestellt<br />

werden."<br />

"Für jede Außenhandelsstelle....wird ein Außenhandelsausschuß gebildet, welcher sich aus<br />

Vertretern der Erzeugung, des Handels und des Verbrauchs unter paritätischer Beteiligung von<br />

Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammensetzt...Der Ausschuß hat die Aufgabe, Richtlinien für<br />

die Handhabung der Außenhandelskontrollen aufzustellen, den Geschäftsgang zu überwachen<br />

und den Reichskommissar in Fragen, die die Außenhandelskontrolle betreffen, zu beraten."<br />

Diese Verbandsstruktur sollte der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Außenhandel unter<br />

wechselnden Bezeichnungen bis 1945 erhalten bleiben.<br />

Die Kreation des "faschistischen Stils"<br />

Der populäre italienische Dichter Gabriele D´Annunzio hatte bereits im September 1919 ganz im Stile<br />

seines Landsmanns Garibaldi ein Expeditionschorps aus Freischärlern, sogenannten arditi, gebildet<br />

258 www.documentarchiv.de/wr/1920/einfuhr-aenderung_vo.html<br />

259 www.documentarchiv.de/wr/1920/aussenhandelskontrolle_bst.html<br />

178


und die im Frieden von Trianon eigentlich Jugoslawien zugeordnete Stadt Rijeka (it. Fiume) an der<br />

Adria besetzt. Das war definitiv die Generalprobe für die Etablierung der elitaristischen<br />

Regierungspraxis in Europa. England, Frankreich und die Vereinigten Staaten reagierten überhaupt<br />

nicht, Italien verwickelte die faschistische Stadtrepublik erst Ende 1920 in einen Krieg, der binnen<br />

weniger Wochen zum Zusammenbruch der usurpierten Macht und zum Abzug der arditi führte. Viel zu<br />

spät, denn die Früchte der elitären Propaganda waren bereits geerntet worden.<br />

Fünfzehn Monate, bis zum Dezember 1920, regierte Gabriele D´Annunzio Fiume als unabhängigen<br />

Stadtstaat nach den Vorstellungen der Jugendbewegung. Er schuf einen von Mussolini und Hitler<br />

immer wieder kopierten Stil der politischen Liturgie. Kunstvolle Uniformen, spezielle Zeremonien,<br />

Sprechchöre, Reden vom Balkon des Rathauses vor Massenpublikum als Dialog mit dem Führer (in<br />

Havanna noch 50 Jahre später praktiziert) und spezielle Symbole und Feldzeichen hatten wenig<br />

später ihren festen Platz im faschistisch-nationalsozialistischen Kostüm- und Zeremonienfundus. Die<br />

schwarzen Hemden der arditi (Kämpfer), die Hymne "Giovinezza" (Jugend), Massenkundgebungen<br />

(soweit <strong>das</strong> die Bevölkerungszahl Fiumes erlaubte) und der zum römischen Gruß erhobene rechte<br />

Arm waren ebenfalls <strong>Neue</strong>rungen des Dichter-Staatschefs.<br />

Die politischen Ziele der Fiumesen wurden durch den Syndikalismus, eine in Deutschland nicht<br />

geläufige Form der nichtmarxistischen, anarchistisch geprägten Gewerkschaftsbewegung, beeinflußt.<br />

Im August 1920 hatten die Syndikalisten Alcestre de Ambris und O. A. Olivetti die erste korporative<br />

Verfassung des 20. Jahrhunderts fertiggestellt, die die Gleichberechtigung der Geschlechter, eine für<br />

anarchistische Lehren obligate Dezentralisierung und relativ demokratische Strukturen der<br />

korporativen Organe beinhaltete. Im Dezember 1920 besetzte Italien Fiume und vertrieb die<br />

Freischärler. 260 Politisch wurde Gabriele D´Annunzio besiegt, kulturell blieb er für die folgenden sieben<br />

Jahrzehnte ein sogenannter "Sieger der Geschichte". Die Zeremonien seines Stadtstaats sollten für<br />

die nächsten Jahrzehnte die politische Liturgie Europas bestimmen. Zu vielen politischen Ereignissen<br />

der Zwischenkriegszeit gibt es fast keine Fotos. In Fiume war vom ersten bis zum letzten Tag immer<br />

ein Fotoapparat zur Hand.<br />

Der faschistische Stil verbreitete sich in anfällige gesellschaftliche Biotope wie eine hochansteckende<br />

Krankheit. Bereits im Frühjahr 1920 führten die italienischen Fasci Flaggen, schwarze Hemden,<br />

Uniformen und <strong>das</strong> Tragen von Dolchen ein.<br />

Ohne zeitliche Verzögerung schwappte die neue Stilistik auch nach Deutschland herein. Im Mai 1920<br />

entwarf der Starnberger Zahnarzt Krohn die Hakenkreuzfahne für die Gründungsversammlung der<br />

NSDAP-Ortsgruppe. Hitler erkannte sofort die Werbekraft des bis dahin schon weitverbreiteten<br />

Reformsymbols und machte es zum verbindlichen Parteiabzeichen. Die italienischen Standarten<br />

wurden als Feldzeichen der deutschen Sturmabteilungen übernommen, ebenso wie der römische<br />

Heilsgruß, der den international unerfahrenen Volksgenossen fortan als "Deutscher Gruß" verkauft<br />

wurde. Der Germanenprinz Arminius drehte sich im Angesichte dieses späten kulturimperialistischen<br />

Triumphes der Römer im Grabe herum, ja er muß geradezu rotiert haben. Hitler durchforschte<br />

1920/21 alte Kunstzeitschriften und die heraldische Abteilung der Münchner Staatsbibliothek nach<br />

einer Vorlage für einen respekterheischenden Adler des NSDAP-Geschäftsstempels. Hitlers erstes<br />

Rundschreiben als Vorsitzender der NSDAP vom 17. September 1921 widmete sich keinem anderen<br />

Thema als der Parteisymbolik und dem Tragen des Parteiabzeichens. 261<br />

Genauso früh wurde der Stil der nationalsozialistischen Massenveranstaltungen entwickelt. Während<br />

sich Deutschlands Politiker mit der Ruhrkrise, der Inflation und dem Rathenau-Mord plagten,<br />

entwickelte Hitler die ganze Parteitheatralik, an deren ästhetischen Grundlagen er bereits in Wien und<br />

München gewerkelt hatte. D´Annunzios frische Ideen verbanden sich mit den alten Massenszenen<br />

Richard Wagners und Spektakelelementen, wie sie auch Brechts episches Theater wenig später<br />

verwendete. Schrille Werbung für Hitlers Auftritte, Heilrufe im Forum des zu klein gewählten Saals vor<br />

der Ankunft Hitlers, Marschmusik, Begrüßungsparolen, Fahnen, Sprechchöre, für alle Details war<br />

Hitler persönlich zuständig, er organisierte seine Redemarathone mit allem propagandistischen<br />

Beiwerk als Gesamtkunstwerke im Wagner´schen Sinne, schriftliche Veranstaltungshinweise regelten<br />

alle Details. Und es war wirksam so.<br />

260 Payne: Geschichte des Faschismus, Propyläen, S. 125 f.<br />

261 Fest: Hitler, Ullstein, S. 204 f.<br />

179


Das 25-Punkte-Programm der Deutschen Arbeiterpartei<br />

Am 24. Februar 1920 fand die erste größere öffentliche nationalsozialistische Versammlung im<br />

Festsaal des Münchner Hofbräuhauses statt. Der Arzt Dr. med. Johannes Dingfelder hielt unter dem<br />

Titel „Was uns not tut!“ eine Rede über den bevorstehenden Produktionsstreik der Natur; die<br />

natürlichen Grundlagen seien gefährdet, die Güter würden sich vermindern, den Rest fräße <strong>das</strong><br />

Ungeziefer. Das Ende der Menschheit wäre nahe ohne die völkische Neubesinnung. 262 Anschließend<br />

wurde <strong>das</strong> Parteiprogramm von Hitler bekanntgegeben und die Veranstaltung endete nach linken<br />

Störungen im Klamauk. Das Programm war von Anton Drexler, vermutlich Gottfried Feder und Adolf<br />

Hitler aus Versatzstücken der Ideologie der völkischen Reformbewegung zusammengestellt worden<br />

und wurde in den folgenden 25 Jahren innerparteilich so behandelt wie die Zehn Gebote vom Berge<br />

Sinai: mit vermeintlich übernatürlichen Kräften der Führer in eherne Gesetzestafeln gegossen, wurden<br />

die 25 Punkte nie mehr in Frage gestellt, geschweige denn geändert.<br />

1. Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der<br />

Völker zu einem Groß-Deutschland.<br />

2. Wir fordern die Gleichberechtigung des deutschen Volkes gegenüber den anderen Nationen,<br />

Aufhebung der Friedensverträge von Versailles und St. Germain.<br />

3. Wir fordern Land und Boden (Kolonien) zur Ernährung unseres Volkes und Ansiedlung unseres<br />

Bevölkerungsüberschusses.<br />

4. Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen<br />

Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.<br />

5. Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muß unter Fremden-<br />

Gesetzgebung stehen.<br />

6. Das Recht, über Führung und Gesetze des Staates zu bestimmen, darf nur dem Staatsbürger<br />

zustehen. Daher fordern wir, daß jedes öffentliche Amt, gleichgültig welcher Art, gleich ob im Reich,<br />

Land oder Gemeinde nur durch Staatsbürger bekleidet werden darf.<br />

Wir bekämpfen die korrumpierende Parlamentswirtschaft einer Stellenbesetzung nur nach<br />

Parteigesichtspunkten ohne Rücksichtnahme auf Charakter und Fähigkeiten.<br />

7. Wir fordern, daß sich der Staat verpflichtet, in erster Linie für die Erwerbs- und Lebensmöglichkeit<br />

der Bürger zu sorgen. Wenn es nicht möglich ist, die Gesamtbevölkerung des Staates zu ernähren, so<br />

sind die Angehörigen fremder Nationen (Nicht-Staatsbürger) aus dem Reiche auszuweisen.<br />

8. Jede weitere Einwanderung Nicht-Deutscher ist zu verhindern. Wir fordern, daß alle Nicht-<br />

Deutschen, die seit 2. August 1914 in Deutschland eingewandert sind, sofort zum Verlassen<br />

des Reiches gezwungen werden.<br />

9. Alle Staatsbürger müssen gleiche Rechte und Pflichten besitzen.<br />

10. Erste Pflicht jeden Staatsbürgers muß sein, geistig oder körperlich zu schaffen. Die Tätigkeit des<br />

Einzelnen darf nicht gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen, sondern muß im Rahmen des<br />

gesamten und zum Nutzen aller erfolgen.<br />

Daher fordern wir:<br />

11. Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens.<br />

Brechung der Zinsknechtschaft!<br />

12. Im Hinblick auf die ungeheuren Opfer an Gut und Blut, die jeder Krieg vom Volke fordert, muß die<br />

persönliche Bereicherung durch den Krieg als Verbrechen am Volke bezeichnet werden. Wir<br />

fordern daher restlose Einziehung aller Kriegsgewinne.<br />

262 Fest: Hitler, Ullstein, S. 190 ff.<br />

180


13. Wir fordern die Verstaatlichung aller (bisher) bereits vergesellschafteten (Trust) Betriebe.<br />

14. Wir fordern die Gewinnbeteiligung an Großbetrieben.<br />

15. Wir fordern einen großzügigen Ausbau der Alters-Versorgung.<br />

16. Wir fordern die Schaffung eines gesunden Mittelstandes und seiner Erhaltung, sofortige<br />

Kommunalisierung der Groß-Warenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine<br />

Gewerbetreibende, schärfste Berücksichtigung aller kleinen Gewerbetreibenden bei Lieferung an den<br />

Staat, die Länder oder Gemeinden.<br />

17. Wir fordern eine unseren nationalen Bedürfnissen angepaßte Bodenreform, Schaffung eines<br />

Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke. Abschaffung des<br />

Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekulation.<br />

18. Wir fordern den rücksichtslosen Kampf gegen diejenigen, die durch ihre Tätigkeit <strong>das</strong> Gemein-<br />

Interesse schädigen. Gemeine Volksverbrecher, Wucherer, Schieber usw. sind mit dem Tode zu<br />

bestrafen, ohne Rücksichtnahme auf Konfession und Rasse.<br />

19. Wir fordern Ersatz für <strong>das</strong> der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein<br />

deutsches Gemein-Recht.<br />

20. Um jeden fähigen und fleißigen Deutschen <strong>das</strong> Erreichen höherer Bildung und damit <strong>das</strong><br />

Einrücken in führende Stellungen zu ermöglichen, hat der Staat für einen gründlichen Ausbau unseres<br />

gesamten Volksbildungswesens Sorge zu tragen. Die Lehrpläne aller Bildungsanstalten<br />

sind den Erfordernissen des praktischen Lebens anzupassen. Das<br />

Erfassen des Staatsgedankens muß bereits mit dem Beginn des Verständnisses durch die Schule<br />

(Staatsbürgerkunde) erzielt werden. Wir fordern die Ausbildung geistig besonders veranlagter Kinder<br />

armer Eltern ohne Rücksicht auf deren Stand oder Beruf auf Staatskosten.<br />

21. Der Staat hat für die Hebung der Volksgesundheit zu sorgen und durch den Schutz der Mutter<br />

und des Kindes, durch Verbot der Jugendarbeit, durch Herbeiführung der körperlichen Ertüchtigung<br />

mittels gesetzlicher Festlegung einer Turn- und Sportpflicht durch größte Unterstützung aller sich mit<br />

körperlicher Jugend-Ausbildung beschäftigenden Vereine.<br />

22. Wir fordern die Abschaffung der Söldnertruppe und die Bildung eines Volksheeres.<br />

23. Wir fordern den gesetzlichen Kampf gegen die bewußte politische Lüge und ihre Verbreitung<br />

durch die Presse. Um die Schaffung einer deutschen Presse zu ermöglichen, fordern wir, <strong>das</strong>s<br />

a) sämtliche Schriftleiter und Mitarbeiter von Zeitungen, die in deutscher Sprache erscheinen,<br />

Volksgenossen sein müssen.<br />

b) Nichtdeutsche Zeitungen zu ihrem Erscheinen der ausdrücklichen Genehmigung des Staates<br />

bedürfen. Sie dürfen nicht in deutscher Sprache gedruckt werden.<br />

c) Jede finanzielle Beteiligung an deutschen Zeitungen oder deren Beeinflussung durch Nicht-<br />

Deutsche gesetzlich verboten wird und fordern als Strafe für Uebertretungen die Schließung<br />

einer solchen Zeitung sowie die sofortige Ausweisung der daran beteiligten Nicht-Deutschen<br />

aus dem Reich.<br />

d) Zeitungen, die gegen <strong>das</strong> Gemeinwohl verstoßen, sind zu verbieten. Wir fordern den<br />

gesetzlichen Kampf gegen eine Kunst- und Literaturrichtung, die einen zersetzenden Einfluß<br />

auf unser Volksleben ausübt und die Schließung von Veranstaltungen, die gegen vorstehende<br />

Forderungen verstoßen.<br />

24. Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand<br />

gefährden oder gegen <strong>das</strong> Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen.<br />

Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell<br />

an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und<br />

außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von<br />

innen heraus auf der Grundlage:<br />

181


Gemeinnutz vor Eigennutz<br />

25. Zur Durchführung alles dessen fordern wir die Schaffung einer starken Zentralgewalt des Reiches.<br />

Unbedingte Autorität des politischen Zentralparlaments über <strong>das</strong> gesamte Reich und<br />

seine Organisationen im allgemeinen.<br />

Die Bildung von Stände- und Berufskammern zur Durchführung der vom Reich erlassenen<br />

Rahmengesetze in den einzelnen Bundesstaaten.<br />

Die 25 Punkte speisten sich aus völkischen, biologistischen, malthusianistischen, zünftigen und<br />

romantischen Quellen. Das schöne Mittelalter, wo es noch keine Zinsen gab, wo die Handwerker und<br />

Händler sich keine Konkurrenz bieten durften und von Zünften und Gilden geschützt in eine<br />

kommunale Gemeinschaft eingebettet waren, wo der Sachsenspiegel statt dem römischen Recht galt<br />

und wo die Bauern ihre gleichen Hufen neben der Allmende bebauten, wo Klöster die Talente der<br />

Jugend unabhängig vom Einkommen der Eltern förderten und wo tapfere Ritter gegen auswärtige und<br />

zugereiste Drachen kämpften, war offensichtlich <strong>das</strong> gesellschaftliche Leitbild. Die Auflösung aller<br />

dieser Bindungen wurde als <strong>das</strong> zerstörende Werk der Juden verstanden, der Zins, die Abschaffung<br />

der Zünfte und Gilden, <strong>das</strong> römische Recht, die Kaufhäuser und die Abhängigkeit von<br />

Marktbedingungen, alles moderne und unbequeme, wurde mit ihnen identifiziert.<br />

Deutschland, <strong>das</strong> sich an diesem mittelalterlichen Idyll und Ideal orientierte, kulturell und wirtschaftlich<br />

als hochstehend verstand, und sich Frankreich und England gegenüber deutlich als überlegen<br />

betrachtete, war in der Nachkriegsordnung auf einen niederen Rang geraten, der seiner kulturellen<br />

und wirtschaftlichen und folglich militärischen Unterlegenheit entsprach. Da überlegene Kulturen<br />

siegreich sind, da es Niederlagen von hochstehenden Reichen gegenüber niedrigstehenden<br />

Nachbarn nur durch Zauberei und Verrat, durch unterirdisches Untergraben und Unterwühlen geben<br />

kann, waren die Wühler, Verräter und Zauberer schnell ausgemacht: wieder die Juden. Auf die Idee,<br />

<strong>das</strong>s Deutschland kulturell tiefstehender war, als seine Nachbarn kam niemand, und so wurde der<br />

Jude der Blitzableiter.<br />

Deutschland stand nach der militärischen Niederlage vor der Alternative: kulturelle und wirtschaftliche<br />

Modernisierung, um den Vorsprung der alliierten Siegermächte aufzuholen, sich den überlegenen<br />

feindlichen Kräften anzugleichen und mit den Mitteln des Fleißes, des Handels und der Diplomatie <strong>das</strong><br />

nationale Selbstbewusstsein in die Waage zu den Realitäten zu bringen, oder aus einem verletzten<br />

und übersteigerten Selbstbewußtsein heraus einen zweiten Versuch zu wagen, den Kampf gegen die<br />

moderne Welt aufzunehmen, ohne die mittelalterlichen Zöpfe abzuschneiden.<br />

Das überlegene Eigenbild der Deutschen verstellte den Blick auf die Möglichkeiten und<br />

Notwendigkeiten. Das Programm der Deutschen Arbeiterpartei entsprach der deutschen Seele; es war<br />

deutlich rückwärtsgewandt, ohne den Zeitgenossen deshalb als besonders reaktionär aufzufallen. Die<br />

25 Punkte entsprachen vielmehr den Erwartungen und Visionen der durch 100 Jahre <strong>Romantik</strong> und<br />

30 Jahre Lebensreform beeinflussten Deutschen.<br />

Die <strong>Neue</strong> Schar<br />

Nicht nur der Führer sammelte die Getreuen, auch andere Rattenfänger waren unterwegs. Auf dem<br />

Treffen der Wandervögel Pfingsten 1920 in Kronach scharte Muck Lamberty 25 junge Mädchen und<br />

Männer um sich und begann von dort aus seinen spektakulären Zug durch Thüringen und Franken.<br />

Mit der sogenannten „<strong>Neue</strong>n Schar“ erregte er überall Aufmerksamkeit und hielt überall den gleichen<br />

Vortrag: "Die Revolution der Seele, der Zusammenbruch des Alten und die Empörung der Jugend."<br />

"Seit Pfingsten durchzieht ein revolutionärer Stoßtrupp, der sich die '<strong>Neue</strong> Schar' nennt, Thüringen.<br />

Maschinengewehre, Handgranaten und ähnliche von ihm für veraltet gehaltene<br />

Revolutionsrequisiten führt er nicht mit sich. Er will nämlich 'nur' die Herzen revolutionieren." 263<br />

Die <strong>Neue</strong> Schar lebte in der Spielbewegung und in ihrem Gemeinschaftsleben die von ihnen erstrebte<br />

Volksgemeinschaft vor, wie sie Mucks idealistisch-völkischen Vorstellungen entsprach. Die Spiele und<br />

Tänze sollten echte Freude und ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl geben. Die <strong>Neue</strong> Schar<br />

glaubte an die Jugend als einzige Kraft, die die neuen Wege weisen könnte. Im Stil des Wandervogels<br />

263 Die Weimarer Botenfrau, 2. Jg. Nr. 2, Oktober 1920, Artikel: Die "<strong>Neue</strong> Schar"<br />

182


lehnten sie <strong>das</strong> veräußerlichte kulturelle Leben, den Kinoschmutz und die modernen Schiebetänze,<br />

den Alkohol und <strong>das</strong> Rauchen ab. Die <strong>Neue</strong> Schar zog über Kronach, Coburg, Sonneberg,<br />

Leutenberg, Rudolstadt, Saalfeld, Pößneck, Kahla, Jena, Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach zur<br />

Leuchtenburg.<br />

Öffentliche Gebäude und einige Kirchen wurden ihnen geöffnet. In Jena war <strong>das</strong> Volkshaus zu klein,<br />

in Weimar konnte die Herderkirche, in Erfurt die Barfüßerkirche und in Eisenach die Georgenkirche<br />

den Ansturm der Anhänger der <strong>Neue</strong>n Schar nicht fassen. Auf dem Domplatz in Erfurt hörten 15.000<br />

bis 20.000 <strong>Menschen</strong> am 26. August 1920 Mucks Rede, die er von der Außenkanzel über dem<br />

Barfüßertreppchen am Dom hielt. Vormittags zeigte die <strong>Neue</strong> Schar den Kindern Tanz- und<br />

Volksspiele. Nachmittags spielten sie für Erwachsene und Jugendliche. "Am zweiten, am dritten Tag<br />

war die ganze Stadt von einem Taumel erfaßt." Vor allem in Erfurt erschienen Kinder und Jugendliche<br />

in großer Zahl. Je einer der <strong>Neue</strong>n Schar kam bei der Anleitung zum Tanz auf 100 bis 300 Kinder. Der<br />

gesamte Domplatz war eine wogende, tanzende Masse.<br />

Auch die Vorträge Mucks über "Die Revolution der Seele" verstand die <strong>Neue</strong> Schar emotional<br />

wirkungsvoll auszugestalten. Die bekannten Gärtnereien Erfurts hatten Astern in Überfülle geschickt,<br />

mit denen die <strong>Neue</strong> Schar die Barfüßerkirche stimmungsvoll schmückte.<br />

"Die Astern wurden in kürzester Zeit zu Kränzen gewunden. Mit staunenswertem Form- und<br />

Farbensinn wurden die Blumen angebracht, über die Kanzel, die Orgelempore, um die mächtigsten<br />

Säulen gewunden." Eichenlaubkränze, Kerzenbeleuchtung und von der <strong>Neue</strong>n Schar aus Weimar<br />

einstimmig vorgetragene Marienlieder bildeten die stimmungsvolle Kulisse für Mucks Rede. 264<br />

"Wie es kam, konnte später niemand mehr beschreiben; aber es ist eine verbürgte Tatsache, daß<br />

überall biedere Bürger plötzlich zu tanzen begannen, ganze Städte wurden wie von einem Taumel<br />

ergriffen, die Werkstätten standen still, man hörte auf zu arbeiten, alles tanzte zu den Klängen des<br />

Muck und seiner Schar. Und wenn die Begeisterung am höchsten war, dann sprach Muck-<br />

Lamberty zu der fanatisierten Menge und überzeugte sie, daß die Wirklichkeit nur Schein sei, daß<br />

Armut, Alltag und Gegenwart nichts gelten und daß <strong>das</strong> wahre Leben <strong>das</strong> Leben im Tanz sei." 265<br />

Die <strong>Neue</strong> Schar hatte auf ihrem Zug durch Thüringen einen überwältigenden Erfolg und zog<br />

Zehntausende in ihren Bann. In den meisten Städten, durch die sie gekommen waren, bildeten sich<br />

nach ihrem Vorbild Jugendkreise, die sich <strong>Neue</strong> Schar nannten. Zeitgenössische Beobachter<br />

faszinierte diese Bewegung, sie verglichen sie mit den Kinderkreuzzügen, dem Rattenfänger von<br />

Hameln, mit tanzenden Derwischen und den Flagellanten des Mittelalters. 266 Aber es gab auch viele<br />

kritische Stimmen, die sein reformistisches Programm ablehnten. Die Studenten verulkten ihn, und die<br />

Arbeiter lehnten ihn ab. "Die Deutschnationalen nennen ihn einen Kommunisten, die Kommunisten<br />

einen Reaktionär." 267<br />

Überall verteilte die <strong>Neue</strong> Schar Handzettel mit ihrem Programm. Obenan stand ein Leitsatz von Muck<br />

Lamberty:<br />

"So kommt es sicher, daß die Jungen sich verbinden, gegen alles Morsche und Faule und gegen<br />

die Verderbtheit der heutigen Gesellschaft zu kämpfen, die Jugend, die über allen Parteien steht,<br />

um des Lebens willen." 268<br />

Typisch für die <strong>Neue</strong> Schar war auch <strong>das</strong> ohne Verfasserangabe abgedruckte Gedicht:<br />

"Bursche, laß was flattern, wehen,<br />

Tut mir doch nit so gesetzt<br />

Bissel stürmisch muß es gehen,<br />

264<br />

Auszug aus den Internetseiten der Leuchtenburg, hier gibt es auch interessante Biografien der Mitglieder des<br />

Leuchtenburgkreises abzurufen. Die meisten Mitglieder wurden spätestens in den fünfziger Jahren<br />

sozialdemokratische Studienräte und Politiker.<br />

265<br />

Fritz Borinski, Werner Milch, Jugendbewegung. Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung 1896- 1933,<br />

Ffm, S. 45 f.<br />

266<br />

Mitteldeutsche Zeitung", Ausgabe Erfurt vom 16.09.1920, "Berliner Tageblatt" vom 22.02.1921<br />

267<br />

"Leipziger <strong>Neue</strong>ste Nachrichten", G. Schröer, Auf der Spur der "<strong>Neue</strong>n Schar"<br />

268 K. Haufschild, Jugendbewegung, S. 30.<br />

183


Soll was Freudiges geschehen,<br />

Tut was, was die Leut entsetzt!<br />

Tut mir nit so vereist!<br />

Glut ist Geist!"<br />

"Acht Tage lang habt Ihr Euch auf dem Vogelschießen Bauchtänze und andere seichte Sachen<br />

alter 'Kultur' zeigen lassen, habt Dreck geschluckt und Eure Ohren und Sinne durch Drehorgeln,<br />

allerlei Blödsinn, seelenlosen Kram betäuben lassen. Alles andere - nur kein Sichfreuen, kein<br />

Sichkennenlernen, kein gesundes, herzhaftes Fröhlichsein, kein Volksleben. Besinnt Euch! Unser<br />

Volk muß untergehen, wenn die Jungen und Junggebliebenen nicht aufstehen und an sich<br />

arbeiten. Wir wollen in den Tagen, die wir bei Euch sind, mit Euch leben und kämpfen gegen<br />

Vergnügungen aller Art, die die Jugend ausbeuten an Leib und Seele aus Geldinteressen, und<br />

rufen Euch auf, die Tage mit uns zu verbringen in rechter Fröhlichkeit. Das soll aber nur ein Anfang<br />

sein, wir wollen mehr als spielen! Wie wir mit Euch leben wollen, steht auf der Umseite." 269<br />

Während Muck für <strong>das</strong> Brauchtum des Mittelalters und unschuldige Reigen warb, schwappte parallel<br />

wie nach jedem Krieg eine Welle seichter Vergnügungssucht durchs Land. Die Überlebenden der<br />

Schützengräben und die unfreiwilligen Witwen wollten tanzen, vergessen und Bekanntschaften<br />

schließen, die Berlinbesucher strebten in fragwürdige Revuen. Im Schutze der Dunkelheit wurde vor<br />

allem nachts gegen den Geist Lambertys gesündigt, tags darauf wurden verkatert<br />

Gänseblümchenkränze gewunden, Reigen getanzt und Volkslieder gesungen.<br />

Aber nicht nur <strong>das</strong> Morsche und Faule der damaligen Gesellschaft stank vor sich hin; Muck selbst<br />

wurde nachts auf der Leuchtenburg von lüsternen Dämonen heimgesucht. Zwei oder drei seiner<br />

Vortänzerinnen des Zugs durch Thüringen wurden gleichzeitig von ihm schwanger. War dieses <strong>das</strong><br />

Sichkennenlernen, <strong>das</strong> gesunde, herzhafte Fröhlichsein der Jungen und Junggebliebenen? Das<br />

ausschweifende Liebesleben nahm ihm die abstinente Jugendbewegung übel und sein kalter<br />

keuscher völkischer Stern verglühte im barocken Firmament weiblicher Fruchtbarkeit so schnell wie er<br />

grad aufgestiegen war.<br />

Der zeitweilige Erfolg Lambertys als Wanderprediger, Vorhüpfer und Volksliedbarde beruhte auf dem<br />

Erkennen der eigentlichen Grundstimmung im Lande, die rückwärtsgerichtet und antidemokratischelitaristisch<br />

war. Die zeitgleiche demokratische Betriebsamkeit der Nationalversammlung überdeckte<br />

diese Tendenz nur oberflächlich.<br />

Der Triumpf Zarathustra´s über <strong>das</strong> Kapital<br />

1919/20 erschienen zahlreiche Studien und Berichte über die Herrschaft der Bolschewiken in<br />

Russland. Aus Alfons Paquet´s Publikationen und Tagebüchern ist bereits reichlich zitiert worden.<br />

Axel von Freytagh-Loringhoven verfasste 1919 eine „Geschichte der russischen Revolution, Erster<br />

Teil.“ Freytagh-Loringhoven fasste die Revolution als von den Massen beherrschten Prozeß auf, Lenin<br />

und seine Kommisare waren nur Vollstrecker des Volkswillens, Götzen, die <strong>das</strong> Volk sich nach seinem<br />

Bilde geschaffen hätte. Obwohl er Vorträge vor allem für die DNVP hielt, war sein Ansatz ein eher<br />

marxistischer. Aus den Reihen der Arbeiterklasse würden jene Parteiführer hervorgehen, die sich zum<br />

Sprecher des Klasseninteresses machten.<br />

Ähnlich sah <strong>das</strong> Verhältnis Führer - Masse Harald von Hoerschelmann. „Person und Gemeinschaft –<br />

Die Grundprobleme des Bolschewismus“ hieß seine ebenfalls 1919 erschienen Studie. Die Räteidee<br />

laufe im Grunde auf eine neue „Hierarchie von unten“ hinaus. Eine Hierarchie von unten ist eigentlich<br />

eine Demokratie. Im übrigen verfiel Herschelmann in den üblichen teutonischen Seelenschwulst: Die<br />

Revolution sei „eine Umwälzung des innersten Wollens und Glaubens der <strong>Menschen</strong>, um eine<br />

Umpflügung jenes den klaren Worten unzugänglichen Gefühlsbodens der menschlichen Seele“ und<br />

somit nichts anderes als die Vollendung der von Nietzsche verkündeten „Umwertung der Werte“. Als<br />

ethische Idee destillierte Hoerschelmann <strong>das</strong> russische Streben nach „Allheit“ heraus, des<br />

menschheitlichen Urphänomens des Gemeinschaftswillens. Vieles entspreche uraltem germanischem<br />

Empfinden. 270 Hoerschelmanns Studie war eine Sammlung elitaristischer Phraseologie, angewendet<br />

269 Flugblatt der "<strong>Neue</strong>n Schar" in: Ritzhaupt, "<strong>Neue</strong> Schar", S. 7<br />

270 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 225f<br />

184


auf die Revolution Lenins und Trotzkis. Das Frappierende war: Lenins und Trotzkis Revolution war<br />

elitaristisch und wurde nicht vom Klassenstandpunkt erklärt, auch nicht aus materiellen Bedingungen<br />

der Beteiligten, sondern aus Seelenkräften. und nur darum gefiel sie den deutschen Bildungsbürgern.<br />

Eine demokratische Massenbewegung aus materiellen Motiven hätte bildungsbürgerlichen Ekel<br />

erregt. Man arbeitete sich beispielsweise an den Volksschulabsolventen der SPD ab, die durch<br />

Wahlen an die Macht gekommen waren und die konkreten Lebensbedingungen der gewerkschaftlich<br />

organisierten Arbeiter in den Großbetrieben gegenüber den übrigen Beschäftigten verbesserten.<br />

Werner Sombart hatte in die 7. Auflage seines Buches „Sozialismus und soziale Bewegung“ von 1919<br />

ein aktuelles Kapitel über den Bolschewismus eingefügt. Erst durch die Propaganda der Tat hätten die<br />

Bolschewiki den Sozialismus zum Kernproblem der europäischen Kulturmenschheit gemacht. Sie<br />

hätten die Ideen des Sozialismus geläutert, indem sie ihn zum entschlossenen Antikapitalismus<br />

umprägten und die Sowjetverfassung als einen Damm in die anschwellende Flut des mechanistischen<br />

Demokratismus und Parlamentarismus, dieser Ausdrucksformen des amerikaniwschen Bürgertums<br />

hineingebaut hätten. Durch den Bolschewismus sei die drohende Trennung zwischen Sozialismus und<br />

Heroismus vermieden worden.<br />

In Wahrheit gingen Marxscher Sozialismus und Sombart´scher Heroismus lange Zeit getrennte Wege.<br />

Wie sollte ein marxistischer Sozialismus, der sich naturgeschichtlich durch die langatmige Reife der<br />

Produktivkräfte entwickelt heroisch sein? Er ist so heroisch, wie die Reife der Kartoffel auf dem<br />

Kartoffelacker. Irgendwann im Oktober muß die evolutionär gewachsene Kartoffel revolutionär<br />

geerntet werden. Wer einmal Kartoffeln geerntet hat, konnte sich sein Bild vom Heroismus und<br />

revolutionären Elan selber machen. Es war umgekehrt, wie Sombart behauptete: Der Bolschewismus<br />

war die erstmalige, jedoch sehr weitgehende Vereinigung von Sozialismus und Heroismus, die<br />

Verbandelung des Marxismus mit dem Zarathustra, mit dem Kult der Tat, der Erde, des Bluts und des<br />

Führertums, wobei Marxens Intentionen von den materialistischen Füßen auf den idealistischen Kopf<br />

gestülpt wurden. Ob Marxens Lehre eine brauchbare Theorie war, ist eine ganz andere Fragestellung,<br />

es war jedenfalls eine andere Lehre. Marxens Theorie hat aus verschiedenen Gründen nicht<br />

funktioniert und war in ihrer traditionellen Ausprägung ein ideologischer Todeskandidat. Die<br />

Produktivkräfte beispielsweise entwickelten sich in Deutschland stürmisch, die Maschinen wurden<br />

immer moderner, die Ausbildung der Arbeiter immer besser, die Produzenten ersehnten jedoch keine<br />

bürgerlichen der Dampfmaschine entsprechenden Produktionsverhältnisse, sondern die des<br />

Zunftwesens. Das waren wirkliche Widersprüche! Der Korporatismus, der Nationalsozialismus und der<br />

Bolschwismus reagierten darauf, <strong>das</strong> war jedoch keine Weiterentwicklung des Marxismus, sondern die<br />

Antwort auf sein grandioses Scheitern. Entweder Marx musste in Richtung seiner demokratischen<br />

Bekenntnisse unter Aufgabe seines mechanistischen Entwicklungsdogmas „weiterverfolgt“ werden,<br />

oder total negiert. Der Leninismus war keine Weiterentwicklung des Marxismus, sondern seine<br />

Negierung in allen Grundfragen. Das leninsche Primat der Politik über die Ökonomie ist definitiv<br />

„unmarxistisch“, da unmaterialistisch und idealistisch.<br />

Den deutschen Intellektuellen, und nicht nur diesen, war <strong>das</strong> unbewusst klar. Viele sprachen und<br />

schrieben von einer neuen Menschheitsepoche, die von der Oktoberrevolution eingeleitet worden sei,<br />

wie zum Beispiel Alfons Paquet oder Johannes R. Becher.<br />

Alfred Kerr war abgestoßen und fasziniert zugleich:<br />

„Der Bolschewismus ist ein Irrtum. Doch dieser Irrtum war der einzige geniale Gedanke des<br />

versumpften Zeitalters.“<br />

Alfons Goldschmidt, Herausgeber der USPD-nahen Rätezeitung pries <strong>das</strong> Aristokratische, Führerhafte<br />

am Bolschewismus. Adolf Grabowsky erwärmte sich für <strong>das</strong> aktivistische, aristokratische und<br />

antidemokratische Element:<br />

„Der Konservative ... will die Masse geführt haben, weil er nicht glaubt, <strong>das</strong>s die Massen von sich<br />

heraus eben alles Gute und Schöne selbst produzieren. Genauso denkt auch der Bolschewismus.“<br />

Die alte Sozialdemokratie habe ein kleinbürgerlich-kapitalistisches Wesen gehabt, <strong>das</strong> von den<br />

Bolschwisten blosgestellt worden sei. 271<br />

Das DDP-Mitglied Ernst Troeltsch hatte die Sache bereits in seinem Spektator-Brief vom 20. Februar<br />

1919 auf den Punkt gebracht:<br />

271 zitiert in Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 229f.<br />

185


„Durch den Kommunismus ... hindurch zum Übermenschentum aller <strong>Menschen</strong>, zur Vernichtung<br />

der bürgerlichen Moral, <strong>das</strong> ist die Losung.“<br />

Diese erträumte Antibürgerlichkeit wähnten Besucher Sowjetrußlands in Moskau zu finden.<br />

„Gespräche mit den Führern Sowjetrußlands, auch mit Lenin persönlich, waren relativ leicht zu<br />

bekommen und gehörten fast zum Programm. Dabei entstand sehr schnell eine eigentümliche<br />

Atmosphäre der Vertrautheit und Bewunderung, gewürzt mit einer Prise Furcht. Noch immer lag<br />

um die führenden Bolschwiki etwas Enigmatisches, Legendäres. Einmal in Moskau, bewegten sich<br />

die Besucher dann zwischen Metropol und Kreml erstaunlich leicht und ungezwungen im Zirkel<br />

dieser jungen Macht, die noch ganz improvisiert und unzeremoniell wirkte und Züge eines<br />

bohèmehaften Feldlagers trug.“ 272<br />

Einer der ersten Gäste, Alfons Goldschmidt, kroch den Bolschewiki von Anfang an auf den Leim,<br />

leugnete den Terror, lobte <strong>das</strong> lustige Frühlingsleben in Moskau im Mai 1920, sah die Überwindung<br />

der Prostitution (<strong>das</strong> älteste Gewerbe der Welt) als Beweis für die Beseitigung der Sozialfäule des<br />

Kapitalismus und schrieb begeistert:<br />

„Die kommunistischen Fraktionen, oft nur kleine Fraktionen beherrschen die Fabriken. Nicht mit<br />

Terror, sondern mit Zielsauberkeit, mit Arbeitsbewusstsein ... Es sind keine Gewaltsfraktionen,<br />

doch es sind Disziplinierfraktionen. ... Es sind Fragozytenfraktionen. Sie sollen die schlechten Säfte<br />

aufsaugen, wegfressen, vernichten...“ 273<br />

Goldschmidt war sicher kein schreibender Mietling. Es ist wegen der Wahl seiner Fragozytenbilder<br />

jedoch leicht zu erkennen, <strong>das</strong>s er vom spätkaiserlichen Waschzwang befallen und umgetrieben war.<br />

Seine Metaphorik der erforderlichen Säuberung entspricht auf den ersten Blick den Impulsen der<br />

kriegsbegeisterten Bildungsbürger im August 1914. Auch damals war kein Opfer zu groß, um die<br />

Reinigung der Welt zu erreichen. Die Fraktionentheorie bildet den Gedanken der Schaffung des<br />

<strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> ab, die Elite wurde in linken Kreisen zunehmend als Avantgarde bezeichnet.<br />

Der chaotische Weltenbummler Franz Jung, der sowohl bei seinem Eintreffen in Russland, als auch<br />

bei seinem Fortgang die abenteuerliche Variante der Flucht wählte – aus Deutschland floh er wegen<br />

drohender Strafverfolgung, aus Russland ebenso – war wiederum ein Virtouse auf der Klaviatur des<br />

Idealismus, den er in Sowjetrußland überall zu orten glaubte.<br />

„Das System der Räte, geboren aus ... dem überufernden, der Weite nach phantastischen und<br />

doch zur Naivität des reinen Glaubens kristallisierten Revolutions-Gemeinsamkeitswillens des<br />

russischen Volkes, stellt die Verbindung, die Erlösung und die treibende Kraft der revolutionären<br />

Kraft der übrigen Welt dar.“<br />

Zurückgekehrt nach Deutschland resumierte er:<br />

„Die breite Masse wird jetzt bearbeitet durch Propaganda, durch Politik, durch Arbeitszwang, durch<br />

Hunger. Hinter allem eine verschwindend kleine Zahl Zielklarer, die Vertreter der Staatsgewalt,<br />

überwiegend ortsfremd. (...) Mit fabelhafter Tüchtigkeit siebt die sozialistische Staatsmaschine die<br />

Tüchtigen von den Untüchtigen, die Arbeiter von den Drohnen, die neuen <strong>Menschen</strong> von den alten.<br />

Der Ausscheidungsprozeß ist ganz ungeheuer, man sieht die <strong>Menschen</strong> geradezu fallen, zerpreßt<br />

werden und verfaulen.“<br />

Lenin und seine Volkskommissare wären Führer im wahrsten Sinne des Wortes, deren<br />

Riesenmaschine die Widerstrebenden automatisch zermalmen würde. Dem großen Sterben der<br />

Völker Einhalt zu gebieten werden die bürgerlichen Klassen geopfert werden müssen. 274<br />

Der ganze Sermon hatte mit Marx´schem Sozialismus fast nichts zu tun, mit dem Abgrund unter dem<br />

Seil vom Tier zum Übermenschen jedoch sehr viel. Umso mehr Individuen in diesen naumburger<br />

Abgrund stürzen, umso besser die Reinigungswirkung, umso besser die Zukunftsverheißungen; umso<br />

kleiner die Zahl der Auserwählten Zielklaren, desto reiner <strong>das</strong> Morgenrot, kann man aus all diesen<br />

272 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 301 f.<br />

273 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 303 f.<br />

274 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 305 ff.<br />

186


Äußerungen herauslesen. Der Leninismus und seine Glorifizierung war „bürgerliche Ideologie“<br />

reinsten Wassers.<br />

Auch Arthur Holitscher begeisterte sich an der „Besorgung des Entsetzlichen, aber unumgänglich<br />

Nötigen“.<br />

„Es ist der Weg der Menschheit, den der russische Mensch geht über den er die Menschheit<br />

vorwärtsführt, der Weg geht über Trümmer und Not und Alptraum zur Wiedergeburt und zur<br />

Gemeinschaft der beseelten Vernunft.“ 275<br />

August Heinrich Kober erklärte die Hungerkatastrophe der Jahre 1921/22, bei der ganze Landstriche<br />

entvölkert wurden, ebenfalls als Reinigungschance:<br />

„...in Russland stirbt eine alte Welt ab, fallen tausende von <strong>Menschen</strong> unserer Generation als<br />

Düngerede für einen neuen Typus des europäischen <strong>Menschen</strong>. Auch mit seinem Hunger kämpft<br />

<strong>das</strong> bolschewistische Russland einen Kampf für die ganze Menschheit. Das Kreuz der neuen<br />

Erlösung erhebt sich über dem Osten.“<br />

Er sah die Russen „Seelig in völliger Armut, innerlich reicher, - wahrscheinlich – als irgendeines der<br />

ver<strong>braucht</strong>en Westvölker.“ Der Hunger werde sich als nationaler Gesundbrunnen erweisen, selten<br />

habe sich die Natur herabgelassen, eine neue Lebenshaltung durch die einfache Abdrosselung großer<br />

Massen der widerstrebenden Vorgeneration zu unterstützen, wie es hier jetzt in Russland der Hunger<br />

als Schutzgeist des Bolschwismus tue. Hier beginne eine neue Generation, gestählt durch Leben und<br />

Tod, atmend unter dem Zwange zum Wesentlichen, ein neues Reich. 276<br />

Ludwig Fahrenkrog malte „<strong>Neue</strong> Wege in die Zukunft“ (1920). Die Kinder verkörpern die Zukunft. Der<br />

Weg dieser Kinder in die Zukunft ist mit den Totenköpfen der Alten gepflastert.<br />

Die Ideale der Jugendbewegung wurden in Russland gesucht, gefunden und gepriesen. Leo Matthias,<br />

Autor des Buchs „Genie und Wahnsinn in Russland – geistige Elemente des Aufbaus und<br />

Gefahrenelmente des Zusammenbruchs“, ein weiterer „fortschrittlicher Intelligenzler“ sah in Karl<br />

Radek gar die Vorform des europäischen Übermenschen:<br />

„Mit Radek trete . Ja, in<br />

seiner Person habe der Staatsmann des 20. Jahrhunderts seine Visitenkarte abgegeben....Denn<br />

die Moral Radeks ist eine aristokratische Moral. ... Es sei daher nur konsequent, “ 277<br />

Schließlich weilte auch Oberst Bauer, der Vater der Dolchstoßlegende, in Russland und war anlässlich<br />

Lenins Begräbnis überzeugt einem welthistorischen Ereignis beigewohnt zu haben. In seinem<br />

Reisebericht „Im Land der roten Zaren“ attestierte er der Tscheka, viel unschuldigtes Blut neben<br />

schuldigem vergossen zu haben, aber <strong>das</strong> Leben sei nun einmal Kampf, und am oberen Ende des<br />

Kampfs stehe die leibliche Vernichtung des Gegners. 278<br />

Der Protest gegen den gegenwärtigen Saustall<br />

Von Februar 1919 an hatte die Nationalversammlung getagt, die Wahl zum ersten Deutschen<br />

Reichstag am 06.06.1920 sollte nach dem Ausschwitzen der Reichsverfassung zum<br />

parlamentarischen Normalzustand überleiten.<br />

Diese Überleitung begann mit einem mittleren Paukenschlag.<br />

SPD 21,9 % ( -16,0 %)<br />

USPD 17,6 % (+10,0 %)<br />

KPD 2,1 % (+ 2,1 %)<br />

DDP 8,3 % ( -10,3 %)<br />

275 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 309 f.<br />

276 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 314 ff.<br />

277 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 317 f.<br />

278 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 320<br />

187


DVP 13,9 % (+ 9,5 %)<br />

DNVP 15,1 % (+ 4,8 %)<br />

Zentrum/BVP 18,0 % ( - 1,7 %)<br />

Sonstige 3,1 % (+ 1,5 %)<br />

Thomas Mann begrüßte den Stimmenzuwachs der Rechtsparteien bei der Reichstagswahl im Juni<br />

1920 als Hieb gegen die Demokratie und als "Protest gegen den gegenwärtigen Saustall". Ein starker<br />

Grund für <strong>das</strong> gute Abschneiden der SPD, des Zentrums und der DDP bei der Wahl zur<br />

Nationalversammlung war die freilich sehr blauäugige Hoffnung gewesen, daß eine Regierung aus<br />

relativ unbelasteten Parteien bei den Versailler Friedensverhandlungen mit einem blauen Auge<br />

davonkommen würde. Wie wir gesehen haben, wurde diese unrealistische Hoffnung brutal Lügen<br />

gestraft. Das Wahlergebnis von 1920 näherte sich so als hätte der Weltkrieg nicht stattgefunden mit<br />

einigen kleinen Verschiebungen wieder dem vom 12. Januar 1912 (Wahlergebnis 1912 umgerechnet<br />

auf <strong>das</strong> Reichsgebiet von 1920):<br />

1920 1912<br />

egalitäre Marxisten 21,9 % 38,0 %<br />

heterodoxe und elitaristische Linke 19,7 %<br />

gemäßigte Reformisten 22,2 % 28,0 %<br />

--------- ---------<br />

Zwischensumme 63,8 % 66,0 %<br />

völkische Reformisten 0,0 % 3,0 %<br />

---------- ----------<br />

Zwischensumme 63,8 % 69,0 %<br />

Konservative 15,1 % 12,0 %<br />

Zentrum 18,0 % 16,0 %<br />

----------- -----------<br />

Summe 96,9 % 97,0 %<br />

Nach 8 Jahren hatte sich an den Parteiproportionen eigentlich wenig verändert. Auf den zweiten Blick<br />

fällt auf, <strong>das</strong>s die von der Lebensreform beeinflußte heterodoxe Linke auf Kosten der<br />

Sozialdemokratie und der gemäßigten Reformisten einen gewaltigen Zuwachs erreicht hatte. Nun<br />

weiß man allerdings nicht, wie viele SPD-Anhänger 1912 eine elitaristische Linkspartei gewählt hätten,<br />

wenn es diese damals schon gegeben hätte. Es dürften viele gewesen sein.<br />

Die hinter den Parteien stehenden Milieus und Interessengruppen waren im Weltkrieg einigermaßen<br />

stabil geblieben, oder besser: der Weltkrieg hatte sie zunächst stabilisiert und konserviert und was<br />

sich tatsächlich verändert hatte, <strong>das</strong> verarbeitete man nur im linken Spektrum, wo die<br />

Ausdifferenzierung der demokratischen und antiparlamentarischen Kräfte seit der Novemberrevolution<br />

im vollen Gange war. Ansonsten war <strong>das</strong> politische System 1920 überwiegend rückwärtsblickend, in<br />

der Filmwissenschaft würde man sagen: retrospektiv.<br />

Eine Karikatur vom 4. Oktober 1919 mag <strong>das</strong> verdeutlichen: Reichswehrminister Gustav Noske,<br />

Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichskanzler Gustav Bauer (alle SPD) werden vor einem Bild<br />

mit Helmuth von Moltke, Kaiser Wilhelm I. und Otto von Bismarck dargestellt, welche 40 Jahre vorher<br />

jeweils denselben job gemacht hatten. Die neuen Staatslenker stehen vor einer Wand der<br />

verklärenden Erinnerung. Nur Bauer wurde ohne diffamierende Accessoires dargestellt.<br />

Otto Reuter sang 1919/1920:<br />

Ich möchte erwachen beim Sonnenschein<br />

Und es müsst alles wie früher sein.<br />

Ihr Leute verzeiht mir, wie ich es halte,<br />

Ich lob mir die Zeit, die gute, alte<br />

Sie ist vorbei auf Nimmersehn.<br />

Drum will ich lieber jetzt schlafen gehen.<br />

Die beiden staatstragenden Parteien SPD und DDP waren von 1919 bis 1920 in nur eineinhalb Jahren<br />

etwa halbiert worden, während sich <strong>das</strong> Zentrum und die BVP nahezu behaupten konnten. Die SPD<br />

verlor etwa 12 % an die USPD und die KPD, weitere 4 % an die Konservativen.<br />

188


Besonders stark war letztere Tendenz in Oberschlesien, Thüringen, Waldeck, Ostpreußen und in der<br />

Provinz Sachsen. Die KPD hatte mit der industriellen Arbeiterklasse sehr wenig zu tun. Ihre<br />

Schwerpunkte lagen in einigen ländlichen Räumen an der Peripherie Deutschlands: Ostpreußen 7,2<br />

%, Oberschlesien 7,2 %, Schleswig-Holstein 6,1 %. Alle diese drei Gebiete wählten nicht 1920,<br />

sondern 1921 und 1922, weil in diesen Wahlkreisen vorher noch Volksabstimmungen über die<br />

Zugehörigkeit zu Deutschland angesetzt waren. Sie sind mit den anderen Wahlkreisen nicht wirklich<br />

vergleichbar. In Ostpreußen und Oberschlesien hatte die KPD insbesondere während des russischpolnischen<br />

Krieges extrem nationalistische Positionen vertreten, was sich offensichtlich für die KPD,<br />

noch mehr jedoch für die DNVP auszahlte. Dieses Phänomen soll hier kurz erklärt werden.<br />

In Oberschlesien, Ostpreußen und den ganzen östlichen Grenzregionen spielte die<br />

Auseinandersetzung mit Polen um die endgültige Grenzziehung eine große Rolle bei der Schwächung<br />

der Autorität der Regierung und der sie tragenden Kräfte.<br />

Die deutsche Regierung fand von Anfang an keine tragfähige Konzeption für die Neugestaltung der<br />

Beziehungen zu Polen. In den Beziehungen zu Polen konnte Hitler auf den fragwürdigen Schatz an<br />

diplomatischen Mustern aus der Weimarer Republik nahtlos aufbauen. Und die Weimarer Koalition<br />

schöpfte aus den Traditionen des preußisch-deutschen Kaiserreichs, ohne eigene Akzente zu setzen;<br />

sie machte eine unentschiedene mehr konservative als fortschrittliche Außenpolitik. In der Phase der<br />

Nationalversammlung wurde noch nicht auf die sowjetrussisch-deutsche Karte gesetzt, wie es von der<br />

KPD und der DNVP favorisiert wurde; andererseits wurden die deutsch-polnischen Beziehungen nicht<br />

wirklich entkrampft.<br />

Die Gründung des polnischen Staats erfolgte scheibchenweise. 1915 wurde <strong>das</strong> von Russland<br />

eroberte Kongresspolen in zwei Generalgouvernements eingeteilt, ein von General von Beseler<br />

verwaltetes in Warschau, ein von General Kuk verwaltetes in Lublin. Sehr schädlich für die prinzipiell<br />

mittelmächtefreundliche Stimmung in Kongresspolen wirkten sich geplante Gebietsabtretungen an<br />

Preußen und Österreich aus. Am 5. November 1916 wurde im Säulensaal des Warschauer Schlosses<br />

von General Hans von Beseler <strong>das</strong> Königreich Polen proklamiert, allerdings ohne Grenzen und ohne<br />

einen König. Es entstanden zwei polnische Parteien; eine deutschfreundliche und eine<br />

deutschfeindliche, letztere naturgemäß besonders in der Provinz Posen, die zu Preußen gehörte und<br />

keine Aussicht auf die Unabhängigkeit sah. Am 22. Januar 1917 sprach sich Präsident Roosevelt im<br />

Senat für ein unabhängiges und geeintes Polen aus, was die Unabhängigkeitsbewegung stärkte. Am<br />

22. Juli 1917 nahm <strong>das</strong> Unglück seinen Lauf: Staatsrat Pilsudski wurde von General von Beseler in<br />

Schutzhaft genommen, nachdem man sich über die Eidesformel für die polnische Armee verstritten<br />

hatte. Pilsudski saß bis Oktober 1918 in der Festung Magdeburg. Derweilen kam es im Dezember<br />

1917 zu neuen Irritationen. Der von Deutschland initiierte Landesrat von Litauen proklamierte einen<br />

Staat mit der etwa hälftig polnisch bewohnten Hauptstadt Wilna, was in Polen zu Verärgerung führte.<br />

Am 9. Februar 1918 waren die Friedensverhandlungen zwischen Deutschland und der Ukraine soweit<br />

gediehen, <strong>das</strong>s es zur Unterzeichnung des Friedensvertrags kam. Chelm sollte an die Ukraine<br />

abgetreten werden, was in Polen zu erneuter Unruhe führte. Am 22. März 1918 beschloß der<br />

deutsche Reichstag den Aufbau von nationalen Verwaltungen in Polen, Litauen und Kurland, kurze<br />

Zeit später wurde diese Geste durch die polenfeindliche Haltung des preußischen Herrenhauses<br />

konterkariert. Nach der Machtübernahme von Max von Baden bat der polnische Regentschaftsrat am<br />

6. Oktober 1918 um die Freilassung Pilsudskis. Gleichzeitig übergab Hans von Beseler die Verwaltung<br />

an polnische Beamte. Am 15. Oktober 1918 fielen Galizien und Lodomerien von Österreich ab und<br />

erklärten sich als Bestandteil des polnischen Staates. Die polnischen Regimenter des österreichischen<br />

Heeres, die Reste von Pilsudskis Legion und die blaue Armee General Hallers, die in Frankreich<br />

aufgestellt worden war, vereinigten sich zur polnische Armee. Am 8. November entsandte Max von<br />

Baden den Diplomaten Harry Graf Kessler nach Magdeburg, um die Freilassung Pilsudskis<br />

vorzubereiten. Bis hierhin war die deutsche Politik gegenüber Polen sehr unentschieden betrieben<br />

worden; zwischen großzügiger Geste, kleinlichem Misstrauen und unbedachter Provokation. Nun<br />

musste man den Führer der Unabhängigkeitsbewegung freilassen und versuchte die Stimmung<br />

Pilsudskis in einem Moment zu erkunden, ja Garantien und Versprechen von ihm zu erlangen, wo er<br />

eindeutig der überlegene Part war. 279<br />

Die deutsche Politik tat viel Richtiges und viel Falsches, aber <strong>das</strong> Richtige meistens zum falschen<br />

Zeitpunkt und <strong>das</strong> Falsche zum „richtigen“ Termin, wo es den außenpolitischen Schaden unbehindert<br />

entfalten konnte. Graf Kessler sollte <strong>das</strong> in Jahren Versäumte nun an zwei Tagen richten.<br />

279 Wikipedia: Das Regentschaftskönigreich Polen<br />

189


Kessler kannte Pilsudski bereits aus seiner Offizierszeit an der russischen Front 1915. Pilsudski<br />

sprach damals mit ihm über die Notwendigkeit des Zusammenschlusses von Galizien und<br />

Kongreßpolen aber bekräftigte damals nicht den Anspruch auf Westpreußen wie auch auf Poznanien.<br />

Beide konnten jedoch nicht voraussehen, <strong>das</strong>s die Westmächte im Falle einer deutschen Niederlage<br />

dem polnischen Staat Westpreußen offerieren würden. Interessant ist auch die Feststellung<br />

Pilsudskis, notiert durch Kessler über die Notwendigkeit gutnachbarschaftlicher Beziehungen zu<br />

Deutschland. Kessler notierte in <strong>das</strong> Tagebuch:<br />

"Für jedermann indessen ist es die Hauptsache, daß Deutsche und Polen ihre alten Feindlichkeit<br />

vergessen, sogar Freundschaft lernen wie zwischen Nachbarn, und schließlich klüger werden".<br />

Die Sache der Unabhängigkeit Polens wurde zum ersten Mal in der internationalen Arena in der<br />

Deklaration der Kaiser von Deutschland und Österreich-Ungarn am 5. November 1916 erwähnt. Diese<br />

Deklaration war eine klare Kundgebung, <strong>das</strong>s Polen nicht Poznanien und Westpreußen umfassen<br />

würde.<br />

Während der Waffenstillstandsverhandlungen sandten die deutschen Räte Kessler am 31. Oktober<br />

1918 nach Magdeburg, um den Standpunkt Pilsudskis gegenüber Deutschland zu sondieren. Wie er<br />

in sein Tagebuch schrieb, meinten die deutschen Räte, <strong>das</strong>s General-Gouverneuer von Beseler seine<br />

Macht verlieren würde und hofften, daß „die Katastrophe in Polen nur verhindert werden könnte durch<br />

einen Volkshelden". Kessler sollte bewirken, <strong>das</strong>s Pilsudski dem Chef des deutschen Stabes, General<br />

Hoffmann seine Unterschrift geben würde, keine Aktionen gegen Deutschland zu unternehmen.<br />

Kessler – wie er in sein Tagebuch schrieb - missbilligte den Plan einer solchen Deklaration. Gemäß<br />

der Erinnerung von Pilsudskis Mitgefangenen Sosnkowski sprach Kessler mit Pilsudski über die<br />

Grenzen. Er drückte sein Verständnis für den Anspruch der Polen auf Poznanien aus, aber der<br />

Verbleib von Gdansk und Slask bei Deutschland sei eine Bedingung sine qua non. Darauf entgegenet<br />

Pilsudski "non possumus. Ihr haltet mich im Gefängnis, ihr könnt mir keine Bedingungen stellen.“ Es<br />

war wohl nicht nur Zufall, <strong>das</strong>s am 8. November 1918, dem Tag, an dem Kessler zum zweiten Mal zur<br />

Magdeburger Zitadelle ging, ein deutscher Feldwebel Pilsudski und Sosnkowski die Zeitung Die<br />

Woche übergab. Es war dort auf der ersten Seite ein großes Porträt Pilsudskis mit der Unterschrift<br />

General Pilsudski, der neue Oberbefelshaber der polnischen Armee abgedruckt. Kessler füllte seine<br />

Mission aus. Begleitete Pilsudski mit Sosnkowski nach Berlin und brachte sie ins Hotel Continental. Im<br />

Continental sprach Kessler noch einmal mit Pilsudski über die Grenzen. Er konnte schlecht von<br />

Pilsudski erwarten, <strong>das</strong>s er die westlichen "Geschenke" der Entente nicht annehmen würde. Und er<br />

warnte vor der Wegnahme Westpreußens, weil <strong>das</strong> Rache herausfordern würde. Aber jeder blieb bei<br />

seinem Standpunkt. Als Kessler Pilsudski und Sosnkowski nach Warschau verabschiedete, war in<br />

Deutschland die Revolution ausgebrochen. 280<br />

Eine Plattform der Rache für die neue Grenzziehung war die Reichstagswahl von 1920 bis 1922.<br />

Oberschlesien und Ostpreußen zeigten entsprechend ein katastrophales Wahlergebnis für die<br />

Sozialdemokraten und einen enormen Sieg der Konservativen und Kommunisten. Während die<br />

Sozialdemokraten und <strong>das</strong> Zentrum im Reich 17,7 % verloren und die Konservativen und<br />

Kommunisten zusammen 6,9 % gewannen, so verloren die ersteren in Ostpreußen, wo die Wahlen<br />

wegen der Volksabstimmung erst 1921 stattfanden, (also nach dem russisch-polnischen Krieg) 22,8 %<br />

gegenüber 1919; Konservative und Kommunisten gewannen erdrutschartig 26,4 % gegenüber 1919<br />

hinzu. Lenin hatte bereits im September 1920 kurz nach dem fehlgeschlagenen Polenfeldzug vom<br />

Juli/August 1920 auf einer internen Parteikonferenz erwähnt, <strong>das</strong>s sich in Ostpreußen beim<br />

Herannahen der Roten Armee ein Block von extremen Nationalisten und Kommunisten gebildet habe,<br />

„und dieser widernatürliche Block war für uns.“ 281 Daß diese Einschätzung nicht aus der Luft gegriffen<br />

war, zeigte sich am 21er und 22er Wahlergebnis.<br />

Die Umverteilung der Stimmen unter den verschiedenen Nachfolgeparteien der SPD und die negative<br />

Gesamtbilanz dieser Linksparteien zeigt die folgende Tabelle.<br />

280 Anna M. Ciencala: Jozef Pilsudski i niepodleglosc Polski<br />

281 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 285<br />

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Norddeutsche Länder SPD USPD KPD Summe<br />

Anhalt 36,3 -21,3 17,2 + 15,3 1,1 + 1,1 54,6 -4,9<br />

Braunschweig 11,5 -18,3 40,5 + 12,1 0,7 + 0,7 52,7 -5,5<br />

Bremen 17,8 -24,3 31,5 + 13,3 4,4 + 4,4 53,7 -6,6<br />

Hamburg 38,4 -12,9 15,1 + 8,4 0,5 + 0,5 54,0 -4,0<br />

Lippe 32,0 -17,9 8,9 + 8,4 0,0 + 0,0 40,9 -9,5<br />

Lübeck 46,2 -12,7 7,3 + 7,3 1,0 + 1,0 54,5 -4,4<br />

Meckl.-Schwerin 35,2 -12,7 10,5 + 10,5 0,8 + 0,8 46,5 -1,4<br />

Meckl.-Strelitz 36,6 -12,4 7,9 + 7,9 2,0 + 2,0 46,5 -2,5<br />

Oldenburg 21,8 -10,0 11,0 + 4,6 1,4 + 1,4 34,2 -4,0<br />

Preußen 22,0 -14,8 17,7 + 9,8 1,9 + 1,9 41,6 -3,1<br />

Sachsen 24,2 -21,8 25,3 + 11,2 4,4 + 4,4 53,9 -6,2<br />

Schaumburg-Lippe 44,9 -10,7 5,6 + 5,6 0,0 + 0,0 50,5 -5,1<br />

Thüringen 17,7 -21,0 29,8 + 9,4 2,0 + 2,0 49,5 -9,6<br />

Waldeck 23,2 -15,6 3,8 + 3,8 0,0 + 0,0 27,0 -11,8<br />

Süddeutsche Länder SPD USPD KPD Summe<br />

Baden 20,1 -14,7 10,9 + 10,9 1,5 + 1,5 32,5 -2,3<br />

Bayern 16,5 -17,1 13,0 + 9,3 2,0 + 2,0 31,5 -5,8<br />

Hessen 30,3 -14,0 12,2 + 10,3 0,5 + 0,5 43,0 -3,2<br />

Württemberg 16,1 -19,8 13,1 + 10,3 3,3 + 3,3 32,5 -6,2<br />

Die preußischen Provinzen im einzelnen:<br />

Preußen, Ostprov. SPD USPD KPD Summe<br />

Berlin 17,5 -18,9 42,7 + 15,1 1,3 + 1,3 61,5 -2,5<br />

Brandenburg 20,7 -21,6 26,2 + 14,7 1,3 + 1,3 48,2 -5,6<br />

Niederschlesien 34,6 -14,4 8,1 + 8,0 0,4 + 0,4 43,1 -6,0<br />

Oberschlesien 14,8 -17,9 0,0 - 4,9 7,2 + 7,2 22,0 -10,7<br />

Ostpreußen 24,0 -22,1 5,8 + 0,8 7,2 + 7,2 37,0 -14,1<br />

Pommern 20,7 -19,3 16,7 + 14,8 1,2 + 1,2 38,6 -3,3<br />

Posen-Westpreußen 16,0 - 8,4 9,0 + 5,8 0,1 + 0,1 25,1 -2,5<br />

Prov. Sachsen 18,5 -16,0 32,7 + 7,9 1,4 + 1,4 52,6 -6,7<br />

Schleswig-Holstein 37,5 - 8,2 3,0 - 0,5 6,1 + 6,1 46,6 -2,6<br />

Preußen, Westprov. SPD USPD KPD Summe<br />

Hannover 28,4 -12,1 10,7 + 8,5 0,5 + 0,5 39,6 - 3,1<br />

Hessen-Nassau 27,6 -13,6 12,6 + 8,2 1,5 + 1,5 41,7 - 3,9<br />

Hohenzollern 8,3 - 9,0 4,9 + 4,5 1,6 + 1,6 14,8 - 2,5<br />

Rheinprovinz 14,0 -11,2 17,0 + 11,5 1,6 + 1,6 32,6 +1,9<br />

Westfalen 20,3 -15,1 14,8 + 10,8 1,6 + 1,6 36,7 - 2,7<br />

Die Ergebnisse im Rheinland, in Schleswig-Holstein und in Posen-Westpreußen sind mit dem Ergebnis der Wahl<br />

zur Nationalversammlung nicht vergleichbar, da seit 1919 erhebliche Gebietsabtrennungen erfolgten.<br />

Zur Motivation, DDP zu wählen, gehörten 1919 die Besänftigung der Kriegsgegner durch Bildung<br />

einer Regierung, die mit der Kriegsschuld nicht unmittelbar in Zusammenhang gebracht werden<br />

konnte, die Verhinderung einer sozialistischen Ausrichtung Deutschlands und die Aufteilung der<br />

Staatsgüter. Der erste Zweck war ohne die Chance schneller Nachbesserungen verfehlt worden, der<br />

zweite Zweck war erreicht worden (was für eine Partei genauso schädlich ist) und den dritten Zweck<br />

konnten die Demokraten nicht durchsetzen.<br />

Die DDP wurde schon bei der ersten Wahl halbiert. Besonders desaströs waren die Verluste in<br />

Preußen und hier östlich der Elbe. In den landwirtschaftlichen Gebieten des Ostens liefen den<br />

Demokraten beispielsweise die Bauern weg, weil die Landwirtschaft 1920 immer noch nach den<br />

Reglementarien der Kriegswirtschaft funktionierte. Diese Festpreise und Aufkäufe zu Festpreisen<br />

verbitterten die Landwirte, da die Arbeiterschaft als Klientel der SPD gleichzeitig ihre<br />

191


Einkommenssituation verbessern konnte. In den beiden Mecklenburg, in Pommern, Ostpreußen und<br />

Schleswig-Holstein liefen die ländlichen Wähler in Scharen zur DNVP über. In weniger<br />

landwirtschaftlichen Gebieten entschieden sich die DDP-Wähler von 1919 zum großen Teil für die<br />

DVP. Die flüchtigen Anhänger der DDP reichten zahlenmäßig nicht aus, um die Gewinne der DNVP<br />

und DVP zu erklären. Besonders in Ostpreußen oder Waldeck, wo die Konservativen Erdrutschsiege<br />

verbuchten, ging dieser Erfolg auch stark zu Lasten der SPD.<br />

Die Enttäuschung der Wähler über die Friedensbedingungen war oberflächlich betrachtet ein Baustein<br />

des beginnenden Niedergangs der DDP, ein offensichtlich stärkeres Moment des Wandels ergab sich<br />

daraus, daß <strong>das</strong> Übergewicht der freien Berufe in der DDP andere Mittelständler abstieß. Im<br />

reformistischen Lager erfolgte bei der ersten Reichstagswahl eine Umverteilung der Stimmen von der<br />

von Freiberuflern und Bürokraten beherrschten DDP zur mehr handwerklich-industriell dominierten<br />

DVP. 1920 stellte sich <strong>das</strong> reale Kräfteverhältnis zwischen den Parteien der nichtproduzierenden zu<br />

den produzierenden Reformisten her, <strong>das</strong> sich bei der Wahl zur Nationalversammlung wegen der<br />

späten Gründung der DVP nicht gleich 1919 hatte ausbilden können.<br />

Freie Berufe und Gewerbetreibende haben bis heute unterschiedliche Interessen. Handwerker und<br />

Industrielle wurden und werden im deutschen Steuerrecht gegenüber den Freiberuflern benachteiligt.<br />

Freiberufler profitieren von der vorbürgerlichen Vorstellung, daß geistige Arbeit eine privilegierte Arbeit<br />

ist, die besonderen Naturgesetzen unterliegt, und damit von der Gewerbesteuer nicht erfaßt werden<br />

darf. Der Handwerker muß seinen Preis aushandeln oder er muß bei Ausschreibungen den<br />

Mitbewerber unterbieten. Der große Teil der Freiberufler hat es bis heute verstanden, sein<br />

Auskommen mit staatlich festgesetzten Festpreisen zu sichern. Ob es sich um die Gebühren der<br />

Hebammen, der Bezirksschornsteinfeger, der Rechtsanwälte oder der Ärzte handelt, immer hatte der<br />

Staat ein Einsehen und schützte die Freiberufler durch Diplome, Staatsexamen, Gebührenordnungen<br />

und andere Wettbewerbsbeschränkungen. Von Bäckermeistern, Krämern, Landwirten und vom<br />

restlichen produzierenden Mittelstand wurden sie beneidet und manchmal angefeindet.<br />

Die folgende Tabelle zeigt diese Umgruppierung bei den gemäßigten Reformisten.<br />

Norddt. Länder DDP DVP Summe<br />

Anhalt 14,2 -17,3 14,2 + 13,6 28,4 - 3,7<br />

Braunschweig 7,0 -11,3 24,2 k.V. 31,2 k.V.<br />

Bremen 13,4 -20,1 24,5 + 24,2 37,9 + 4,1<br />

Hamburg 17,4 - 8,9 15,1 + 3,4 32,5 - 5,5<br />

Lippe 11,6 -11,9 20,4 + 18,2 32,0 + 6,3<br />

Lübeck 10,5 -20,0 23,4 + 22,9 33,9 + 2,9<br />

Meckl.-Schwerin 8,3 -21,2 15,1 + 9,3 23,4 - 11,9<br />

Meckl.-Strelitz 15,8 -19,8 10,8 + 10,0 26,6 - 9,8<br />

Oldenburg 15,5 -15,4 24,9 + 15,4 40,4 0,0<br />

Sachsen 9,1 -13,0 18,6 + 14,6 27,8 + 1,6<br />

Schaumburg-Lippe 10,5 - 9,9 24,3 + 15,8 34,9 + 5,9<br />

Thüringen 8,3 -14,7 15,2 k.V. 23,5 k.V.<br />

Waldeck 13,0 -10,5 17,6 + 6,9 30,6 - 3,6<br />

Süddt. Länder DDP DVP Summe<br />

Baden 12,3 -9,2 6,8 + 6,8 19,1 - 2,4<br />

Bayern 8,1 -5,4 7,3 + 4,6 15,4 - 0,8<br />

Hessen 10,8 -8,2 16,0 + 4,8 26,8 - 3,4<br />

Württemberg 14,5 -10,9 3,9 + 3,9 18,4 - 7,0<br />

192


Preußen, Ostprov. DDP DVP Summe<br />

Berlin 7,1 - 8,9 14,1 + 8,5 21,2 - 0,4<br />

Brandenburg 9,4 -11,9 18,7 + 11,1 28,1 - 0,8<br />

Niederschlesien 8,8 -11,1 12,2 + 12,2 21,0 + 1,1<br />

Oberschlesien 2,3 - 4,6 7,2 + 7,2 9,5 + 2,6<br />

Ostpreußen 5,6 -13,2 14,8 + 6,9 20,4 - 6,3<br />

Pommern 4,5 -17,2 19,7 + 8,8 24,1 - 8,4<br />

Posen-Westpreußen 5,0 k.V. 10,6 k.V. 15,6 k.V.<br />

Prov. Sachsen 11,1 -11,9 13,7 + 11,0 24,8 - 0,9<br />

Schleswig-Holstein 9,4 -17,8 18,4 + 10,4 27,8 - 7,4<br />

Preußen, Westprov. DDP DVP Summe<br />

Hannover 6,1 - 8,6 17,3 + 5,8 23,4 - 2,8<br />

Hessen-Nassau 10,2 -11,8 16,1 + 9,7 26,3 - 2,1<br />

Hohenzollern 7,0 - 5,1 0,8 + 0,8 7,8 - 4,3<br />

Rheinprovinz 4,4 - 6,6 11,7 + 8,7 16,1 + 2,1<br />

Westfalen 4,5 - 4,7 14,0 k.V. 18,5 k.V.<br />

k.V. = kein Vergleich möglich<br />

Gewinne erzielten die gemäßigten Reformisten, wo die DVP 1919 nicht angetreten war oder wo sie<br />

1919 sehr schwach war, Verluste erlitten sie vor allem in sehr landwirtschaftlich geprägten Gebieten.<br />

Die Konservativen sollten von 1920 bis 1924 bessere Wahlergebnisse erreichen, als sie im<br />

Kaiserreich jemals errungen wurden. Der Sieg der Konservativen ist 1920 noch als Moment der<br />

verklärenden Rückerinnerung an <strong>das</strong> Kaiserreich zu verstehen. 1920 war dieses Moment gerade erst<br />

in Gang gekommen. Wenn man die PDS-Ergebnisse der letzten Volkskammer-Wahl und die der<br />

folgenden Bundestagswahlen vergleicht, begegnet einem diese Kultur des Verklärens wieder. Sowohl<br />

damals als auch heute wirkten die Medien als Verstärker dieser Rückwärtsgewandtheit. Die<br />

Amerikaner wechselten nach dem 2. Weltkrieg alle Zeitungs- und Radio-Redaktionen aus, um diesen<br />

Effekt abzumildern.<br />

In den nächsten Tafeln werden die Umgruppierungen zwischen Konservativen, Reformisten und<br />

traditionellen Marxisten dargestellt.<br />

Norddt. Länder USPD, KPD DDP und DVP DNVP SPD<br />

Anhalt 18,3 + 16,4 28,4 – 3,7 15,6 + 8,1 36,3 – 21,3<br />

Braunschweig 41,2 + 12,8 31,2 k.V. 12,0 k.V. 11,5 – 18,3<br />

Bremen 35,9 + 17,7 37,9 + 4,1 6,3 + 2,3 17,8 – 24,3<br />

Hamburg 15,6 + 8,9 32,5 – 5,5 12,4 + 9,7 38,4 – 12,9<br />

Lippe 8,9 + 8,4 32,0 + 6,3 24,4 + 3,4 32,0 – 17,9<br />

Lübeck 8,3 + 8,3 33,9 + 2,9 10,9 + 0,8 46,2 – 12,7<br />

Meckl.-Schwerin 11,3 + 11,3 23,4 –11,9 21,7 + 8,2 35,2 – 12,7<br />

Meckl.-Strelitz 9,9 + 9,9 26,6 – 9,8 25,4 + 11,2 36,6 –12,4<br />

Oldenburg 12,4 + 6,0 40,4 + 0,0 5,0 + 2,7 21,8 – 10,0<br />

Sachsen 29,7 + 15,6 27,8 + 1,6 17,2 + 4,4 24,2 – 21,8<br />

Schaumbg.-Lippe 5,6 + 5,6 34,9 + 5,9 14,2 – 0,6 44,9 – 10,7<br />

Thüringen 31,8 + 11,4 23,5 k.V. 7,8 k.V. 17,7 – 21,0<br />

Waldeck 3,8 + 3,8 30,6 – 3,6 39,6 + 15,4 23,2 – 15,6<br />

Süddt. Länder USPD, KPD DDP und DVP DNVP SPD<br />

Baden 12,4 + 12,4 19,1 – 2,4 12,0 + 4,5 20,1 – 14,7<br />

Bayern 15,0 + 11,3 15,4 – 0,8 7,0 + 3,4 16,5 – 17,1<br />

Hessen 12,7 + 10,8 26,8 – 3,4 14,0 + 7,4 30,3 – 14,0<br />

Württemberg 16,4 + 13,6 18,4 – 7,0 17,7 k.V. 16,1 – 19,8<br />

Ostprovinzen USPD, KPD DDP und DVP DNVP SPD<br />

Berlin 44,0 + 16,4 21,2 – 0,4 11,5 + 2,2 17,5 – 18,9<br />

193


Brandenburg 27,5 + 16,0 28,1 – 0,8 19,6 + 5,0 20,7 – 21,6<br />

Niederschlesien 8,5 + 8,5 21,0 + 1,1 19,3 + 4,6 34,6 – 14,4<br />

Oberschlesien 7,2 + 2,3 9,5 + 2,6 13,9 + 6,7 14,8 – 17,9<br />

Ostpreußen 13,0 + 8,0 20,4 – 6,3 31,1 + 19,2 24,0 – 22,1<br />

Pommern 17,9 + 16,0 24,1 – 8,4 35,5 + 11,5 20,7 – 19,3<br />

Posen-Westpr. 9,1 + 5,9 15,6 k.V. 31,3 k.V. 16,0 – 8,4<br />

Prov. Sachsen 34,1 + 9,3 24,8 – 0,9 16,8 + 5,9 18,5 – 16,0<br />

Schleswig-Holstein 9,1 + 5,6 27,8 – 7,4 20,5 + 13,2 37,5 – 8,2<br />

Westprovinzen USPD, KPD DDP und DVP DNVP SPD<br />

Hannover 11,2 + 9,0 23,4 – 2,8 6,7 + 3,2 28,4 –12,1<br />

Hessen-Nassau 14,1 + 9,7 26,3 – 2,1 14,8 + 6,7 27,6 –13,6<br />

Hohenzollern 6,5 + 6,1 7,8 – 4,3 2,7 k.V. 8,3 – 9,0<br />

Rheinprovinz 18,6 + 13,1 16,1 + 2,1 7,5 + 0,4 14,0 – 11,2<br />

Westfalen 16,4 + 12,4 18,5 k.V. 7,0 k.V. 20,3 – 15,1<br />

Alle Varianten der Wählerwanderung kamen vor: Die Konservativen bekamen in den meisten<br />

Wahlbezirken Zulauf von Sozialdemokraten und DDP-Reformisten. In Bremen, Lippe, Lübeck,<br />

Sachsen und Niederschlesien verloren die Sozialdemokraten an Konservative und Rechtsreformisten,<br />

in Schaumburg-Lippe verloren Sozialdemokraten und Konservative an die Rechtsreformisten.<br />

Das Zentrum verlor insgesamt Stimmen. Hans Mommsen erklärt die Verluste des Zentrums mit der<br />

Hinwendung rechtsstehender Zentrumswähler zur DNVP. Die Wahlergebnisse zeigen jedoch, daß die<br />

starken Stimmenverluste sich auf die Rheinprovinz und Oberschlesien konzentrieren und mit<br />

Gebietsabtretungen in der Rheinprovinz und Oberschlesien sowie der Abspaltung einer polnischen<br />

katholischen Partei in Oberschlesien zu erklären sind. Das in den 20er Jahren recht fromme Saarland<br />

mit seinen katholischen Einwohnern wählte 1920 nicht mehr mit. Am 10.01.1920 war <strong>das</strong> Saarstatut in<br />

Kraft getreten, <strong>das</strong> die Verwaltung unter dem Völkerbund, praktisch durch Frankreich vorsah. In<br />

Oberschlesien wurde 1922 nachgewählt, nachdem ein Teil der Provinz an Polen abgetreten worden<br />

war.<br />

Das Fazit der Wahl von 1920 ist, daß seit 1912 außer dem Zerfall der Sozialdemokraten keine<br />

wesentlichen Änderungen des Wahlverhaltens zustandegekommen waren. Die bereits seit 1900<br />

vorhandenen Flügel der SPD hatten sich organisatorisch getrennt, die Partei war<br />

auseinandergebrochen.<br />

Ein interessierter Blick betrifft <strong>das</strong> Kräfteverhältnis der Sozialdemokraten und der Linkselitaristen. In<br />

der Kulturmetropole Berlin oder der Residenzenanhäufung Thüringen, in der Rheinprovinz, in Bremen<br />

oder Sachsen waren KPD und USPD zusammen bis zu dreimal stärker als die SPD. In vielen<br />

ländlichen Gebieten dagegen übertrafen die Sozialdemokraten ihre linken Abspaltungen stark. Das<br />

betraf zum Beispiel Schleswig-Holstein, Niederschlesien, Hessen-Nassau, Hannover, Waldeck,<br />

Schaumburg Lippe, die beiden Mecklenburg, Ostpreußen oder Lippe. Auch die Städte Hamburg und<br />

Lübeck hielten noch zur SPD. In den Hochburgen der Kulturrevolution Berlin, München, Leipzig,<br />

Dresden und Weimar hatte die SPD als Wahrerin des traditionellen Marxismus schlechte Ergebnisse.<br />

Es gibt folgende Erklärung: In den kulturellen Metropolen tendierten die Linkswähler stärker zu<br />

elitaristischen Konzepten, als auf dem flachen Lande. Auf dem Land war die Kulturrevolution der<br />

Jahrhundertwende 1920 immer noch nicht richtig angekommen.<br />

Das Wunder an der Weichsel<br />

"Für Preußens deutsche Zukunft war die Haltung Rußlands eine Frage von hoher Bedeutung. Eine<br />

polenfreundliche Richtung der russischen Politik war dazu angethan, die seit dem Pariser Frieden<br />

und schon früher gelegentlich angestrebte russisch-französische Fühlung zu beleben, und ein<br />

polenfreundliches, russisch-französisches Bündnis, wie es vor der Julirevolution in der Luft<br />

schwebte, hätte <strong>das</strong> damalige Preußen in eine schwierige Lage gebracht. Wir hatten <strong>das</strong> Interesse,<br />

im russischen Cabinet die Partei der polnischen Sympathien, auch solcher im Sinne Alexander I.,<br />

zu bekämpfen".<br />

So schrieb Fürst v. Bismarck über <strong>das</strong> Jahr 1862, als er selbst preußischer Botschafter in St.<br />

Petersburg war.<br />

194


"Unsre geographische Lage und die Mischung beider Nationalitäten (Deutsche und Polen) in den<br />

Ostprovinzen einschließlich Schlesiens nöthigen uns, die Eröffnung der polnischen Frage nach<br />

Möglichkeit hintanzuhalten..." 282<br />

In diesem Sinne wurde auf Betreiben Bismarcks 1863 eine gegen Polen gerichtete Militärkonvention<br />

zwischen Preußen und Rußland durch den General v. Alvensleben abgeschlossen. Es hatte den<br />

Zweck, die polonisierende Partei am Petersburger Hof zu demoralisieren und beruhte auf direkter<br />

kaiserlicher Entschließung von Alexander I. Nach den Teilungen Polens im 18. Jh. und den<br />

Ergebnissen des Wiener Kongresses war die Alvenslebensche Konvention eine Neuauflage des<br />

Bündnisses Preußen-Rußland.<br />

Nun könnte man annehmen, dieser polenfeindliche Affekt der preußischen Politik habe sich mit dem<br />

Übergang von der Monarchie zur Republik verflüchtigt. Doch wer <strong>das</strong> glaubt, der irrt. Wir hatten<br />

bereits gesehen, daß die Republik in der Wirtschaftsverfassung nichts neues hervorgebracht hat,<br />

genauso war es um die Außenpolitik bestellt.<br />

Die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen waren 1920 durch schwebende Verfahren<br />

belastet: Der Hintergrund waren die Versailler Friedensbedingungen, die die Abtretung<br />

Oberschlesiens an Polen und eine Volkabstimmung im südlichen Ostpreußen vorsahen. Auf Grund<br />

deutscher Proteste wurde auch für Oberschlesien eine Volksabstimmung für den März 1921<br />

anberaumt. Nach einem ersten polnischen Aufstand im August 1919 mußte Deutschland die<br />

Reichswehr aus Oberschlesien abziehen. Die Verwaltungsmacht übernahm eine „Interalliierte<br />

Kommission für Regierung und Abstimmung“, die eine einigermaßen geordnete Volksabstimmung<br />

gewährleisten sollte.<br />

Über die Zugehörigkeit des südlichen Ostpreußens mussten die Bewohner am 11. Juli 1920<br />

abstimmen. Am 10. Januar 1920 verließ die Reichswehr <strong>das</strong> Abstimmungsgebiet, englisches und<br />

italienisches Militär rückte ein.<br />

Währenddessen verfertigte der Chef des Truppenamtes der Reichswehr, General von Seeckt eine<br />

Niederschrift mit dem verheißungsvollen Titel „Deutschland und Russland“:<br />

„Nur im festen Anschluß an ein Groß-Rußland hat Deutschland die Aussicht auf Wiedergewinnung<br />

seiner Weltmachtstellung.“ Ob uns <strong>das</strong> heutige Russland in seinem inneren Aufbau gefällt, oder<br />

nicht, <strong>das</strong> spielt jetzt keine Rolle. In der gegebenen Situation sei Polen der Todfeind, der<br />

altpreußische Länder und Städte an sich gerissen habe. 283<br />

Kurz vor der Volksabstimmung im südlichen Ostpreußen kam es im Juli und August zu einer<br />

dramatischen Entwicklung. Bei Dzisna standen sich am 4. Juli 1920 sowjetrussische und polnische<br />

Truppen gegenüber, als die Kämpfe des Russisch-polnischen Krieges ausbrachen. Während des<br />

schnellen Vormarsches der Roten Armee, am 11. Juli 1920 fand die Abstimmung in Ostpreußen statt.<br />

Die Frage lautete, ob man sich für Polen oder Ostpreußen (nicht <strong>das</strong> Deutsche Reich) entscheiden<br />

wolle. Die Antwort fiel, unter dem Eindruck des russischen Vormarsches wie erwartet, aus: In den<br />

westpreußischen Kreisen stimmten 92,28 v. H. für Ostpreußen, im ostpreußischen Bezirk 97,5, davon<br />

im eigentlichen Masuren 99,3 v. H. Am 12. August 1920 sprach die Botschafterkonferenz die beiden<br />

Abstimmungsbezirke dem Deutschen Reiche zu. 284 Ebenfalls am 12. August erreichte die Rote Armee<br />

Warschau. Polen bestand nur noch aus einem schmalen Streifen Land zwischen Schlesien bzw.<br />

Pommern und der Weichsel.<br />

Die Rote Armee nahm am 12. August an der ostpreußischen Grenze Kontakt zur Reichswehr auf und<br />

bat um Nachschubgüter wie Lebensmittel, Transportmittel und Karten vom Kriegsschauplatz.<br />

Russische Kommissare versprachen, die ehemals deutschen Gebiete an Deutschland<br />

zurückzugeben. In alle von Deutschland beanspruchten Gebiete müsse die Reichswehr<br />

einmarschieren bzw. es müssten lokale Räteregierungen etabliert werden. Die Reichswehr dachte<br />

nicht daran, weil die politische Führung französische Racheakte im Ruhrgebiet fürchtete, und weil sich<br />

im ostpreußischen Abstimmungsgebiet allierte Truppen befanden.<br />

282<br />

Otto Fürst von Bismarck. Gedanken und Erinnerungen, J. G. Cottaische Buchhandlung Nachfolger Stuttgart<br />

1898, S. 294 f.<br />

283<br />

Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 290<br />

284 aus preußenweb.de<br />

195


Die Frontlinie bildete für eine Woche zwischen dem 12. und 17. August die Weichsel bei Warschau.<br />

Gerade zu diesem kritischen Zeitpunkt am 17. und 18. August kam es zu schweren<br />

Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Polen im Rücken der Front, insbesondere in<br />

Kattowitz. Ein Schelm, der in diesem internationalen Ränkespiel an Zufall glaubt.<br />

Am Abend des 17. August begannen die Polen nach Erhalt französischer Waffenlieferungen aus ihren<br />

Ausgangsstellungen an der Weichsel vorzurücken, <strong>das</strong> „Wunder an der Weichsel“ nahm seinen<br />

Anfang.<br />

Zwischen dem 18. und dem 26. August 1920 eroberten die Polen den Ostteil ihres Landes von den<br />

Sowjetrussen zurück. Auf die Reichswehr hatten die Rotarmisten einen wenig professionellen<br />

Eindruck gemacht. Insofern war man in Ostpreußen nicht überrascht, <strong>das</strong>s die Russen so schnell<br />

wieder zurückfluteten, wie sie eingerückt waren. 50.000 Rotarmisten flüchteten sich über die<br />

ostpreußische Grenze, wurden dort entwaffnet und interniert. 285<br />

Die Ereignisse an der polnischen Ostfront spiegelten sich in Schlesien. Am 19. und 20.8.1920 wurde<br />

ein Teil des Kreises Kattowitz von polnischen Aufständischen besetzt, was den Widerstand deutscher<br />

Freischärler hervorrief. Zum zweiten mal innerhalb eines Jahres floß <strong>das</strong> Blut in Strömen. Am<br />

26.8.1920 nach der russischen Niederlage ließen schlesische Demonstranten ihren Frust über den<br />

polnischen Sieg heraus und besetzten <strong>das</strong> polnische und <strong>das</strong> französische Konsulat in Breslau. 286<br />

Die SPD-geführte preußische Regierung, die für die Ordnung in Breslau zuständig war, versagte bei<br />

der Niederschlagung der Unruhen völlig, ebenso wie die Reichsregierung. Reichspräsident Ebert ließ<br />

sich alle Zeit der Welt und erließ erst als alles vorbei war, am 6. September 1920 eine Verordnung zur<br />

Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Breslau. Ein vom Ministerium des Innern<br />

zu ernennender Reichskommissar wurde ermächtigt, die Ordnung in der Stadtgemeinde Breslau<br />

wieder herzustellen.<br />

„Auf Beschränkungen der persönlichen Freiheit findet <strong>das</strong> Gesetz, betreffend die Verhaftung und<br />

Aufenthaltsbeschränkung auf Grund des Kriegszustandes und des Belagerungszustandes vom 4.<br />

Oktober 1916 entsprechende Anwendung." 287<br />

Seit Friedrich Ebert gibt es eine sozialdemokratische Kontinuität der Feindschaft gegen Polen. Die<br />

unqualifizierten Bemerkungen des DGB-Vorsitzenden Vetter zum Streik von 1980, die<br />

Auseinandersetzungen Helmut Schmidts mit der seinerzeit überwiegend polnischstämmigen<br />

Administration in Washington und der arrogante Umgang der Schröder-Fischer-Regierung mit Polen in<br />

der Verfassungs- und Pipelinefrage tragen ihre Früchte in den deutschen Medien.<br />

So heißt es auf einer Seite von www.preussen-chronik.de des öffentlich-rechtlichen Ostdeutschen<br />

Rundfunks:<br />

"Erste Bestrebungen eines polnischen Nationalismus, der auf eine Abtrennung Oberschlesiens<br />

vom Deutschen Reich zielt, gibt es bereits seit der Jahrhundertwende. In dieser Zeit wanderten<br />

über 70.000 Polen in <strong>das</strong> oberschlesische Industriegebiet ein, zumeist als billige Arbeitskräfte".<br />

Daß immer schon zahlreich Polen in Oberschlesien wohnten, verschweigt die Preußen-Chronik<br />

dezent. Weiter liest man:<br />

"Oberschlesien wird so geteilt, <strong>das</strong>s Polen und <strong>das</strong> deutsche Reich je einen Anteil an dem Gebiet<br />

erhalten, der dem Abstimmungsergebnis prozentual entspricht. Die Grenze wird zwischen den<br />

mehrheitlich polnischen und deutschen Gemeinden gezogen. Damit fallen 90 % des<br />

oberschlesischen Kohlevorkommens sowie der Zink-, Blei- und Silberhütten an Polen."<br />

Nicht erwähnt wird die jahrhundertelange preußische Unterdrückung der polnischen Bevölkerung<br />

Oberschlesiens und der jahrzehntelange Kampf der katholischen Kirche um die polnischen Rechte, an<br />

dessen Spitze fast zwei Jahrzehnte Wojciech Korfanty stand. Er wird in der Preußen-Chronik recht<br />

einseitig als Angehöriger einer militanten Gruppierung bezeichnet.<br />

285 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 292 ff.<br />

286 www.regis-net.de/krieg/ruspol20.html und www.iyp.org/pilsudski/<br />

287 www.documentarchiv.de/wr/1920/notverordnung-reichspraesident_breslau.html<br />

196


Das Ergebnis der Volksabstimmung vom 20.03.1921, bei der die Deutschen 59 % und die Polen 41 %<br />

der Stimmen erzielten, wird letztlich auf den polnischen Nationalismus von militanten Gruppierungen<br />

und auf 70.000 Billigeinwanderer zurückgeführt. In Preußen herrscht nach wie vor tiefe Finsternis in<br />

den Medien, die polnische Teilung wird so abgehandelt, wie Putin seine Kolonialkriege im Kaukasus<br />

darstellt: als eine Folge terroristischer Aktivitäten.<br />

Deutschland äugte in den 20er Jahren neugierig auf jede europäische und außereuropäische<br />

Widerstandsbewegung gegen die Ententemächte. Immer wenn ein kleiner David gegen den alliierten<br />

Goliath triumphierte, schöpfte die deutsche Führung neue Hoffnung auf Revanche. Immer wenn<br />

Goliath einen David wieder zur Räson brachte, so verzagte man in Berlin. Der Polenfeldzug der Roten<br />

Armee war nach der ungarischen Räterevolution, die von rumänischen und tschechoslowakischen<br />

Truppen auseinandergejagt wurde die zweite verpatzte Gelegenheit, wo sich Germania aus den<br />

Fesseln von Versailles und St. Germain hätte herauswinden können. Der nächste Versuch der<br />

Entfesselung der teutonischen Kräfte, nämlich die Annäherung von Deutschland und Russland über<br />

den Vertrag von Rapallo ging im Desaster des Ruhrkampfs unter. Erst 1922/23 zeigten die Alliierten<br />

Nerven: Die Türkei zerriß den Friedensvertrag von Trianon und Litauen führte Frankreich im<br />

Memelland vor.<br />

Während der gesamten Zeitdauer der Weimarer Republik gab es keine bindende und endgültige<br />

Übereinkunft mit Polen in der Grenzfrage. Statt dessen wurde im Rücken des Nachbarn mit der Roten<br />

Armee kooperiert. Diese Kooperation begann 1920 und endete erst im Herbst 1933.<br />

Die Kumpanei mit Rußland im Frieden von Tauroggen war der Ausgangspunkt der preußischen<br />

Außenpolitik, die Alvenslebensche Konvention war die Fortsetzung, der Stalin-Hitler Pakt war der<br />

Schlußstein. In der Weimarer Republik gab es keinen eigenständigen außenpolitischen Ansatz.<br />

Man kann Adolf Hitler nicht vorwerfen, eine neue Polen-Politik gemacht zu haben. Er hatte 1939 nur<br />

die Machtmittel, die der Weimarer Republik fehlten. Der Drang nach Polen war kein neuer Gedanke,<br />

sondern bereits in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik <strong>das</strong> Ziel.<br />

197


Die Inflationszeit<br />

Zwischen der ersten Reichstagswahl und dem Londoner Zahlungsplan<br />

Auf der erkalteten Oberfläche des politischen Magmas ging es bei der Umsetzung des Versailler<br />

Vertrages geschäftsmäßig zu. Im Ergebnis der ersten Reichstagswahl regierten von Mitte 1920 bis<br />

Anfang 1924 sieben Kabinette aus Zentrum/BVP, DVP und DDP, in fünf dieser Kabinette war die SPD<br />

vertreten.<br />

Nicht nur Deutschland wurde mit den Kriegsfolgen konfrontiert. Am 10. August 1920 unterzeichnete<br />

die Hohe Pforte den Friedensvertrag von Sevres, der die Zerstückelung der Türkei vorsah. Ebenfalls<br />

August 1920 wurde <strong>das</strong> Entwaffnungsgesetz verabschiedet, <strong>das</strong> die deutsche Reichswehr auf<br />

100.000 Mann begrenzte. Im September 1920 wurden 2 Kreise der Rheinprovinz an Belgien<br />

abgetreten. Damit wurde wie bei fast jeder Abtretung von Gebieten <strong>das</strong> katholische Lager in<br />

Deutschland geschwächt.<br />

Im linksextremistischen Spektrum wurden die Karten neu gemischt. Durch <strong>das</strong> zusammengewürfelte<br />

Mitgliederpotential hin- und hergerissen zwischen der traditionell egalitär und emanzipatorisch<br />

orientierten SPD und der elitaristisch und diktatorisch ausgerichteten KPD, war die Halbwertszeit der<br />

USPD abgelaufen, sie spaltete sich nach ihrem größten Wahltriumph im Herbst 1920. Etwa die Hälfte<br />

der 900.000 Mitglieder rückte in die KPD ein, 200.000 Mitglieder gingen 1922 zurück zur SPD, einige<br />

Unverdrossene wurstelten sektiererisch in der verbleibenden Splitterpartei USPD weiter, die sich<br />

später Sozialistischer Bund nannte.<br />

Im Januar 1921 wurden auf der Pariser Konferenz die Reparationsverpflichtungen Deutschlands auf<br />

269 Mrd. Goldmark festgesetzt, worauf es im Februar und März 1921 zu diplomatischen<br />

Verstimmungen zwischen Deutschland und den Siegern kam. Als Antwort besetzten die Franzosen<br />

am 8.3.1921 Düsseldorf, Ruhrort und Duisburg. Ebenfalls im März wurde ein von der Sowjetunion<br />

angezettelter Aufstand im Mansfelder Land niedergeschlagen. Im Mai 1921 trat die Regierung<br />

Fehrenbach zurück, da sie die alliierten Zahlungsforderungen nicht befriedigen wollte. Als<br />

Trotzreaktion gegen die Alliierten wurde im Mai 1921 ein Handelsabkommen mit der Sowjetunion<br />

geschlossen. Im Mai 1921 wurde <strong>das</strong> erste Kabinett Wirth gebildet, <strong>das</strong> den Londoner Zahlungsplan<br />

(132 Mrd. Goldmark in 66 Jahresraten zu 2 Mrd. Goldmark) annahm. Im Mai-Juni 1921 kam es<br />

wiederholt zu Kämpfen an der polnischen Grenze, insbesondere in Oberschlesien, die Allierten griffen<br />

ein und stellten die Ordnung notdürftig her.<br />

In der Türkei tobte derweil der Unabhängigkeitskrieg Kemal Atatürks gegen die griechischen<br />

Besatzungstruppen, die im Frühjahr bis in die Gegend von Ankara vorgestoßen waren. Den militärisch<br />

entscheidenden Sieg bei Sakarya errang die türkische Armee im August 1921 und fügte den<br />

griechischen Truppen eine schwere Niederlage zu. Nach diesem Sieg ließ Frankreich die Griechen<br />

alleine, Frankreich zog seine Truppen aus der Türkei zurück und gaben die Gebietsansprüche<br />

gegenüber der Türkei auf. Die Türkei zeigte den Deutschen eine militante Perspektive des<br />

erfolgreichen Widerstands gegen die Siegermächte auf.<br />

Der Staatsstreich der Geistigen<br />

Vor dem Ludendorff-Lüttwitz-Putsch, dem Hamburger Aufstand und dem Marsch auf die<br />

Feldherrnhalle fand der intellektuelle Staatsstreich bereits in den Berliner Kaffeehäusern und den<br />

Redaktionsstuben einiger Kunstblätter statt. Bereits 1914, kurz vor dem Ausbruch des Weltkriegs,<br />

hatte Kurt Hiller mit wenigen Getreuen, darunter Heinrich Mann, den Aktivismus begründet. Die<br />

Künstler sollten sich aktiv in die Politik einbringen. Im Krieg wurden die aktivistischen Konzepte<br />

ausgefeilt und die führende Rolle der Geistigen in der bevorstehenden Umwälzung reklamiert.<br />

Ebenfalls 1914, noch vor dem Kriegsausbruch, hatte Alfons Paquet über die Führung eines<br />

erneuerten europäischen Kaisertums, eines neuen „Reichs der Mitte“ philosophiert: Aus einem<br />

Zusammengehen zwischen Absolutismus und Sozialismus könne sich eine neue Aristokratie bilden,<br />

als Synthese aus dem Geburtsadel und einer „Aristokratie der tatsächlichen Volksführer“. Aus ihrer<br />

Mitte wäre der platonische Monarch zu wählen. Die Regierung wäre nur Teilhaber der kaiserlichen<br />

198


Allmacht, der Staat benötigte nur wenige Beamte und würde nach und nach absterben. 288 Die<br />

aktivistischen Eliteträume überdauerten den Weltkrieg, als habe er nicht stattgefunden. 1920 pries<br />

derselbe Paquet die sowjetrussische „Diktatur der Vernünftigen“ mit ihren „proletarischen Napoleons“:<br />

„Nicht die Individuen übler Mitläufer sind typisch, sondern die Führer, die Männer der Idee.“<br />

Bezugnehmend auf 1914 erkannte Paquet in der bevorstehenden Weltrevolution eine Renaissance<br />

des Geistes von 1914:<br />

„Der Geist der Augusttage von 1914 war nicht nur der wüste Machtrausch eines zur Weltherrschaft<br />

dängenden Volkes. In ihm ergriff uns immer mehr die Ahnung eines geistigen deutschen<br />

Schicksals, einer Bestimmung.“ Ein erneuertes deutsches Weltbürgertum könne nur durch den<br />

Untergang des alten Bürgertums entstehen, welches historisch versagt habe. 289<br />

Man merkt hier ein wenig die Herkunft des Gedankens aus Nietzsches Werk:<br />

„Ich liebe Den, welcher lebt, <strong>das</strong>s er erkenne, und welcher erkennen will, damit einst der<br />

Übermensch lebe. Und so will er seinen Untergang.“<br />

Das historische Versagen des deutschen Bildungsbürgertums war aus der Sicht der deutschen<br />

Gewaltsphilosophen und -politiker wohlgemerkt nicht darin begründet, den Krieg gewollt, begonnen<br />

und geführt zu haben, sondern ihn verloren zu haben. Das Versagen hatte seine Ursachen in<br />

Inkonsequenz, mangelnder Härte und mangelndem Durchhaltewillen und gemessen an den<br />

bolschewistischen Napoleons in mangelnder Brutalität und <strong>Menschen</strong>verachtung. An der Rolle der<br />

Geistigen als aktivistische Avantgarde wurde von Paquet trotz des Scheiterns der deutschen<br />

bildungsbürgerlichen Avantgarde festgehalten.<br />

In der Novemberrevolution 1918 war es soweit für eine erneute Führungsrolle der Bildungsbürger: Der<br />

Rat geistiger Arbeiter setze sich den Arbeiter- und Soldatenräten vor die Nase, ohne <strong>das</strong>s diese <strong>das</strong><br />

recht gewahr wurden. Wegen inneren Querelen konnte die aktivistische Intelligentsia den<br />

angestrebten Führungszauber nicht kraftvoll entfalten. Trotz diesem praktischen Misserfolg hatte Hiller<br />

<strong>das</strong> theoretische Fundament der Herrschaft der Berliner Intelligentsia über den Rest der Welt 1921<br />

fertiggestellt: „Logokratie oder ein Weltbund des Geistes“. Woher Hiller kam, daraus machte er keinen<br />

Hehl:<br />

„Die Jugendbewegung, mit ihrer Entdeckung von Führertum und Gefolgschaft, mit ihrem Eros zum<br />

Helden – nicht zum Körperhelden allein -, mit ihrem starken Sinn für den Rang und für edle<br />

Haltung, mit ihrer Ehrfurcht vor dem Schöpferischen in Natur und <strong>Menschen</strong>welt, mit ihrer Abscheu<br />

vor mechanisch-parlamentarischer, nivellierender Betriebsamkeit, vor der Kompromisswirtschaft<br />

und allem Sichdrücken um <strong>das</strong> Wesentliche, aller platten Verständigkeit, mit ihrer Liebe zum<br />

Unbedingten, mit ihrer Geradheit und Herbheit, ihrer Innerlichkeit, die nicht ohne Schönheit ist, mit<br />

ihrer Opferbereitschaft, mit ihrem unverkennbar heroischen Zug – diese Jugendbewegung quer<br />

durch die sozialen Klassen, wohl eine spezielle deutsche Erscheinung, ist typische Abkehr von der<br />

Demokratie, ...ohne noch freilich noch eine klare Hinkehr zu anderem zu sein. Ihr steckt der neue<br />

Aristokratismus als Rythmus im Blut, kaum schon als System im Bewusstsein. Bemerkenswert<br />

immerhin, <strong>das</strong>s diese Jugend <strong>das</strong> wirtschafts- und gesellschaftsrevolutionäre und überhaupt jedes<br />

revolutionäre Prinzip mit dem Prinzip des Adels nicht nur als vereinbar, sondern geradezu als mit<br />

ihm verwandt fühlt, während ihr <strong>das</strong> revolutionäre und <strong>das</strong> demokratische Prinzip unsäglich weit<br />

auseinander zu liegen scheinen. Für alle Dinge kann Jugend sich begeistern, nur gerade für den<br />

Gedanken der Mehrheitsherrschaft nicht!.“<br />

"Die Demokratie ist der politische Absolutismus des Durchschnittsmenschen, ist die Diktatur der<br />

Mittelmäßigkeit. Darum bleibt unter der Demokratie der Geistige zu dem Schicksal verdammt,<br />

seine Aufgabe zwar zu erkennen, sie aber nicht erfüllen zu dürfen. Vielmehr: sie nur sehr<br />

unzulänglich erfüllen zu dürfen, durch Anfeuern und gute Ratschläge; durch Randbemerkungen<br />

zum Geschehen - statt durch Gestaltung des Geschehens. Unter der Demokratie lautet <strong>das</strong> Los<br />

des Geistes: Litteratur."<br />

288 Alfons Paquet: „Der Kaisergedanke“ „<strong>Neue</strong>r Merkur“, Heft 1, 1914<br />

289 zitiert in Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H. Beck, S 212f.<br />

199


Bis hierhin unterscheidet sich die Liste der Präferenzen nicht von der eines Dutzendliteraten der<br />

Spätkaiserzeit, „Wir bekämpfen die korrumpierende Parlamentswirtschaft einer Stellenbesetzung nur<br />

nach Parteigesichtspunkten ohne Rücksichtnahme auf Charakter und Fähigkeiten“ hätte Hitler von<br />

Hiller abgeschrieben haben können, was jedoch nicht notwendig war, da Hitler diese geläufige Floskel<br />

von fast jedem x-beliebigen Wandervogel hätte übernehmen können.<br />

In der Radikalität des provokanten Anspruchs nach außen erreichte Kurt Hiller sogleich eine<br />

Spitzenposition. Den intellektuellen Dünkel, der im George-Kreis nach innen zelebriert wurde, wollte er<br />

nach außen kehren.<br />

"Was wir vermögen, ist zunächst wenig. Solange uns die politische Macht fehlt, die Verlängerer der<br />

kapitalistischen Unzucht dorthin zu befördern, wohin jeder Fromme sie wünscht, bleibt uns <strong>das</strong><br />

bescheidene, darum nicht unnütze Mittel des gesellschaftlichen Boykotts gegen sie. Der<br />

Intellektuelle, statt ihnen, was er leider so gern tut, in eine gewisse Gegend zu kriechen, drehe<br />

ihnen mit Schwung die eigene zu. [...] Der Geistige benehme sich herausfordernd-exklusiv gegen<br />

den Plünderer, hochmütig bis zum Exzeß; der Raffer muß eine so verachtete Kaste werden wie<br />

weiland der Schinder, der Henker. Und in je legaleren Bahnen er rafft und je bessere bürgerliche<br />

Manieren er hat, desto verachteter sei er! - Der moralisch-gesellschaftliche Boykott als Vorgefecht<br />

der Expropriation; die Ächtung als Prolog der Vernichtung."<br />

Linke Befreiungs-Phraseologie und rechter Führer- und Gefolgschaftsaristokratismus verbanden sich<br />

zum elitaristischen Kraftkonzentrat, welches als intellektueller Brühwürfel in den lauwarmen Weimarer<br />

Volkssuppenkessel geworfen am Schluß eine verheerende Wirkung ergab. Hiller hätte niemals ein<br />

massenwirksamer Hitler werden können, er kann bestenfalls als Wegbereiter eingeordnet werden. Der<br />

Weg zum elitaristischen Führertum führte in der Weimarer Praxis über die von den Intellektuellen<br />

verachtete und verhaßte Massenwirksamkeit und Massenakzeptanz, über die tatsächliche Gewinnung<br />

von Massengefolgschaft, nicht über die Gewinnung von intellektueller Gefolgschaft allein.<br />

"Der Demokratismus, nimmt man ihn beim Wort, verrät nur, daß er anstelle von Dynasten und<br />

Kasten, von Despoten und Knoten '<strong>das</strong> Volk' regieren zu sehen wünsche; wie '<strong>das</strong> Volk' es<br />

machen solle, zu regieren, durch wen '<strong>das</strong> Volk' imgrunde repräsentiert sei und wie es zur<br />

erdenklich besten Repräsentation seiner gelange - darüber schweigt der Begriff. Daß der Weg die<br />

Wahl, die Wahl durch Alle, und <strong>das</strong> Kriterium der Richtigkeit die Mehrheit sei, ist ein ebenso<br />

beliebtes wie unbewiesenes Dogma, und seit dem Ende des 1. Weltkrieges mehren sich die<br />

Stimmen derer, die in Anlehnung an Philosopheme Platons und Nietzsches dies Dogma bestreiten;<br />

die den als selbstverständlich sich aufspielenden Egalitarismus in der Gesetzgeberauslese kritisch<br />

und konstruktiv berennen, und zwar nicht, wie der egalitäre Schmock es sich leicht macht zu lügen,<br />

von einem 'rechten', <strong>das</strong> heißt sozialreaktionären oder kulturreaktionären Standpunkt aus, sondern<br />

im Gegenteil vom Standpunkt raschester und radikalster Befreiung des Individuums, in<br />

ökonomischer und außerwirtschaftlicher Hinsicht, also von 'links'."<br />

"Die proletarische Revolution wird <strong>das</strong> Geldmacherpack, welches unter der Demokratie offen oder<br />

heimlich regiert, von der Fläche der Geschichte wischen und wird endlich, endlich die natürliche<br />

Auslese der Besten ermöglichen, die ständig sich erneuernde Geburt des Adels aus der<br />

schöpferischen Breite des Volks. Wenn der Klassenkampf sich erübrigt, weil es keine Klassen<br />

mehr gibt, wird es der Typus des Höheren <strong>Menschen</strong> sein, der - evolutionär oder revolutionär -<br />

gegen den niederen sich durchsetzt: zum Segen gerade des niederen."<br />

Typisch für Hillers Aktivismus war <strong>das</strong> hin- und her zwischen linken und rechten Phrasen, zwischen<br />

dem Idealismus und dem Vulgärmarxismus. Begriffe wie Klassenkampf, ökonomische Befreiung,<br />

kapitalistische Unzucht und Expropriation wurden zur endlichen Erweckung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong><br />

eklektisch mit den Dogmen der Jugendbewegung zusammengepappt. Welche Freude hätte Hiller<br />

erleben dürfen, wenn er Walter Ulbricht, Erich Honecker und Harry Tisch als diejenigen Höheren hätte<br />

identifizieren können, die sich gegen die niederen durchgesetzt hatten. „Was hat unten 4 Beine und<br />

oben eine Platte?“, fragten die Niederen und meinten den hochprozentig-geistigen Harry Tisch.<br />

Der Grund für diese Verrenkungen der Intelligentsia ist die Suche nach jenem Shangri La, <strong>das</strong> ihren<br />

theoretischen Entwürfen entspricht. Immer wurden irdische Teststrecken gesucht, um die<br />

Praxistauglichkeit der ideologischen Designermodelle zu beweisen. In den Testmaschinen saßen nie<br />

Dummies, sondern richtige <strong>Menschen</strong>, die in Crashtests bedenkenlos geopfert wurden. Die linken<br />

Intellektuellen der Bundesrepublik erblickten in den siebziger Jahren in Albanien, in China, in der<br />

Sowjetunion und in Nikaragua <strong>das</strong> proletarische Paradies, und wenn endlich alle realen Orte<br />

200


entzaubert waren, wenn es gar kein Staat mehr wert war, <strong>das</strong>s ihm nachgeeifert wurde, dann blieb ja<br />

noch <strong>das</strong> exterritoriale geistige Reich Che Guevaras. Vor dem Kriege hatte die mitteleuropäische<br />

Litteratenschaft <strong>das</strong> zwar hohenzollernsche, aber dennoch idealistische Deutschland der<br />

Weltherrschaft für wert befunden, nach der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde war <strong>das</strong><br />

gescheitert. Glücklich zur Stunde der Ernüchterung stand eine neue Projektionsfläche der<br />

revolutionären Phantasie bereit, auf die der intellektuelle Eifer überspringen konnte: Russland. Wenn<br />

es die Oktoberrevolution nicht gegeben hätte, man hätte den Großmufti von Jerusalem zum Idol<br />

verklären, oder auf Mussolini und Atatürk warten müssen.<br />

Dem Führerkult wurde von linken und rechten Elitaristen der ideologische Boden bereitet und die<br />

Rechtfertigung gegeben. Auch hier hat Heinrich Heine recht: Der Gedanke geht der Tat voraus, wie<br />

der Blitz dem Donner.<br />

Die rechte Phraseologie, in der sich der „Linke“ Hiller verlor, zeigte sich auch in seinem Bildungsideal:<br />

"Bis tief in unser Jahrhundert hinein gab es an den preußischen Schulen, vermutlich an allen<br />

deutschen, 'Rangordnung' - ein Begriff, den Nietzsche mit Recht in die Philosophie gerettet hat. Es<br />

ist demokratisch, diese Einrichtung zu verwerfen, und zwar darum, weil alle <strong>Menschen</strong> gleich seien<br />

und niemand etwas für seine stets nur partielle Überlegenheit könne, so wenig wie für seine<br />

Unterlegenheit; eine Rangordnung in der Schule mache die <strong>Menschen</strong>, schon von Jugend an, teils<br />

neidisch und rachsüchtig, teils überheblich und anmaßend. Ich, ich finde 'Rangordnung'<br />

lobenswert. Vorzüge sollen unterstrichen werden, Begabte ermutigt, Wettkampf ist im<br />

intellektuellen Bereich genau so legitim und schön wie im sportlichen. Und der Schwächere hat die<br />

Bekanntgabe seiner schwächeren Position eben hinzunehmen. Gerade darin zeigt sich Charakter,<br />

daß der Stärkere seine Stärke nicht miß<strong>braucht</strong>, der Schwächere seine Schwäche erträgt, sie<br />

vielleicht zu überwinden trachtet oder aber auf ihr seine Nützlichkeit für die Gemeinschaft<br />

aufbaut.“ 290<br />

Hiller machte sowohl Vorschläge für die Herrschaft der Wissenden, als auch praktische Erfahrungen<br />

mit der Organisation der Intelligentsia im Aktivistenbund und ab dem 09.11.1918 im „Politischen Rat<br />

geistiger Arbeiter“.<br />

„Wer sie aber seien, die sittlich und geistig Besten, <strong>das</strong> können nur sie selber entscheiden,<br />

wechselseitig. Möglich wird die Herrschaft der geistigen nur durch einen Kongregationsprozeß<br />

sein, von der Art, wie ihn Nietzsche, der Ahnherr, im 318. Aphorismus des zweiten Bandes seiner<br />

Schrift ´Menschliches, Allzumenschliches´ vor fast einem halben Jahrhundert beschrieben hat,<br />

unter der Überschrift ´Von der Herrschaft der Wissenden´: ´Zuerst hätten die Redlichen und<br />

Vertrauenswürdigen eines Landes, welche zugleich irgendworin Meister und Sachkenner sind, sich<br />

auszuscheiden durch gegenseitige Auswitterung und Anerkennung: aus Ihnen wiederum müssten<br />

durch engere Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges<br />

auswählen, gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde aus ihnen<br />

die gesetzgebende Körperschaft, so müssten endlich, für jeden einzelnen Fall, nur die Stimmen<br />

und Urteile der speziellsten Sachverständigen entscheiden, und die Ehrenhaftigkeit aller Übrigen<br />

groß genug und einfach zur Sache des Anstands geworden sein, die Abstimmung auch nur jenen<br />

zu überlassen: so <strong>das</strong>s im strengsten Sinne <strong>das</strong> Gesetz aus dem Verstande der Verständigsten<br />

hervorginge.“<br />

In Hillers Rat geistiger Arbeiter“ ging es wie bei intellektuellen Versammlungen üblich, chaotisch zu.<br />

Und <strong>das</strong>s, obwohl dieser Kongreß nichts zu bestimmen und nichts zu bestellen hatte.<br />

„Der Historiker Lujo Brentano, der zeitweilig eine Branche des Kongresses leitete, schrieb später,<br />

<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Präsidieren der Treffen so gewesen wäre, wie <strong>das</strong> Leiten eines Haufens von Anarchisten.<br />

Der damalige Herausgeber der Weltbühne zog sich ebenfalls nach einer kurzen Weile zurück, weil<br />

er dachte, <strong>das</strong>s die Gruppe kindisch und zerfahren wäre. Sie lehnte die Demokratie ab, und<br />

befürwortete eine doppelte Tyrannei: die ökonomische Diktatur der Arbeiter und die Diktatur der<br />

Intellektuellen gegen die Diktatur der ungeistigen Mehrheit. Kurt Hiller war der bewegende Geist<br />

hinter dieser und ähnlichen Gruppen. Er glaubte an die Logokratie und die Kraft des Worts. Gemäß<br />

seiner Doktrin wären nicht alle Intellektuellen den Auserwählten zugehörig, sondern nur die<br />

Literaten unter ihnen.“ 291<br />

290 Zitate aus K. Hiller: Logokratie oder ein Weltbund des Geistes. Leipzig 1921, Der neue Geist Verlag<br />

291 Walter Laqueur: Weimar – the left-wing intellectuals.<br />

201


Die Unklarheiten von Kurt Hiller und seinem Mitherausgeber Herwarth Walden über die Demokratie<br />

hatten fatale Auswirkungen: Hiller schrieb 1926 in der Weltbühne ein bewunderndes Essay über den<br />

Kraftkerl Mussolini.<br />

„Demokratie heißt: Herrschaft jeder empirischen Mehrheit; wer wollte bestreiten, daß die Mehrheit<br />

des italienischen Volkes seit langem treu hinter Mussolini steht? [...] Mussolini, man sehe sich ihn<br />

an, ist kein Kaffer, kein Mucker, kein Sauertopf, wie die Prominenten der linksbürgerlichen und<br />

bürgerlich-sozialistischen Parteien Frankreichs und Deutschlands und anderer Länder des<br />

Kontinents es in der Mehrzahl der Fälle sind; er hat Kultur. [...] Wenn ich mich genau prüfe, ist mir<br />

Mussolini, dessen Politik ich weder als Deutscher noch als Pazifist noch als Sozialist ihrem Inhalt<br />

nach billigen kann, als formaler Typus des Staatsmannes deshalb so sympathisch, weil er <strong>das</strong><br />

Gegenteil eines Verdrängers ist. Ein weltfroh-eleganter Energiekerl, Sportskerl, Mordskerl,<br />

Renaissancekerl, intellektuell, doch mit gemäßigt-reaktionären Inhalten, ist mir lieber, ich leugne es<br />

nicht, als ein gemäßigt-linker Leichenbitter, der im Endeffekt auch nichts hervorbringt, was den<br />

Mächten der Beharrung irgend Abbruch tut.“ 292<br />

Hillers Autobiografie, deren erster Band 1969 erschien, betitelte er „Leben gegen die Zeit“. Ein Leben<br />

gegen die Zeit war es leider erst ab 1945, als die Antidemokraten abgewirtschaftet hatten. Vorher war<br />

er beim Beschleunigen einer Uhr dabei, die falsch ging.<br />

„Intelligenzbrillen“ unter dem Wagenrad – Tagore in Deutschland<br />

„Unser Glaube an Andre verräth, worin wir gerne an uns selber glauben möchten. Unsre Sehnsucht<br />

nach einem Freunde ist unser Verräther.“ Wo Friedrich Nietzsche mal Recht hatte, hatte er Recht.<br />

Das herausragende gesellschaftliche Ereignis des Jahres 1921 war der erste Besuch des indischen<br />

Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore in Deutschland. Der oberflächliche politische<br />

Betrachter hätte sich mit der Erkenntnis zufriedengegeben, <strong>das</strong>s Tagore als Bewohner Indiens den<br />

Feind seiner englischen Kolonialherrscher besuchte oder <strong>das</strong>s Deutschland dem Vertreter eines vom<br />

perfiden England kolonial unterdrückten Landes die Referenz erwies. Rabindranath Tagore war<br />

jedoch viel mehr, als der Repräsentant der indischen Befreiungsbewegung gegen die ungeliebten<br />

Engländer, er wurde zu einem Heilsbringer stilisiert.<br />

Rita Panesar, die sich in ihrer Dissertation mit Publikationen der Lebensreform und inhaltlich<br />

anschließend mit Heilserwartungen in den 20er Jahren beschäftigt hat, sah seinen Erfolg von 1921<br />

weniger im Inhalt seiner 'Botschaften' begründet, als vielmehr in seiner äußeren Erscheinung, seiner<br />

Persönlichkeit.<br />

„In der materiellen wie emotionalen Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tagore zum<br />

Hoffnungsträger, zum Heiland. Nationalliberale und konservative Bildungsbürger stilisierten Tagore<br />

gemäß einer in der <strong>Romantik</strong> konstruierten Idealvorstellung zum 'vollkommenen', ganzheitlich<br />

gebildeten <strong>Menschen</strong>, der in seiner Person Dichter, Philosoph und Priester vereint. Sie<br />

charakterisierten ihn nicht, wie etwa diejenigen Inder, die auf Völkerschauen vorgeführt wurden, als<br />

'edlen Wilden'. Tagore galt als aristokratischer Vertreter der geistigen Elite Indiens. Viele Weimarer<br />

Zeitgenossen hingen noch der romantischen Vorstellung an, daß sich innere Schönheit äußerlich<br />

niederschlägt und beschrieben den Sechzigjährigen mit seinen sanften Gesichtszügen dem<br />

gelockten weißen Haar als schön.<br />

Er entspreche dem klassischen Schönheitsideal der Antike und sei der 'Goethe Indiens', hieß es<br />

vielfach. Tagore verkörperte für die nationalliberalen und konservativen Bildungsbürger die goldene<br />

Vergangenheit, eine Zeit in der sie als vermeintliche Träger des 'Geistes' noch Geltung besaßen.<br />

Hatten die Bildungsbürger bereits vor dem Ersten Weltkrieg feststellen müssen, daß <strong>das</strong> Prestige<br />

technischen Wissens stieg und daß humanistische Bildung längst nicht mehr einziger Garant für<br />

gesellschaftlichen Aufstieg war, so mußten sie nach dem Krieg realisieren, daß zunehmend<br />

Angehörige des Mittelstandes an die Universitäten drängten und ihr Privileg auf akademische<br />

Bildung ebenfalls gebrochen war. Zusätzlich verzweifelt wegen des verlorenen Krieges, der eine<br />

enorme Schuldenlast hinterlassen hatte, die zur Geldentwertung und damit zu wirtschaftlicher Not<br />

und Hunger führte, beurteilten die Bildungsbürger ihre Lage als katastrophal. Sie übertrugen ihre<br />

292 Mussolini und unsereins, Die Weltbühne, 12.1.1926<br />

202


Verzweiflung auf die gesamte Nachkriegsgesellschaft und prognostizierten im Sinne des<br />

konservativen Geschichtsphilosophen Oswald Spengler den 'Untergang des Abendlandes'. Dabei<br />

griffen sie auf <strong>das</strong> mythische Schema von Paradies - Sündenfall - Erlösung zurück. Als<br />

Sündenpfuhl empfanden sie die Republik der Nachkriegszeit, in der sie sich zur<br />

Bedeutungslosigkeit degradiert sahen. Die Erlösung stellte für große Teile des nationalliberalen<br />

und konservativen Bildungsbürgertums eine neue Gesellschaftsform dar, die die Weimarer<br />

Demokratie ablösen würde: Als Paradies auf Erden stellten sie sich beispielsweise eine<br />

Ständegesellschaft vor, die sie selbst in einer Gemeinschaft der am höchsten gebildeten<br />

<strong>Menschen</strong>, in einer sogenannten 'Geistesaristokratie', an Stelle der gewählten Parteipolitiker<br />

anführen würden.<br />

Vor allem der Philosoph Hermann Graf Keyserling, der in seiner Darmstädter 'Schule der Weisheit'<br />

eine Tagore-Woche veranstaltet hatte, sowie Autoren des elitaristisch-reformistischen Eugen<br />

Diederichs Verlags präsentierten Tagore als leuchtendes Vorbild für die Träger einer ersehnten<br />

Geistesaristokratie. Keyserling ging davon aus, daß Deutschland anders als die anderen<br />

westlichen Nationen 'dem Wesen nach' wie Indien ein 'Kastenvolk' sei. Deshalb würde sich<br />

Deutschland ganz automatisch, ohne militärische Aktionen oder politische Reformen gemäß seiner<br />

Begabungen in Kasten oder Stände schichten.<br />

Keyserling, der Tagore zwar als Vorführobjekt benutzte, Inder aber als weltabgewandt und<br />

deswegen unfähig zum Herrschen abqualifizierte, übertrug die Idee einer ständisch gegliederten<br />

Gesellschaft von der nationalen auf die internationale Ebene und wies Deutschland, als 'seelisch<br />

tiefstem', 'innerlichstem', 'reinstem' und vor allem 'geistigstem' Volk, die Führungsspitze einer<br />

internationalen Ständegesellschaft zu. Zu den Deutschen passe weder der französische<br />

Zentralismus noch der Englische Parlamentarismus, schrieb er 1926: Die Deutschen sind ein<br />

Kastenvolk, hierin den Indern ähnlich; dies liegt an ihrer angeborenen Einstellung.“<br />

Die Deutschen sind wie wir bereits gesehen hatten zwar kein Kastenvolk, die Verankerung des<br />

Individuums in machtvolle Korporationen blieb für den alten Mittelstand, die Handwerker, Landwirte<br />

und <strong>das</strong> Bildungsbürgertum <strong>das</strong> Ziel, ebenso für die neuen Klassen: die Arbeiterklasse organisierte<br />

sich in Gewerkschaften, die fast nahtlos an die Gesellentradition der zünftigen Welt anschlossen und<br />

die Industrie in Kartellen. Diese Organisationsseeligkeit der Deutschen suchte im großen Weltspiegel<br />

Entsprechungen und fand sie angesichts des Tagore-Besuchs im indischen Kastenwesen.<br />

Tagores Führer durch Deutschland war der eben erwähnte Hermann Graf Keyserling. Nachdem die<br />

Berliner Vortragssäle die Besucher von Tagores Auftritten nicht fassen konnten, wurde bei Darmstadt<br />

auf dem Herrgottsberg ein deutsches Volksfest veranstaltet, nicht als Solidaritätsmeeting mit den<br />

ausgebeuteten indischen Werktätigen, sondern als Heerschau teutonischen Geistes mit Einsegnung<br />

durch einen auswärtigen Priester. Was den Ablauf des Festes angeht, so werden wir uns wieder Rita<br />

Panesar anvertrauen:<br />

„In den liberalen 'Hamburger Nachrichten', deren Leserschaft die Ereignisse in Darmstadt aus<br />

großer räumlicher Distanz erfuhr, beschrieb der konservative Günther v. Dewitz die Vorgänge - wie<br />

auch zahlreiche andere Autoren - in psalmodierendem Tonfall. Seine Darstellung mutet wie die<br />

Schilderung der liturgischen Abfolge eines Gottesdienstes an: ´Im Walde bei Darmstadt heißt eine<br />

hügelige Erhebung der Herrgottsberg. Dorthin pilgerten am Sonntag nachmittag die Massen des<br />

Volkes, um mit Tagore ein Fest zu feiern. (...) Und jubelnd fallen sie wieder ein mit ihren Liedern<br />

Deutschland, Deutschland über alles ... klingt's aus dem fernsten Umkreis und pflanzt sich<br />

orkanartig fort, bis der deutsche Wald vom Sange widerhallt; und sie grüßen ihn. Wer hat dich du<br />

schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben, und preisen Gott: Wir treten zum Beten ... und<br />

singen, im Herzen vereint mit der Natur und Tagores Empfinden; wir beten an die Macht der Liebe!<br />

[...]´ Nachdem Tagore die Gemeinschaft gesegnet hat, wird die deutsche Nation durch erneutes<br />

Singen geheiligt. Die Singenden verschmelzen, laut Dewitz Darstellung, betend zur mystischen<br />

Einheit, die über die Grenzen des heiligen Bezirks hinausgeht und die Natur mit umfaßt. Wie die<br />

Journalistin Lily Pringsheim anläßlich von Tagores zweitem Deutschlandbesuch 1926 in der<br />

linksintellektuellen Zeitschrift 'Der Querschnitt' beschrieb, handelte es sich jedoch weniger um<br />

einen Gottesdienst als um ein derbes Volksfest. Die Darmstädter Publizistin und Abgeordnete im<br />

Hessischen Landtag berichtete, daß die ganze Zeit ein großes Durcheinander geherrscht habe.<br />

Kritisch gegenüber jeder Verklärung des Festes beschrieb sie, daß die Gesänge, zu denen der<br />

Großherzog seine ´Kinder´ aufgefordert habe, nicht etwa spontan angestimmt worden seien,<br />

vielmehr habe es etwas gedauert, weil so viele Selters- und Bierwagen die Aufmerksamkeit der<br />

Leute in Anspruch genommen hätten. Die Bürger hätten Skat und Biergarten um des Ereignisses<br />

203


willen sein gelassen. Die Frauen hätten ihre in Zeitung gewickelten Kuchen ausgepackt, ihre<br />

Kinder hochgehoben und gesagt: ´Willste mal <strong>das</strong> Tagorche sehe? Da obbe der Mann im grauen<br />

Gimono is er!´ (...) Plötzlich seien ´teutonische Jungfrauen und Jünglinge mit bunten Kitteln und<br />

bloßen haarigen Beinen´ hervorgestürzt. ´Den Jungfrauen flatterten echte deutsche Zöpfe um ihre<br />

verschwitzten Gesichter, und sie tanzten Deutsche Volkstänze unter dumpfen Bardengesängen.<br />

[...] als Tagore in fassungsloser Hilflosigkeit nach seinem Wagen verlangte, spannten Jungfrauen<br />

und Jünglinge die feurigen Rösse aus und zogen den Weisen selbander durch die beglückte<br />

Volksmenge. Mehrere Intelligenzbrillen kamen unter die Räder, <strong>Menschen</strong>leben wurden nicht<br />

verletzt. Gebüsche und Beete litten sichtlich durch die Begeisterung, Staubwolken wirbelten, <strong>das</strong><br />

Volk raste hinterher, prächtig entfaltete sich deutsches Leben, deutsches Denken, deutsches<br />

Gemüt. Tagore reiste etwas erschöpft am Abend fort.´ Tagores Wirkung in der Jugendbewegung<br />

basierte nicht auf seinem gesellschaftlichen Status oder seiner politischen Macht, sondern auf<br />

seiner Ausstrahlung. Besonders sein väterlicher, beschützender und beruhigender Gestus wirkte<br />

anziehend auf die Jugendlichen, die sich oftmals im Generationskonflikt von ihren eigentlichen<br />

Vätern distanziert hatten, aber dennoch nach Leitbildern und Autoritäten suchten. Immer noch<br />

erinnere er sich daran, erzählte der damals 15jährige Pfadfinder Kurt Manck, wie Tagore sich<br />

plötzlich unter die Jugend gemischt habe, um die ihm zugestreckten Hände zu schütteln und<br />

Einigen - unter anderem auch ihm - die Hand aufzulegen. Charisma galt als wesentlicher<br />

Charakterzug, der einen Führer auszeichnete.“ 293<br />

So wie in Indien die frommen Hindus sich unter den tonnenschweren Wagen des Gottes Juggernaut<br />

warfen, um sich lustvoll von dessen eisernen Rädern zermalmen zu lassen, so geschah es in<br />

Darmstadt nicht; statt des Gottes Juggernaut fuhr Tagore auf dem Wagen, und statt <strong>Menschen</strong>leben<br />

forderte die Prozession nur leichten Sachschaden. Beide Berichte, der von Begeisterung gefärbte<br />

Hymnus von Dewitz und die spöttische Replik von Pringsheim, lassen einen Blick auf die jeweilige<br />

Seite der Medaille zu und zeigen in der Gesamtschau <strong>das</strong> Problem der bündischen Bewegung auf:<br />

Als elitäre Veranstaltung zu wenig massenwirksam, als Massenveranstaltung zu wenig elitär. Erst<br />

Adolf Hitler löste dieses Dilemma professionell auf.<br />

Gegen die teuflische Versuchung und Korruption des Westens<br />

Tagore alleine reichte noch nicht. Wie groß <strong>das</strong> Bedürfnis nach esoterischer Befriedigung war, zeigt<br />

<strong>das</strong> zeitgleiche Auftreten einer verbreiteten Dostojewski-Rezeption.<br />

„Noch niemals war Europa mit solchen feindlichen Elementen durchsetzt wie heute, es scheint<br />

ganz unterminiert, mit Pulver geladen zu sein und wartet nur auf den ersten Funken.“<br />

Solche und ähnliche finstere Prophezeihungen Dostojewskis trafen den intellektuellen Geschmack:<br />

die drohende Heraufkunft unheimlicher Mächte des Ostens, der russische Mensch mit seiner<br />

abgründigen Seele als Zerstörer und Erlöser des „verfaulten“ Westens. Diese Verheißungen deckten<br />

sich in ihrem Inhalt mit Nietzsches Lehre vom Seil über dem Abgrund.<br />

Arno Holz fasste <strong>das</strong> in die Zeilen:<br />

Zola, Ibsen, Leo Tolstoi<br />

Eine Welt liegt in den Worten.<br />

Eine Welt, die nicht verfault,<br />

Eine, die noch kerngesund ist.<br />

Unsre Welt ist nicht mehr klassisch,<br />

Unsre Welt ist nicht romatisch,<br />

Unsre Welt ist nur modern.<br />

Thomas Mann sprach 1920 von der „Herrschaft Dostojewskis über die europäische Jugend“,<br />

Ferdinand Avenarius widmete 1921 eine Nummer des „Kunst- und Kulturwarts“ der Dostojewski-<br />

Verklärung, von allen deutschen Verlagen wurden allein 1921 203.000 Dostojewski-Bücher verkauft.<br />

Oswald Spengler hielt in „Preußentum und Sozialismus“ fest:<br />

293 Heilserwartungen in den 20er Jahren, Vortrag von Rita Panesar, HfBK<br />

204


„Das Russentum sieht in der Welt des Kapitalismus einen Feind... empfindet <strong>das</strong> Denken in Geld<br />

als Sünde. Die Maschinenindustrie ist ihrem Geiste nach unrussisch...und <strong>das</strong> schweigende<br />

Russentum der Tiefe hat sich inzwischen längst vom Westen abgewandt und blickt nach Asien.“<br />

Dostojewskis Roman-Helden sind idealistische Träumer, die an <strong>das</strong> Gute bis zum Exzess glauben und<br />

damit oft gegen Widerstände auflaufen, bis zum Scheitern. In dieser Rolle konnte man sich als<br />

Nachkriegsdeutscher wiedererkennen, wenn man selbst etwas spinnerig war.<br />

Er sei Veränderer der psychischen Situation von Generationen gewesen (Jakob Wassermann), er sei<br />

zum bleibenden Bestandteil deutschen Geistes geworden (Theoderich Kampmann), mythische<br />

Urgestalt (Stefan Zweig), er habe keine edle, sondern eine dämonische Seele, was ihm einen Zug<br />

ewiger Wesenheit verleihe (Eduard Thurneysen), er sei die Höllenfahrt des Sünders und die<br />

Auferstehung des Heiligen (Werner Mahrholz). Thomas Mann sprach von der heiligen russischen<br />

Literatur, vom Kampf ums neue <strong>Menschen</strong>tum, die neue Religion, der nirgends kühner und inniger<br />

geführt werde, als in der russischen Seele. Arthur Luther schrieb 1923:<br />

„Noch nie ist der deutsche Büchermarkt so mit Übersetzungen aus dem Russischen<br />

überschwemmt gewesen, wie heute...Die Russen haben uns plötzlich ungemein viel zu sagen, -<br />

nicht bloß weil wir uns ihnen schicksalsverwandt fühlen, nicht bloß weil man vielfach glaubt, nur der<br />

Anschluß an Russland könne uns aus unseren politischen und sozialen Nöten helfen, sondern weil<br />

wir in den Erlebnissen der russischen Seele vieles entdeckt haben, was uns unmittelbar ergreift,<br />

was unserem eigenen Erleben entspricht.“ 294<br />

Die deutsche Intelligentsia sah in den Spiegel der russischen Literatur und erkannte sich als<br />

erniedrigte und beleidigte Versailler Leberwurst.<br />

Wie im Falle Tagores gab es auch gegen die Dostojewski-Hysterie aufgeklärten Widerstand. Unter<br />

dem Pseudonym „Sir Galahad“ (die Anonymität lässt in <strong>das</strong> stürmische Wasserglas der künstlerischen<br />

Stimmung tief blicken) schrieb Berta Diener-Eckstein 1925 ihren „Idiotenführer durch die russische<br />

Literatur“: mit Dostojewskis Idioten habe die systematische Welthetze auf den vornehmen <strong>Menschen</strong><br />

begonnen. Josef Hofmiller assistierte in den Süddeutschen Monatsheften:<br />

„Dass Dostojewskis Geistigkeit eine Vorform des Bolschewismus ist; <strong>das</strong>s Lenin und Trotzki nur<br />

ernten, was er gesät hat.“ 295<br />

War es ein Zufall, <strong>das</strong>s es mit Sir Galahad ausgerechnet eine Frau war, die den intellektuellen<br />

Aufstand gegen die reformistische Verblödung der Weimarer Männergesellschaft probte?<br />

Mit dem realen Sozialismus in Sowjetrußland als Folge des naturgesetzlichen Reifens der<br />

kapitalistischen Produktionsverhältnisse war es nicht weit her. Diese Kunde erreichte selbst die<br />

ungebildeten Litteraten. Nur die Stalinisten warfen ein marxistisches Mäntelchen über den<br />

elitaristischen Revolutionsbetrieb. In den folgenden Jahrzehnten war man in der Geschichts-Abteilung<br />

der KPdSU fleißig bedacht, alle Spuren zu verwischen, die in die rechte Ecke führten. Die<br />

rußlandfreundlichen Zitate von Thomas Mann, Alfons Paquet, Ernst Jünger und Ernst von Salomon<br />

hielt man lieber im sogenannten Giftschrank verschlossen, ebenso wie Lenins Besuch auf dem Monte<br />

Veritá.<br />

Auch die hinsichtlich des Verhältnisses Lenins zum Marxismus scharfsinnigen Analysen, veröffentlicht<br />

von Joseph Goebbels 1925 in den „Nationalsozialistischen Briefen“, verschwieg man geflissentlich:<br />

Seit dem Tode Lenins und der Ausschaltung Trotzkis vollziehe sich derselbe Prozeß der völkischen<br />

Reinigung wie in Deutschland. Russland werde im Geiste Dostojewskis erwachen. Ein vom jüdischen<br />

Internationalismus befreites und zum sozialistischen Nationalstaat transformiertes Russland werde der<br />

uns von Natur gegebene Bundesgenosse gegen die teuflische Versuchung und Korruption des<br />

Westens sein. „Lenin opferte Marx und gab dafür Russland die Freiheit...“ Nach einer Rasputin-<br />

Roman-Lektüre revidierte er diesen Standpunkt wieder und sah sich als Bewahrer Deutschlands vor<br />

der viehischen Grausamkeit. 296<br />

294 Zitate aus Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, München 2005, S. 349 ff.<br />

295 s.o. S. 352<br />

296 s.o. S. 401 f.<br />

205


Hannah Ahrendt wehrte rückblickend im ihrem Ersten Teil der „Elemente und Ursprünge totaler<br />

Herrschaft“ die panslawistische Kulturpropaganda gegenüber Europa, wie sie von Dostojewski<br />

betrieben wurde, ab: In dieser Literatur, entstanden in bürokratisch-despotischer Willkür und trägem<br />

Chaos, sei in einer schier unendlichen Variation von Einfällen <strong>das</strong> flache, sterile und nur zivilisierte<br />

Europa, <strong>das</strong> nicht weiß, was Leiden und Opfer sind, der Tiefe und ursprünglichen Gewalttätigkeit<br />

Russlands gegenübergestellt worden. Stets habe es dem Leser so erscheinen müssen, <strong>das</strong>s die<br />

östliche Seele unendlich reicher, ihre Psychologie unendlich komplizierter und ihre Literatur unendlich<br />

tiefer sei, als die der westlichen Völker. 297<br />

Die Masse der Intellektuellen trabte im reformistischen Zug der Lemminge. In der russischen Seele<br />

wurde die „junge Seele“ erkannt. Alfred Henschke (Klabund), der uns schon als Kriegstreiber<br />

begegnet war, schrieb:<br />

„Die nächste Zukunft der Erde hängt von den großen Völkern ab, in denen Gottes Traum am<br />

lebendigsten geträumt wird: von Russland und Deutschland.“ 298<br />

Der Liebe Gott hatte ein Einsehen und ging wie gewöhnlich eigene Wege.<br />

In dieser jugendbewegten intellektuellen Atmosphäre kam es in Berlin schnell zu einem Exodus der<br />

russischen Emigrantenszene. Mitte der zwanziger Jahre verließ dieses Klientel „gewesener<br />

<strong>Menschen</strong>“ aus Sozialdemokraten, Liberalen und Monarchisten fast fluchtartig Deutschland. Es war in<br />

diesem literarischen Schafs- und Affenstall mit seinem rotbraunen Pestgestank für normale <strong>Menschen</strong><br />

einfach nicht mehr auszuhalten.<br />

Der Vertrag von Rapallo<br />

Im August 1921 begann der dramatische Verfall der Reichsmark; Matthias Erzberger wurde von<br />

Freischärlern ermordet. Reichspräsident Ebert erließ darauf die Verordnung zum Schutze der<br />

Republik. Im Oktober 1921 wurde durch den Völkerbund ein Teil Oberschlesiens Polen zugeordnet.<br />

Vorausgegangen war am 20. März eine Volksabstimmung, bei der es in 664 Gemeinden eine<br />

deutsche und in 597 Gemeinden eine polnische Mehrheit gegeben hatte. Die mehrheitlich deutschen<br />

Gemeinden blieben bei Deutschland, die mehrheitlich polnischen wurden an Polen abgetreten. Das<br />

war nach drei blutigen Bürgerkriegen im August 1919, im August 1920 und im Mai 1921 in der<br />

unübersichtlichen ethnischen Gemengelage sicher eine vernünftige Lösung. Aus Protest gegen diese<br />

vernünftige Teilung Oberschlesiens wählte die deutsche Reichsregierung aus Zentrum, SPD und DDP<br />

die inzwischen bereits verschlissene Politposse eines theatralischen Rücktritts als Skandalisierung<br />

und inszenierte Empörung. Keiner der Minister beging Selbstmord und fast alle saßen nach wenigen<br />

Tagen noch im Oktober wieder am Kabinettstisch, als wäre nichts gewesen. Es war ja auch nichts<br />

gewesen. Das Jahr 1922 begann mit Streiks. Im März wurden die Besatzungskosten mit 220 Mio. RM<br />

festgesetzt, die zusätzlich zu den Reparationen zu zahlen waren. Am 15. Februar 1922 wurde <strong>das</strong><br />

Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat beschlossen. Im März<br />

erfolgten wieder kleinere Gebietsabtretungen an Polen und die Steuern wurden erhöht. Unter<br />

anderem wurde die Vermögenssteuer eingeführt. Im April wurde am Rande der Wirtschaftskonferenz<br />

von Genua der Vertrag von Rapallo mit Rußland unterzeichnet. Die beiden Aussätzigen im<br />

Nachkriegs-Krankenhaus Europa beschlossen darauf zu verzichten, sich für ihre Kriegsverletzungen<br />

gegenseitig zu entschädigen.<br />

Am 31. Januar 1922 war Walther Rathenau Reichsaußenminister geworden. Seine Hauptaufgabe<br />

bestand darin, die schwebenden Reparationsleistungen herunterzuverhandeln. Das war die<br />

Hauptaufgabe aller Außenminister der Republik. Im April 1922 gab es die erste Gelegenheit dazu,<br />

denn der englische Premier Lloyd George hatte eine europäische Wirtschaftskonferenz nach Genua<br />

eingeladen. Hintergrund war der Wunsch, dem darniederliegenden Außenhandel neue Impulse zu<br />

verleihen. Auch Deutschland und Sowjetrußland waren Gäste. Von Sowjetrußland erwartete oder<br />

erhoffte man die Anerkennung der Vorkriegsschulden.<br />

Im Auswärtigen Amt hielten sich zahlreiche kaiserliche Diplomaten an ihren Stühlen fest, so auch Ago<br />

von Maltzan in der Ostabteilung. In der Stunde der Not erinnerte man sich offensichtlich an die Mühle<br />

von Tauroggen und an die Maßnahmen, die bei der französischen Besetzung 1807 bis 1814 getroffen<br />

297 s.o. S. 352<br />

298 s.o. S. 360<br />

206


wurden. Maltzan drängte in Erinnerung der russisch-preußischen Waffenbrüderschaft auf die<br />

Verbesserung der Beziehungen zu Sowjetrußland. Wer in Sowjetrußland gerade herumherrschte, war<br />

ihm dabei offenbar Wurst. Gleichzeitig war seit 1922 im Auswärtigen Amt von einer "Wiederaufnahme<br />

des Mitteleuropagedankens in veränderter Form" die Rede, wie Mommsen in "Aufstieg und Fall der<br />

Weimarer Republik" erwähnt.<br />

Eine Gelegenheit, die durch den Weltkrieg abgeschnittenen Bande nach Russland wieder zu<br />

verknüpfen bot sich ab 1921. In Sowjetrußland herrschte eine durch die Revolution verursachte<br />

verheerende Hungersnot, der etwa 40 Millionen Russen und Einwohner der russischen Kolonien zum<br />

Opfer fielen. Maxim Gorki verfasste einen Hilferuf an die internationale Gemeinschaft, der die Bitte um<br />

Lebensmittel- und Arzneimittelhilfe enthielt. Deutschland hatte schon in der Vorkriegszeit<br />

medizinisches Wissen als Beitrag im Sinne einer "Weltpolitik als Kulturmission" exportiert und war<br />

nicht unvorbereitet. „Die Dienstleistungen eines eigens für solche Fragen geschaffenen Referats in der<br />

Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes erstreckten sich von der Nachrichtenbeschaffung über<br />

auswärtige Medizinalangelegenheiten und der Geldbeschaffung bis hin zur Bereitstellung von<br />

Informationen über <strong>das</strong> deutsche Medizinalwesen. Grundsätzlich galten für die Medizin die gleichen<br />

Richtlinien, wie sie Außenminister Walter Simons (1861-1937) im Januar 1921 im Hauptausschuß des<br />

Reichstages für die auswärtige Kulturarbeit umrissen hatte: An eine offensive imperialistische<br />

Kulturpropaganda nach französischem Muster sei nicht mehr zu denken; Deutschland müsse sich<br />

vielmehr damit begnügen, durch herausragende Leistungen auf "sachlichem, wissenschaftlichem und<br />

technischem" Gebiet, aber auch "durch Festhalten an der deutschen Art" <strong>das</strong> Ansehen des Reiches<br />

im Ausland wiederherzustellen und zu festigen. Dabei hatte Simons die bedeutungsvolle Tätigkeit<br />

deutscher Ärzte im Ausland unterstrichen, die in herausragender Weise geeignet sei, einer solchen<br />

Zieldefinition zu entsprechen. ... Eines der ersten westlichen Länder, dessen Regierung sich um eine<br />

zentrale Hunger- und Medikamentenhilfe für Rußland bemühte, war die junge Weimarer Republik.“ 299<br />

Motor der Initiative war Walther Rathenau, der ohnehin der Meinung war, <strong>das</strong>s im Osten die Sonne<br />

aufgehe. Er bat Gerhart Hauptmann, den Hilfsappell Maxim Gorkis zu beantworten. Derselbe<br />

Hauptmann, der bei Kriegsausbruch auf den bellizistischen Pauken herumgetrommelt hatte, spielte<br />

nun die Friedensschalmei:<br />

"Was aber <strong>das</strong> deutsche, schwergeprüfte, doch allzeit hilfsbereite Volk betrifft, so ist es schon<br />

heute durch den Ruf aus dem Osten tief erregt und bewegt, und ich darf getrost sagen, daß Volk<br />

und Reichsregierung in dem innigen Wunsch einig sind, nach bestem Vermögen tatkräftige Hilfe zu<br />

leisten".<br />

Auf Rathenaus Einladung trafen sich im August 1921 beim Deutschen Roten Kreuz prominente<br />

Mitglieder der Deutschland-AG wie Borsig, Bosch, Duisberg, Hugenberg, Thyssen, Stinnes, Siemens,<br />

Einstein, Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann um medizinische Hilfe für Russland voranzutreiben.<br />

„Der Vorgang war offensichtlich auch außenpolitisch nicht ohne Brisanz. Dem Auswärtigen Amt<br />

ging es vermutlich bereits in der Frühphase der Hilfsaktion keineswegs nur um altruistische oder<br />

seuchenpräventive Ziele, sondern um handfeste außenpolitische Interessen. Offensichtlich sollte<br />

die Hilfe für die Sowjetunion die Bereitschaft einer kulturellen und handelspolitischen Öffnung nach<br />

Osten signalisieren. An großer Presse war man auch deswegen nicht interessiert. Dies belegt eine<br />

interministerielle Demarche des Außenministers durch seinen Legationsrat Herbert Hauschild vom<br />

6. Dezember 1921. Das Auswärtige Amt habe , dabei müßten aber ; in Frankreich verfolge<br />

man . ... Am 17.<br />

September 1921 verließ <strong>das</strong> DRK-Sanitätsschiff Triton vollbeladen den Hafen Stettins und<br />

erreichte Petrograd sechs Tage später. Die "Hungerhilfe" Deutschlands für Rußland war<br />

angelaufen.“ 300<br />

Eine der wichtigsten Personen vor Ort im Katastrophengebiet war der Hygieniker Heinz Zeiss (1888-<br />

1949). Er blieb auf Bitten des sowjetrussischen Chemotherapeutischen Instituts noch 1924 bis 1932<br />

in der Sowjetunion. „Neben seinen vermutlich geringen Gehältern aus diesen neuen Funktionen<br />

erhielt Zeiss nach der Schließung der Bakteriologischen Zentralstelle – spätestens seit Dezember<br />

1924 – auch direkte Zuwendungen aus dem Etat des Auswärtigen Amtes, die ihm über die Deutsche<br />

299 Prof. Dr. <strong>Wolfgang</strong> Eckart, Institut für Geschichte der Medizin, Heidelberg, Copyright © Pressestelle der<br />

Universität Heidelberg<br />

300 s.o.<br />

207


Botschaft in Moskau zuflossen. Hierfür hatte sich der deutsche Botschafter in der Sowjetunion, Ulrich<br />

Graf von Brockdorff-Rantzau (1869-1928), "im Interesse der Ausgestaltung" der "kulturellen wie<br />

politischen Beziehungen" zur Sowjetunion persönlich eingesetzt. Eine finanzielle Unterstützung der<br />

nützlichen Rolle des Hygienikers für die deutsch-sowjetischen Beziehungen erscheine "gerade im<br />

gegenwärtigen Augenblick um so notwendiger (…) als von französischer Seite bereits von langer<br />

Hand vorbereitete Versuche unternommen" würden, die russische medizinische Welt unter<br />

französischen Einfluß zu bringen". 301<br />

Im Jahre 1932 verließ Heinz Zeiss die Sowjetunion, noch dorten war er 1931 der NSDAP beigetreten.<br />

Zu einer Zeit, als sich Mussolini und Stalin gegenseitig politische Tips gaben, war <strong>das</strong> kein Affront. Die<br />

Öffentlichkeit nahm die elitaristischen Diktaturen der zwanziger und dreißiger Jahre als eine<br />

aktivistische Einheit wahr, <strong>das</strong> große Schisma zwischen den Heilslehren wurde erst später verkündet.<br />

Zurück ins Jahr 1922. Rathenau stand vor der Option, sich für die Erlangung der englischen<br />

Unterstützung bei der langsamen Revision des Versailler Vertrags zu entscheiden, oder den Versuch<br />

zu wagen, die Alliierten durch den Abschluß eines Vertrages mit Rußland zu provozieren oder gar<br />

einen Erpressungsversuch zu wagen. Wenn ihr unsere Wünsche und Belange nicht akzeptiert, so<br />

verbünden wir uns eben mit Rußland, so lautete die politische Botschaft. Als außenpolitischer<br />

Wiedergänger Wilhelms I. entschied sich Rathenau nicht für geduldiges Verhandeln, sondern für die<br />

außenpolitische Provokation. Es war jedoch Kanonenbootpolitik ohne Kanonenboote; wo Wilhelm mit<br />

dem Säbel gerasselt hatte, hatte er noch einen gewissen Respekt abfordern können; nun handelte es<br />

sich um leere Drohungen, ohne über wirkliche Machtmittel zu gebieten.<br />

In Rapallo trafen sich Reichskanzler Wirth (mit Bauch), die russischen Kommissare Krassin (mit<br />

Spitzbart), Tschitscherin und Joffe (beide mit Spitzbart und Brille). Spitzbart, Bauch und Brille – <strong>das</strong> ist<br />

nicht des Volkes Wille.<br />

Zu Hause angekommen, verkauften Rathenau und sein unfähiger Chef, der Reichskanzler Wirth, den<br />

Vertragsabschluß als Erweiterung des deutschen Handlungsspielraums. Reichspräsident Ebert war<br />

eher Schüler August Bebels sowie Karl Marxens und insofern mehr der Westbindung Deutschlands<br />

zugeneigt. Der Reichspräsident war not amused, da man ihn bei der Entscheidung übergangen hatte.<br />

Gerade an dieser Episode wird deutlich, daß der SPD nicht immer und überall der schwarze Peter<br />

zugeschoben werden sollte. In der Rapallo-Frage wurde die SPD von ihren Koalitionspartnern "links<br />

überholt", besser: die Partner Rathenau und Wirth erinnerten sich eher an die Tage von Tauroggen<br />

und für Rathenau gilt darüber hinaus der Verdacht der reformatorischen Überzeugung: "Im Osten geht<br />

die Sonne auf".<br />

In alle Aktivitäten der Sondergruppe „R“ war der Reichspräsident nicht eingebunden. Erst im Juni 1921<br />

wurden Reichskanzler Wirth, Reichswehrminister Geßler und Ago von Maltzahn über die<br />

Rüstungsabsprachen der Reichswehr mit Sowjetrußland informiert. Im Sommer 1922 stellte der<br />

Außenminister Brockdorf-Rantzau fest, <strong>das</strong>s Ebert und die Parteiführer immer noch nichts wussten.<br />

Die Verschwörer wussten inzwischen offensichtlich ganz genau, wen sie einweihen konnten und wen<br />

nicht, wer die finsteren Pläne akzeptierte, und wer ihnen im Wege gestanden hätte, wenn, ja wenn er<br />

denn etwas gewusst hätte.<br />

Zwischen Kommissar Tschitscherin und Reichskanzler Wirth wurde nach dem Abschluß des Vertrags<br />

von Rapallo über die Wiederherstellung der gemeinsamen Grenze von 1914 gesprochen. General von<br />

Seeckt freute sich darüber und verfasste im September 1922 ein Memorandum mit folgendem Inhalt:<br />

„Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß<br />

verschwinden und wird verschwinden durch eigene Schwäche und durch Russland mit deutscher<br />

Hilfe.“ Bei den Verhandlungen mit der Roten Armee werde die deutsche Regierung natürlich offiziell<br />

ausgeschaltet bleiben, um internationale Konflikte zu vermeiden. 302<br />

Die diplomatische Katastrophe von Rapallo führte in <strong>das</strong> Abenteuer des Konflikts mit Frankreich und<br />

der spätere Außenminister Stresemann hatte jahrelang am zerschmissenen außenpolitischen<br />

Porzellan zu reparieren und zu kitten. England, <strong>das</strong> bis dato eine ausgleichende Rolle spielte, wurde<br />

für einige Zeit an die Seite Frankreichs zurückgedrängt, der französische Premier Poincaré verstand<br />

<strong>das</strong> Verhalten Rathenaus als Kriegerklärung für den Status Quo und drohte militärische Interventionen<br />

gegenüber Deutschland an, die früher als in Deutschland erwartet, auch zur Ausführung kamen. Der<br />

301 s.o.<br />

302 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 296 ff.<br />

208


Rapallo-Vertrag war zwar nicht der Anlaß, aber der Grund für die Ruhr-Besetzung. Der Ruhrkampf ist<br />

weniger <strong>das</strong> Werk des Kanzlers Cuno, der die Detailplanung lieferte, als des Außenministers<br />

Rathenau, der den Entwurf beisteuerte und schon tot war, als klar wurde, was er angerichtet hatte.<br />

Während Deutschland mit seinen diplomatischen Muskeln spielte, ohne für die Folgen einer<br />

ernsthaften Meinungsverschiedenheit wirklich gerüstet zu sein, revidierte die Türkei die<br />

Nachkriegsordnung in Gestalt des Vertrages von Sevres mit bewaffneter Gewalt. Der Krieg der Türkei<br />

zur Revision der Nachkriegsordnung war erfolgreich; zusätzlich wurde die Türkei ethnisch von den<br />

orthodoxen Griechen gesäubert. Frankreich trug Sorge, daß <strong>das</strong> in den Gefrierbeuteln des Versailler<br />

Vertrags aufbewahrte Deutschland ähnlich schnell wieder auftauen und zu alter Stärke erwachen<br />

könnte.<br />

Der Vertragsabschluß mit Russland war eine deutsche Provokation, ohne tatsächlich die Machtmittel<br />

zu besitzen, um auch nur zu maulen. Die Beschaffung der noch fehlenden militärischen Machtmittel<br />

wurde jedoch nicht aus den Augen verloren. Die tatsächlichen Auswirkungen des Vertrags mit<br />

Rußland bestanden in der Folge in einer militärischen Zusammenarbeit zwischen Rußland und<br />

Deutschland. Im Reichswehrministerium bestand eine "Sondergruppe R", die geheime<br />

Rüstungsvereinbarungen mit Sowjetrußland anbahnte. Insbesondere ging es um die Umgehung der<br />

allierten Verbote von bestimmten schweren Waffen. Auch von diesen Verhandlungen wußte der<br />

Reichspräsident wieder nichts. Weiterer Hintergrund der Verhandlungen mit Rußland war wie immer<br />

die Beseitigung Polens.<br />

Nach Rapallo<br />

Im Juni 1922 wurde der Reformist Walter Rathenau von noch radikaleren Reformisten erschossen.<br />

Der Hintergrund ist sicher nicht in seiner die Kriegswirtschaft unterstützenden Rolle im Weltkrieg und<br />

nicht in seiner der Mitteleuropakonzeption verpflichteten Außenpolitik zu vermuten, stärkte er doch<br />

gerade denen den Rücken, die aus dem Versailler System ausbrechen und Frankreich provozieren<br />

wollten. Als Tatmotiv scheidet auch die Zugehörigkeit Rathenaus zur Jugendbewegung aus und seine<br />

wortreichen Anklagen gegen <strong>das</strong> Maschinenzeitalter. Die Gründe für seine Ermordung dürften<br />

vielmehr ethnischer und außenpoltischer Natur sein. Die völkische Seite hetzte gegen ihn; wegen<br />

seiner Rolle als Kriegswirtschaftsführer wurde er dem Verdacht ausgesetzt, Kriegsgewinnler zu sein.<br />

Auch Philipp Scheidemann (SPD) äußerte beispielsweise sein Mißbhagen über die Vergabepraxis bei<br />

Granaten:<br />

"Auffällig sei, daß die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft Bestellungen auf Granaten in großem<br />

Umfang bekomme, sie aber nicht selbst ausführe, sondern die Lieferung weitergebe und sich nur<br />

sehr erheblich am Gewinn beteilige. Rathenau kommt für die Kriegs-Rohstoff-Gesellschaft als<br />

kaufmännischer Ratgeber in Betracht. Hoffentlich empfiehlt er der Gesellschaft nicht <strong>das</strong><br />

Verfahren, <strong>das</strong> die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft bei den Granatenaufträgen anwende."<br />

Eine nüchterne Analyse des Vermögenszuwachses der deutschen Rüstungsindustrie durch den Krieg<br />

hielt einer in diesem Maße kritischen Argumentation jedoch nicht stand. Nicht nur linke Söhne und<br />

Enkel der Jugendbewegung gaben nach dem Krieg dem Gewinnstreben der Rüstungsindustrie die<br />

Schuld am Kriegsausbruch, auch völkische Intellektuelle handelten mit diesem Argument. Es tauchte<br />

in der Agitation der KPD genauso auf, wie im Programm der NSDAP oder in der „Weltbühne“. Bei der<br />

Kriegsgewinnlüge handelte sich um billige Wandervogelagitation. Bereits Karl Marx wusste, <strong>das</strong>s bei<br />

Krieg und Kriegsgefahr die Aktienkurse in den Keller rutschen. Das war vor der Entfernung von<br />

Saddam Hussein aus dem Präsidentenamt noch genauso: der Dax bewegte sich bei 2300 Punkten,<br />

ein Jahr später bei 5000.<br />

Der zweite Grund ergab sich aus einer abweichenden Konzeption der Attentäter zum Umgang mit<br />

dem bolschwistischen Russland. Über die außenpolitische Präferenz eines Bündnisses mit Russland<br />

gegen den Westen waren sich Rathenau und seine Mörder weitgehend einig. Anfang der zwanziger<br />

Jahre hielten einige rechte Intellektuelle den Sturz der Bolschewiken und eine Wiederaufrichtung des<br />

orthodoxen Russlands, mit oder ohne Zarenherrschaft für möglich und den Sturz der Bolschewiken für<br />

wünschenswert. Insbesondere die bis zur Mitte der 20er Jahre zahlreich in Berlin ansässigen<br />

Emigranten warben für diese Option. Der jüdische Außenminister Rathenau habe in Rapallo den vom<br />

Sturz bedrohten Henkern des russischen Volkes die helfende Hand gereicht, so <strong>das</strong>s fortan auch auf<br />

209


Deutschland <strong>das</strong> Odium der Ausbeutung Russlands lasten werde, schrieb der völkische Alfred<br />

Rosenberg in seiner Schrift „Die Pest in Russland“.<br />

Anders wertete Kapitän Hermann Erhardts Zeitschrift „Wiking“ den Vertrag. Ehrhardt zollte dem<br />

Reichsaußenminister und dem Rapallo-Vertrag fast uneingeschränkte Anerkennung. 303<br />

Einem der Drahtzieher des Mords an Rathenau wurde die ganze Verquastheit und Verkehrung der<br />

Anschuldigungen spät bewußt. Ernst von Salomon, der bis 1930 für den Mord gebrummt hatte,<br />

gründete in den fünfziger Jahren die in den dreißiger Jahren verbotene Walter-Rathenau-Gesellschaft<br />

neu. Hintergrund war der krankhafte Antiamerikanismus v. Salomons, den er in der Rathenau-<br />

Gesellschaft zielgerichtet bedienen konnte. Spät wurde dem bekennenden Preußen v. Salomon<br />

bewußt, daß Rathenau als Repräsentant der Mitteleuropakonzeption kein Westler war, sondern ein<br />

Ostler. Im Amerika-Fieber der 50er wurde Rathenau für die Preußen-Fans wieder zum Halt, in der<br />

aufgeheizten Atmosphäre der 20er glaubte v. Salomon mehr erreichen zu können und derselbe<br />

Rathenau wurde mal als Erzkapitalist, mal als jüdischer Bolschwistenförderer, mal als Symbolperson<br />

für die verhaßte parlamentarische Republik wahrgenommen und beseitigt.<br />

Ein zeitgenössischer Knittelvers aus dem studentisch-soldatischen Milieu scheint <strong>das</strong> zu untermauern:<br />

" Knallen die Gewehre – tak, tak, tak<br />

Aufs schwarze und aufs rote Pack.<br />

Auch der Rathenau, der Walter,<br />

erreicht kein hohes Alter.<br />

Knallt ab den Walter Rathenau,<br />

Die gottverfluchte Judensau!"<br />

Das Gedicht verlangt eine Replik, da es in zwei Zeilen gleich gegen zwei Gesetze verstößt: Du sollst<br />

den Namen des Herrn, deines Gottes nicht unnützlich führen; denn der Herr wird den nicht ungestraft<br />

lassen, der seinen Namen miss<strong>braucht</strong>. Du sollst nicht töten. 304 Es zeigt die erfolgte Ablösung der<br />

reformistischen Gedichtverfasser und –verwender von traditionell-konservativen religiösen<br />

Überzeugungen. Ein frommer Katholik hätte <strong>das</strong> Wörtchen „gottverflucht“ höchstens betrunken oder<br />

im Affekt verwendet, auch ein frommer Protestant hätte sich zuerst die Dauer des Fegefeuers<br />

ausgerechnet, welches die unbedachte Verwendung dieses Adjektivs hätte nach sich ziehen müssen.<br />

Eine Zuordnung der Rathenaufeinde (<strong>das</strong> waren deutlich mehr als die Rathenaumörder) zu<br />

traditionellen konservativen Überzeugungen scheidet also deutlich aus. Wir befinden uns im<br />

Grenzbereich zwischen einem in den Suppenkesseln der Wandervögel weichgekochten<br />

Konservatismus und bereits unverhohlen völkischen Überzeugungen, die eindeutig atheistischneokonservativ<br />

waren. Warum hätte man sonst tak, tak, tak aufs schwarze Pack schießen sollen?<br />

Reichskanzler Wirth pries seinen getöteten Außenminister am 25. Juni 1922 im Reichstag in den<br />

höchsten Tönen:<br />

„Niemals habe ich einen Mann edlere vaterländische Arbeit verrichten sehen, als Dr. Rathenau.“<br />

Gute Arbeit für die Festigung der Demokratie hat Rathenau natürlich nicht geleistet, weil er die<br />

diktatorische Wirtschaftsverfassung Deutschlands verschärfte. Ein Marxist, der die<br />

Wirtschaftsverfassung als entscheidenden Baustein für die Staatsverfassung hält, müßte zum Schluß<br />

kommen, <strong>das</strong>s kein deutscher Politiker einer späteren Diktatur mehr in die Hände gearbeitet hat, als<br />

Rathenau. Als Nichtmarxist muß man <strong>das</strong> natürlich relativieren. Gute Arbeit war auch <strong>das</strong> Rapallo-<br />

Abkommen nicht, weil es kurzfristig die internationalen Spannungen verschärfte. Diese<br />

Zusammenhänge ließ Wirth völlig unter den Tisch fallen. In ein und derselben Rede stellte er fest,<br />

<strong>das</strong>s der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt, rechts stehe, um im Sinne dieser<br />

Rechten sogleich den Völkerbund für die dem Abstimmungsergebnis gemäße Teilung Oberschlesiens<br />

zu geißeln:<br />

„Die Entscheidung in Oberschlesien war <strong>das</strong> größte, <strong>das</strong> himmelschreiendste Unrecht, <strong>das</strong>s dem<br />

deutschen Volke durch den Bruch des Versailler Vertrags angetan werden konnte.“<br />

303 Gerd Koenen, Der Russland-Komplex, München, 2005, S. 340<br />

304 2. Buch Mose Kap. 20, Es handelt sich um <strong>das</strong> zweite und <strong>das</strong> fünfte Gebot, welches Gott einem Juden<br />

offenbart hatte.<br />

210


Da war er wieder, der deutsche Anspruch sich als Kolonialmacht mitten in Europa aufzuspielen. So<br />

groß wie behauptet war der Abstand zwischen Rechts, der Mitte und Links eben nicht. Eigentlich gab<br />

es überhaupt keinen Unterschied in wesentlichen Fragen.<br />

Ab August 1922 kam es zu einem weiteren dramatischen Verfall der Reichsmark, die Regierung<br />

erklärte die Unfähigkeit zu Reparationszahlungen, Frankreich drohte mit Strafmaßnahmen und<br />

forderte "produktive Pfänder" bei Nichterfüllung von Verpflichtungen.<br />

Im Dezember 1922 vereinigte sich die Rest-USPD mit der SPD. In der SPD bedeutete diese<br />

Wiedervereinigung eine Rückwanderung von Parteimitgliedern mit dem politischen Format Rudolf<br />

Breitscheids.<br />

Der Rapallo-Vertrag hatte allen aufgezeigt, welch schwächlicher Papiertiger der Völkerbund war. Auch<br />

die Schwächsten konnten ihm auf der zahnlosen Schnauze herumtanzen. Das erkannten die Litauer,<br />

die am 10.1.1923 in <strong>das</strong> von Frankreich besetzte und verwaltete Memelland einmarschierten, was die<br />

Zerbrechlichkeit der Versailler Nachkriegsordnung erneut vor Augen führte. Frankreich und der<br />

Völkerbund wurden regelrecht vorgeführt, Deutschland wurde wiederum ein Teil seines Territoriums<br />

entrissen.<br />

Derweilen hatten die Türken unter Kemal Atatürk im August 1922 die griechische Armee vernichtend<br />

geschlagen. Am 9. September 1922 wurde die griechisch bewohnte Großstadt Smyrna erobert und<br />

rigoros abgefackelt. Eine Million Griechen wurden aus der Türkei vertrieben. Am 11. Oktober 1922<br />

schlossen die Siegermächte mit der Türkei <strong>das</strong> Waffenstillstandsabkommen von Mudanya, <strong>das</strong> die<br />

Souveränität der Türkei wiederherstellte. Im Friedensvertrag von Lausanne wurde der so gewonnene<br />

Status Quo am 24.Juli 1923 bestätigt.<br />

Nach Lausanne und Tilsit war allen klar: Die Siegermächte wollten die Ergebnisse des Weltkriegs<br />

nicht entschlossen mit der Waffe in der Hand festhalten und verteidigen. Die noch sehr ungefestigte<br />

Nachkriegsordnung stand offensichtlich zur Disposition.<br />

Nachrichten aus Italien<br />

„Einem guten Kriegsmanne klingt „du sollst“ angenehmer, als „ich will. Und Alles, was euch lieb ist,<br />

sollt ihr euch erst noch befehlen lassen.“ Nach dieser Anweisung Nietzsches entstanden in den<br />

zwanziger Jahren zahlreiche elitaristische Bünde, so auch in Italien.<br />

Bereits Ende 1921 hatte Mussolini die Fasci zu einer Partei umgeformt, zur Partito Nazionale Fascista.<br />

Etwa 200.000 Mitglieder repräsentierten ungefähr die Bevölkerungsstruktur Italiens, nur Studenten<br />

und Oberschüler waren überrepräsentiert. Wie die NSDAP in Deutschland waren auch die Fascisti<br />

Erben der Jugendbewegung der Vorkriegszeit. Von den Führungskadern waren 35 % Rechtsanwälte,<br />

22 % Schriftsteller und Redakteure und 6 % Lehrer. Auch diese Zusammensetzung entsprach<br />

bündischen Strukturen. Die Hälfte der Mitglieder des höchsten Leitungsgremiums waren ehemalige<br />

revolutionäre Linke; von den 136 Bundessekretären kamen 37 von der Linken, 22 waren Freimaurer.<br />

Ende 1921 stand die faschistische Liturgie entwickelt da: Zeremonien mit Fahnen und Sprechchören,<br />

Aufmärsche und pompöse Trauerfeierlichkeiten für die Gefallenen: Auf den Aufruf des Namens der<br />

gefallenen Kameraden antworteten die Spechchöre: "Presente!" (ist bei uns). Der Mythos des <strong>Neue</strong>n<br />

Rom wurde durch die Benennung der Einheiten der Schwarzhemdenmiliz nach römischen Legionen,<br />

Kohorten und Zenturien gefördert. Offene Rufe nach einer faschistischen Diktatur begleiteten diesen<br />

Vorgang. Anfang 1922 erklärte Mussolini: "il monde va a destra" - die Welt geht nach rechts, sie<br />

wende sich gegen Demokratie und Sozialismus, und <strong>das</strong> 20. Jahrhundert werde ein "aristokratisches"<br />

Jahrhundert neuer Eliten sein. Der Kult der Jugend und der direkten Aktion war auch in Italien vom<br />

Entwurf zur Ausführungsreife ausgebildet worden und befand sich im Stadium der Realisierung.<br />

Vom 1. bis 3. August 1922 organisierten die Sozialisten einen erfolglosen Streik gegen die Faschisten,<br />

die in der Po-Ebene und in Südtirol praktisch die Macht übernommen hatten. Am 28.10.1922<br />

marschierten die italienischen Faschisten nach Rom und Mussolini riß die Regierung an sich. Ein<br />

berufsständisch verfaßtes Regierungssystem hatte damit (wenn man von Mecklenburg-Strelitz und<br />

Fiume einmal absieht) erstmals seit 50 Jahren wieder auf dem europäischen Kontinent Fuß gefaßt.<br />

Als schlechtes Beispiel sollte <strong>das</strong> andere zu Nachahmungen verleiten.<br />

211


Nicht nur in Italien gab es einen imposanten Machtwechsel, fast gleichzeitig putschte und kämpfte sich<br />

beim ehemaligen Kriegsverbündeten Türkei Mustafa Kemal Pascha an die Macht.<br />

Während die Faschisten auf Rom marschierten, erwog der bayrische Innenminister Schweyer, den<br />

despotischen Ausländer Hitler endlich nach Österreich abzuschieben. Erhard Auer, der Vorsitzende<br />

der bayrischen Sozialdemokraten wandte sich dagegen, "demokratische und freiheitliche Grundsätze"<br />

sprächen dagegen. Mit diesem Argument muß er die anderen Münchner Parteigranden überzeugt<br />

haben. Zum Dank für den sozialdemokratischen Kampf um sein Bleiberecht als Verfolgter mit<br />

Migrationshintergrund organisierte Adolf Hitler einen Marsch durch Coburg, wohin ihn die<br />

vaterländischen Vereine eingeladen hatten. Er kam mit Sonderzug, 800 Mann, Fahnen und Musikzug<br />

und versetzte mit diesem Massenaufgebot schon auf dem Bahnhof die vaterländischen Honoratioren<br />

in eine berechtigte Unruhe. Der Marsch in die bereits von Verbandsfunktionären mit steifen Hüten<br />

besetzte Veranstaltungshalle erfolgte unter klingendem Spiel. Unmittelbar nach dem theatralischen<br />

Einmarsch ließ Hitler zurückmarschieren, um die alten Herren zu brüskieren. Da er eine Schlägerei<br />

provozieren wollte, erfolgte der Rückweg rückgreifend auf seine reiche Theatererfahrung unter<br />

Trommelwirbel. Bis in die Nacht dauerten die Prügeleien an, die Nationalsozialisten verließen die<br />

Stadt als Sieger und die Teilnehmer des Marsches bekamen zusätzlich zu ihren vergänglichen blauen<br />

Flecken noch eine unvergängliche Erinnerungsmedaille.<br />

Joachim Fest behauptet, daß Hitler lebenslang auf die geistige Kost der Kindheits- und Jugendtage<br />

angewiesen gewesen sei. Tristan und Mehlspeisen, Neoklassizismus und Judenhaß, Spitzweg und<br />

Sahnetorten. Kein Gedanke jenseits der Jahrhundertwende habe ihn je erreicht. 305 Das ist fast richtig,<br />

aber nicht ganz: D´Annunzios und Mussolinis politische Ästhetik wurde von Hitler ohne zeitliche<br />

Verzögerung rezipiert und weiterentwickelt. Wie ein Süchtiger stürzte er sich auf <strong>das</strong> <strong>Neue</strong>, aber <strong>das</strong><br />

<strong>Neue</strong> befriedigte seinen alten Drang zur vollendeten Dramatik und Ästhetik. Inzwischen sind Hitlers<br />

Malereien aus Flandern aufgetaucht, die durchaus als zeitgenössisch, angesehen werden können.<br />

Sein Interesse an Hörbigers Welteislehre (erschienen 1924) kam seinem bereits verfestigten Hang<br />

zum Katastrophenglauben entgegen. Die Überzeugung, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Weltklima zusammenbricht ist sehr<br />

deutsch.<br />

Wenn Joachim Fest vom <strong>Neue</strong>n in der Kunst nach der Jahrhundertwende schreibt, so meint er Alban<br />

Berg, Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Oskar Kokoschka oder Egon Schiele, die gerötete bis<br />

aufgeplatzte Gesichter in bunten Farben und atonale Melodien hinterließen. Diese Kunstrichtung<br />

entsprach Hitlers Auffassung von der Höherentwicklung des <strong>Menschen</strong> nicht, er verstand Nietzsche<br />

jedoch auch nicht so, wie Sascha Schneider und Adolph von Hoffmann ihn interpretiert hatten. Unter<br />

dem Gesichtspunkt der Expressivität waren die Provokationskünstler der abstrakten Moderne den<br />

militärischen Provokateuren, den Freischärlern und Rotarmisten der Nachkriegszeit nahe: Sie malten<br />

die <strong>Menschen</strong> oft so, sie vertonten die Welt so, wie die Freikorps und Reiterarmeen ihre<br />

Schlachtbänke verließen. Der gefühlsbetonte und -lastige expressionistische Impuls war derselbe.<br />

Während Mussolini nach Rom marschieren ließ, initiierte eine Gruppe von Mailänder Künstlern um<br />

Mario Sironi eine neue künstlerische Bewegung, Novecento Italiano. Diese Richtung gab sich<br />

volkstümlich und national italienisch und agierte gegen ausländische Einflüsse, insbesondere<br />

amerikanische. Mediterrane Ruhe und Harmonie in klaren und dreidimensionalen Formen waren die<br />

ästhetischen Grundpfeiler. Das sich neoklassizistisch gebende Novecento Italiano schuf stilisierte<br />

Gestalten, Aktfiguren, heroische Porträts, Allegorien der Tugend und Landschaften, die an Altertum<br />

und Renaissance erinnerten. 306<br />

Wer im Stalinismus groß geworden ist, würde vermuten, daß sich aus dem novecento ein<br />

faschistischer Staatsstil hätte entwickeln können, Mussolini hielt sich jedoch merklich zurück, eine<br />

bestimmte künstlerische Richtung zu präferieren.<br />

Der Student Rudolf Heß gewinnt ein Preisausschreiben<br />

Was muß passieren, damit es Deutschland wieder besser geht? Diese Frage beschäftigte 1922<br />

natürlich auch die zeitgenössische Publizistik. Da der Führerglauben weit verbreitet war, wurde in<br />

diesem Geiste ein Preisausschreiben mit der Fragestellung: "Wie wird der Mann beschaffen sein, der<br />

305 J. Fest: Hitler, Ullstein, S, 244<br />

306 Stanley Payne, Geschichte des Faschismus, Propyläen, S. 276<br />

212


Deutschland wieder zur Höhe führt" veranstaltet. Der Gewinner des Preisausschreibens hieß Rudolf<br />

Heß, der folgende Antwort ablieferte, die auf sein Idol, Adolf Hitler zugeschnitten war:<br />

"Tiefes Wissen auf allen Gebieten des staatlichen Lebens und der Geschichte, die Fähigkeit<br />

daraus Lehren zu ziehen, der Glaube an die Reinheit der eigenen Sache und an den endlichen<br />

Sieg, eine unbändige Willenskraft geben ihm die Macht der hinreißenden Rede, die die Massen<br />

ihm zujubeln läßt. Um der Rettung der Nation willen verabscheut er nicht, Waffen des Gegners,<br />

Demagogie, Schlagworte, Straßenumzüge usw. zu benutzen...Er selbst hat mit der Masse nichts<br />

gemein, ist ganz Persönlichkeit wie jeder Große.<br />

Wenn die Not es gebietet, scheut er auch nicht davor zurück, Blut zu vergießen. ...Er hat einzig<br />

und allein vor Augen, sein Ziel zu erreichen, stampft er dabei auch über seine nächsten Feinde<br />

hinweg.<br />

So haben wir <strong>das</strong> Bild des Diktators: scharf von Geist, klar und wahr, leidenschaftlich und wieder<br />

beherrscht, kalt und kühn, zielbewußt wägend im Entschluß, hemmungslos in der raschen<br />

Durchführung, rücksichtslos gegen sich und andere, erbarmungslos hart und wieder weich in der<br />

Liebe zu seinem Volk, unermüdlich in der Arbeit, mit einer stählernen Faust in samtenem<br />

Handschuh, fähig zuletzt sich selbst zu besiegen.<br />

Noch wissen wir nicht, wann er rettend eingreift, der ´Mann´. Aber daß er kommt, fühlen<br />

Millionen..." 307<br />

Von Karl Marx wird der Gedanke kolportiert, daß eine Frage erst dann gestellt wird, wenn die Antwort<br />

bereits bekannt ist. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite der Medaille steht die Frage: Kann<br />

jemand solch ein Preisausschreiben wirklich gewinnen, ohne einer fundamentalen Überzeugung oder<br />

Hoffnung der Veranstalter Gestalt zu geben? Es sah schlecht aus für den Pluralismus.<br />

"Wer könnte uns Führen? Die charakteriellen Voraussetzungen: Er muß wahrhaftig sein (was<br />

Diplomatie nicht ausschließt), uneitel (was Ehrgeiz zwecks Verwirklichung des sozial Guten nicht<br />

ausschließt) und zielklar, zielsicher, zielfest (was Elastizität und Wendigkeit in den Methoden nicht<br />

ausschließt; denn ein Mensch mit Wirklichkeitssinn, der obendrein ein Charakter ist, haßt zwar die<br />

Kompromisse, weiß aber, daß es praktisch ohne sie nicht geht; er wird sie nicht suchen, aber ihnen<br />

auch nicht sektiererstur ausweichen).<br />

Die intellektuellen Voraussetzungen: Er muß mit den philosophischen Grundproblemen gerungen<br />

haben, übrigens erfolgreich. Er muß erfolgreich mit den Grundproblemen der Politik gerungen<br />

haben, der innern wie der äußern, der kulturellen wie der ökonomischen, der deutschen wie der<br />

europäischen und planetarischen. Er muß, bei aller Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung,<br />

ungekettet an <strong>das</strong> Gewordene sein, vielmehr konstruktiv unter der Perspektive des von der<br />

sittlichen Vernunft Gebotenen; wiederum muß er, bei aller Ethizität, Gefühl für <strong>das</strong> Mögliche haben.<br />

Historismus und Utopismus müssen seinem Bewußtsein Scylla und Charybdis bedeuten;<br />

Idealistenfeuer und Wirklichkeitssinn müssen in ihm als eine schöpferische Einheit leben ..."<br />

Diese Zeilen stammen aus dem Buch „Logokratie oder ein Weltbund des Geistes“ des „Weltbühne“-<br />

Autors Kurt Hiller aus dem Jahr 1921.<br />

Heß, Hiller und hunderttausende Wandervögel und Jungdeutsche hatten Führerphantasien; es<br />

handelte sich um ausgelatschte Topoi der Jugendbewegung. Der Bauhäusler Walter Gropius zum<br />

Beispiel reklamierte 1930 in einer Werbebroschüre die „führerpflicht“ bei der Verankerung der<br />

„antiakademischen geisteshaltung“ für sich. 308<br />

Das Es, <strong>das</strong> Ich und <strong>das</strong> Über-Ich<br />

Unter der dünnen Kruste der Zivilisation wurden insbesondere allhier in Deutschland unterirdische<br />

Mächte der Natur vermutet; die bereits erwähnten germanischen Götter und Naturidole waren aus<br />

Walhall und dem deutschen Wald in den dunklen Sumpf des Vergessens abgesäuft worden;<br />

Mondvölker entfalteten finsteren Zauber, unterwühlten und untergruben den Erfolg der germanischen<br />

Rasse; der nationalsoziale Friedrich Naumannn fand 1908 im<br />

307 zitiert in Joachim Fest: Hitler, Ullstein, S. 222<br />

308 Magdalena Droste: Bauhaus, Taschen 2007<br />

213


„dunklen Hintergrund der Seelen einen Raum, der gar nicht elektrisch beleuchtet werden will, der<br />

sich gar nicht regeln lassen will, den Raum der verlorenen Leidenschaften und Urgefühle. Aus<br />

diesem Raum steigen Seufzer, Gelächter, Heulen und Gekicher, wortlose und gedankenlose Laute<br />

verworrenster Art auf, ein Chor der gewesenen Jahrtausende drunten in der Nacht der Einzelseele.<br />

Diesen Untergrund hat keine Aufklärungskanalisierung trockenlegen können...“<br />

Die Zeit war um 1900 reif, auch die oscura parte della anima, die dunkle Seite der Psyche zu<br />

durchforsten.<br />

Bereits Ellen Key war 1899 davon ausgegangen, <strong>das</strong>s dem Kinde mit der Geburt ein festgefügtes<br />

starkes Wesen innewohne, welches durch die Erziehung in seinem Wuchse nicht gestört werden<br />

solle. Fidus hatte dem breiten Publikum bereits ein Jahr zuvor einen Blick ins Seelenland ermöglicht.<br />

1900 erreichte Sigmund Freud´s Buch „Die Traumdeutung“, die Buchläden und Bibliotheken, welches<br />

der Auftakt der psychoanalytischen Diskussion war. 1910 hatte er sein Werk „Über Psychoanalyse“<br />

veröffentlicht, welches die deutliche Unterscheidung einer geräumigen, aber unbewussten geistigen<br />

Unterwelt, für welche er den Schlüsselbund suchte, und eines engen bewussten Oberstübchens<br />

enthielt. 1923 hatte Freud sein 3-Instanzen-Modell fertiggestellt und veröffentlichte „Das Ich und <strong>das</strong><br />

Es“. Er unterschied nun 3 Instanzen der Seele: Das Es, <strong>das</strong> Ich und <strong>das</strong> Über-Ich: 309<br />

• Dabei tritt <strong>das</strong> Es an die Stelle des Unbewussten. Es bildet <strong>das</strong> triebhafte Element der Psyche<br />

und kennt weder Negation, noch Zeit oder Widerspruch. Das Es ist von Anfang an vorhanden,<br />

es ist angeboren. Außerdem ist es dem Bewusstsein nicht möglich, darauf zuzugreifen.<br />

• Das Ich: Randgebiet des "Es";<br />

o Denken, Erinnern, Fühlen, Ausführen von Willkürbewegungen;<br />

o Vermittler zwischen impulsiven Wünschen des ES und dem Über-Ich;<br />

o sucht nach rationalen Lösungen<br />

o ist zum größten Teil bewusst<br />

• Das Über-Ich:<br />

o "Gewissen"<br />

o moralische Instanz, Wertvorstellungen<br />

o Gebote und Verbote der Eltern dienen als Vorbild<br />

o Vorstellungen von Gut und Böse<br />

o der Gegenpart zum Es<br />

Das Ich und <strong>das</strong> Über-Ich entstehen aus dem Es. Die verdrängenden Vorstellungen werden dem<br />

Über-Ich zugeschrieben. Es ist ein Teil des Ich und beurteilt die Gedanken, Gefühle und Handlungen<br />

des Ich.<br />

In Freuds Drei-Zonen-Theorie der Psyche überwiegt dem Zeitgeist angepasst <strong>das</strong> biologisch<br />

vorgegebene, <strong>das</strong> aus dem Mutterleib mitgebrachte, welches nicht mehr zu ändern ist. Das unbändige<br />

Rauschen der Natur, die relative Ohnmacht des menschlichen Strebens wurde nun auch in der<br />

Psyche diagnostiziert. Freud bezog eine recht extreme Position und vertrat die Ansicht, <strong>das</strong>s ca. 80-90<br />

% der menschlichen Entscheidungen unbewusst motiviert sind und nur ein geringer Teil „sichtbar“ ist.<br />

Für die Erziehungswissenschaft einerseits und die Suche nach dem <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> hatte <strong>das</strong><br />

Konsequenzen. Bereits Nietzsche war von einem kriegerischen Ausleseprozess ausgegangen, der<br />

zum Übermenschen führe und so hatten seine Jünger zunächst unbelastet von jeglichen<br />

psychologischen Vorkenntnissen nicht von Basedow´schen Schulinstituten und Klassenarbeiten,<br />

sondern von Blutbädern und Reinigungskriegen geträumt, in denen <strong>das</strong> Schwache abgemurkst<br />

werden würde. Nun bekamen diese Phantasien, die „aus dem Bauch heraus“ entwickelt worden<br />

waren, ihre wissenschaftliche Fundamentierung. Erziehung oder gar Umerziehung hatten pointierend<br />

zugespitzt keinen übermäßigen Wert, da man vermeintlich ohnehin nur an 10 bis 20 % des Gehirns<br />

herankam. Die restlichen 80 bis 90 % eines <strong>Menschen</strong> zu erziehen, war angeblich nicht möglich.<br />

Hillers logokratische Forderungen nach Wiederherstellung der Rangordnung, nach Herrschaft von<br />

Eliten ohne Beigabe eines Bildungsprogramms für die etwas breiteren Massen war die Kehrseite<br />

dieser zeitgenössischen Vorstellungen.<br />

309 wikepedia, Sigmund Freud, Stand 15.02.2005<br />

214


Jede tüchtige Kriminalpolizei verfügt über aussagekräftige Daten über Bildungs- und<br />

Erziehungsfähigkeit. Kriminelle, die in sehr jungen Jahren ertappt werden und in die einfühlsam sich<br />

drehenden Mühlen der Jugendgerichtsbarkeit geraten, tauchen in der Kriminalstatistik sehr häufig nie<br />

wieder auf. Bei älteren Gewohnheitstätern ist <strong>das</strong> freilich anders.<br />

Die Freudsche Lehre redete mit ihrem Triebübergewicht (in Form des ES) eher einem erzieherischen<br />

Fatalismus und einer Lockerung gesellschaftlicher Zwänge <strong>das</strong> Wort.<br />

In diese Periode der Freud-Rezeption fällt Franz Werfels Erzählung „Nicht der Mörder, der Ermordete<br />

ist schuldig“. In der Tradition der Väter-Sohn-Romane und -erzählungen der Vorkriegszeit<br />

veröffentlichte Werfel 1920 eine literarische Anklage gegen die autoritäre im Kaiserreich verhaftete<br />

Generation der öffentlichen und privaten großen und kleinen Despoten: "Jeder Vater ist Larios,<br />

Erzeuger des Ödipus", zitierte er Sophokles. Bis dahin bewegte er sich im Banne der geistigen<br />

Vatermörder Hasenclever, Heym und Becher, neu war die Opferdefinition. Das Opfer war nun der<br />

Mörder, und der Schuldige der Ermordete. Diese Umkehr passte in den Formenkanon der<br />

„Umwertung der Werte“ und war eine „dialektische“ Denkweise der Jugendbewegung. Hitler<br />

beispielsweise ließ die Juden die Schäden bezahlen, die die Nationalsozialisten in der<br />

Reichskristallnacht angerichtet hatten, mit der Begründung, <strong>das</strong>s die Juden an diesen Verwüstungen<br />

schuld seien. Die headline „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig“ wurde aus dem<br />

nichtchristlichen Kulturkreis entlehnt; es soll sich um ein Sprichwort aus dem balkanischen Refugium<br />

der Blutrache, den albanischen Bergregionen handeln.<br />

Das arme ICH musste in wenigen Jahrzehnten zahlreiche fundamentale Änderungen des<br />

gesellschaftlichen Normenwerks über sich ergehen lassen. Bis 1933 wurden alle moralischen<br />

Anforderungen ständig nach unten korrigiert, alle gesellschaftlichen Zwänge mehr und mehr reduziert.<br />

Im Nationalsozialismus trat eine Differenzierung ein: Die Hemmungen zum Töten nahmen ab, die Idee<br />

des universalen von Gott geschaffenen <strong>Menschen</strong> wurde immer mehr missachtet; andererseits<br />

nahmen mit dem Arbeitsdienst, dem Pflichtjahr, der Wehrpflicht, dem Druck der Hitlerjugend und dem<br />

BDM beizutreten sowie der Zwangsverpflichtung die Zwänge zu. Innere moralische Verlotterung und<br />

äußere formale Ordnung bildeten die zwei Kehrseiten der Diktatur. Die Entnazifizierung entfernte<br />

schrittweise die genannten Zwänge und Verpflichtungen, die dem ÜBER-ICH und dem ICH zugemutet<br />

worden waren, andererseits musste sich <strong>das</strong> ICH in eine erhebliche Vermehrung der Tabus schicken:<br />

Alle moralischen Hürden, die seit 1890 tiefgelegt worden waren, wurden nun neu aufgerichtet. Es<br />

erfolgte eine neuerliche Umwertung der Werte: Rassismus, Antisemitismus, Antikapitalismus,<br />

Führerglauben, Aktionismus, Korporatismus, Antiparlamentarismus, und Jugendkult wurden<br />

zugunsten der Wiedereinsetzung der 10 Gebote auf Eis gelegt, bis 1968 die nächsten Änderungen auf<br />

<strong>das</strong> ICH zukamen.<br />

Dieser kleine Exkurs wurde eingestreut, um darzulegen, <strong>das</strong>s die ständige Anpassung der<br />

gesellschaftlichen Normen nach unten, um Konflikte des ICHs mit dem ES zu vermeiden keine Lösung<br />

ist. Vielmehr muß <strong>das</strong> ICH mit Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Normenwerks<br />

zurechtkommen und diese im ÜBER-ICH als Kultur bewahren. Werden die im ÜBER-ICH<br />

gespeicherten Anforderungen ständig weiter nach unten geschraubt, wird <strong>das</strong> ICH individualistischer<br />

und autistischer, weniger bereit sich in Gruppenzwänge einzuordnen oder ins Teamwork<br />

einzubringen. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert ist im Guten wie im Bösen eine Geschichte der<br />

Individualisierung, die manchmal über <strong>das</strong> Ziel hinausschoß.<br />

Wie verhielten sich die beiden zahlreichsten und mächtigsten elitaristischen Glaubensgemeinschaften<br />

der zwanziger und dreißiger Jahre in Erziehungsfragen?<br />

Die Nationalsozialisten versuchten nach ihrer Machtübernahme in „leichten Fällen“, zum Beispiel mit<br />

Kommunisten oder Schwulen die Umerziehung. Ansonsten glaubten sie weniger an die Verstocktheit<br />

der Seelen, als an die magische reinigende oder verderbende Kraft des Blutes. Bei bestimmten<br />

Ethnien kam daher nur die Vernichtung in Frage. Sie verbrannten Freuds Bücher; da sie die Probleme<br />

im Blut und nicht in der Psyche verorteten, waren sie auch keine Freudianer.<br />

Die Positionen Freuds forderten bei den Stalinisten Widerspruch heraus. Sie leugneten <strong>das</strong><br />

unveränderliche ES und glaubten an die Kraft einer sozialistischen Kurpackung für <strong>das</strong> neue keinen<br />

antagonistischen Widersprüchen ausgesetzte ICH, <strong>das</strong> durch Umerziehung verändert würde. Kulaken,<br />

Mittelbauern, Popen, Kapitalisten, Abweichler und denunzierte Anhänger der kommunistischen<br />

215


Irrlehren wurden trotz dieses prinzipiellen Glaubens an die Erziehung vorsichtshalber totgeschlagen,<br />

totgehungert, totgefroren oder verreckten in einer Genickschußanlage.<br />

Letztlich und praktisch hatten alle großen politischen Strömungen der ersten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts im Gegensatz zur Erziehungseuphorie der Aufklärung und der deutschen <strong>Klassik</strong><br />

hundert Jahre zuvor einen großen Unglauben an die Kraft der Bildung. Nach einer kurzen Phase<br />

bildungspolitischer Normalität in den 50er und 60er Jahren des 20. Jh. wird die Bildungsfähigkeit in<br />

Deutschland wieder etwas überschätzt.<br />

Christian Morgenstern reagierte 1910 auf Freud humoristisch:<br />

Palmström aber heilt sich örtlich,<br />

nimmt sein Bett und stellt es nördlich.<br />

Und im Traum in einigen Fällen,<br />

hört er den Polarfuchs bellen.<br />

Der Ruhrkampf<br />

Im November trat die Regierung Wirth wegen Unerfüllbarkeit der Reparationsleistungen zurück und<br />

<strong>das</strong> Kabinett Cuno wurde gebildet. Es stellte sofort den Antrag auf Aufschub der<br />

Reparationszahlungen. Im Dezember stellt die alliierte Reparationskommission die vorsätzliche<br />

Nichterfüllung der deutschen Verpflichtungen fest. Als Reaktion marschierten im Januar 1923<br />

Franzosen und Belgier in <strong>das</strong> Ruhrgebiet ein. Die Reichsregierung verbot jegliche Zusammenarbeit<br />

mit den Besatzern, wieder ein Fall, in dem ohne wirkliche Machtmittel zu besitzen gedroht wurde. Die<br />

als immaterielle Wunderwaffe eingesetzte moralische Entrüstung der Deutschen verpuffte und die<br />

nationalsozialistische und leninistische Guerilla fand nicht genug Anhang. Parallel fiel der Wert der<br />

Reichsmark weiter. Die Besetzung des Ruhrgebiets nahm die Form eines kalten Krieges an.<br />

Die Franzosen wiesen zehntausende Deutsche aus dem Ruhrgebiet aus, die vom Reich finanziell<br />

unterstützt werden mußten. Bei Auseinandersetzungen in besetzten Betrieben und bei Streiks<br />

verloren Arbeiter ihr Leben oder wurden eingesperrt. In Essen wurden 13 Arbeiter der Fa. Krupp bei<br />

einem Protest gegen Beschlagnahmungsmaßnahmen von den Franzosen erschossen. Bei einer<br />

späteren Untersuchung kamen die französischen Behörden zum Schluß, daß bei der Erschießung der<br />

Arbeiter in Notwehr gehandelt wurde. Der Aufsichtsratsvorsitzende der Firma, Gustav Krupp zu<br />

Bohlen und Halbach wurde zu 15 Jahren Gefängnis und 100 Mio. Mark Geldstrafe verurteilt. Fritz<br />

Thyssen und andere Industrielle wurde vor dem Kriegsgericht in Mainz ebenfalls zu hohen Geldstrafen<br />

verurteilt. Frankreich verhängte den Belagerungszustand und Zollgrenzen zum übrigen Reichsgebiet<br />

wurden errichtet. Im Februar verhängte Frankreich ein Einreiseverbot für alle deutschen<br />

Regierungsmitglieder. Reichspräsident Ebert erließ darauf die Verordnung gegen Spionage, in der die<br />

Zusammenarbeit mit Franzosen und Belgiern unter hohe Zuchthausstrafen gestellt wurde. Obwohl<br />

Frankreich Sabotageakte gegen Eisenbahnen mit der Todesstrafe bedrohte, kam auch die<br />

Eisenbahnromantik nicht zu kurz, nachts wurden vor allem durch Nationalsozialisten Gleise<br />

beschädigt und Strecken gesprengt. Eine der späteren Ikonen der NS-Bewegung, Leo Schlageter<br />

wurde bei einer solchen Aktion von den Franzosen festgenommen und im weiteren Verlauf getötet.<br />

Kommissar Karl Radek würdigte den Toten am 20.06.1922 pathetisch: „Schlageter, der mutige Soldat<br />

der Konterrevolution, verdient es, von uns Soldaten der Revolution männlich, ehrlich gewürdigt zu<br />

werden... Wenn sich die patriotischen Kreise Deutschlands nicht entscheiden, die Sache der Mehrheit<br />

der Nation zu der ihrigen zu machen, und so eine Front herzustellen gegen <strong>das</strong> entistische und <strong>das</strong><br />

deutsche Kapital, dann war der Weg Schlageters ein Weg ins nichts.“<br />

Schlageter hatte bereits eine bewegte Freikorps-Karriere hinter sich, als er getötet wurde: Mitgliedschaft in der<br />

Brigade Ehrhardt, Teilnahme an der Expedition nach Litauen und Lettland, Niederschlagung des Aufstands im<br />

Ruhrgebiet, Kampf um Oberschlesien am Annaberg und zuletzt Sprengung einer Eisenbahnüberführung im<br />

französisch besetzten Ruhrgebiet. Seit 1922 war Schlageter Mitglied der NSDAP.<br />

Im Zuge des Widerstands gegen die französische Besetzung wurde in der NSDAP und KPD über eine<br />

engere Zusammenarbeit nachgedacht. "Schlagt Cuno und Poincaré an der Ruhr und an der Spree"<br />

reimte <strong>das</strong> Zentralkomitee der KPD. Das ZK-Mitglied Ruth Fischer lud am 25. Juli 1923 zu einer<br />

Versammlung kommunistischer Studenten, zu der auch völkische Kommilitonen eingeladen waren. An<br />

die völkischen Studenten gewandt:<br />

216


"Sie rufen auf gegen <strong>das</strong> Judenkapital, meine Herren?. Wer gegen <strong>das</strong> Judenkapital aufruft, meine<br />

Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen <strong>das</strong> Judenkapital<br />

und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt<br />

sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, meine Herren, wie stehen Sie zu den Großkapitalisten,<br />

den Stinnes, Klöckner?"<br />

Am 22. August 1923 berichtete der sozialdemokratische "Vorwärts" unter der Überschrift "Hängt die<br />

Judenkapitalisten. Ruth Fischer als Antisemitin" genüßlich über die neue kommunistische "Linie". 310<br />

Nicht nur die KPD tanzte nach der moskauer Pfeife, auch die Neokonservativen verhandelten, folgt<br />

man den Spuren einer Notiz im Moskauer Sonderarchiv mit Karl Radek. In den Verdacht der<br />

Kumpanei mit Moskau gerieten Graf Ernst zu Reventlow von der Deutschvölkischen Freiheitspartei,<br />

Arthur Moeller van den Bruck und Eduard Stadtler. Alle dementierten; „Das Gewissen“ von Stadtler<br />

wurde von Kommissar Radek in der „Roten Fahne“ als „einziges denkendes Organ der deutschen<br />

nationalistischen Kreise“ hoch gelobt. 311 So wie Radek die Neokonservativen und Nationalsozialisten<br />

unter kommunistische Oberhoheit bringen wollte, so wollten Neokonservative und Nationalsozialisten<br />

die Kommunisten zu ihren Gefolgsleuten machen, Gerd Koenen nennt <strong>das</strong> „Werbung durch den<br />

stärkeren Terror“.<br />

Die Mitgliederzahl der NSDAP war innerhalb eines Jahres von 6.000 auf 55.000 gestiegen. In einer<br />

Bilanz der Reichsregierung vom 11.7.1923 wurde die Zahl der Besatzungssoldaten mit 87.000<br />

angegeben, dazu kamen 17.000 Eisenbahner, die ihre ausgewiesenen deutschen Kollegen vertraten,<br />

92 Deutsche waren getötet worden und 70.000 ausgewiesen. Die Reichsregierung hatte durch den<br />

passiven Widerstand an der Ruhr erhebliche Mehrkosten zu schultern.<br />

Die Inflation beschleunigte sich auch dadurch ständig. Im August 1923 verurteilte England die<br />

Besetzung des Ruhrgebiets als rechtswidrig. Einen Tag später trat die Regierung Cuno zurück.<br />

Die Politik des passiven Widerstands und der Provokation Frankreichs war gescheitert. Beide Seiten,<br />

Frankreich und Deutschland begaben sich fürderhin auf den Weg von Verhandlungen. Am 13. August<br />

wurde die Regierung Stresemann gebildet, einen Monat später wurde der passive Widerstand gegen<br />

die Ruhrbesetzung aufgegeben.<br />

Die Stunde der Umstürzler<br />

Unter dem Erdgeschoß des politischen Ladens, in den Kulturkellern der Republik hatten sich die<br />

antiparlamentarischen und parteikritischen bündischen Organisationen verkrochen. Die Mitgliederzahl<br />

der bündischen und völkischen Reformorganisationen wird mit Hunderttausenden angegeben und war<br />

letztlich deutlich höher, als vor dem Krieg. Walter Laqueur schrieb in seinem Aufsatz „George und die<br />

bündische Jugend“:<br />

„Während vor dem ersten Weltkrieg <strong>das</strong> Wandern im Mittelpunkt der Arbeit gestanden hatte, war<br />

es in der neuen Ära nur eine von vielen Aktivitäten, und nicht unbedingt die wichtigste.<br />

Der Wandervogel hatte der Gesellschaft kritisch gegenübergestanden, war aber nie auf den<br />

Gedanken verfallen, er sei berufen, die Welt zu verändern. Genau <strong>das</strong> aber wollten die Bünde tun;<br />

es war der romantische Versuch, es mit den Realitäten aufzunehmen. Im Wandervogel war die<br />

Gruppe ein verhältnismäßig lockerer Zusammenschluss gewesen; <strong>das</strong> Schwergewicht hatte auf<br />

dem einzelnen und seiner persönlichen Entwicklung gelegen; man hatte sich keine besonderen<br />

Gedanken um die Zukunft der Mitglieder gemacht, von denen erwartet wurde, <strong>das</strong>s sie nach und<br />

nach der Jugendbewegung entwachsen würden. Man hatte einer Gruppe angehört, weil es einem<br />

dort gefiel, es war wenig Überlegung und keinerlei Zweckdenken dabei im Spiele.<br />

In dem von Martin Voelkel und seinen Freunden geschaffenen Bund der Nachkriegszeit galt jedoch<br />

die Gemeinschaft mehr als der einzelne. Es herrschte strengere Disziplin, und man sah im Bund<br />

eine allumfassende Verpflichtung, die den Einzelnen für den Rest seines Lebens total<br />

310 Gruppe Magma: Die KPD und der Antisemitismus in: www.rote-ruhruni.org/texte/gruppe_magma_kpd_und_antisemitismus.shtml<br />

311 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, München, S. 331 f.<br />

217


eanspruchte. 312 Man gehörte einer Gruppe an, um einem Ziel zu dienen, und hinter allen<br />

Aktivitäten dieser Gruppe standen magische Formeln oder versteckte Andeutungen, die auf <strong>das</strong><br />

eigentliche Ziel hinwiesen. In den Wandervogel konnten die Mädchen nach anfänglichen Kämpfen<br />

aufgenommen werden, und wenn auch alle prominenten Wandervögel männlichen Geschlechts<br />

waren, kann man sich doch den Wandervogel unmöglich als eine ausschließlich männliche<br />

Bewegung vorstellen. Demgegenüber kannte der Bund keine gemischten Gruppen, er war der<br />

Männerbund par excellence. Viele Bünde verfügten unlogischerweise über gesonderte<br />

Mädchengruppen, doch <strong>das</strong> waren bloße Anhängsel, die in der Bewegung keine Rolle spielten.<br />

Allzuviel war von Gefecht, Kampf und Schlacht die Rede, und nur schwer konnte man sich einen<br />

weiblichen Ritter vorstellen.<br />

Ganz allgemein hatte die lyrische <strong>Romantik</strong> des Wandervogels etwas Härterem Platz gemacht --<br />

einer <strong>Romantik</strong>, auf die der erste Weltkrieg entscheidend eingewirkt hatte. Freiheit und<br />

Zwanglosigkeit waren der Pflicht und dem Dienst in freiwilliger Unterwerfung unter ein größeres<br />

Ganzes gewichen.“<br />

Folgen wir weiter Walter Laqueur: George habe zwar als ungekrönter König gegolten, seine Floskeln<br />

wurden ständig zitiert, Laqueur machte jedoch auch den Unterschied zwischen George und der neuen<br />

Jugendbewegung deutlich:<br />

„zwischen Georges Begriff des Bundes und dem der Jugendbewegung, wie Martin Voelkel ihn<br />

formulierte, bestanden zahllose Unterschiede. Nach Voelkel war der Bund seit undenklichen Zeiten<br />

in die deutsche Seele gegraben vielleicht hätte es etwas mit dem nordischen Himmel oder dem<br />

grauen, winterlichen Zwielicht zu tun. Deshalb sei die Jugendbewegung nur bei germanischen<br />

Völkern nordischen Blutes zu finden; >>wo deutsches Blut rauscht, da ist der Helden Heimat


Die Reformbewegung der 20er Jahre schien sich stärker noch als in der Kaiserzeit für Okkultismus,<br />

Religionskritik, Germanenschwärmerei zu interessieren. Für Hermann Wielands "Atlantis, Edda, Bibel.<br />

200 000 Jahre germanischer Weltkultur und <strong>das</strong> Geheimnis der Heiligen Schrift" (Weißenburg 1925)<br />

wurde damit geworben, <strong>das</strong>s es Hitler zur Vertreibung der Langeweile während seiner Festungshaft in<br />

Landsberg bestellt hätte. 313<br />

Massenwirksamer als alle reformistischen Traktätchen war der Stummfilm „Fridericus Rex –<br />

Schicksalswende“, der am 18. März 1923 vor einem Aufgebot geladener Gäste aus Kultur,<br />

Gesellschaft und Medien im Berliner UFA-Palast uraufgeführt wurde. Bei einem Film <strong>braucht</strong>e man<br />

immerhin nicht zu lesen. Er erzählt die Geschichte einer scheinbar ausweglosen Situation, als<br />

Friedrich II. durch unorthodoxe Entscheidungen, Glück und Heldenmut aus der Schlacht von Leuthen<br />

trotz krasser zahlenmäßiger preußischer Unterlegenheit als unverhoffter Sieger hervorging. „Habt Ihr<br />

unsere Siege vergessen?“ fragte eine eingeblendete Fritzensprechblase die Zuschauer. Nach dem<br />

Vertrag von Versailles und der Ruhrbesetzung, in einer wiederum relativ perspektivlosen Lage<br />

erzeugte der Film die Illusion, mit einem talentierten Anführer, mit Heldenmut und Tatkraft<br />

unverzüglich wieder den Platz an der Sonne erringen zu können, der Deutschland gebührte. Jene<br />

Politiker, die mit den Alliierten geduldig über Erleichterungen verhandelten, verschafften sich im<br />

Angesicht der mimischen Großtaten des Hauptdarstellers Otto Gebühr eher die zweifelhafte Aura<br />

politischen Pygmäentums. Es deutete sich an, was in einem ästhetizistischen Umfeld kommen<br />

musste: <strong>das</strong>s die Deutschen ihre Zukunft einem Schauspieler und Dramaturgen anvertrauen würden.<br />

Auch in der Medizin wurde der Nationalsozialismus zielgerichtet vorbereitet. 1919 bis 1921 hatte der<br />

Psychiater Hans Prinzhorn, der an der psychiatrischen Uniklinik Heidelberg angestellt war, eine<br />

bereits angefangene Sammlung von Patientenzeichnungen mit Feuereifer erweitert. In seinen<br />

psychiatrischen Schriften bezeichnete er den Arzt als "Idealbild des Nietzscheschen Übermenschen".<br />

Folgerichtig waren Prinzhorns gesellschaftspolitische Schriften geprägt von Volksgemeinschaftswahn<br />

und Führerphantasien. Auch der Antisemitismus kam nicht zu kurz:<br />

„Es ist und bleibt grotesk, <strong>das</strong>s eine einflussreiche, hochintellektuelle Presse es in den letzten<br />

Jahren wagen durfte, unser geistiges Leben mit einer zäh und konsequent betriebenen<br />

antiarischen Propaganda zu durchsetzen“<br />

schrieb Prinzhorn etwa und wetterte weiter gegen „die rasend schnelle, in kaum zwei Generationen<br />

geschehene Überflutung mit jüdischem Geist“. Er gehörte zu den jenigen, die vor 1933 starben, so<br />

<strong>das</strong>s seine Adepten einen unpolitischen Fachmann aus ihm machen können. Sein letztes Werk heisst<br />

allerdings "Gemeinschaft und Führertum. Ansatz zu einer biozentrischen Gemeinschaftstheorie“.<br />

Prinzhorns Patientenzeichnungen tauchten teilweise in der Ausstellung „Entartete Kunst“ wieder auf,<br />

aber auch Paul Klee und Pablo Picasso nutzten sie als Inspiration für ihre eigenen Arbeiten. Man kann<br />

nicht einfach behaupten, <strong>das</strong>s die Euthanasie eine Erfindung Hitlers war; sie wurde von Prinzhorns<br />

Kollegen an der Universität Heidelberg bereits in den 20er Jahren vorangetrieben und war nicht nur in<br />

der Weimarer Republik salonfähig. 314<br />

Im politischen Erdgeschoß gab man sich von den Kulturströmungen im Untergrund relativ<br />

unbeeindruckt, die Praktiker der Macht unterschätzten die Macht des Geistes und beschäftigten sich<br />

mit der Macht des Geldes. Am 16.10.1923 gab die Reichsregierung die Errichtung der deutschen<br />

Rentenbank bekannt, mit dem Ziel, die Währung zu stabilisieren. Kurz vor der Beendigung der<br />

Inflation witterten alle Fürsten der Finsternis ihre vorerst letzte Chance zum Sturz der<br />

parlamentarischen Ordnung.<br />

Deutschland war von Moskau in 5 Oberbezirke des Militär-Politischen Apparats eingeteilt worden:<br />

Berlin unter der Leitung von Albert Gromulat, Nord-West unter Albert Schreiner, Mitte unter Hans von<br />

Hentig, Süd-West unter Erich Wollenberg, West unter Wilhelm Zeisser und Ost unter Arthur Illner.<br />

Jedem dieser Oberleiter stand ein russischer General zur Verfügung, dem Nichtkommunisten von<br />

Hentig wurde zusätzlich der Politkommissar Karl Volk zur Seite gestellt. Mitte September legte der<br />

russische General Rose, der dem ganzen vorstand, auf einer Generalstabssitzung in Kassel die<br />

"Richtlinien für die Vorbereitung des bewaffneten Aufstands" vor. Bis Mitte Oktober sollten im ganzen<br />

313 .: Herbert Wilhelm-Rotenburg Deutsche Wiedergeburt und abendländische Sendung in: DER RECHTE RAND<br />

Nr. 15 vom Januar / Februar 1992, S. 6 f<br />

314 Zitate aus: www.autonomes-zentrum.org/ai/texte/prinzhorn.htm<br />

219


Reich proletarische Hundertschaften gebildet werden, die in doppelter Anzahl der Reichswehr und der<br />

Schupo entgegengestellt werden sollten. Ab Mitte Oktober wurde durch Moskau die höchste<br />

Alarmstufe angeordnet. Am 10. Oktober war eine SPD-KPD-Regierung in Sachsen gebildet worden,<br />

eine Woche später eine gleichgesinnte in Thüringen.<br />

Bereits am 13.10.1923 ordnete der moskauhörige sächsische Finanzminister Böttcher die Bewaffnung<br />

der proletarischen Hundertschaften an, drei Tage später entzog der Reichswehrgeneral Müller der<br />

sächsischen Regierung die Verfügung über die Landespolizei. Am 17. Oktober stellte Müller der<br />

sächsischen Regierung ein Ultimatum, Böttcher für unbefugt zu erklären und sich zu verpflichten, nach<br />

den Weisungen Müllers zu handeln. Ministerpräsident Zeigner (SPD) lehnte <strong>das</strong> ab. Darauf ließ<br />

Reichspräsident Ebert die Reichswehr einrücken und die sächsische Verräterregierung absetzen. Für<br />

den 21. Oktober wurde von der KPD-Führung die Chemnitzer Betriebsrätekonferenz einberufen, die<br />

den Generalstreik ausrufen sollte. Nach einer erregten Debatte wurde der Streik abgelehnt, vor allem<br />

von den Sozialdemokraten. Für Sachsen waren die revolutionären Messen vorerst gesungen.<br />

In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober beschloß die KPD-Führung auf Trotzkis Geheiß, in einer<br />

deutschen Stadt den Aufstand auszulösen, um zu erkunden, ob sich dieser auf ganz Deutschland<br />

ausbreiten würde. Kriegskommissar Trotzki soll vorgeschlagen haben, mit dem Säbel zu stochern, um<br />

die revolutionäre Stimmung zu fühlen.<br />

Hermann Remmele wurde nach Kiel geschickt, auf einem Zwischenstop in Hamburg wurde auf<br />

Initiative des russischen Generals Stern (später als Bürgerkriegsgeneral Kleber in Spanien bekannt<br />

geworden) von der Leitung des Militär-Politischen Apparats Nord-West entschieden, den Aufstand in<br />

Hamburg auszulösen, da sich in Kiel keine starken moskauhörigen Kräfte befanden. Auch in Hamburg<br />

bestanden die proletarischen Hundertschaften fast nur auf dem Papier, 19 Gewehre und 27 Pistolen<br />

waren vorhanden, von denen die Hälfte nicht einsatzbereit war. Ein kommunistischer Student, der<br />

Weltkriegsleutnant Hans Kippenberger, dessen militärischer Stoßtrupp zuvor wegen Disziplinlosigkeit<br />

aufgelöst worden war, übernahm <strong>das</strong> Kommando über 300 Kommunisten, ließ in den Morgenstunden<br />

des 23. Oktober 1923 einige Polizeireviere überfallen und erbeutete dabei die notwendigen Waffen<br />

und die Munition. Weder der Kommandant des Militär-Politischen Apparats Schreiner, noch sein<br />

russischer General Stern noch Ernst Thälmann nahmen an den Kämpfen teil. Nach 3 Tagen<br />

Barrikadenkampf ließ die KPD-Führung den Aufstand abblasen (Thälmann war zu sehr um sich selbst<br />

besorgt, um zu den eingeschlossenen Desperados selbst zu gehen) und die Kämpfer traten den<br />

geordneten Rückzug an, da der revolutionäre Funke nicht auf Deutschland übergesprungen war.<br />

Die von Berufsrevolutionären und Berufsoffizieren angezettelten Unruhen waren<br />

zusammengebrochen und nun wurde nach den Schuldigen gesucht. General Rose wurde degradiert,<br />

Kommissar Trotzki behauptete, die Anordnungen nicht abgesegnet zu haben und Thälmann sagte<br />

angeblich 1926 in Moskau zum Kommandanten des Militär-Politischen Oberbezirks Süd-West:<br />

"...wenn Du mich als Barrikadenheld feierst, dann hau ich ab!..." 315<br />

Im Rheinland kam es zu separatistischen Bewegungen, die ebenfalls keinen nachhaltigen Rückhalt in<br />

der Bevölkerung fanden. Am 05.11.1923 mußten auch in Thüringen Reichswehrtruppen einrücken,<br />

um die halbelitaristische Landesregierung abzusetzen. Adolf Hitler verkündete am 9.11. die nationale<br />

Revolution, an der Feldherrnhalle in München wurde sein bewaffneter Putschversuch durch die<br />

bayrische Landespolizei blutig niedergeschlagen.<br />

Es folgte eine Verurteilung Hitlers wegen Hochverrats Bereits im Dezember 1924 wurde Hitler aus der<br />

Festungshaft wieder entlassen. 1925 leitete er wieder nationalsozialistische Versammlungen (rechts).<br />

Die Festungshaft hatte Hitler genutzt, um zum Beispiel Friedrich Nietzsche zu lesen.<br />

Ebenfalls am 9.11.1923 übertrug Reichspräsident Ebert die vollziehende Gewalt im Reich an General<br />

v. Seeckt. Ein vor geraumer Zeit aus der kaiserlichen Kadettenanstalt entsprungener Monokelträger<br />

war die ultima ratio der demokratischen Republik. So wie Heinrich Mann vor dem Weltkrieg im<br />

"Untertan" <strong>das</strong> Bündnis zwischen dem konservativen Diederich Heßling und dem Sozialdemokraten<br />

Napoleon Fischer skizziert hatte, so wurde es zwischen Hans v. Seeckt und Friedrich Ebert ins<br />

politische Werk gesetzt, um den Heuteufels 316 die reformistische Suppe zu versalzen. Seeckt hatte<br />

315 Erich Wollenberg: Der Hamburger Aufstand und die Thälmann-Legende in:<br />

www.archivtiger.de/database/zs/schwarze_protokolle/sp_6/wollen3-sp6.html<br />

316 Dr. Heuteufel war der reformistische Gegner von Heßling und Fischer in Heinrich Manns „Untertan“<br />

220


zumindest in Deutschland klare Ordnungsvorstellungen und räumte mit den Kulturrevolutionären auf.<br />

Am 23.11. verbot er reichsweit die radikalen Elitaristenparteien KPD, NSDAP und DVFP.<br />

Deutschland befand sich im militärischen Ausnahmezustand. Im Schutz desselben begann am<br />

16.11.1923 die Ausgabe der neuen Rentenmark, nachdem sich der Staat auf Kosten seiner Bürger<br />

restlos von den Kriegsschulden befreit hatte.<br />

Die Währungsreform hatte einen fatalen Geburtsfehler. Statt mit Gold wurde die Mark mit<br />

Grundstückseigentum hinterlegt, und zwar in der Form, <strong>das</strong>s auf private Grundstücke staatliche<br />

Zwangshypotheken eingetragen wurden, die dem Finanzamt gegenüber abzustottern waren. Das<br />

Abzahlen gestaltete sich schwierig, weil insbesondere die Landwirte ab 1927 unter einbrechenden<br />

Erzeugerpreisen litten. Viele mussten vom Finanzamt auf private Darlehensgeber umschulden. Die<br />

Zwangshypotheken waren deshalb der Nährboden für die erfolgreiche nationalsozialistische<br />

Propaganda gegen die Zinsknechtschaft.<br />

Eine Woche nach der Ausgabe der Rentenmark trat die Regierung Stresemann nach einem<br />

Mißtrauensvotum von SPD und DNVP zurück. Der Austritt der Sozialdemokraten aus der Regierung<br />

erfolgte, weil nach Meinung der Sozialdemokraten mit der Reichsexekution ungerechtfertigt gegen<br />

Sachsen vorgegangen wurde, gegen Bayern aber Milde waltete. Der Rückzug der Sozialdemokraten<br />

aus der Reichsregierung und der Rücktritt Stresemanns ärgerte wiederum den Reichspräsidenten.<br />

Ebert versprach seinen Genossen, daß sie sich noch in zehn Jahren über ihre politische Dummheit<br />

ärgern würden. Tatsächlich wurde ab jetzt überwiegend mit Minderheitsregierungen ohne und gegen<br />

die Sozialdemokraten regiert. <strong>Neue</strong>r Reichskanzler wurde Wilhelm Marx (Zentrum). Er verlangte ein<br />

Ermächtigungsgesetz zur Übertragung der Reichsgewalt vom Reichstag auf die Reichsregierung, um<br />

die wirtschaftliche Krise zu überwinden. Mit Unterstützung der SPD beschloß der Reichstag am 8.12.<br />

<strong>das</strong> Ermächtigungsgesetz. Bereits am 28.02.1924 wurde der militärische Ausnahmezustand<br />

aufgehoben und verhängnisvollerweise erfolgte bereits am 3. März die Wiederzulassung der KPD. Der<br />

kaiserliche General von Seeckt hatte in der Elitaristenfrage zwar mehr politischen Weitblick bewiesen,<br />

als die parlamentarischen Laienspieler des Reichstags, hinter der Fassade dieses innenpolitischen Dr.<br />

Jekill verbarg sich jedoch ein wahrer außenpolitischer Mr. Hyde, der im Zusammenhang mit dem<br />

russischen Polenfeldzug und Rapallo bereits erwähnt wurde. Im Reichstag verstärkte sich zunehmend<br />

die Kritik an der Sozialpolitik der Regierung und Reichskanzler Marx bat den Reichspräsidenten Ebert,<br />

den Reichstag aufzulösen, um einer Abstimmungsniederlage zuvorzukommen.<br />

Während in Deutschland der Ruhrkampf ergebnislos abgeblasen wurde, gründete Mustafa Kemal<br />

Pascha am 29. Oktober 1923 die türkische Republik. Kemal hatte über die versammelten ehemaligen<br />

Kriegsgegner – Frankreich, Griechenland, Großbritannien und Russland – militärisch und diplomatisch<br />

triumphiert. Kemal entwarf eine Gesellschaftsform, die durch den modernen Elitarismus stark<br />

beeinflusst war. Republikanismus, Nationalismus, Revolutionarismus (in Deutschland war <strong>das</strong><br />

Modewort dafür Aktionismus), Laizismus (in Deutschland Atheismus) und Populismus wurden die<br />

Parolen der neuen Ordnung, die auf eine Erziehungsdiktatur hinauslief. Boris Kalnoky wertete den<br />

Kemalismus in dem Sinne, „daß hier ein gemeinschaftsorientierter, moderner (im Wortverständnis der<br />

zwanziger und dreißiger Jahre) und rationaler "neuer Mensch" geschaffen werden sollte, ob er nun<br />

wollte oder nicht. Mit diesem neuen <strong>Menschen</strong> sollte die Türkei zu Europa gehören.“ 317 Allerdings war<br />

es nicht <strong>das</strong> heutige demokratische Europa, welches die Leitbilder lieferte. Fünf 5 Jahre vor Atatürk<br />

hatte sich Lenin an die Macht geputscht, ein Jahr vorher Mussolini. Insofern ist es logisch<br />

anzunehmen, <strong>das</strong>s Mustafa Kemal Pascha sich an den jungen Diktaturen orientierte.<br />

Zwischen deutschen und türkischen Offizieren und Ingenieuren hatte es ab 1898 viele Kontakte gegeben: Die<br />

Bagdadbahn war von der Firma Phillipp Holzmann gebaut worden, deutsche Architekten wie August Jasmund<br />

schufen in der Türkei Bahnhofsgebäude als Synthese aus Jugendstil und traditionellen orientalischen<br />

Stilelementen. Die türkischen Streitkräfte wurden von deutschen Offizieren beraten, im Ersten Weltkrieg kämpfte<br />

man Seite an Seite. Einer der deutschen Offiziere in der Türkei war von Seeckt gewesen.<br />

Für die deutschen Demokraten gab es trotz Stabilisierung der Währung wenig europäischen<br />

Rückenwind: Russland und die Türkei waren seit jeher keine Tummelplätze von Bürgertugenden und<br />

Bürgerrechten. Beide zeigten den Deutschen, wie man durch Unbeugsamkeit und eisernen Willen<br />

gegen übermächtige Gegner triumphieren konnte. Die westlichen Demokratien tolerierten Russland,<br />

317 Boris Kalnoky: Blick auf Ankara: Der brisante Brückenschlag über den Bosporus. Die Welt 16.12.2004<br />

221


Italien und die Türkei und bereiteten damit den Boden für die epidemische Ausbreitung des totalitären<br />

Bazillus in Europa.<br />

Warte, warte nur ein Weilchen....<br />

Eine ähnliche Sozialisation wie Adolf Hitler hatte auch der 10 Jahre ältere <strong>Menschen</strong>schlächter Fritz<br />

Haarmann, der schon vor 1900 strafrechtlich auffällig wurde. Wie viele andere Kriminelle hatte auch<br />

Haarmann eine schwere Kindheit. Er wurde am 25.10.1879 als sechstes und jüngstes Kind des<br />

Lokomotivheizers Karl Harmann geboren. Seine Jugend war von Konflikten mit seinem Vater geprägt,<br />

der seinem Sohn des öfteren mit der Einweisung in ein Irrenhaus drohte. Mit 16 Jahren wurde Fritz auf<br />

die Unteroffiziers-Vorschule in Neu-Breisach geschickt. Bereits nach wenigen Wochen wurde er aber<br />

wegen psychischer Probleme entlassen. 1896 wurde er dann wegen Unzucht mit Knaben angeklagt.<br />

Statt einer lebenslänglichen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung wurde er nur in <strong>das</strong><br />

Irrenhaus Hildesheim eingewiesen. Ein halbes Jahr später gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Diese<br />

war bereits seit 1848 ein Rückzugs- und Ruheraum für Elitaristen, wie Wagner, Lenin, Trotzki und<br />

Nietzsche. Dort blieb auch Haarmann rund ein Jahr und schlug sich als Hilfsarbeiter durch. Schließlich<br />

kehrte er aber nach Hannover zurück. Im Oktober 1900 wurde er wieder Soldat. Auch diesmal war <strong>das</strong><br />

Soldatenleben nur eine kurze Episode. 1902 wurde er zunächst in eine Abteilung für Nervenkranke<br />

eingeliefert und dann aus dem Militärdienst entlassen.<br />

Haarmann begann nun eine Karriere als Kleinkrimineller. Immer wieder wurde er wegen Diebstahl,<br />

Knabenliebe, Betrug, Betteln, Körperverletzung usw. verhaftet und verurteilt. So verbrachte er den<br />

größten Teil des ersten Weltkriegs im Gefängnis. 318 Am Ende des Kriegs wurde er entlassen.<br />

Während Thälmann und Hitler ihre Aufstände probten, biß der <strong>Menschen</strong>schlächter Fritz Haarmann<br />

zu. Zwischen 1923 und Juli 1924 beförderte er mindestens 24 Kinder und zur Homosexualität<br />

verführte Jugendliche im Alter von 13 bis 23 Jahren vom Leben zum Tode. 1924 wurden einige<br />

Leichenteile in dem Flüsschen Leine in Hannover gefunden. Danach wurde die Leine systematisch<br />

durchsucht. Es wurden allein 22 rechte Oberschenkelknochen gefunden. Der hannoveranischen<br />

Polizei lagen bereits seit geraumer Zeit viele Vermisstenanzeigen für Kinder und Jugendliche vor. Man<br />

ging aber davon aus, daß diese nach Berlin ausgereist waren. Jetzt wurde jedoch klar, daß in<br />

Hannover ein Massenmörder sein Unwesen trieb, dem sie zum Opfer fielen. Dieser Massenmörder<br />

war Fritz Haarmann, auch als <strong>Menschen</strong>schlächter Haarmann bekannt. Haarmann hat mindestens 24<br />

Kinder und Männer ermordet, er selbst sagte aber, er könne sich an über 40 erinnern. Wie bereits<br />

erwähnt verbrachte er den größten Teil des ersten Weltkriegs wegen Verstößen gegen den § 175,<br />

Eigentumsdelikten und Körperverletzung im Zuchthaus. Als er kurz nach dem Ende des Kriegs<br />

entlassen wurde, warb ihn die hannoveranische Polizei als Lockspitzel an. Gleichzeitig wurde<br />

Haarmann Hehler und Schieber. Er verkaufte unter anderem Altkleider und Fleisch. Erwiesenermaßen<br />

waren unter diesen Altkleidern auch die Kleider seiner Opfer. Es wurde gemunkelt, daß er auch <strong>das</strong><br />

Fleisch seiner Opfer verkauft habe. Beweise gibt es dafür nicht, genauso wie für die Behauptung, er<br />

habe <strong>das</strong> Fleisch seiner Opfer selbst gegessen. In dieser Zeit gewann Haarmann einen gewissen<br />

Wohlstand. Dazu trug auch seine Anstellung bei der Polizei bei. Die brachte ihm nicht nur Geld und<br />

Beziehungen, sondern gab ihm natürlich die Gelegenheit, unliebsame Konkurrenten zu denunzieren<br />

und auszuschalten. Haarmann nahm die Kinder und Jugendlichen zu sich nach Hause. Beim<br />

homosexuellen Geschlechtsverkehr erwachte seine pervertierte Mordlust. Er soll den<br />

Geschlechtsverkehrsobjekten nach eigenen Angaben die Kehle durchbissen haben. Danach wurden<br />

die Leichen in kleine Stücke zerschnippelt und in die Leine geworfen. Oder aber, falls die Gerüchte<br />

stimmen, eben als Freibankfleisch verkauft.<br />

Nicht alle Bekannten Haarmanns ereilte der Tod. Zu Hans Grans hatte er eine anhaltende<br />

Unzuchtsbeziehung. Der 1901 geborene Grans zog im Oktober 1919 in Haarmanns Wohnung ein. Er<br />

köderte für Haarmann die Kinder und verkaufte nach der Tötung deren Kleider. Haarmann übernahm<br />

<strong>das</strong> Töten und die Beseitigung der Leichen. Am 22. Juni 1924 wurde Haarmann verhaftet, wenig<br />

später auch Hans Grans. Die Mutter des 18 jährigen Robert Witzel erkannte die verkaufte Jacke ihres<br />

vermissten Sohns wieder. Es stellte sich heraus, daß die Jacke von Haarmann verkauft worden war.<br />

Daraufhin mußte die Polizei die Wohnung ihres Spitzels Haarmann durchsuchen. Nachdem einige<br />

dabei gefundene Kleidungsstücke von den Eltern vermisster Kinder erkannt wurden, gestand<br />

Haarmann. Nach einem aufsehenerregendem Prozess wurden Haarmann und Grans zum Tode<br />

318 www. rosarauschen.de/archiv/personen/fritz_haarmann.html<br />

222


verurteilt. Haarmann wurde am 15.4.1925 geköpft. Haarmann genoß die Aufmerksamkeit, die<br />

während des Prozesses auf ihn gerichtet war:<br />

"Wenn ich so gestorben wäre, dann wäre ich beerdigt worden und keiner hätte mich gekannt, so<br />

aber - Amerika, China, Japan und die Türkei, alles kennt mich". 319<br />

Tatsächlich erlangten Haarmann und Hannover über viele Jahrzehnte unerhörte Berühmtheit. In<br />

einem Lied hieß es:<br />

In Hannover an der Leine<br />

Rote Gasse Nummer acht<br />

Wohnt der Massenmörder Haarmann<br />

Der die Leute umgebracht.<br />

Aus den Augen macht er Sülze<br />

Aus dem Arsch da macht er Speck<br />

Aus dem Darm da macht er Würste<br />

Und den Rest den schmeißt er weg.<br />

Haarmann hat auch ein' Gehilfen<br />

Grans heißt dieser junge Mann.<br />

Und der lockte mit Behagen<br />

Viele junge Männer an.<br />

Warte warte nur ein Weilchen<br />

Dann kommt Haarmann auch zu Dir.<br />

Mit dem kleinen Hackebeilchen<br />

Macht er Hackefleisch aus dir.<br />

Der Prozeß warf ein denkbar schlechtes Licht auf die Polizeiarbeit. Bereits Ende 1918 soll es<br />

Anzeigen gegen Haarmann und eine Hausdurchsuchung gegeben haben, die wegen der guten<br />

Kontakte zwischen Polizei und Haarmann allerdings vorzeitig abgebrochen wurde, so <strong>das</strong>s eine<br />

gerade ausgeweidete Homosexuellenleiche nicht gefunden werden konnte.<br />

Um Fritz Haarmann zum Geständnis zu bringen, wurden die Ermittlungsmethoden perfektioniert: ein<br />

Sack mit Leichenteilen wurde so in Haarmanns Zelle postiert, <strong>das</strong>s der angekettete Haarmann nicht<br />

anlangen konnte. In den Zellenecken waren Totenköpfe mit rot erleuchteten Augen angebracht, um<br />

ein grauenhaftes Ambiente zu schaffen. Nach wenigen Tagen räumte Haarmann seine Morde ein.<br />

Ein höherer gesellschaftlich-biologischer Typus<br />

Während Leo Trotzki den Hamburger Aufstand organisierte, hatte er nebenbei noch Zeit zum<br />

Schriftstellern. Trotzkis politischer Stern befand sich noch im Zenit des bolschewistischen Himmels,<br />

als er 1924 sein Buch „Literatur und Revolution“ veröffentlichte. Trotzki war in der<br />

Nietzscheanwendung eher Futurist als Romantizist oder Klassizist.<br />

Der Futurist Marinetti hatte 1913 die <strong>Neue</strong> Welt als technizistisch fundamentiert beschrieben:<br />

„So leugnen wir auch den aufdringlichen Glanz der toten Jahrhunderte und halten es mit der<br />

siegreichen Technik, die die Welt in ihrem Netz der Geschwindigkeit hält.“<br />

So liest sich Trotzkis Gesellschaftsentwurf über weite Strecken wie Bebels „Die Frau und der<br />

Sozialismus“ oder <strong>das</strong> Manifest des Futurismus:<br />

„Das ameisenartige Durcheinander von Stadtvierteln und Strassen wird Steinchen für Steinchen<br />

unmerkbar von Geschlecht zu Geschlecht ersetzt durch den titanischen Bau von Dorf-Städten,<br />

nach der Karte und mit dem Zirkel. Um diesen Zirkel werden sich echte Volksgruppen dafür und<br />

dagegen bilden, eigenartige bautechnische Parteien der Zukunft, mit Agitation, mit Leidenschaften,<br />

Meetings, Abstimmungen. In diesem Kampf wird die Architektur von neuem, aber schon auf<br />

höherer Ebene, von den Gefühlen und Stimmungen der Massen durchdrungen sein, und die<br />

Menschheit wird sich plastisch erziehen, d.h. sie wird sich daran gewöhnen, die Welt als gefügigen<br />

Ton zum formen immer vollkommenerer Lebensformen zu betrachten. Die Wand zwischen Kunst<br />

319 www. rosarauschen.de/archiv/personen/fritz_haarmann.html<br />

223


und Industrie wird fallen. Der zukünftige hohe Stil wird kein verzierender, sondern ein gestaltender<br />

sein. Darin haben die Futuristen recht. Es wäre allerdings ein Fehler, wollte man dies als eine<br />

Liquidierung der Kunst, als ihre Selbstaufgabe vor der Technik auslegen.(...) Bedeutet dies etwa,<br />

<strong>das</strong>s die Industrie die Kunst ganz in sich aufsaugen oder <strong>das</strong>s die Kunst die Industrie zu sich auf<br />

den Olymp emporheben wird? Diese Frage kann man so und anders beantworten, je nachdem, ob<br />

wir von der Industrie oder von der Kunst her an sie herangehen. Aber im objektiven Endergebnis<br />

wird es zwischen den Antworten keinen Unterschied geben. Beide bedeuten eine gigantische<br />

Erweiterung der Sphäre und eine nicht weniger gigantische Steigerung der künstlerischen<br />

Qualifikation der Industrie, wobei wir damit ausnahmslos die gesamte produktive Tätigkeit des<br />

<strong>Menschen</strong> meinen.“<br />

Das Bauhaus-Manifest hatte nur die hochmütige Mauer zwischen dem Handwerk und der Kunst<br />

niederlegen wollen, Trotzki ging darüber hinaus und stellte wie die späten Bauhäusler die Distanz<br />

zwischen Industrie und Kunst in Frage. Wie August Bebel wollte er die Welt physisch umgestalten:<br />

„Der neue Mensch, der sich erst jetzt projektiert und verwirklicht, wird nicht wie Kljujew, und nach<br />

diesem auch Rasumnik, die Auerhahnbalz und <strong>das</strong> Netz für den Stör dem Hebekran und dem<br />

Dampfhammer gegenüberstellen. Der sozialistische Mensch will und wird die Natur in ihrem<br />

ganzen Umfang einschliesslich der Auerhähne und der Störe mit Hilfe von Maschinen<br />

beherrschen. Er wird beiden ihren Platz anweisen, und zeigen wo sie weichen müssen. Er wird die<br />

Richtung der Flüsse ändern und den Ozeanen Regeln vorschreiben. Die idealistischen Tröpfe<br />

mögen glauben, dies werde langweilig werden – aber dafür sind sie eben Tröpfe. Natürlich wird<br />

dies nicht bedeuten, <strong>das</strong>s der ganze Erdball in Planquadrate eingeteilt wird und <strong>das</strong> die Wälder<br />

sich in Parks und Gärten verwandeln. Wildnis und Wald, Auerhähne und Tiger wird es<br />

wahrscheinlich auch dann noch geben, aber nur dort, wo ihnen der Mensch den Platz anweist. Und<br />

er wird dies so gescheit einrichten, <strong>das</strong>s selbst der Tiger den Baukran nicht bemerken und<br />

melancholisch werden, sondern wie in Urzeiten weiterleben wird. Die Maschine ist auf allen<br />

Lebensgebieten ein Werkzeug des modernen <strong>Menschen</strong>. Die gegenwärtige Stadt ist vergänglich,<br />

aber sie wird sich nicht in dem alten Dorf auflösen. Im Gegenteil, <strong>das</strong> Dorf wird sich grundsätzlich<br />

zur Stadt erheben. Das ist die Hauptaufgabe. Die Stadt ist vergänglich; aber sie kennzeichnet die<br />

Zukunft und weist ihr den Weg, während <strong>das</strong> gegenwärtige Dorf völlig in der Vergangenheit ruht.“<br />

Nach der Vision einer grundlegenden Veränderung der Erde durfte auch die Vorstellung von der<br />

Schaffung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> und ausdrücklich des Übermenschen nicht zu kurz kommen. Wenn<br />

es sonst keinen Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Nietzscheanismus und Futurismus gäbe,<br />

so hätte Blut-Kommissar Trotzki ihn uns gegeben:<br />

„Wovon heutzutage einzelne Enthusiasten nicht immer sehr gescheit träumen – hinsichtlich der<br />

Theatralisierung des Alltags und der Rhythmisierung des <strong>Menschen</strong> selbst – <strong>das</strong> fügt sich gut und<br />

nahtlos in diese Perspektive ein. Der Mensch wird, wenn er seine Wirtschaftsordnung rationalisiert,<br />

d. h. mit Bewusstsein erfüllt und seinem Vorhaben unterworfen hat, in seinem gegenwärtigen<br />

trägen und durch und durch verfaulten häuslichen Alltag keinen Stein auf dem anderen lassen. Die<br />

zentnerschwer auf der heutigen Familie lastenden Sorgen um die Ernährung und Erziehung<br />

werden von ihr genommen und Gegenstand der öffentlichen Initiative und des unerschöpflichen<br />

kollektiven Schaffens werden. Die Frau wird endlich aus dem Zustand der Halbsklaverei befreit<br />

werden. Neben der Technik wird die Pädagogik – im breitesten Sinn der psychophysischen<br />

Formung neuer Generationen – zur Beherrscherin der öffentlichen Meinung werden. Die<br />

pädagogischen Systeme werden mächtige „Parteien“ um sich scharen. Die sozialerzieherischen<br />

Experimente und der Wettbewerb verschiedener Methoden werden eine Entfaltung erfahren, von<br />

der man heute noch nicht einmal träumen kann. Die kommunistische Daseinsform wird nicht wie<br />

ein Korallenriff zufällig entstehen, sondern bewusst aufgebaut, durch die Idee überprüft,<br />

ausgerichtet und korrigiert werden. Wenn <strong>das</strong> Dasein aufhört, eine Elementargewalt zu sein, wird<br />

es aufhören schal zu sein. Der Mensch, der es gelernt hat, Flüsse und Berge zu versetzen und<br />

Volkspaläste auf den Gipfel des Montblanc oder auf dem Meeresgrund des atlantischen Ozeans zu<br />

bauen, wird seinem Alltag natürlich nicht nur Reichtum, Farbigkeit und Spannung verleihen,<br />

sondern auch höchste Dynamik. Die Hülle des Alltags wird – kaum entstanden – unter dem<br />

Ansturm neuer technischer und kultureller Erfindungen und Errungenschaften wieder gesprengt<br />

werden.“<br />

„Der Mensch wird endlich daran gehen, sich selbst zu harmonisieren. Er wird es sich zur Aufgabe<br />

machen, der Bewegung seiner eigenen Organe – bei der Arbeit, beim Gehen oder im Spiel –<br />

höchste Klarheit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit und damit Schönheit zu verleihen. Er wird<br />

224


den Willen verspüren, die halbbewussten und später auch die unterbewussten Prozesse im<br />

eigenen Organismus: Atmung, Blutkreislauf, Verdauung und Befruchtung zu meistern, und wird sie<br />

in den erforderlichen Grenzen der Kontrolle durch Vernunft und Willen unterwerfen. Das Leben,<br />

selbst <strong>das</strong> rein psychologische, wird zu einem kollektiv-experimentellen werden. Das<br />

<strong>Menschen</strong>geschlecht, der erstarrte Homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet und – unter<br />

seinen eigenen Händen – zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des<br />

psychophysischen Trainings werden. Das liegt vollkommen auf der Linie seiner Entwicklung. Der<br />

Mensch hat zuerst die dunklen Elementargewalten aus der Produktion und der Ideologie<br />

vertrieben, indem er die barbarische Routine durch wissenschaftliche Technik und die Religion<br />

durch Wissenschaft verdrängte. Dann hat er <strong>das</strong> Unbewusste aus der Politik vertrieben, indem er<br />

die Monarchie und die Stände durch die Demokratie und durch den rationalistischen<br />

Parlamentarismus und schliesslich durch die kristallklare Sowjetdiktatur ersetzte. Am schlimmsten<br />

hat sich die blinde Naturgewalt in den Wirtschaftsbeziehungen festgesetzt – aber auch dort<br />

vertreibt sie der Mensch durch die sozialistische Organisation der Wirtschaft. Dadurch wird ein<br />

grundlegender Umbau des traditionellen Familienlebens ermöglicht. Im tiefsten und finstersten<br />

Winkel des Unbewussten, Elementaren und Untergründigen hat sich die Natur des <strong>Menschen</strong><br />

selbst verborgen. Ist es denn nicht klar, <strong>das</strong>s die grössten Anstrengungen des forschenden<br />

Gedankens und der schöpferischen Initiative darauf gerichtet sein werden? Das<br />

<strong>Menschen</strong>geschlecht wird doch nicht darum aufhören, vor Gott, den Kaisern und dem Kapital auf<br />

allen Vieren zu kriechen, um vor den finsteren Vererbungsgesetzen und dem Gesetz der blinden<br />

Geschlechtsauslese demütig zu kapitulieren! Der befreite Mensch wird ein grösseres<br />

Gleichgewicht in der Arbeit seiner Organe erreichen wollen, eine gleichmässigere Entwicklung und<br />

Abnutzung seiner Gewebe, um schon allein dadurch die Angst vor dem Tode in die Grenzen einer<br />

zweckmässigen Reaktion des Organismus auf Gefahren zu verweisen, weil es gar keinen Zweifel<br />

daran geben kann, <strong>das</strong>s gerade die äusserste Disharmonie des <strong>Menschen</strong> – die anatomische wie<br />

die psychologische – die ausserordentliche Unausgeglichenheit der Entwicklung der Organe und<br />

Gewebe dem Lebensinstinkt eine verklemmte, krankhafte und hysterische Form der Angst vor dem<br />

Tode verleiht, die den Verstand trübt und den dummen und erniedrigenden Phantasien von einem<br />

Leben nach dem Tode Nahrung gibt.<br />

Der Mensch wird sich zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf<br />

die Höhe des Bewusstseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, mit seinem Willen bis in die<br />

letzten Tiefen seines Unbewussten vorzudringen und sich so auf eine Stufe zu erheben – einen<br />

höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will – den Übermenschen zu schaffen.<br />

Bis zu welchem Ausmass der Selbstbeherrschung der Mensch der Zukunft es bringen wird – <strong>das</strong><br />

ist ebenso schwer vorauszusehen wie jene Höhen, zu denen er seine Technik führen wird. Der<br />

gesellschaftliche Aufbau und die psychisch-physische Selbsterziehung werden zu zwei Seiten ein<br />

und desselben Prozesses werden. Die Künste: Wortkunst, Theater, bildende Kunst, Musik und<br />

Architektur – werden diesem Prozess eine herrliche Form verleihen. Genauer gesagt: Jene Hülle,<br />

in die sich der Prozess des kulturellen Aufbaus und der Selbsterziehung des kommunistischen<br />

<strong>Menschen</strong> kleiden wird, wird alle Lebenselemente der gegenwärtigen Künste bis zur<br />

Leistungsfähigkeit entfalten. Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein<br />

Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird<br />

musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen.<br />

Der durchschnittliche <strong>Menschen</strong>typ wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe oder Marx<br />

erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“<br />

Der Elitarismus hatte sich nacheinander in immer wieder neue Gestaltideen verpuppt: Vom Jugendstil<br />

über den Expressionismus zum Futurismus. Aber <strong>das</strong> war noch nicht <strong>das</strong> Ende. In Russland wie in<br />

Deutschland nahte die Zeit, wo Nietzsches Übermensch in ein populäres Gewand gesteckt wurde.<br />

Trotzkis Stern sank zwischen 1925 und 1927 aprupt in die Tiefe und <strong>das</strong> Bauhaus flüchtete sich von<br />

einem Ort zum Anderen in den Untergang. Die political newcomers Stalin und Hitler hatten simple,<br />

aber robuste Vorstellungen von Einzigartigkeit und Höherentwicklung.<br />

225


Die „Goldenen Zwanziger Jahre“<br />

Die 2. Reichstagswahl<br />

Die Inflation war 1924 zwar beendet, aber der Eindruck, den die Vernichtung aller Geldersparnisse<br />

und die Beendigung aller alten Kreditverhältnisse gemacht hatte, war sehr frisch. Die Reichsregierung<br />

hatte <strong>das</strong> Deutsche Reich auf Kosten ausländischer Kreditgeber und der Ersparnisse seiner Bürger<br />

entschuldet und wollte trotzdem wiedergewählt werden. (Joachim Fest bezeichnete die Inflation als<br />

betrügerischen Bankrott der Republik gegenüber ihren Bürgern 320 ). Die neue Rentenmark war durch<br />

die Eintragung von Grundschulden auf landwirtschaftliche und gewerbliche Grundstücke glaubhaft<br />

gemacht worden, was wiederum ein schwerwiegender Eingriff in Eigentumsrechte war.<br />

Die Vorstellungen der Deutschen von ihrer Rolle in der Welt und die tatsächlichen Möglichkeiten liefen<br />

nach wie vor weit auseinander. Durch die Ruhrbesetzung wurden den Deutschen erneut ihre<br />

machtpolitischen Grenzen gezeigt. Statt einer erfolgreichen Wiederholung des antinapoleonischen<br />

Befreiungskampfs endete der Ruhrkampf mit einem politischen Fiasko. Das moralingetränkte Konzept<br />

des passiven Widerstands war nicht aufgegangen und die deutsche Politik mußte mit einiger<br />

Verspätung <strong>das</strong> beginnen, wovor sich die Chaoten Rathenau, Wirth und Cuno gedrückt hatten: mit<br />

den Siegern und insbesondere mit Frankreich geduldig zu verhandeln. Wie an der Wirtschafts- und<br />

Reparationsfront gab es auch an der Kulturfront sehr frische Eindrücke zu verarbeiten: Die<br />

kommunistischen und nationalsozialistischen Putschversuche vermittelten den Bürgern nicht <strong>das</strong><br />

Gefühl eines souverän agierenden Staates. Zunächst wirkte sich die Propaganda der zunehmend<br />

völkischer und okkultistischer agierenden Reformbewegung zugunsten des völkischen<br />

Wahlbündnisses aus. Der implosionsartige Zerfall der heterodoxen Unabhängigen Sozialdemokraten<br />

kam nicht nur den Sozialdemokraten, sondern auch der entschieden elitaristischen KPD und den<br />

Völkischen zugute. Das sollte sich bei der 2. Reichstagswahl im Mai 1924 zeigen.<br />

SPD 20,5 % ( - 1,4 %)<br />

USPD 0,8 % ( -16,8 %)<br />

KPD 12,6 % (+10,5 %)<br />

DDP 5,7 % ( - 2,6 %)<br />

DVP 9,2 % ( - 4,7 %)<br />

Völkische + NSDAP 6,6 % (+ 6,6 %)<br />

DNVP 19,5 % (+ 4,4 %)<br />

Zentrum/BVP 16,6 % ( - 1,4 %)<br />

Sonstige 8,6 % (+ 5,5 %)<br />

Im Langzeitvergleich ergibt sich erstmals seit dem Weltkrieg ein Rückgang für die SPD und die SPD-<br />

Abspaltungen gegenüber dem Vorkriegsjahr 1912, bei den Reformisten ist eine Umgruppierung zu<br />

radikaleren Kräften hin zu erkennen. Nutznießer der Wahl waren vor allem Kommunisten, Völkische,<br />

Konservative, Bauernparteien und berufsständische Parteien wie die im Kern konservative<br />

Wirtschaftspartei.<br />

1924 1912<br />

SPD/USPD 21,3 % 36,5 %<br />

leninistische Elitaristen 12,6 % 0,0 %<br />

DDP-Reformisten 5,7 % 13,0 %<br />

DVP-Reformisten 9,2 % 14,5 %<br />

Völkische/Antisemiten 6,6 % 3,0 %<br />

---------- ----------<br />

Summe Reformisten 34,1 % 30,5 %<br />

Konservative 19,5 % 13,0 %<br />

Zentrum 16,6 % 17,0 %<br />

320 Fest: Hitler, Ullstein, S. 231<br />

226


Natürlich ist es auch möglich, die Kommunisten statt als Reformisten, die sie unter dem Gesichtspunkt<br />

des Elitarismus, z.B. in Form des sogenannten Personenkults 321 waren, zusammen mit den<br />

Sozialdemokraten zu bilanzieren, denn bis in die Mitte des Jahrzehnts war ein erheblicher Teil der<br />

KPD-Mitglieder und -führer vor dem Weltkrieg in der SPD organisiert gewesen. Die Zusammenstellung<br />

sähe dann so aus:<br />

1924 1912<br />

SPD/USPD 21,3 % 36,5 %<br />

KPD 12,6 % 0,0 %<br />

--------- ---------<br />

verschiedene Linke 33,9 % 36,5 %<br />

DDP-Reformisten 5,7 % 13,0 %<br />

DVP-Reformisten 9,2 % 14,5 %<br />

Völkische/Antisemiten 6,6 % 3,0 %<br />

---------- ----------<br />

Summe Reformisten 21,5 % 30,5 %<br />

In der politischen und kulturellen Praxis der Weimarer Republik waren Sozialdemokraten und<br />

Kommunisten soweit voneinander entfernt, daß die Einordnung der Kommunisten unter den<br />

Reformisten logischer erscheint, als die Einordnung zusammen mit der SPD. Die futuristischexpressionistische<br />

Periode der russischen Revolution bis 1924 und die neozaristisch-väterliche<br />

Periode unter Stalin wurden von den deutschen Kommunisten zeitgleich nachgestellt, beide Phasen<br />

glichen sich im elitaristischen Ansatz. Währenddessen verharrte die Sozialdemokratie bei egalitären<br />

Bebel´schen und Marx´schen Vorkriegskonzepten. Nach der sektiererischen Periode der KPD wurde<br />

Thälmann 1925 der väterliche Steuermann der fünften Kolonne Rußlands. Thälmann hantierte mit<br />

importierten asiatischen Regieanweisungen, sie funktionierten in Deutschland gerade so gut, <strong>das</strong>s sie<br />

ein Sechstel der Bevölkerung erreichten, und wiederum so schlecht, <strong>das</strong>s dieses Sechstel im<br />

stalinistischen Ghetto gefangen blieb. Deutschland war etwas empfänglich für die Moskauer Signale,<br />

weil es mit ähnlichen Symptomen an der Kulturkrise litt, als Russland, aber es war nur eine ähnliche<br />

Krise und nicht die gleiche. Der elitaristische antidemokratische Ansatz der KPD traf sich zuweilen mit<br />

dem elitaristisch-antidemokratischen Leitbild der NSDAP. Die Annäherungen von KPD und NSDAP<br />

1923 beim Ruhrkampf und 1932 sprechen eine beredte Sprache. In dieser Tradition reimte der<br />

Frauenmörder Johannes R. Becher noch 1939:<br />

An Stalin.<br />

Du schützt mit deiner starken Hand<br />

den Garten der Sowjetunion.<br />

Und jedes Unkraut reißt du aus,<br />

Du, Mutter Rußlands größter Sohn,<br />

nimm diesen Strauß.<br />

Nimm diesen Strauß mit Akelei<br />

zum Zeichen für <strong>das</strong> Friedensband,<br />

<strong>das</strong> fest sich spannt zur Reichskanzlei.<br />

Ebenbürtige Annäherungen zwischen SPD und KPD kann man suchen, es ist jedoch außer einer<br />

kurzlebigen Zusammenarbeit im Oktober 1923 in Sachsen und Thüringen nichts wichtiges gefunden<br />

worden. Außer dem Umstand, daß zahlreiche Kommunisten früher in der USPD organisiert gewesen<br />

waren, und vorher in der Vorkriegs-SPD, gab es keine Beziehungen.<br />

Es handelte sich 1924 um einen ersten Ausschlag weg von den gewachsenen Proportionen des<br />

Spätkaiserreichs, wobei zunächst gerade die Konservativen die Nutznießer des Umschwungs wurden.<br />

Die Konservativen erhielten Zulauf aus den Milieus von Reformisten und Marxisten und verzeichneten<br />

einen Zuspruch, wie sie ihn zu Regierungszeiten der Kaiser nie erreicht hatten.<br />

321 Das Wort „Führer“ war nach Hitler sehr belastet, es wurde nur noch in abgelegenen Weltengegenden<br />

ge<strong>braucht</strong>, z.B. in Kuba und Rumänien. Der verharmlosende Begriff „Personenkult“ wurde in den 50er Jahren<br />

geschaffen, um die Herrschaft Stalins von der Hitlers oder Mussolinis abzugrenzen.<br />

227


Besonders Berlin fiel in dieser Beziehung auf: Verlusten von 40 % der USPD standen nur Gewinne<br />

von 21 % bei KPD und SPD gegenüber. Jeder zweite Unabhängig-sozialdemokratische Wähler des<br />

Jahres 1920 hatte 1924 mehr oder weniger völkisch gewählt. Die Deutschnationalen gewannen in<br />

Berlin mehr als 11 % hinzu und die Deutschvölkische Freiheitspartei fast 5 %. Aus den Trümmern der<br />

USPD entstand fast eine rechte Hochburg. Bereits 1919 hatte Harald von Hoerschelmann bemerkt,<br />

<strong>das</strong>s in einigen Orten die Anhänger von Spartakus fast geschlossen für die DNVP gestimmt hätten, da<br />

<strong>das</strong> Lebensgefühl der Radikalsten und der Konservativsten trotz einer anscheinend unüberbrückbaren<br />

Kluft eine gewisse Verwandtschaft aufwiese. 322 Der Berliner Erfolg der DNVP war keinesfalls allein auf<br />

bürgerliche Wohnviertel beschränkt: Das schlechteste Bezirksergebnis der DNVP im proletarischen<br />

Neukölln betrug 16,1 %. Allerdings wurden im mehr ständisch geprägten Wilmersdorf oder Zehlendorf<br />

Spitzenergebnisse von 31,6 % bzw. 35 % erreicht. 323<br />

Die ehemaligen Wähler der USPD wählten nur zum Teil die Kommunisten, die Sozialdemokraten<br />

wurden trotz der Wiedervereinigung mit dem Rest der USPD weiter geschwächt, auch die DVP, die<br />

DDP und sogar <strong>das</strong> Zentrum verloren Anhänger. Die Kommunisten, <strong>das</strong> völkische Wahlbündnis und<br />

die Konservativen waren die Gewinner. Die spannendste Frage ist, wo die völkischnationalsozialistischen<br />

Stimmen herkamen, denn die Wählerwanderung sagt etwas aus über<br />

Berührungen zwischen den politischen und kulturellen Milieus, aber auch über ihre Abgrenzung<br />

voneinander.<br />

Die vormaligen SPD-, USPD- und KPD- Wähler gehörten nicht alle in <strong>das</strong> Milieu der organisierten<br />

Industriearbeiterschaft. Neben diesem Kern der Arbeiterschaft gab es Landarbeiter, Lehrer,<br />

Redakteure und andere Intellektuelle, Handwerksgesellen, Angestellte und Beamte (jeder Briefträger<br />

und Rangierer war damals Beamter), die einer dieser drei Parteien immer oder gelegentlich ihre<br />

Stimme gaben. Es war wegen des Angrenzens der industriellen Arbeiterschaft an <strong>das</strong> vom schönen<br />

Mittelalter träumende Handwerk geradezu wahrscheinlich, daß Wechselwähler der sozialistischen<br />

Parteien auch völkisch wählten. Worüber sich Friedrich Engels schon 1848 geärgert hatte, nämlich<br />

über die Durchstoßung proletarischer und zunfthandwerklicher Wahrnehmungsebenen, darüber hätte<br />

man in den zwanziger Jahren des Folgejahrhunderts immer noch Bände schreiben können. Auf den<br />

einen oder anderen traf unter dem Einfluß der neuen Elitetheorien zu: Egal ob Lenin, Stalin oder<br />

Hitler, er wollte sich an einen Führer als Übermenschen anlehnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

wurden viele ehemalige Nationalsozialisten auf dieser Grundlage zu überzeugten Stalin-Fans.<br />

Von den Deutschnationalen kamen die NSDAP-Wähler mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht, denn<br />

die DNVP legte selbst stark zu. Die stärksten Verlierer der Wahl, die USPD, die DDP und die DVP<br />

kommen als Lieferanten der völkischen Stimmen zuerst in Betracht. Ideengeschichtlich und<br />

wirtschaftsgeschichtlich standen sie diesen auch am nächsten.<br />

Die erste Tabellenfolge geht der Korrelation zwischen linken Parteien und Völkischen nach, die zweite<br />

Tabellenfolge der zwischen gemäßigten Reformisten und Völkischen.<br />

Norddt. Länder SPD USPD KPD Summe NSDAP u.ä.<br />

Anhalt 33,8 - 2,5 0,0 - 17,2 11,7 + 10,6 45,5 - 9,1 5,0 + 5,0<br />

Braunschweig 30,8 + 19,3 2,4 - 38,1 8,9 + 8,2 42,1 - 10,6 10,0 + 10,0<br />

Bremen 30,3 + 12,5 0,4 - 31,1 13,7 + 9,3 44,4 - 9,3 8,8 + 8,8<br />

Hamburg 27,7 - 10,7 0,5 - 14,6 18,3 + 17,8 46,5 - 7,5 6,0 + 6,0<br />

Lippe 27,9 - 4,1 0,6 - 8,3 7,4 + 7,4 35,9 - 5,0 6,1 + 6,1<br />

Lübeck 38,6 - 7,6 0,3 - 7,0 8,0 + 7,0 47,9 - 7,6 12,5 + 12,5<br />

Meckl.-Schwerin 25,4 - 9,8 0,5 - 10,0 10,7 + 9,9 36,8 - 9,9 22,4 + 22,4<br />

Meckl.-Strelitz 20,4 - 16,2 0,7 - 7,2 15,4 + 13,4 36,5 - 10,0 22,3 + 22,3<br />

Oldenburg 21,1 - 0,7 0,4 - 10,6 6,2 + 4,8 27,7 - 6,5 6,3 + 6,3<br />

Preußen 18,7 - 3,3 0,9 - 16,8 13,3 + 11,4 32,9 - 8,7 4,9 + 4,9<br />

Sachsen 30,8 + 6,6 0,7 - 24,6 14,4 + 10,0 45,9 - 8,0 6,6 + 6,6<br />

Schaumburg-Lippe 45,5 + 0,6 0,5 - 5,1 3,4 + 3,4 49,4 - 1,1 2,5 + 2,5<br />

Thüringen 24,7 + 7,0 1,0 - 28,8 15,8 + 13,8 41,5 - 8,0 10,5 + 10,5<br />

Waldeck 15,0 - 8,2 0,6 - 3,2 3,3 + 3,3 18,9 - 8,1 6,5 + 6,5<br />

322 Zitiert in Gerd Koenen: Der Russland-Komplex C.H.Beck, S. 227<br />

323 Ergebnisse aus www.statistik-berlin.de/wahlen/wahldatenbank/tabellen/24Maireip.htm<br />

228


Süddt. Länder SPD USPD KPD Summe NSDAP u.ä.<br />

Baden 15,2 - 4,9 0,7 - 10,1 10,2 + 8,7 26,1 - 4,8 4,8 + 4,8<br />

Bayern 17,7 + 1,2 0,5 - 12,5 8,1 + 6,1 26,3 - 5,2 16,0 + 16,0<br />

Hessen 29,5 - 0,8 0,7 - 11,5 9,3 + 8,8 39,5 - 2,1 2,9 + 2,9<br />

Württemberg 16,0 - 0,1 0,0 - 13,1 11,5 + 8,2 27,5 - 5,0 4,2 + 4,2<br />

Preußen Ostprov. SPD USPD KPD Summe NSDAP u.ä.<br />

Berlin 20,4 + 2,9 2,6 - 40,1 17,9 + 16,6 40,9 - 20,6 8,6 + 8,6<br />

Brandenburg 21,5 + 0,8 1,1 - 25,1 9,7 + 8,4 32,3 - 15,9 7,5 + 7,5<br />

Niederschlesien 25,9 - 8,7 0,0 - 8,1 6,2 + 5,8 32,1 - 10,6 7,0 + 7,0<br />

Oberschlesien 4,2 - 10,5 0,0 + 0,0 16,7 + 9,5 20,9 - 1,0 4,1 - 0,4<br />

Ostpreußen 15,3 - 8,7 0,6 - 5,2 11,7 + 4,5 27,6 - 9,4 11,3 + 11,3<br />

Pommern 18,9 - 1,8 0,0 - 16,7 8,7 + 7,5 27,6 - 11,0 9,4 + 9,4<br />

Posen-Westpreußen 9,5 - 6,5 0,4 - 8,6 3,2 + 3,1 13,1 - 12,0 13,7 + 13,7<br />

Prov. Sachsen 21,9 + 3,4 0,9 - 31,8 17,4 + 16,0 40,2 - 11,0 7,1 + 7,1<br />

Schleswig-Holstein 24,7 - 12,8 1,1 - 1,9 10,3 + 4,2 36,1 - 10,4 7,4 + 7,4<br />

Preußen Westprov. SPD USPD KPD Summe NSDAP u.ä.<br />

Hannover 24,3 - 4,1 0,3 - 10,4 7,5 + 7,0 32,1 - 7,5 7,4 + 7,4<br />

Hessen-Nassau 25,6 - 2,0 1,0 - 11,6 9,5 + 8,0 36,1 - 5,6 5,6 + 5,6<br />

Hohenzollern 3,2 - 5,1 0,0 - 4,9 5,9 + 4,3 9,1 - 5,7 4,8 + 4,8<br />

Rheinprovinz 10,4 - 3,6 0,7 - 16,2 17,1 + 15,5 28,2 - 4,3 2,5 + 2,5<br />

Westfalen 15,9 - 4,4 1,3 - 13,5 16,9 + 15,3 34,1 - 2,6 2,2 + 2,2<br />

Zwischen USPD und SPD gab es einen starken Zusammenhang: Wo die USPD Verluste über 20 %<br />

verzeichnete, legte die SPD zu. Bei Verlusten unter 20 % verlor die SPD im allgemeinen. Ohne<br />

bedeutende USPD-Verluste, zum Beispiel in Oberschlesien oder Schleswig-Holstein verlor die SPD<br />

etwa 10 %. Man kann davon ausgehen, daß die SPD erheblich Stimmen verloren hätte, wenn nicht<br />

die USPD fast die Hälfte ihrer Wähler an die SPD abgegeben hätte. Die SPD-Verluste beispielsweise<br />

an die Konservativen und Völkischen werden bis zu einem gewissen Grad vom Stimmentransfer der<br />

USPD an die SPD unterlagert. Andererseits sind nicht alle KPD-Gewinne aus USPD-Verlusten zu<br />

erklären. In Hamburg, Oberschlesien und Schleswig-Holstein gewannen die Kommunisten mehr, als<br />

die USPD verlor. Eine Wählerwanderung von der SPD zur KPD ist hier die wahrscheinlichste<br />

Erklärung. Die Wanderungen von der USPD zu SPD und KPD sowie von der SPD zur KPD schließen<br />

überall mit einem Schwund ab: in den einzelnen Wahlbezirken sahen sich zwischen 1 % und 20 %<br />

außerhalb der SPD und ihrer Abspaltungen um: In Berlin verlor <strong>das</strong> linke Trio im Saldo 20 %.<br />

Eine mögliche Wanderung war die zu den Völkischen. Es fällt jedoch sofort auf, daß in Lübeck,<br />

Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, Thüringen, Bayern, Ostpreußen und Posen-<br />

Westpreußen die linken Verluste alleine nicht ausreichen, um die Gewinne der<br />

Völkischen/Nationalsozialisten zu erklären.<br />

Deshalb erfolgt ergänzend die Gegenüberstellung der Verluste der gemäßigten Reformisten und der<br />

Gewinne der Völkischen/Nationalsozialisten.<br />

Norddt. Länder DDP DVP DDP und DVP Völkische<br />

Anhalt - 8,9 + 5,0 - 3,9 + 5,0<br />

Braunschweig - 1,7 - 6,5 - 8,2 + 10,0<br />

Bremen - 2,1 - 6,6 - 8,7 + 8,8<br />

Hamburg - 4,4 - 2,9 - 7,3 + 6,0<br />

Lippe - 2,7 - 0,3 - 3,0 + 6,1<br />

Lübeck - 2,3 - 9,3 - 11,6 + 12,5<br />

Meckl.-Schwerin - 4,2 - 8,2 - 12,4 + 22,4<br />

Meckl.-Strelitz - 10,0 - 5,1 - 15,1 + 22,3<br />

Oldenburg - 3,7 - 11,6 - 15,3 + 6,3<br />

Sachsen - 1,3 - 5,0 - 6,3 + 6,6<br />

Schaumbg.-Lippe - 1,5 - 8,4 - 9,9 + 2,5<br />

Thüringen - 3,9 - 2,6 - 6,5 + 10,5<br />

229


Waldeck - 5,1 - 1,8 - 6,9 + 6,5<br />

Süddt. Länder DDP DVP DDP und DVP Völkische<br />

Baden - 4,4 + 1,2 - 3,2 + 4,8<br />

Bayern - 5,0 - 6,6 - 11,6 + 16,0<br />

Hessen - 3,4 - 5,4 - 8,8 + 2,9<br />

Württemberg - 5,0 + 0,5 - 4,5 + 4,2<br />

Ostprovinzen DDP DVP DDP und DVP Völkische<br />

Berlin + 1,8 - 5,7 - 3,9 + 8,6<br />

Brandenburg - 4,6 - 10,4 - 15,0 + 7,5<br />

Niederschlesien - 3,5 - 4,6 - 8,1 + 7,0<br />

Oberschlesien - 0,6 - 4,6 - 5,2 - 0,4<br />

Ostpreußen - 2,1 - 6,5 - 7,6 + 11,3<br />

Pommern - 1,9 - 15,0 - 16,9 + 9,4<br />

Posen-Westpr. - 2,8 - 5,6 - 8,4 + 13,7<br />

Prov. Sachsen - 5,1 - 2,4 - 7,5 + 7,1<br />

Schleswig-Holstein - 1,4 - 6,2 - 7,6 + 7,4<br />

Westprovinzen DDP DVP DDP und DVP Völkische<br />

Hannover - 1,9 - 6,5 - 8,4 + 7,4<br />

Hessen-Nassau - 3,1 - 4,3 - 7,4 + 5,6<br />

Hohenzollern - 0,4 + 1,3 + 0,9 + 4,8<br />

Rheinprovinz - 1,1 - 1,9 - 3,0 + 2,5<br />

Westfalen - 0,7 - 3,6 - 4,3 + 2,2<br />

Der zweite Tabellenblock zeigt, daß gerade dort, wo die marxistischen Verluste zur Erklärung der<br />

völkisch/nationalsozialistischen Gewinne nicht ausreichen (Lübeck, die beiden Mecklenburg,<br />

Thüringen, Bayern, Ostpreußen und Posen-Westpreußen) teils zweistellige Verluste der gemäßigten<br />

Reformisten erkennbar sind. Auch die DDP- und DVP-Verluste alleine reichen aber für die Erklärung<br />

der völkischen Gewinne nicht aus.<br />

Die vorangestellten Tabellen zeigen eine relativ gute Korrelation zwischen Verlusten des linken Trios<br />

und völkisch/nationalsozialistischen Gewinnen, solange die letzteren Gewinne einstellig blieben. Diese<br />

Bilanz zwischen Linken und Rechten ging in Lübeck, Mecklenburg, Thüringen, Bayern, Brandenburg-<br />

Berlin, Ostpreußen und Posen-Westpreußen nicht auf: In Mecklenburg und Bayern erzielten die<br />

Völkischen/Nationalsozialisten ihre besten Ergebnisse und die Stimmen kamen offensichtlich zu<br />

einem guten Teil aus dem gemäßigt reformistischen Lager. In Brandenburg und Berlin profitierte in<br />

direkter Weise die DNVP von der Auflösung der USPD. Die KPD und die Völkischen/NSDAP konnten<br />

hier die linken Wähler nicht alleine auffangen.<br />

Die USPD-Spaltung hätte theoretisch mit der Aufteilung der Wähler zwischen SPD und KPD enden<br />

müssen. In Braunschweig und Bremen war die SPD der Hauptgewinner der USPD-Spaltung, in<br />

Sachsen und Thüringen konnte die SPD zumindest Wähler in nennenswertem Umfang<br />

zurückgewinnen, in allen anderen Gebieten waren die KPD und <strong>das</strong> völkisch-nationalsozialistische<br />

Bündnis Nutznießer des Zerfalls der USPD und der Schwäche der SPD.<br />

In den beiden Mecklenburg, in Bayern und Lübeck konnten die Nationalsozialisten in stärkerem Maße<br />

als in anderen Wahlgebieten in <strong>das</strong> reformistische Milieu eindringen. Eine schwache Korrelation<br />

zwischen gemäßigten Reformisten und Völkischen/Nationalsozialisten ist jedoch im ganzen Reich<br />

vorhanden.<br />

Die Gewinne des völkisch-nationalsozialistischen Wahlbündnisses erfolgten zweifellos vor allem auf<br />

Kosten der USPD und der gemäßigten DDP- und DVP- Reformisten. Das ist insofern logisch, als die<br />

völkischen Ideologien sich zu einem guten Teil aus und mit der Lebensreform entwickelt hatten und<br />

mit dieser in den zwanziger Jahren eng verbunden blieben.<br />

Die Wirtschaftspartei gesellte sich als reine Klientelpartei in <strong>das</strong> Parteienspektrum. Sie bildete sich ab<br />

1920 aus Haus- und Grundeigentümervereinen sowie handwerklichen Organisationen und breitete<br />

sich zunächst über Preußen aus. 1926 gab sie sich ein Programm, <strong>das</strong> dem wirtschaftspolitischen<br />

230


Programm der NSDAP und dem der Konservativen sehr nahestand. Alle sollten gesammelt werden,<br />

die nicht zum klassenkämpferischen Proletariat und nicht zum persönlichkeitsfeindlichen Kapitalismus<br />

gehörten und willig zum Folgen, fähig zum Führen seien. Die Rückkehr zu den guten und einfachen<br />

Sitten der Väter wurde angestrebt. 324<br />

Sehr originell war <strong>das</strong> nicht. Der tradierte Antikapitalismus und Antiindustrialismus wurde bereits bei<br />

den Konservativen, bei der DDP oder bei der NSDAP gepflegt. Bei der Wirtschaftspartei handelte es<br />

sich um eine weitere konservative Partei, in der allerdings <strong>das</strong> Handwerksecho stärker war, als der<br />

Einfluß der Landwirtschaft. Der Parteiintellektuelle J. V. Bredt hatte vor dem Weltkrieg für die<br />

Freikonservativen die Parlamentsbank gedrückt.<br />

Seltsamerweise wurde immer wieder, nicht nur im Programm der Wirtschaftspartei, sondern auch in<br />

dem der NSDAP vom persönlichkeitsfeindlichen Kapitalismus gesprochen. Der Zusammenhang<br />

zwischen Kapitalismus und Individualisierung wurde von den deutschtümelnden Ideologen oft in <strong>das</strong><br />

Gegenteil verkehrt. Planwirtschaft und Persönlichkeit wurden über <strong>das</strong> missing link „Führerschaft“ in<br />

eine fragile Verbindung gebracht. Sie hingen insofern zusammen, als die Planwirtschaft Führerschaft<br />

verlangt. Das Prinzip von Führer und Gefolgschaft wurde bei der Wirtschaftspartei ebenso wie bei<br />

völkischen Bauernbünden ausdrücklich erwähnt. Freilich gestattet <strong>das</strong> von der Wirtschaftspartei<br />

ersehnte Führerprinzip Individualität allein für den Führer. Für den Führer gestattet es freilich mehr<br />

Individualität, als die demokratischen Prinzipien der Marktwirtschaft. Für die zahlreichere Gefolgschaft<br />

reduziert sich die Individualität unter dem Führerprinzip auf ein notwendiges Minimum. Das<br />

demokratische Prinzip schränkt dagegen die Individualität für den Führer etwas ein, es erweitert sie<br />

jedoch für die „Gefolgsleute“. Aus Führer und Gefolgschaft wird unter demokratischen Verhältnissen<br />

ein pluralistischer Organismus mit zentralen sowie dezentralen Antrieben und dezentralen<br />

Hemmungen. In der Propaganda der zwanziger Jahre wurde dieser Mechanismus der<br />

Individualisierung verkehrt dargestellt und wahrgenommen, nämlich aus der Perspektive des Führers,<br />

und nicht aus der Perspektive der pluralistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssubjekte. Es handelt<br />

sich um keine pluralistische Gesellschaftsbetrachtung, weil diese Gesellschaftsbetrachtung nicht von<br />

einem pluralistischen Standpunkt, nicht aus einer pluralistischen Wirtschaft und Gesellschaft heraus<br />

erfolgte. Die Subjekte der Gesellschaft hatten ihre Rolle als Objekte der korporatistischen Verbände<br />

bereits zu stark verinnerlicht, der politisch totalitäre Führerstaat kam etwas später in voller Ausprägung<br />

als ein in der Wirtschaft lange praktiziertes und mittlerweile verinnerlichtes Fatum über die Deutschen.<br />

Die Debatte über die Persönlichkeitsfeindlichkeit des Kapitalismus hing mit der über die Deutsche<br />

Freiheit zusammen, die ein langes <strong>Menschen</strong>alter zuvor zwischen Max Stirner und Karl Marx<br />

stattgefunden hatte. In "Der Einzige und sein Eigenthum" hatte Stirner den Gegensatz von Freiheit als<br />

Abwehr fremder Macht und Eigenheit als Besitz eigener Macht konstruiert.<br />

"Innerlich kann man trotz des Zustandes der Sklaverei frei sein, obwohl auch wieder nur von<br />

Allerlei, nicht von Allem; aber von der Peitsche, der gebieterischen Laune pp. des Herrn wird man<br />

nicht frei." "Dagegen Eigenheit, <strong>das</strong> ist Mein ganzes Wesen und Dasein, <strong>das</strong> bin ich selbst. Frei bin<br />

ich von dem, was ich los bin, Eigner von dem, was Ich in Meiner Macht habe oder dessen Ich<br />

mächtig bin. Mein Eigen bin Ich jederzeit und unter allen Umständen, wenn Ich mich zu haben<br />

verstehe und nicht an andere wegwerfe. Das Freisein kann Ich nicht wirklich wollen, weil Ich´s nicht<br />

machen...kann; Ich kann es nur wünschen und danach trachten, denn es bleibt ein Ideal, ein Spuk.<br />

Die Fesseln der Wirklichkeit schneiden jeden Augenblick in mein Fleisch die schärfsten Striemen.<br />

Mein Eigen aber bleibe Ich."<br />

Marx höhnte dazu:<br />

"Insofern Stirner die Prügel erhält, ist er Eigner der Prügel, und damit vom Nichtgeprügeltsein, und<br />

diese Freiheit, dies Lossein gehört zu seiner Eigenheit." 325<br />

Zur deutschen Freiheit faßte Marx zusammen, daß die Reaktionäre, namentlich die historische Schule<br />

und die <strong>Romantik</strong>er die wahre Freiheit in die Eigenheit, z.B. der Tiroler Bauern, überhaupt in die<br />

eigentümliche Entwicklung der Individuen und weiter der Lokalitäten, Provinzen und Stände setzen,<br />

und daß Stirner als Deutscher, wenn er auch nicht frei sei, doch durch seine unbestreitbare Eigenart<br />

für alle Leiden entschädigt werde.<br />

324 H. Fenske: Deutsche Parteiengeschichte, S. 169<br />

325 K. Marx F. Engels Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 288 ff<br />

231


"Was der gewöhnliche deutsche Kleinbürger in aller Stille des Gemütes sich leise zum Trost sagt,<br />

posaunt der Berliner als geistreiche Wendung laut aus. Er ist stolz auf seine lumpige Eigenart und<br />

eigene Lumperei." 326<br />

Wenn also der Kapitalismus im Verständnis der Handwerker, Hausbesitzer, Landwirte und<br />

Intellektuellen der zwanziger Jahre persönlichkeitsfeindlich erscheint, so ist er es, indem er die<br />

Eigenheit der Stände und Lokalitäten nivelliert, zumindest die Unterschiede flacher macht, indem der<br />

deutsche Philister die Freiheit als Eigenheit der Stände und Landschaften definiert, und nicht als<br />

Freiheit des Einzelnen von den Bindungen des Standes und von landschaftlichen Traditionen. Die<br />

<strong>Romantik</strong> und die Historische Schule beherrschten den Freiheitsbegriff, es war ein innerlicher Begriff,<br />

der äußerliche Prügel gewohnt war. Die im zünftigen und korporativen Standesdenken<br />

stehengebliebenen Mittelklassen wollten sich überhaupt nicht von den Beschränkungen des<br />

Mittelalters, von korporatistischen Bezügen losreißen, sie wollten sich nicht wirklich individualisieren.<br />

Liebgewordene Bequemlichkeit, die Verankerung in der heimatlichen Tradition, die Angst vor dem<br />

Wettbewerb beherrschten <strong>das</strong> Denken, die Chancen des Losreißens aus dem Mittelalter schienen<br />

klein gegenüber der Geborgenheit in der muffigen Gewohnheit. Der Reichsdeputationshauptschluß<br />

war nach 1800 unverhofft über die deutschen Stände hereingebrochen und über 100 Jahre später<br />

noch nicht wirklich akzeptiert und verarbeitet.<br />

Deshalb ist die Wählerwanderung von den gemäßigt reformistischen Parteien zu den Konservativen<br />

von Interesse. Die folgende Tabelle zeigt diese Wanderung.<br />

Norddt. Länder DDP DVP Verlust DNVP WP Bilanz<br />

Anhalt 5,3 - 8,9 19,2 + 5,0 - 3,9 18,6 + 3,0 3,2 + 3,2 + 6,2<br />

Braunschweig 5,3 - 1,7 17,7 - 6,5 - 8,2 19,8 + 7,8 + 7,8<br />

Bremen 11,3 - 2,1 17,9 - 6,6 - 8,7 14,0 + 7,7 + 7,7<br />

Hamburg 13,0 - 4,4 12,2 - 2,9 - 7,3 19,5 + 7,0 + 7,0<br />

Lippe 8,9 - 2,7 20,1 - 0,3 - 3,0 23,6 - 0,8 - 0,8<br />

Lübeck 8,2 - 2,3 14,1 - 9,3 - 11,6 16,1 + 5,2 + 5,2<br />

Meckl.-Schwerin 4,1 - 4,2 6,9 - 8,2 - 12,4 28,1 + 6,4 + 6,4<br />

Meckl.-Strelitz 5,8 - 10,0 5,7 - 5,1 - 15,1 27,0 + 1,6 + 1,6<br />

Oldenburg 11,8 - 3,7 13,3 -11,6 - 15,3 17,3 +12,3 0,1 + 0,1 + 12,4<br />

Preußen 5,0 - 2,0 9,3 - 5,4 - 7,4 23,1 + 8,0 2,0 + 1,6 + 9,6<br />

Sachsen 7,8 - 1,3 13,6 - 5,0 - 6,3 19,7 + 2,5 2,8 + 2,8 + 5,3<br />

Schaumburg-Lippe 9,0 - 1,5 15,9 - 8,4 - 9,9 21,7 + 7,5 + 7,5<br />

Thüringen 4,4 - 3,9 12,6 - 2,6 - 6,5 7,6 - 0,2 2,8 + 2,8 + 2,6<br />

Waldeck 7,9 - 5,1 15,7 - 1,8 - 7,9 46,4 + 6,8 0,9 + 0,9 + 7,7<br />

Süddeutsche Länder DDP DVP Verlust DNVP WP Bilanz<br />

Baden 7,9 -4,4 8,0 + 1,2 - 3,2 8,1 - 3,9 - 3,9<br />

Bayern 3,0 - 5,0 0,7 - 6,6 - 11,6 11,6 + 4,6 + 4,6<br />

Hessen 7,4 -3,4 10,6 - 5,4 - 8,8 6,1 k.V. k.V.<br />

Württemberg 9,5 - 5,0 4,4 + 0,5 - 4,5 10,1 - 7,6 0,7 + 0,7 - 6,9<br />

Ostprovinzen DDP DVP Verlust DNVP WP Bilanz<br />

Berlin 8,9 + 1,8 8,4 - 5,7 - 3,9 22,6 + 11,1 4,0 + 1,6 + 12,7<br />

Brandenburg 4,8 - 4,6 8,3 -10,4 - 15,0 39,9 + 20,3 3,5 + 2,1 + 22,4<br />

Niederschlesien 5,3 - 3,5 7,6 - 4,6 - 8,1 29,2 + 9,9 3,2 + 3,2 + 13,1<br />

Oberschlesien 1,7 - 0,6 2,6 - 4,6 - 5,2 17,8 + 3,9 2,0 + 2,0 + 5,9<br />

Ostpreußen 3,5 - 2,1 8,3 - 6,5 - 8,6 38,9 + 7,8 + 7,8<br />

Pommern 2,6 - 1,9 4,7 -15,0 - 16,9 49,5 + 14,0 2,1 + 1,9 + 15,9<br />

Posen-Westpreußen 2,2 - 2,8 5,0 - 5,6 - 9,4 35,0 + 3,7 0,4 + 0,4 + 4,1<br />

Prov. Sachsen 6,0 - 5,1 11,3 - 2,4 - 7,5 25,7 + 8,9 3,0 + 3,0 + 11,9<br />

Schleswig-Holstein 8,0 - 1,4 12,2 - 6,2 - 7,6 31,0 + 9,5 + 9,5<br />

326 s.o. S. 296<br />

232


Westprovinzen DDP DVP Verlust DNVP WP Bilanz<br />

Hannover 4,2 - 1,9 10,8 - 6,5 - 8,4 14,5 + 7,8 + 7,8<br />

Hessen-Nassau 7,1 - 3,1 11,8 - 4,3 - 7,4 19,9 + 5,1 2,0 + 2,0 + 7,1<br />

Hohenzollern 6,6 - 0,4 2,1 + 1,3 + 0,9 3,0 + 0,3 0,3 + 0,3 + 0,6<br />

Rheinprovinz 3,3 - 1,1 9,8 - 1,9 - 3,0 10,6 + 3,1 2,4 + 2,4 + 5,5<br />

Westfalen 3,8 - 0,7 10,4 - 3,6 - 4,3 12,7 + 5,7 + 5,7<br />

Die Verluste der gemäßigten Reformisten bilanzieren in vielen Wahlbezirken mit Gewinnen der<br />

Konservativen und der Wirtschaftspartei, andere Wahlbezirke tanzten jedoch völlig aus der Reihe.<br />

Riesigen Verlusten der gemäßigten Reformisten in Mecklenburg-Strelitz steht beispielsweise ein<br />

winziger Gewinn der Konservativen gegenüber, ähnliches in Bayern, Thüringen usw. Auch diese<br />

Tabelle spricht dafür, daß ein Teil der Verluste der gemäßigten Reformisten den radikalen Elitaristen<br />

zugute kam, und daß ein Teil der ehemaligen USPD-Wähler direkt zu den Konservativen ihren Weg<br />

fand.<br />

Wenn KPD und Antisemiten 1924 aus dem gleichen Wählerpool der untergegangenen USPD und der<br />

schwächelnden SPD schöpften, so muß es dafür Grundlagen gegeben haben. Es war bereits erwähnt<br />

worden, daß während des Ruhrkampfs in NSDAP und KPD über eine engere Zusammenarbeit<br />

nachgedacht wurde. Warum sollten die Wähler nicht Grenzen überschreiten, wenn es die<br />

Parteiführungen taten? Eine Vermutung ist, daß zunächst die USPD, später die NSDAP<br />

Protestwähler, die über den Kern der industriellen Arbeiterschaft hinausragten, für ihre Zwecke<br />

mobilisieren konnten. Ein ergänzender Erklärungsversuch ist die weitverbreitete Abneigung gegen<br />

den Kapitalismus, der von der USPD und der NSDAP gleichermaßen bedient wurde. Das trifft<br />

besonders auf die Präferenz für <strong>das</strong> Gemeinwirtschaftskonzept zu, <strong>das</strong> die USPD mit der NSDAP,<br />

aber auch mit anderen politischen Gruppierungen teilte. Der Kapitalismus wurde immer wieder als ein<br />

englischer Import dargestellt, der dem eigentümlichen preußisch-deutschen Charakter nicht<br />

entsprechen würde, und <strong>das</strong> Gemeinwirtschaftskonzept als spezifisch deutsch betrachtet. Was den<br />

Antikapitalismus betraf, so klimperten die USPD und die NSDAP auf überlappenden Tasten des<br />

antikapitalistischen Propaganda-Klaviers herum, wenn sie nicht gar auf dieselben Sozialismus-Pauken<br />

hauten oder ganze Tonleitern und Disharmonien voneinander ausborgten. Unterschiedlich bei KPD<br />

einerseits und NSDAP war <strong>das</strong> Sozialismuskonzept, <strong>das</strong> sich zwar berührte, aber nicht zur Deckung<br />

zu bringen war. Die KPD war für die Enteignung der Produktionsmittel und die Diktatur des<br />

Proletariats, was mehr einem mongolischen Gesellschaftskonzept entsprach. Die NSDAP beschritt<br />

den germanisch-korporatistischen Weg und forderte Einziehung aller Kriegsgewinne, eine<br />

Bodenreform, die entschädigungslose Einziehung von Land für gemeinnützige Zwecke, die<br />

Verhinderung von Bodenspekulation, den rücksichtslosen Kampf gegen Wucherer und Schieber, <strong>das</strong><br />

Verbot mühelosen Einkommens, die Abschaffung des römischen Rechts als Grundlage der<br />

materialistischen Weltordnung und die Bildung von Stände- und Berufskammern. Damit zogen sich die<br />

nationalsozialistischen Eingebungen und Ideen auf die Wiederherstellung der mittelalterlichen<br />

Ständeordnung zurück, was nach 1933 mit dem Erbhofgesetz, dem Großen Befähigungsnachweis<br />

und der Deutschen Arbeitsfront auch konsequent umgesetzt wurde. Was jedoch <strong>das</strong> Führerprinzip<br />

betraf, so waren beide Parteien sich wieder sehr nahe. Der Personenkult betraf Stalin so wie Hitler, an<br />

demokratischen Parteistrukturen ihrer Bewegungen hatten beide kein Interesse.<br />

Man könnte die Wahl vom Mai 1924 als Protestwahl abtun, es war jedoch eine frühe Warnung vor<br />

dem Ende der Republik, ein früher Fingerzeig auf <strong>das</strong>, was ab 1930 noch stärker in Gang kam: <strong>das</strong><br />

Hereinschwappen der völkischen Reformstimmung in die Politik.<br />

Rom und Berlin<br />

Die Nationalsozialisten, Völkischen und Alldeutschen hatten <strong>das</strong> Deutschtum schon in der Kaiserzeit<br />

unerträglich strapaziert und grenzten sich vom restlichen Globus ab. Das entsprach der<br />

internationalen Lage insofern, als der freie Welthandel insbesondere und die internationalen<br />

Beziehungen im allgemeinen darniederlagen. Die Kommunisten entdeckten spätestens 1924/25 ihre<br />

Vorliebe für den Stalinismus und begannen, sich Deutschland als Sowjetparadies vorzustellen. Diese<br />

Konzeption war streng genommen die einer 5. Kolonne Moskaus und insofern nicht<br />

internationalistisch. Die Sozialdemokraten hatten im Weltkrieg den Text der Internationale vergessen.<br />

In der Weimarer Zeit standen sie in der Polenpolitik nationalistischen Gruppierungen sehr nahe.<br />

233


Wie verhielt sich <strong>das</strong> Zentrum, <strong>das</strong> seine Inspiration zumindestens fragmentarisch doch aus der<br />

ewigen Hauptstadt bezog? Es war in der Tat die einzige Partei, die in Deutschland in nennenswerter<br />

Anzahl auch von Polen gewählt wurde, allerdings mit abnehmender Tendenz. Die römisch-katholische<br />

Internationalität wurde durch Nationalstaatsgedanken und nationalstaatliche Loyalitäten gebrochen<br />

und ergab in der Summe immer wieder haarsträubende Abstrusitäten oder zumindest diffuse<br />

Spannungsfelder. In der Weimarer Republik muß an die Kanzler Wirth und Marx erinnert werden,<br />

denen die Freundschaft zur gotteslästernden und gotteslästerlichen Sowjetunion wichtiger war, als die<br />

Freundschaft zum katholischen Frankreich, denen die Aufrüstung mit Hilfe der Roten Armee wichtiger<br />

war, als die Unterstützung des katholischen Polens gegen ketzerische sowjetrussische<br />

Großmachtpläne. Hans Mommsen wies für 1927 auf die Inbetriebnahme einer Panzerschule bei<br />

Kasan und eines gemeinsam genutzten Militärflugplatzes bei Lipezk hin; die technische<br />

Zusammenarbeit mit der Roten Armee bei der Fabrikation von Giftgas, alles <strong>das</strong> fiel in die<br />

Regierungszeit von Wilhelm Marx. 50 Jahre Marsch durch die preußisch-deutschen Institutionen<br />

hatten deutliche Spuren hinterlassen. Der Preußen-Fan Brüning qualifizierte sich für <strong>das</strong> Kanzleramt<br />

nicht über besondere Beziehungen nach Rom, sondern nach Berlin. Franz von Papen schließlich<br />

gehörte zu den Totengräbern der republikanischen Ordnung.<br />

Die reformistische Propaganda stellte <strong>das</strong> Zentrum immer wieder als vaterlandslos hin:<br />

"Die Ultramontanen (<strong>das</strong> Zentrum) gehören zwei Staaten an: dem Deutschen Reich und dem<br />

universalen Gottesstaat, an dessen Spitze der Papst steht. Und weil sie völlig befangen sind in den<br />

mittelalterlichen Ideen des theokratischen Universalismus, können sie kein volles Verständnis für<br />

ein lebhaftes Nationalbewußtsein haben; ja, sie nehmen die Polen, Dänen, elsässische<br />

Französlinge, Tschechen in Schutz gegen <strong>das</strong> Deutschtum." 327<br />

Hinsichtlich der Stellung zum Nationalstaat war <strong>das</strong> Zentrum entgegen der preußischen Propaganda<br />

leider ein nur sehr mäßig dämpfendes Element. Bereits nach dem Ende des Kulturkampfes hatte sich<br />

<strong>das</strong> Zentrum, wie der ganze deutsche Katholizismus überhaupt, mit dem Kaiserreich leidlich<br />

arrangiert. In Bezug auf die Propagierung von Weltverbesserungssystemen war <strong>das</strong> Zentrum dagegen<br />

zu alt und zu erfahren, um die ärgsten ideologischen Schwankungen immer sofort mitzumachen.<br />

Starke Beharrungskräfte und Traditionen behinderten <strong>das</strong> politische und ideologische Flattern im<br />

Wind, besonders wenn es um Erziehungsfragen ging. Das bedeutet nicht, daß die katholische Kirche<br />

und die Zentrumspartei davor gefeit war, langfristig modernen Tendenzen und Verlockungen<br />

nachzugeben. Die Katholiken waren regelmäßig nicht die ersten, sondern die letzten, die sich dem<br />

Zug der Lemminge anschlossen, aber der Zug der Lemminge war lang.<br />

So ahmte die katholische Jugendbewegung "Quickborn" in den 20er Jahren den Stil der bündischen<br />

Jugend nach, zog auf Grund dieser Zugeständnisse und Huldigungen an den Zeitgeist jedoch<br />

Hunderttausende von Mitgliedern an.<br />

Protestantismus, Liberalismus, Sozialismus und alle Reformismen der ersten beiden Jahrzehnte des<br />

20. Jh. wurden als konkurrierende Heilslehren wahrgenommen und mehr oder weniger vehement<br />

bekämpft, reflexhaft war besonders der Kampf um die Schulpolitik, und hier um die katholische<br />

Grundschule.<br />

Die folgende Tabelle gibt den Prozentsatz der Katholiken an der Gesamtbevölkerung 1925 wieder,<br />

den Anteil des Zentrums bei der zweiten Wahl 1924 und den Anteil der Zentrumswähler an der Zahl<br />

der Katholiken.<br />

In Gebieten mit kompakter katholischer Bevölkerung war der Einfluß des Zentrums noch hoch, in<br />

Gebieten mit katholischen Minderheiten fehlten die Bindung und die Durchschlagskraft. Das<br />

Kaiserreich, die Weimarer Republik und <strong>das</strong> Dritte Reich waren wesentlich atheistischer als die<br />

Bundesrepublik, und der Atheismus war wesentlich giftiger und militanter, als heute.<br />

Trotz der allgemeinen religiösen Schwächephase in der Zeit von 1840 bis 1940 war <strong>das</strong> Zentrum die<br />

einzige Regierungspartei, die die Weimarer Zeit ohne katastrophale Zustimmungsverluste ihrer<br />

Klientel überstand.<br />

327 Heinrich Wolf: Angewandte Geschichte, Theodor Weicher, Leipzig, 9. Aufl. S. 270<br />

234


Die Zeit des 2. Reichstags<br />

Die instabilen politischen Isotopen des 2. Reichstags hatten eine Halbwertszeit von nur einem halben<br />

Jahr. Es war jedoch der einzige Reichstag, der nur ein Kabinett verheizte. Es war <strong>das</strong> zweite Kabinett<br />

Marx, <strong>das</strong> keine Mehrheit im Reichstag hatte und aus Zentrum, DVP und DDP geformt worden war,<br />

Eine Koalition der Wahlverlierer der 2. Reichstagswahl.<br />

Zentrum 13,4 %<br />

DVP 9,2 %<br />

DDP 5,7 %<br />

----------<br />

Summe 28,3 %<br />

Unterstützung durch SPD 20,5 %<br />

----------<br />

Summe 48,3 %<br />

Die Arithmetik war nicht so, daß die Regierung auf Gedeih und Verderb der SPD ausgeliefert war,<br />

auch mit Unterstützung der DNVP ließ sich eine Mehrheit erzielen.<br />

1924 war ein Jahr des Aufschwungs, die industrielle und landwirtschaftliche Produktion stieg stark, die<br />

Arbeitslosenzahl sank. Und vor allem mußten sich die elitaristischen Parteien nach dem Hamburger<br />

Aufstand und dem Marsch auf die Feldherrnhalle, nach den zeitweiligen Verboten ihrer Parteien erst<br />

regenerieren. Hitler saß gerade in der Festung, in der völkischen Bewegung und in der KPD herrschte<br />

gleichzeitig Führungschaos. Entsprechend war die 3. Reichstagswahl 1924 die einzige<br />

Reichstagswahl, aus der alle drei Regierungsparteien gestärkt hervorgingen.<br />

Im April wurde in Paris ein Gutachten zur Regelung der deutschen Reparationen veröffentlicht. Darin<br />

wurde die Höhe der Reparationen gemildert. Im August plädierte England für die sofortige Räumung<br />

des Ruhrgebiets. Im August nach Beendigung der politischen Hahnenkämpfe zwischen Berlin und<br />

Paris durften 180.000 ausgewiesene Deutsche in <strong>das</strong> Ruhrgebiet zurückkehren. Zwischen DDP und<br />

Zentrum kam es im Oktober zum Streit, ob die konservative DNVP in die Regierung aufgenommen<br />

werden soll. Daraufhin trat die Regierung zurück und der Reichstag wurde aufgelöst.<br />

Körperliche und demokratische Grenzen<br />

Die Alten Germanen hatten ihre legendäre Kraft durch archaisches Doping befördert. Siegfrieds<br />

Drachenblutpanzer, Brunhildes Kraftgürtel, die verhängnisvolle Tarnkappe, Magie und Zauberei hatten<br />

ins äußerste gesteigerte burgundische bzw. isländische Trainingsprogramme entbehrlich gemacht.<br />

Auch im alten Olympia, welches zufällig nicht sehr entfernt von Sparta situiert war, gehörten Doping<br />

und Unfairnis zum guten Ton.<br />

Anders in der modernen olympischen Bewegung. Hier sollte der Einzelne an seine körperlichen<br />

Grenzen geführt werden. Michael Gamper schrieb am 15.09.2006 im Tages-Anzeiger:<br />

„Im Milieu der zivilisationspessimistischen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts entstand auch<br />

<strong>das</strong> ideologische Konstrukt, <strong>das</strong> wir bis heute unter dem Namen «Sport» kennen. Pierre de<br />

Coubertin, der Begründer der olympischen Bewegung, erhielt für sein Sportkonzept entscheidende<br />

Einflüsse von den Public Schools, den Eliteinstitutionen des englischen Schulsystems, er stand<br />

aber auch stark unter dem Eindruck des Niedergangs des eigenen Landes. Der verlorene Krieg<br />

gegen Preussen (1870), der Kommune-Aufstand in Paris (1871) und bedrohliche demografische<br />

Tendenzen liessen ihn um die Zukunft von Frankreich fürchten. Sport schien ihm <strong>das</strong> probate<br />

Gegenmittel zu sein, um den «degenerativen» und nivellierenden Tendenzen, dem Versinken in<br />

Krankheit und Mittelmass, entgegenzuwirken. Sport war für Coubertin eine Beschäftigung, die den<br />

Einzelnen leistungsorientiert, stark, widerstandsfähig, teamfähig machte, kurzum: die ihn physisch<br />

und psychisch auf die komplexen Anforderungen des modernen Lebens vorbereitete. Um<br />

nutzbringend zu sein, mussten die Leistungen mit Respekt für den Gegner und unter fairen<br />

Bedingungen erbracht werden. Materielle Interessen durften keine Rolle spielen, weshalb der<br />

olympische Sport den Amateurismus verlangte. Dieses Ideal war auch gegen die Masse gerichtet.<br />

Es wandte sich gegen die von Nietzsche monierte Herdenmentalität, also gegen eine<br />

Fremdbestimmung des <strong>Menschen</strong> im Kollektiv. Wer Sport im coubertinschen Sinn ausübte, sollte<br />

235


zu autonomer Selbstführung fähig werden und so anderen als Vorbild dienen; die Unterschichten<br />

aber, so Coubertin, seien dazu nicht in der Lage. Die modernen Olympischen Spiele, die 1896<br />

erstmals stattfinden konnten, waren als Propagandainstrument gedacht, um in einem auf antike<br />

Traditionen bezogenen kultischen Rahmen den neuen modernen <strong>Menschen</strong> zu feiern.“<br />

In der Zwischenkriegszeit wurde der olympische Wettbewerb dagegen für alle Schichten,<br />

Geschlechter und fast alle Kulturen geöffnet. 1924 allerdings mehr für elitaristische, als für<br />

demokratische Kulturen. Bei der Olympiade in Paris wurden gemäß der organisatorischen Weisheit<br />

der olympischen Funktionäre deutsche Sportler vor der Verwendung des olympischen Grußes in Form<br />

des Hebens des rechten Arms bewahrt; sie durften auf Grund des Kriegsschuldartikels von Versailles<br />

als ehemalige Kriegsgegner nicht teilnehmen. Es herrschte die verkehrte Welt in Paris: <strong>das</strong> noch<br />

demokratisch regierte Deutschland durfte nicht einmal in die entfernte Nähe der Siegertreppchen, <strong>das</strong><br />

bereits faschistisch beherrschte Italien nahm wie selbstverständlich an der Olympiade teil. In die<br />

Gedanken der olympischen Gremien hatten sich die Dogmen der Jugendbewegung fest eingenistet,<br />

wodurch der Faschismus ein Stückchen Normalität geworden war. Das olympische Komitee<br />

übernahm liturgische Versatzstücke der Jugendbewegung, die bereits seit 1920/21 auch zum Ritual<br />

der Nationalsozialisten und Faschisten gehörten. Die Herkunft der Sportbewegung und der völkischkorporatistischen<br />

Bewegung aus der Jugendkultur, die gemeinsame Bezugnahme auf <strong>das</strong><br />

nietzscheanische Leitbild des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> schuf eine gemeinsame völkerverbindende Plattform,<br />

in der die unkritische Rezeption des „Körpers als heiligem Tempel“, die Entstehung einer<br />

Körperreligion, notwendig die Ablösung vom Christentum beschleunigte und die Entstehung von<br />

„Schönheitsstaaten“ förderte. Auch ein kruder Biologismus und Rassismus schimmert durch: "Es gibt<br />

nur einen Kult, der heute eine dauerhafte Bindung der Staatsbürger untereinander bewirken kann, <strong>das</strong><br />

ist der, der um die sportlichen Übungen der Jugend, dem Symbol des unbeschränkten Fortbestandes<br />

der Rasse und der Hoffnung der Nation, entstehen wird". Freilich war Coubertin Franzose und die<br />

olympische Bewegung eine internationale Bewegung. Deshalb war der Nietzscheanismus nicht die<br />

alleinige Wurzel des Olympionismus. Olympia wäre als deutsche Veranstaltung eine 1:1 -<br />

Übersetzung aus dem Zarathustra geworden, Coubertins Philosophie war etwas gemäßigter und<br />

enthielt beispielsweise eine allgemeine Bejahung der <strong>Menschen</strong>freundlichkeit. "Die Gesellschaft der<br />

Zukunft wird altruistisch sein, oder es wird sie nicht geben: man muß zwischen ihr und dem Chaos<br />

wählen“. Trotzdem war der Hitler-Fan Avery Brundage, der die schöne Olympiade 1936 in Berlin vor<br />

den Kritikern des Nationalsozialismus rettete, danach noch 30 Jahre lang IOC-Vorsitzender. Das Dritte<br />

Reich ging unter, die mit ihm verbandelte Sportführung überlebte.<br />

Wahl zum 3. Reichstag (Ende 1924)<br />

SPD 26,0 % (+ 5,5 %)<br />

USPD 0,3 % ( - 0,5 %)<br />

KPD 8,9 % ( - 3,7 %)<br />

DDP 6,3 % (+ 0,6 %)<br />

DVP 10,1 % (+ 0,9 %)<br />

Völkische 3,0 % ( - 3,6 %)<br />

WP 3,3 % (+ 2,3 %)<br />

DNVP 20,5 % (+ 1,0 %)<br />

Zentrum/BVP 17,3 % (+ 0,7 %)<br />

Sonstige 4,2 % ( - 3,2 %)<br />

Selten waren Parteien, in denen gerade Führungschaos herrschte, bei Wahlen erfolgreich; die Putsch-<br />

und Krawallparteien KPD und NSDAP waren Verlierer, Gewinner waren alle andern, besonders die<br />

SPD. Sie verbuchte zwar einen beträchtlichen Wahlerfolg, aber sie konnte nicht alle Wähler wieder<br />

einfangen, die ihr bei vorhergehenden Wahlen an die Radikalen verloren gegangen waren. In<br />

Mecklenburg und Bayern waren die Völkischen und Nationalsozialisten am Jahresanfang in <strong>das</strong><br />

reformatorische Lager eingedrungen und dorthin gaben sie am Jahresende auch wieder einige<br />

Stimmen ab.<br />

In einigen Ländern und Provinzen war die SPD der Hauptnutznießer des zeitweiligen Niedergangs der<br />

Radikalen. Das betraf insbesondere Berlin, Brandenburg, Anhalt, Waldeck und Niederschlesien.<br />

Wahlergebnisse in den Ländern und Provinzen:<br />

236


Norddt. Länder SPD USPD KPD DDP DVP NSFB WP DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt 41,6 0,0 5,3 6,1 22,8 3,1 2,2 16,9 1,2 0,8<br />

Braunschweig 37,7 0,6 4,5 5,6 21,5 4,1 21,2 1,6 3,3<br />

Bremen 37,2 0,0 8,8 12,9 19,8 5,3 12,8 2,4 0,9<br />

Hamburg 32,2 0,3 14,3 12,5 13,1 2,3 21,6 1,7 2,0<br />

Lippe 32,6 0,2 4,6 7,6 18,2 3,2 0,3 26,1 3,0 4,2<br />

Lübeck 41,0 0,2 6,4 7,4 15,1 4,1 5,8 16,9 1,4 1,7<br />

Meckl.-Schwerin 32,8 0,2 5,8 5,5 10,1 13,9 2,3 27,7 0,7 1,1<br />

Meckl.-Strelitz 33,3 0,2 6,5 6,3 7,5 10,6 1,5 32,7 0,9 0,7<br />

Oldenburg 23,8 0,1 3,5 12,4 15,1 3,9 0,3 18,4 21,1 1,5<br />

Sachsen 35,2 0,4 11,1 7,2 15,4 2,5 4,7 20,6 1,0 2,0<br />

Schaumburg-Li 46,8 0,2 2,7 7,6 15,7 1,0 0,5 24,3 0,9 0,3<br />

Thüringen 30,4 0,0 13,1 5,2 14,1 5,4 4,2 8,7 1,2 17,9<br />

Waldeck 19,6 0,5 1,7 8,3 19,2 3,2 1,3 43,4 2,8 0,1<br />

Süddt. Länder SPD USPD KPD DDP DVP NSFB WP DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Baden 19,9 0,7 6,5 9,3 9,8 1,9 1,7 8,9 34,5 6,8<br />

Bayern 21,1 0,4 5,1 3,8 4,3 5,1 1,7 14,4 34,6 9,6<br />

Hessen 35,6 0,1 5,4 8,7 11,8 1,3 0,9 7,7 15,8 12,7<br />

Württemberg 20,6 0,0 8,2 10,9 5,8 2,2 0,5 11,1 22,3 18,4<br />

Ostprovinzen SPD USPD KPD DDP DVP NSFB WP DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Berlin 30,3 0,6 16,3 10,9 6,5 3,6 3,4 23,9 3,9 0,2<br />

Brandenburg 30,2 0,4 6,6 5,4 10,2 3,8 3,8 37,8 1,6 0,1<br />

Niederschlesien 32,2 0,1 3,1 5,9 7,9 3,6 2,7 28,8 15,1 0,5<br />

Oberschlesien 6,8 0,0 12,2 2,2 2,8 2,5 1,5 21,8 41,0 9,1<br />

Ostpreußen 20,8 0,2 8,1 4,0 9,0 7,0 2,4 39,2 8,0 1,3<br />

Pommern 24,6 0,0 5,8 3,8 6,5 5,2 2,4 49,1 1,0 1,6<br />

Posen-Westpr. 13,7 0,2 3,9 2,8 6,6 9,4 0,4 34,6 25,0 3,4<br />

Prov. Sachsen 27,1 0,2 13,9 6,7 12,7 3,9 3,6 26,6 2,9 0,4<br />

Schleswig-Holst. 30,1 0,5 6,8 8,7 14,8 2,7 0,5 33,1 1,0 0,9<br />

Westprovinzen SPD USPD KPD DDP DVP NSFB WP DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Hannover 29,8 0,2 4,3 4,8 13,0 3,9 17,8 9,2 16,5<br />

Hessen-Nassau 32,0 0,4 5,7 8,5 12,6 2,5 2,2 18,8 17,2 0,1<br />

Hohenzollern 7,1 0,0 2,7 7,4 1,6 0,6 0,2 3,8 68,1 8,7<br />

Rheinprovinz 14,6 0,4 12,9 3,8 9,6 0,9 3,1 11,0 41,8 0,7<br />

Westfalen 22,6 0,6 9,8 4,7 10,6 1,1 1,2 13,5 33,9 0,0<br />

Gewinne und Verluste in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD USPD KPD DDP DVP NSFB WP DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt + 7,8 - 6,4 + 0,8 + 3,6 - 1,9 - 1,0 - 1,7 - 1,3<br />

Braunschweig + 6,9 - 1,8 - 4,4 + 0,3 + 3,8 - 5,9 + 1,4 + 0,2 - 0,6<br />

Bremen + 6,9 - 0,4 - 4,9 + 1,7 + 1,9 - 3,5 - 1,2 + 0,3 - 0,5<br />

Hamburg + 4,5 - 0,2 - 4,0 - 0,5 + 1,0 - 3,7 + 2,1 + 0,2 + 0,7<br />

Lippe + 4,7 - 0,4 - 2,8 - 1,3 - 1,9 - 2,9 + 0,3 + 2,9 + 1,7<br />

Lübeck + 2,4 - 0,1 - 1,6 - 0,8 + 1,0 - 8,4 + 5,8 + 0,8 + 0,3 + 0,6<br />

Meckl.-Schwerin + 7,4 - 0,3 - 4,9 + 1,4 + 3,2 - 8,5 + 2,3 - 0,4 + 0,2 - 0,3<br />

Meckl.-Strelitz +12,9 - 0,5 - 9,3 + 0,5 + 1,8 -11,7 + 1,5 + 5,7 + 0,3 - 1,7<br />

Oldenburg + 2,7 - 0,3 - 2,7 + 0,6 + 1,8 - 2,4 + 0,2 + 1,1 - 0,3 - 0,5<br />

Sachsen + 4,4 - 0,3 - 3,3 - 0,6 + 1,8 - 4,1 + 1,9 + 0,9 + 0,3 - 1,0<br />

Schaumburg-Li + 1,3 - 0,3 - 0,7 - 1,4 - 0,2 - 1,5 + 0,5 + 2,6 + 0,4 - 0,7<br />

Thüringen + 5,7 - 1,0 - 2,7 + 0,8 + 1,5 - 5,1 + 1,4 + 1,1 + 0,1 - 1,9<br />

Waldeck + 4,6 - 0,1 - 1,6 + 0,4 + 3,5 - 3,3 + 0,4 - 3,0 - 0,7 - 0,2<br />

Süddt. Länder SPD USPD KPD DDP DVP NSFB WP DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Baden + 4,7 - 3,7 + 1,4 + 1,8 - 2,9 - 0,6 + 0,9 - 0,1 - 0,1<br />

Bayern + 3,4 - 0,1 - 3,0 + 0,8 + 3,6 - 10,9 + 1,7 + 2,8 - 0,6 + 0,2<br />

237


Hessen + 6,1 - 0,6 - 3,9 + 1,3 + 1,2 - 1,6 + 0,9 + 1,6 + 0,4 - 5,2<br />

Württemberg + 4,6 - 3,3 + 1,4 + 1,4 - 2,0 - 0,2 + 1,0 + 1,7 - 3,7<br />

Ostprovinzen SPD USPD KPD DDP DVP NSFB WP DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Berlin + 9,9 - 2,0 - 1,6 + 1,0 - 1,9 - 5,0 - 0,6 + 1,3 + 0,1 - 1,4<br />

Brandenburg + 8,7 - 0,7 - 3,1 + 0,7 + 1,9 - 3,6 + 0,3 - 2,2 + 0,2 - 1,2<br />

Niederschlesien + 6,3 + 0,1 - 3,1 + 0,6 + 0,3 - 3,4 - 0,5 - 0,4 + 0,3 - 0,4<br />

Oberschlesien + 2,6 - 4,5 + 0,5 + 0,2 - 1,6 - 0,5 + 4,0 - 1,2 + 0,5<br />

Ostpreußen + 5,5 - 0,4 - 3,5 + 0,5 + 0,7 - 4,3 + 2,4 + 0,3 - 0,3 - 0,8<br />

Pommern + 5,7 - 2,9 + 0,8 + 1,8 - 4,2 + 0,3 - 0,4 + 0,1 - 1,7<br />

Posen-Westpr. + 4,2 - 0,2 + 0,7 + 0,5 + 1,6 - 4,3 - 0,3 + 0,1 - 1,4<br />

Prov. Sachsen + 5,2 - 0,7 - 3,5 + 0,7 + 1,4 - 3,2 + 0,6 + 0,9 - 1,0 - 1,0<br />

Schleswig-Holst. + 5,4 - 0,6 - 3,5 + 0,7 + 2,6 - 4,7 + 0,5 + 2,1 + 0,1 - 1,0<br />

Westprovinzen SPD USPD KPD DDP DVP NSFB WP DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Hannover + 5,6 - 0,2 - 3,2 + 0,6 + 2,4 - 3,5 + 3,5 + 0,9 - 4,1<br />

Hessen-Nassau + 6,4 - 0,6 - 3,8 + 1,4 + 0,8 - 3,1 + 0,2 - 1,1 + 0,2 + 0,1<br />

Hohenzollern + 3,9 - 3,2 + 0,8 - 0,4 - 4,2 - 0,1 + 0,8 + 7,8 - 5,4<br />

Rheinprovinz + 4,2 - 0,3 - 4,3 + 0,5 - 0,2 - 1,6 + 0,7 + 0,4 + 1,5 - 0,1<br />

Westfalen + 6,7 - 0,7 - 7,1 + 0,9 + 0,2 - 1,1 + 1,2 + 0,8 + 1,7 - 0,7<br />

Die Gewinne der SPD waren etwas höher, als die Verluste von KPD und USPD, so daß<br />

wahrscheinlich ist, daß die SPD Stimmen aus dem völkisch-nationalistischen Lager zurückgewann.<br />

Die höchsten Verluste hatten die Völkischen und Nationalsozialisten in Lübeck, Mecklenburg und<br />

Bayern, nämlich dort, wo sie im Mai die größten Gewinne gemacht hatten. In Lübeck, Mecklenburg-<br />

Strelitz und Bayern korrespondieren die völkisch-nationalsozialistischen Verluste mit<br />

überdurchschnittlichen konservativen Gewinnen, in Mecklenburg-Schwerin und Bayern hatten auch<br />

die Reformisten, insbesondere die DVP überdurchschnittliche Zugewinne. Berlin hatte wieder wie im<br />

Mai 1920 eine Sonderrolle, hier ging ein Hauptstrom von den völkischen Parteien und der NSDAP zur<br />

SPD.<br />

Proletarische Abgrenzung im protestantischen Deutschland<br />

Theodor Geiger von der TH Braunschweig hat 1932 folgende Berechnung zu den soziologischen<br />

Grundlagen erstellt, wobei er auch <strong>das</strong> erzielte Einkommen zur Grundlage der Zuordnung machte. 328<br />

Kapitalisten 0,8 %<br />

alter Mittelstand 18,3 % (Handwerker, Krämer, Landwirte)<br />

neuer Mittelstand 16,0 % (Angestellte, Beamte)<br />

regelmäßig beschäftigte Arbeiter 51,0 %<br />

"proletaroide" Existenzen 13,8 % (angelernte Arbeiter und Kleinstgewerbetreibende)<br />

Wehler hat zusätzlich eigene Berechnungen zum Adel und zum Bildungsbürgertum angestellt:<br />

Adel 0,3 % bis 1 %<br />

Bildungsbürgertum 0,8 %<br />

Die Arbeiter waren in Bergbau und Industrie, in Handel und Verkehr (z.B. Transportarbeiter), aber<br />

auch in der Landwirtschaft tätig.<br />

Die folgenden Tabellen beleuchten den Zusammenhang zwischen der Tätigkeit in Bergbau und<br />

Industrie und dem Wahlverhalten. Daneben wird die Religion berücksichtigt, indem die betrachteten<br />

Regionen nach dem Anteil der Katholiken differenziert betrachtet werden.<br />

328 div. Berechnungen in H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, S. 284 ff.<br />

238


unter 20 % Katholiken<br />

1924 II SPD USPD KPD Summe Bergb. & Ind.<br />

Anhalt 41,6 0,0 5,3 46,9 47,6<br />

Berlin 30,3 0,6 16,3 47,2 51,2<br />

Brandenburg 30,2 0,4 6,6 37,2 35,3<br />

Braunschweig 37,7 0,6 4,5 42,8 43,4<br />

Bremen 37,2 0,0 8,8 46,0 40,8<br />

Hamburg 32,2 0,3 14,3 46,8 34,5<br />

Hannover 29,8 0,2 4,3 34,3 32,3<br />

Lippe 32,6 0,2 4,6 37,4 43,8<br />

Lübeck 41,0 0,2 6,4 47,6 42,5<br />

Meckl.-Schwerin 32,8 0,2 5,8 38,8 22,5<br />

Meckl.-Strelitz 33,3 0,2 6,5 40,0 23,6<br />

Ostpreußen 20,8 0,2 8,1 29,1 19,2<br />

Pommern 24,6 0,0 5,8 30,4 22,8<br />

Prov. Sachsen 27,1 0,2 13,9 41,2 41,4<br />

Sachsen 35,2 0,4 11,1 46,7 60,9<br />

Schaumburg-Lippe 46,8 0,2 2,7 49,7 42,7<br />

Schleswig-Holstein 30,1 0,5 6,8 37,4 33,5<br />

Thüringen 30,4 0,0 13,1 43,5 49,5<br />

Waldeck 19,6 0,5 1,7 21,8 22,7<br />

20-40 % Katholiken<br />

1924 II SPD USPD KPD Summe Bergb. & Ind.<br />

Hessen 35,6 0,1 5,4 41,1 40,6<br />

Hessen-Nassau 32,0 0,4 5,7 38,1 38,6<br />

Niederschlesien 32,2 0,1 3,1 35,3 37,5<br />

Oldenburg 23,8 0,1 3,5 27,4 26,6<br />

Posen-Westpreußen 13,7 0,2 3,9 17,8 18,1<br />

Württemberg 20,6 0,0 8,2 28,8 39,1<br />

über 40 % Katholiken<br />

1924 II SPD USPD KPD Summe Bergb. & Ind.<br />

Baden 19,9 0,7 6,5 27,1 38,9<br />

Bayern 21,1 0,4 5,1 26,6 33,7<br />

Hohenzollern 7,1 0,0 2,7 9,8 25,0<br />

Oberschlesien 6,8 0,0 12,2 19,0 34,7<br />

Rheinprovinz 14,6 0,4 12,9 27,9 50,0<br />

Westfalen 22,6 0,6 9,8 33,0 54,8<br />

In den überwiegend protestantischen Teilen Deutschlands stimmt der Anteil der in Bergbau und<br />

Industrie Beschäftigten im Dezember 1924 mit dem Anteil der traditionell proletarischen Wähler<br />

nahezu überein, in den überwiegend katholischen Gebieten nicht annähernd.<br />

In den Hansestädten gab es Hafenarbeiter, der in der Statistik unter Handel und Verkehr geführt<br />

wurden und KPD und SPD wählten. In Mecklenburg, Ostpreußen und Pommern wählte ein Teil des<br />

Landproletariats ebenfalls SPD und KPD.<br />

Diese scharfe Abgrenzung der proletarischen Wähler im protestantischen Deutschland sollte sich in<br />

den Folgejahren völlig verlieren. Mit dem zunehmenden Einsickern des Reformismus in die<br />

Arbeiterklasse verschob sich die Grenze. Die KPD entfernte sich mit dem Ausschluß der Brandler-<br />

Thalheimer-Gruppe und der Übernahme der Macht durch <strong>das</strong> sogenannte Thälmannsche ZK immer<br />

schneller vom letzten Rest marxistischer Tradition; mit den Jahren nahm auch der Anteil der Mitglieder<br />

zu, die vorher nicht in der SPD organisiert gewesen waren. Ehemalige SPD-Mitglieder wurden<br />

ausgeschlossen oder traten aus, Mitglieder mit nichtsozialdemokratischer Historie traten ein, die<br />

mittlere Verweilzeit in der KPD war relativ gering, die Fluktuation der Mitglieder groß. Die KPD driftete<br />

aus der tradierten Arbeiterbewegung heraus. Gleichzeitig gerierte sich die programmatisch den<br />

vorbürgerlichen Standesinteressen verpflichtete NSDAP als Arbeiterpartei. Dabei kam ihr zugute, daß<br />

239


die Arbeiterklasse mit den Gewerkschaften eine mächtige korporatistische Organisation geschaffen<br />

hatte, die im Kern ähnlich strukturiert und programmiert war, wie eine Genossenschaft oder eine Zunft:<br />

den Mitgliedern ihren wirtschaftlichen Individualismus auszutreiben.<br />

Der ADGB betrieb eine harte Klientelpolitik: Die Arbeiter der Großbetriebe wurden als<br />

Arbeiteraristokratie wirksam vertreten, durch die damit verbundene Benachteiligung der Arbeiter in<br />

den Kleinbetrieben kam es zu einer Schrumpfung der Zahl der Gewerkschaftsmitglieder. Von 8<br />

Millionen nach dem Weltkrieg auf 3,5 Millionen am Anfang der Dreißiger Jahre.<br />

Am Ende des Jahres 1924 war die Grenze zwischen dem Proletariat und der anderen Hälfte der<br />

Gesellschaft scharf gezogen, so daß ein Lagerverdacht aufkommen könnte: daß ein proletarisches<br />

Lager dem bürgerlichen Lager gegenüberstände.<br />

Die heutige Lagertheorie geht von der Existenz zweier Lager aus: SPD, Linkspartei und Grüne<br />

einerseits, CDU, CSU und F.D.P. andererseits. Die Übertragung dieser Lagerkonzeption auf die<br />

Weimarer Republik funktioniert nicht. Für die Weimarer Republik ist der Begriff des bürgerlichen<br />

Lagers ein doppelter Unbegriff, denn erstens gab es keine bürgerlichen Parteien im modernen Sinn<br />

und zweitens waren die Parteien, die auf den ersten Blick den Eindruck der Bürgerlichkeit, nämlich<br />

einer altdeutschen ständischen Bürgerlichkeit vermitteln, überhaupt nicht willens, ein Lager zu bilden.<br />

Katholiken und Konservative, Katholiken und atheistische Reformparteien waren weit davon entfernt,<br />

in nennenswertem Umfange Wähler miteinander auszutauschen. Eher wechselten Wähler des<br />

Zentrums oder der Konservativen zu den Sozialdemokraten, Nationalsozialisten oder Kommunisten,<br />

als daß sie untereinander nennenswert wechselten. Eher wechselten antiklerikale Reformwähler zu<br />

den Nationalsozialisten, als daß sie Zentrum wählten. Eher wechselten Katholiken zu den<br />

Kommunisten, als daß sie konservativ oder gemäßigt reformistisch votierten. Es gab definitiv kein<br />

bürgerliches Lager mit bürgerlichen Wechselwählern, weil es hinsichtlich der Religion<br />

unüberschreitbare Grenzen gab. Die Konservativen waren auf den Protestantismus programmiert, <strong>das</strong><br />

Zentrum auf die Katholiken und die Reformisten auf die immer zahlreicher werdenden Neuheiden.<br />

Heute ist ein Wechsel von Wählern zwischen CDU und F.D.P. relativ normal, die politischen<br />

Differenzen zwischen beiden Parteien sind vorhanden, aber es gibt keine abgrundtiefe Abneigung. In<br />

der Weimarer Republik war <strong>das</strong> Terrain zwischen Katholiken und Protestanten grundsätzlich ein<br />

Minenfeld, aber auch Linksreformisten, die den Pfarrer nicht grüßten, und Konservative verkeilten sich<br />

oft ineinander. Weder die Durchlässigkeit zwischen den Milieus, noch die politischen Zielstellungen<br />

ließen die Anmutung eines Lagers aufkommen.<br />

Genausowenig wie ein bürgerliches Lager funktionierte in der Weimarer Republik ein proletarisches<br />

Lager. Elitaristische Kommunisten und egalitäre Sozialdemokraten waren von den philosophischen<br />

Grundlagen bzw. den praktischen Überzeugungen sehr feindliche Kombattanten, die keine<br />

Gelegenheit ausließen, sich aneinander zu reiben, die vielmehr die Kunst gegenseitiger<br />

Beschimpfungen auf ein hohes Niveau trieben und oft bewaffnete und blutige Kämpfe miteinander<br />

austrugen. Verantwortlich waren dafür vor allem die Moskowiter, welche die antiparlamentarische<br />

Führermentalität in der deutschen Linkschickeria pflegten. So wie sie die Menschewiken in Rußland<br />

viehisch umgebracht hatten, wollten sie auch die Sozialdemokraten in Deutschland vernichten, die sie<br />

am liebsten als sozialfaschistische Lakeien des Kapitals beschimpften. Als sie endlich die Gelegenheit<br />

hatten, verschickten sie die Sozialdemokraten nach Sibirien.<br />

Die Linke der 20er Jahre<br />

Auf Revolutionen folgen restaurative Stimmungen so gewiß wie auf den Winter der Sommer folgt.<br />

Ebenso unabwendbar folgt auf einen kleinen Rausch der Kater. Und die Novemberrevolution war nur<br />

ein kleiner Rausch, die Vortäuschung einer Wende. Die Gesellschaft hatte sich nicht geläutert, war<br />

nicht um 180 Grad umgekehrt, war auch nicht bußfertig, sondern hatte gerade einmal <strong>das</strong><br />

monarchische Überkleid ausgezogen, und die Paßform des neuen republikanischen Rocks begann<br />

sie bald zu hinterfragen. Um für die Wende von 1918/19 im Bild des Rauschs zu bleiben: den Grad<br />

der Verkaterung der Republik kann man am Einfluß der Deutschnationalen Volkspartei messen. Ende<br />

1924 hatte die DNVP mehr als ein Fünftel der Wähler erreicht und war zweitstärkste Kraft im<br />

Reichstag geworden.<br />

240


Bis Mitte der 20er Jahre bediente die DNVP <strong>das</strong> Nostalgiegefühl. Noch auf dem DNVP-Wahlplakat<br />

1924 warb der kaiserliche Grossadmiral v. Tirpitz um die Stimmen, später wurde die DNVP von<br />

Hugenberg auf Neokonservatismus getrimmt und für die Zukunft eines Dritten Reiches ausgerichtet.<br />

Die Blickrichtung wurde von rückwärts nach vorwärts, von der Vergangenheit in die Zukunft gedreht.<br />

Funktional, territorial und programmatisch war die DNVP die Linke der zwanziger Jahre. Funktional<br />

war sie die Partei der Wendeverlierer und um den Besitzstand dieser Verlierer besorgt. Territorial<br />

hatte sie ostelbische Hochburgen. Programmatisch war sie antikapitalistisch.<br />

Schwerpunkte lagen traditionell im Bundesland Preußen östlich der Elbe. In den westlichen<br />

preußischen Provinzen und in Süddeutschland waren die Ergebnisse unterdurchschnittlich. In den<br />

Hochburgen der Lebensreform Hessen und Thüringen sowie in erzkatholischen Gefilden mußte sich<br />

die Partei mit weit unter 10 % zufrieden geben. Die DNVP war dort stark, wo 80 Jahre später die Linke<br />

(PDS) ihre Hochburgen hatte, sie war dort schwach, wo auch die Linke keinen Masseneinfluß erringen<br />

konnte.<br />

Die DNVP war die Partei der Wendeverlierer von 1918: Junker, Offiziere, Beamte und protestantische<br />

Geistliche gehörten zum harten Kern, unter dem Eindruck der wirtschaftlichen und politischen Krise<br />

erreichte der Einfluß auch andere gebeutelte Schichten. 1924 hatte die DNVP 2 Millionen<br />

Arbeiterwähler. Ähnlich ist die Linke die Partei der Wendeverlierer von 1989: Geheimdienstler,<br />

Offiziere, Funktionäre und Lehrer des Marxismus-Leninismus gehören zum Stammpersonal. Wie bei<br />

der Linken war bei der DNVP die Vergangenheitsverklärung eine Grundlage für die Beliebtheit beim<br />

Wähler. Kern der Propaganda war nach dem Ersten Weltkrieg die Dolchstoß-Legende, die besagte,<br />

daß Deutschland durch innere Feinde und nicht durch äußere Feinde an der Front besiegt worden<br />

war. Bis Ende 1924 hatte die Partei die Oppositionsbänke gedrückt und war immer stärker geworden.<br />

Nicht die Lösungskompetenz war ihre Stärke, sondern die Erklärungskompetenz für den Niedergang.<br />

Wie bei der Linken 80 Jahre später, endete der Aufstieg der DNVP mit der Übernahme von<br />

Regierungsverantwortung.<br />

Die Dolchstoßlegende, die neben anderen Lügen <strong>das</strong> politische Klima der Republik vergiftete, war<br />

eine notwendige und gemeinsame Stütze der radikalen Reformisten, Konservativen und<br />

Monarchisten. Und sie war eine ideologische Klammer zwischen ihnen. Ohne diese<br />

geschichtsklitternde Krücke hätten sie Mitverantwortung für den verlorenen Krieg und <strong>das</strong> Abgleiten in<br />

diesen Krieg übernehmen müssen; schlimmer noch: sie hätte die Unterlegenheit des Deutschen Wegs<br />

und die faktische Überlegenheit der äußeren Feinde einräumen müssen. Die Legende hatte die<br />

Funktion, diese Verantwortung für die Niederlage insbesondere auf die Sozialdemokratie, und im<br />

allgemeinen auf alle Kräfte abzuwälzen, die 1917 für die Friedensresolution im Reichstag gestimmt<br />

hatten.<br />

Die Situation läßt sich mit der Treuhand-Legende der Linken vergleichen, die die Schuld für den<br />

Niedergang der DDR-Industrie auf die Privatisierungsbehörde ablud. Auch hier wurde nach<br />

Schuldigen gesucht und diese Schuldigen wurden gefunden: Es war nicht die Sowjetunion, die die<br />

Wirtschaft ausblutete, es waren auch nicht die devoten Knechte Moskaus im Politbüro, die die DDR-<br />

Wirtschaft hoffnungslos veralten ließen, sondern die Treuhand-Manager aus dem Westen, die die Ost-<br />

Industrie als mögliche Konkurrenz vernichten wollten.<br />

Jede Legende, so die Treuhand- wie die Dolchstoß-Legende schwimmt auf einem Meer der Lüge,<br />

jedoch gibt es immer ein winziges Tröpfchen Medizin in diesem Meer aus Gift, ein Körnchen Wahrheit.<br />

Westgewerkschaften und Westunternehmerverbände waren sich 1990 einig, nur kerngesunde DDR-<br />

Betriebe überleben zu lassen und bereits am Kriegsbeginn 1914 hatten sich jene Kräfte, die sich um<br />

Karl Liebknecht und später um die USPD geschart hatten, gegen den Siegfrieden engagiert. Diese<br />

Wahrheiten sind jedoch schräg. Die Treuhand kämpfte teilweise erfolgreich mit den Folgen der<br />

Sünden der Tarifparteien und die überwiegende Mehrheit der SPD folgte den bildungsbürgerlichen<br />

Kriegshetzern und den kaiserlichen Generälen bis zur Kapitulation.<br />

Soweit ist der funktionale Aspekt bestimmt. Für den territorialen Gesichtspunkt sprechen preußische<br />

Traditionen, besonders die des Militarismus. Es ist bestimmt kein Zufall, daß die junkerlichen<br />

Wendeverlierer der Novemberrevolution und die Wendeverlierer von 1989 extreme Militaristen waren.<br />

Sowohl <strong>das</strong> Kaiserreich wie auch die DDR hatten eine Vorliebe für Stiefel, Stiefelhosen, Koppel,<br />

Fahnen, Schirmmützen, Stahlhelme, Spinde, Gasmasken, Befehle, Stechschritt und<br />

Maschinengewehre. Manche Offiziere waren von der Reichswehr in die Wehrmacht und von dieser<br />

über <strong>das</strong> Nationalkomitee Freies Deutschland in die Kasernierte Volkspolizei übergewechselt. Nicht<br />

241


einmal die Uniform war wirklich neu geschneidert worden. Die Offiziere der NVA rannten bis 1990 in<br />

altpreußischen Stiefelhosen durch ihre Wachstuben. Der preußische Präsentiermarsch wurde in<br />

jedem Objekt der Nationalen Volksarmee jeden Morgen zum Wecken gespielt. Ständig wurde an die<br />

preußisch-russische Waffenbrüderschaft von 1813 erinnert, um die Liebe zur Sowjetunion<br />

militärhistorisch zu unterfüttern.<br />

Der dritte, der programmatische Aspekt ist differenzierter zu betrachten, denn hier gibt es<br />

Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Im Wahlaufruf zur Dezemberwahl 1924 wurde die Programmatik<br />

der DNVP verdeutlicht:<br />

"Unsere Partei bleibt, wie sie war: Monarchistisch und völkisch, christlich und sozial. Unser Ziel<br />

bleibt wie unser Name: Deutsch und national...Und unser Wille ist fester, denn je: ein Deutschland<br />

zu schaffen, frei von Judenherrschaft und Franzosenherrschaft, frei von parlamentarischem<br />

Klüngel und demokratischer Kapitalherrschaft..." 329<br />

Dieser Antikapitalismus und Antisemitismus war Tradition aus der Frühkaiserzeit. Bereits der 1861<br />

gegründete konservative Preußische Volksverein hatte ein entsprechendes Programm, <strong>das</strong> sich<br />

gegen <strong>das</strong> Geldkapital wandte, den Schutz jeder ehrlichen Arbeit forderte und antisemitische Töne<br />

anschlug. 330<br />

Nach dem Deutsch-Französischen Krieg konnten nicht nur die preußischen, sondern auch die<br />

deutschsprachigen Konservativen vor Kraft kaum noch stehen. Der schweizer Dichter Heinrich<br />

Leuthold hatte in seinem Zeitgedicht „Der Chassepot schweigt“ nach dem Deutsch-Französischen<br />

Krieg dem deutschen Geist den neu errungenen Platz angewiesen:<br />

Und wieder walten Treu und Glaube,<br />

Von keinem welschen Trug entstellt ...<br />

Der deutsche Geist tritt aus dem Staube<br />

Und setzt sich auf den Thron der Welt.<br />

1876 hatten die Deutschkonservativen in ihrem Gründungsaufruf eine geordnete wirtschaftliche<br />

Freiheit und die Beseitigung der Bevorzugung des großen Geldkapitals gefordert. Der Staat sollte die<br />

redliche Erwerbsarbeit gegen <strong>das</strong> Überwuchern der Spekulation und <strong>das</strong> Aktienunwesen schützen.<br />

Scharfe Kritik an Liberalismus und Kapitalismus, Frontstellung gegen den Sozialismus waren auch im<br />

Programm von 1892 die bestimmenden Töne: Kampfansage gegen den "vielfach sich vordrängenden<br />

und zersetzenden jüdischen Einfluß auf unser Volksleben", gegen "undeutsches" Verhalten im<br />

Geschäftsleben, Zollschutz für die Landwirtschaft und eine angemessene Gesetzgebung für <strong>das</strong><br />

Handwerk durch Stärkung der Innungen und Einführung eines Befähigungsnachweises. 331<br />

Die Zitate zeigen, daß die Konservativen eine nationalsozialistische Partei light darstellten, eine<br />

völkische Kraft, die allerdings statt in den Wuotanismus abzugleiten, am protestantischen Christentum<br />

festhielt. Ein zeitgenössischer Sinnspruch lautete: "Die Kirche ist politisch neutral - aber sie wählt<br />

deutschnational". Besonders auffällig ist, daß die antikapitalistische Stoßrichtung im konservativen<br />

Spektrum bereits lange vor dem Durchbruch der Modephilosophie Nietzsches vorherrschend war.<br />

Genauso wie Wilhelm Marr, Richard Wagner und Turnvater Jahn lehnten sich die Konservativen an<br />

den romantischen Antikapitalismus eines Wilhelm Hauff, eines Friedrich Schlegel oder eines Adam<br />

Müller an. Die Älteren lehnten jedoch den antichristlichen Affekt eines Friedrich Nietzsche ab. Am<br />

Christentum und seinen Folgerungen schieden sich die Geister. Im Gleichschritt bewegten sich<br />

dagegen völkische Nationalsozialisten und völkische Konservative auf den Feldern der Wirtschafts-<br />

und Außenpolitik.<br />

Der Unterschied zwischen Konservatismus und Nationalsozialismus ist der Unterschied zwischen dem<br />

Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Beide Kriege wurden aus Motiven heraus begonnen, die mit dem<br />

überlegenen Bild von sich selbst und der Mission Deutschlands in der Welt, dem "Deutschen Weg" zu<br />

tun hatten, aber wie sie von deutscher Seite geführt wurden, <strong>das</strong> ist die Nuance: der Erste mit einer<br />

pervertierten und manchmal durchlöcherten Fairnis und einem schwankenden Rest von Achtung<br />

gegenüber den Gegnern, der Zweite ohne diese ritterlichen Reminiszenzen, nur mit dem Recht des<br />

Stärkeren.<br />

329<br />

Aufruf der DNVP, zitiert in H. Fenske: Deutsche Parteiengeschichte, S. 168<br />

330<br />

s.o. S. 95<br />

331<br />

Hans Fenske: Deutsche Parteiengeschichte, S. 136<br />

242


Programmatische Parallelen zwischen der Linken und der DNVP ergeben sich hinsichtlich eines<br />

militanten Antikapitalismus, des Antikatholizismus, der in Preußen immer mit Polenfeindlichkeit<br />

versetzt war, und des Antisemitismus, der zu DDR-Zeiten unter der Fahne des Antizionismus segelte<br />

und sich bei der Linken wie schon zu SED-Zeiten zur Kritik an Israel verpuppt hat. Der Unterschied ist<br />

<strong>das</strong> Verhältnis der frühen DNVP zur protestantischen Religion und damit zu den Grundrechten und<br />

Grundfreiheiten. In der späten DNVP der 30er Jahre relativierte sich diese Unterscheidung.<br />

Monarchismus und Protestantismus wurden dem bündischen Neokonservatismus geopfert.<br />

Ein Wahlplakat der DNVP, welches aus rechtlichen Gründen hier nicht wiedergegeben wird, von 1918<br />

zeigte: Viele der dargestellten politischen Gegner waren Juden. Um <strong>das</strong> zu verdeutlichen wurden<br />

markante Physiognomien mit langen Nasen im Profil dargestellt<br />

Eine Ironie der Geschichte muß hier angemerkt werden. Die republikanischen Parteien haben sich mit<br />

der Weimarer Verfassung für <strong>das</strong> Herabsetzen des Wahlalters und für <strong>das</strong> Frauenwahlrecht stark<br />

gemacht und diese Wahlrechtsreformen letztlich durchgesetzt. Aber so wie in Sachsen-Anhalt 1998<br />

fast die Hälfte der Jungwähler die DVU gewählt hat, so war die DNVP in den zwanziger Jahren einer<br />

der Hauptnutznießer des Frauenwahlrechts.<br />

Das Generationenproblem bei den Konservativen<br />

Wie an der Hohen Pforte in Konstantinopel gab es bei den Konservativen erneuerungswütige<br />

politische Jungtürken. Ähnlich wie in der fernen Türkei handelte es sich meistens um jüngere Offiziere.<br />

Der Prototyp der älteren Riege war Feldmarschall von Hindenburg. Er gab sich dezidiert bildungsfern<br />

und er nahm tatsächlich von den reformistischen Ideen wenig Notiz. Nach eigenem Bekunden hatte er<br />

nur die Bibel und <strong>das</strong> Exerzierreglement gelesen. Das entsprach sicherlich nicht ganz der Wahrheit,<br />

Hindenburg schuf mit dieser pointierenen Zuspitzung jedoch zielsicher <strong>das</strong> Bild von sich selbst, <strong>das</strong> er<br />

in die Öffentlichkeit transportieren wollte: Als unverrückbarer Wellenbrecher neben dem aufgewühlten<br />

Meer um den heimatlichen Hafen zu schützen, als knorrige Eiche über dem windgepeitschten<br />

Gerichtsplatz, als gewaltiger erratischer Block im Strom der Zeit.<br />

„Alte Soldatenpflicht verlangt von mir in dieser schweren Zeit, auf meinem Posten zu verharren, um<br />

<strong>das</strong> Vaterland vor Erschütterungen zu bewahren.“<br />

So erklärte er seine erneute Kandidatur zum Reichspräsidentenamt 1932. Grundsatzfest, immobil und<br />

überzeitlich präsentierte er sich den in Wallung geratenen Deutschen. Für eine Vaterfigur durchaus<br />

ein sinnvolles Profil.<br />

Dabei teilte er althergebrachte konservative Ressentiments mit den Antikapitalisten der<br />

Jugendbewegung: Noch am 15. Juni 1918 hatte er seinem Kaiser folgenden Ohrenschmaus bereitet:<br />

„Das deutsche Volk ist beim Ausbruch des Krieges sich nicht darüber klar gewesen, was dieser<br />

Krieg bedeuten wird. Ich wußte es ganz genau, deswegen hat mich auch der erste Ausbruch der<br />

Begeisterung nicht getäuscht oder irgendwie in meinen Zielen und Erwartungen eine Änderung<br />

hervorbringen können. Ich wußte ganz genau, um was es sich handelte, denn der Beitritt Englands<br />

bedeutete einen Weltkampf, ob gewollt oder nicht. Es handelte sich nicht um einen strategischen<br />

Feldzug, es handelte sich um den Kampf von zwei Weltanschauungen. Entweder soll die<br />

preußisch-deutsch-germanische Weltanschauung, Recht, Freiheit, Ehre und Sitte, in Ehre bleiben,<br />

oder die angelsächsische, <strong>das</strong> bedeutet: dem Götzendienste des Geldes verfallen. Die Völker der<br />

Welt arbeiten als Sklaven für die angelsächsische Herrenrasse, die sie unterjocht. Die beiden<br />

Anschauungen ringen miteinander, und da muß die eine unbedingt überwunden werden; und <strong>das</strong><br />

geht nicht in Tagen und Wochen, auch nicht in einem Jahre. Dieses war mir klar; und da danke ich<br />

dem Himmel, daß er Eure Exzellenz und Sie, mein lieber General, mir als Berater zur Seite gestellt<br />

hat. Daß <strong>das</strong> deutsche Volk und Heer - Volk und Heer ist ja jetzt <strong>das</strong>selbe - zu Ihnen voll<br />

Dankbarkeit hinaufblickt - brauche ich nicht zu sagen. Ein jeder draußen weiß, wofür er kämpft, <strong>das</strong><br />

gibt der Feind selbst zu, und infolgedessen werden wir den Sieg erringen. Den Sieg der deutschen<br />

Weltanschauung, den gilt es. Ich trinke mein Glas auf <strong>das</strong> Wohl der hohen Führer meines Heeres,<br />

des Generalstabes und des gesamten deutschen Heeres. Hurra.“<br />

243


Viele ältere Offiziere und Junker waren in Ehrfurcht vor Bismarck und Wilhelm I. bei deren Maximen<br />

stehengeblieben. Erinnerungen an den Soldatenkönig, an Friedrich II., an General Blücher und die<br />

Befreiungskriege sowie die Deutschen Kriege 1866 bis 1871 überlagerten oder überdeckten die<br />

Wahrnehmung der Veränderungen im Spätkaiserreich. Die Sedanfeiern gossen die alte Zeit in die<br />

ehernen Barren der Erinnerung. Die ältere Generation hatte den Gedanken und die Praxis einer<br />

heiligen Allianz der Monarchien Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland verinnerlicht und<br />

gelebt und den komplizierten Interessenausgleich dieser Reiche verstanden und in der Prioritätenliste<br />

weit oben geführt. Man war nicht so siegesgewiß und risikofreudig, wie die Manager des<br />

Spätkaiserreichs.<br />

Die gepriesenen Sieger von Sedan wurden wie alle <strong>Menschen</strong> jedes Jahr ein Jahr älter. Es musste<br />

der Zeitpunkt kommen, wo die jüngere Generation, welche am Krieg nicht teilgenommen hatte, aus<br />

einer Minderheit zu einer Mehrheit wurde und wo sich diese Mehrheit die Frage stellte, ob sie im<br />

Schatten der alternden Helden stünde und welches ihr eigener Platz in der Geschichte sei.<br />

Bismarck hatte die Deutschen Kriege im wesentlichen als Endpunkt der deutschen Expansion<br />

verstanden. Seine ausgleichende Diplomatie als Reichskanzler und sein zurückhaltender kolonialer<br />

Eifer scheinen dieses zu bestätigen. Zu seiner Regierungszeit gab es keinen Panthersprung nach<br />

Agadir und keine Bülow-Affäre 332 . Die deutsche Politik kämpfte sich durch die innenpolitischen „Mühen<br />

der Ebene“ des Kulturkampfs und der Sozialistengesetze. Einigen Bischöfen und Agitatoren bereitete<br />

Bismarck einen beachteten Platz auf der politischen Bühne, weniger um <strong>das</strong> Leben für die fromme<br />

Kirche oder die Partei aufs Spiel zu setzen, sondern um im Zuchthaus oder der Verbannung ein<br />

kalkulierbares politisches Lebensrisiko in Kauf zu nehmen, um eine veritable Märtyreraura zu ernten.<br />

<strong>Neue</strong> Helden wurden im konservativen Milieu nach 1871 nicht ge<strong>braucht</strong>; die alten Helden wurden<br />

jedoch geehrt. Eine ähnliche Situation gab es in den siebziger und achtziger Jahre in der DDR: es<br />

herrschte für die jüngere Generation ein gefährlicher Verwendungsstau. Man konnte zwar in die Partei<br />

eintreten, die guten Posten waren jedoch mit den Absolventen der Arbeiter- und Bauernfakultäten der<br />

50er und 60er Jahre besetzt; man konnte zudem kein Lenin, kein Thälmann und kein Che Guevara<br />

mehr werden, weil die revolutionäre Kampfzeit beendet war. Man sang vom kleinen Trompeter, aber<br />

stürmische Nächte gab es nur noch als Wetterphänomen. Eben diesen heldischen Verwendungsstau<br />

wies die Gründerzeit und die Spätkaiserzeit auf: Man konnte dem Ideal nicht wirklich nacheifern. So<br />

wie sich die Jugend der DDR tödlich langweilte, so langweilte sich auch die Jugend des<br />

Spätkaiserreichs.<br />

Ein weiterer Aspekt der neuen Rolle der Jugend ergab sich aus der Verstädterung. Auf dem Lande<br />

war es Tradition gewesen, die Alten zugunsten des Erstgeborenen aufs Altenteil zu schieben und <strong>das</strong><br />

Szepter der ökonomischen Macht zeitig an die nächste Generation zu übergeben. In der städtischen<br />

Gesellschaft gab es diesen Generationenvertrag nicht. Hier behielten die Alten die uneingeschränkte<br />

Macht und Verfügung in der Regel bis zu ihrer Abberufung durch den lieben Gott. Vielleicht liegt hier<br />

eine Ursache für den zunehmenden Generationenkonflikt, wie ihn die Literatur der Jahrhundertwende<br />

beschreibt.<br />

In diesem jugendlichen Verwendungsstau, dieser Erlebnisentbehrung und Heldenödnis, dieser<br />

gründerzeitlichen Vernunftstyrannei fiel der Zarathustra auf fruchtbarsten Boden. Zumindest in der<br />

Theorie wurden <strong>das</strong> Erlebnis und der Held aufgewertet, und die Vernunft ab. In der ersten Phase<br />

setzten die Wandervögel ihre Minderwertigkeitskomplexe in Bewegung und Gesang um, später<br />

wurden stärkere Reize gesucht und gefunden. Die Lust auf einen Krieg wuchs insbesondere in den<br />

bildungsnahen Schichten ins Unermessliche.<br />

Die jüngere konservative Generation war in den Gymnasien und in den Burschenschaften mit den<br />

reformistischen Gedanken in Berührung gekommen; es hätte an ein Wunder gegrenzt, wenn nicht<br />

auch in konservativen Kreisen eine Erosion der alten Leitbilder stattgefunden hätte. Lange vor dem<br />

Ersten Weltkrieg begann nicht nur die Spaltung der Sozialdemokratie, sondern auch die Spaltung der<br />

Konservativen. Bei den Jungkonservativen begann die Ablösung vom hohenzollernschen Thron als<br />

Sinnbild der althergebrachten Ordnung.<br />

332 Wilhelm entsandte <strong>das</strong> Kanonenboot „Panther“ vor die marokkanische Küste, um koloniale Ansprüche zu<br />

untermauern, wodurch Europa 1911 an den Rand des Krieges gebracht wurde. 1908 erschienen delikate<br />

Äußerungen Wilhelms über die Rolle der Presse, die politischen Meinungen der Mittel- und Unterschichten sowie<br />

die europäische Haltung zum Burenkrieg im Daily Telegraph, was europäische Empörung und den Rücktritt des<br />

Reichskanzlers Bülow auslöste.<br />

244


In der Tagebuchaufzeichnung von Leutnant Leopold von Sutterheim (*1894) vom 04. August 1914 ist<br />

nicht von Gott und recht wenig vom Kaiser die Rede, sondern von blonden und blauäugigen Kindern,<br />

der germanischen Weltmacht und dem Ideal der höchsten Kultur der Welt:<br />

„Wir stehen allein, Österreich, Deutschland. Feinde ringsum, Serbien, Frankreich, Rußland,<br />

England, Belgien, Feinde. Ob wir Sieger bleiben werden, wir wissen es nicht. Wir lügen uns nichts<br />

vor. Wir vertrauen nur unserer Stärke. Wir kämpfen, daß unsere Mütter und Schwestern uns einst<br />

froh entgegenjauchzen und in zehn Jahren auf Scharen von blonden blauäugigen Kindern<br />

schauen, die alle Lücken wieder ersetzt haben, und da wir jetzt unmöglich ganze Arbeit tun<br />

können, die germanische Weltmacht der höchsten Weltmacht begründen. Wir kämpfen für unsere<br />

Frauen und unsere Kinder, daß sie ein schönes freies Leben ohne Armut führen können, sich<br />

entwickeln, wie wir es durften. 1864, 1866, 1870 waren es nur praktisch erreichbare Ziele, diesmal<br />

handelt es sich um <strong>das</strong> Ideal der höchsten Kultur der Welt. Wir wollten keinen Krieg! Wenn ich nun<br />

bleibe, so ist es auch recht. Meine Jugend war schön. Ich bin dankbar für mein Leben. Kehre ich<br />

zurück, so will ich froh den zweiten Teil des Lebens <strong>das</strong> Dankweitergeben erfüllen.“ 333<br />

1864, 1866 und 1870 wäre eine gleichlautende Tagebucheintragung nicht denkbar gewesen. Die<br />

ideologische Kulisse hatte sich fundamental gewandelt.<br />

Der alte Konservatismus kniete idealtypisch loyal zu Füßen eines konkreten Throns, <strong>das</strong><br />

Gottesgnadentum legitimierte die monarchische Spitze; der Neokonservatismus dagegen war ein<br />

abstrakter, nicht durch die althergebrachte Ordnung definierter Reißbrettkonservatismus, an dessen<br />

ideologischen Schautafeln mehr und mehr Friedrich Nietzsches Leitbilder hingen. Ohne Gott machte<br />

<strong>das</strong> Gottesgnadentum keinen Sinn, der Übermensch <strong>braucht</strong>e keine persönliche Loyalität zum Kaiser<br />

mehr. Das ganze alte Wertegefüge kam ins Schwanken. Die konservativen Konstanten zwischen der<br />

alten und der neuen Zeit schnurrten auf Romantizismus, Korporatismus und Antisemitismus<br />

zusammen. Das protestantische Christentum mit dem jeweiligen Fürsten als obersten Kirchenherrn<br />

kam in eine missliche unhaltbare Lage und wurde in den Strudel der wankenden Monarchen mit<br />

hineingerissen. Reformistische Neigungen der protestantischen Laien und der Kirchenhierarchie<br />

wurden nicht durch eine im Ausland beheimatete übernationale Autorität abgefedert oder<br />

ausgebremst, sondern schwappten ungebremst in den protestantischen Kirchenbetrieb.<br />

Das jüngere Klientel musste sich entscheiden: entweder ohne Adrenalinstöße und ohne eigene<br />

Heldentaten die ruhmreiche Vergangenheit der Väter und Großväter zu bewundern, diesem Weg der<br />

Väter ohne eigene historische Großtat zu folgen oder vom konservativen in <strong>das</strong> reformistische Lager<br />

zu wechseln.<br />

Das beste Ergebnis erzielten die Konservativen Ende 1924 mit 20,5 %. Im Juli 1932 verzeichnete sie<br />

mit 5,9 % <strong>das</strong> schlechteste Ergebnis, <strong>das</strong> den harten Kern der Anhängerschaft abbildete. Die<br />

Differenz von rund 15 % bezeichnet die Anzahl der reformistisch-konservativen Grenzgänger. Es<br />

waren vor allem die zwischen Konservatismus und Reformismus umherirrenden jüngeren Jahrgänge.<br />

Die bereits früher erwähnten Franz Ritter von Epp, Ernst von Salomon, Albert Schlageter, Hermann<br />

Ehrhardt, Friedrich Wilhelm Heinz, Manfred von Killinger und Gerhard Rossbach waren typische<br />

Repräsentanten der jüngeren Generation.<br />

Fotos zeigen Gerhard Rossbach 1918 als Freichorps-Anführer mit dem Reformsymbol Hakenkreuz.<br />

Es gab zu diesem Zeitpunkt weder die deutsche Arbeiterpartei, noch die NSDAP. Hitler diente noch<br />

der Münchner Räterepublik. Eine monarchistisch-traditionalistische Sozialisation ist bei Rossbach<br />

nicht wahrscheinlich.<br />

Die Dolchstoßlegende verklickerte den Deutschen, <strong>das</strong>s Spartacus der heldenhaften deutschen<br />

Armee heimtückisch mit dem vaterlandslosen Dolch der Revolution in den Rücken gestochen hätte,<br />

wie Hagen von Tronje die einzige verwundbare Stelle Siegfrieds nutzend. Neben dieser<br />

linkselitaristischen Bedrohung durch Spartacus musste die kaisertreue und bibelfeste deutsche<br />

Armeeführung, welche ihre Waffen vorsichtshalber von frommen Männern segnen ließ, die gesamte<br />

Kriegszeit mit Unteroffizieren kämpfen, welche nach getaner Arbeit abends den Zarathustra<br />

aufschlugen und lasen:<br />

333 Aus www.dhm.lemo, Stichwort Augustererlebnis<br />

245


„Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört,<br />

<strong>das</strong>s Gott todt ist!“<br />

Oder kannten einige gar die letzten Fragmente Nietzsches?<br />

„Es gibt kein Recht auf Gehorsam, wenn der Befehlende bloß ein Hohenzollern ist.“ Oder: „Indem<br />

ich dich vernichte Hohenzollern, vernichte ich die Lüge.“<br />

Oder:<br />

„Ich will <strong>das</strong> Reich in ein eisernes Hemd einschnüren und zu einem Verzweiflungskampf<br />

herausfordern. Ich werde nicht eher die Hände frei bekommen, als bis ich den christlichen Husaren<br />

von Kaiser, diesen jungen Verbrecher sammt Zubehör in den Händen habe – mit Vernichtung der<br />

erbarmungswürdigsten Mißgeburt von Mensch, die bisher zur Macht gekommen ist.“<br />

Man sieht, <strong>das</strong> deutsche Heer hatte vom ersten Kriegstag an kein wirklich verbindendes Leitbild. Es<br />

wurde einfach nicht darüber gesprochen, wie es nach dem Kriege weitergehen sollte. Das war<br />

solange nur gesiegt wurde eher ein Vorteil, da jeder sich zusammenphantasieren konnte, was er<br />

wünschte; im Angesicht von endlosen Stellungskämpfen und Niederlagen jedoch ein großer Nachteil.<br />

Die Sozialdemokraten träumten vom marxistischen Zukunftsstaat, die Altmonarchisten von einem<br />

gestärkten und vergrößerten christlichen Imperium und die Reformisten von der Herrschaft der<br />

atheistischen geistigen deutsch-germanischen Übermenschen. Diese unterschiedlichen Ziele waren<br />

für den Sieg in einem immer länger währenden Kriege verhältnismäßig ungünstige Voraussetzungen.<br />

Die generationsbedingte Zerrissenheit der Konservativen hielt in der Weimarer Republik an. Weimarer<br />

Wanderer zwischen dem reformistischen und dem konservativen Lager waren nicht nur<br />

Gymnasiasten, Studenten und Freikorps, sondern auch völkische Landkommunarden, der<br />

überwiegende Teil der Wandervögel, die freideutschen Bünde, Denkmal-, Tier- und Naturschützer und<br />

die jüngeren Bauern, die zahlreich den zunehmend mehr völkischen als konservativen Landbünden<br />

folgten.<br />

Im Strudel der Moskauer Machtkämpfe<br />

Ab 1924 wurde die KPD tiefer in die innerrussischen Strudel der KPdSU-Fraktionskämpfe<br />

hereingezogen. Noch 1923 hatte die KPD unter dem Einfluß von Karl Radek erst die antisemitischnationalistische<br />

Schlageter-Linie gefahren und anschließend unter dem Kommando Trotzkis <strong>das</strong><br />

Abenteuer des Hamburger Aufstands gewagt. Namen sind Nachrichten. Viele neue Namen zeigen<br />

Machtkämpfe an. Die Führungspersonen wechselten ständig: 1924/25 waren Ruth Fischer, Arkardij<br />

Maslow, Werner Scholem und Ernst Thälmann am Ruder, 1926 Ernst Thälmann, Philipp Dengel, Ernst<br />

Meyer und Arthur Ewert, ab 1928 Ernst Thälmann, Heinz Neumann und Hermann Remmele. 1932<br />

wurden Remmele und Neumann abserviert. Die einzige Konstante war Thälmann. Er kungelte am<br />

meisten mit Stalin und schloß Geheimabkommen mit ihm.<br />

Innerparteilichen Gegnern in der KPD wurde je nach aktuellem Bedarf <strong>das</strong> Moskauer Abzeichen<br />

"Rechter Abweichler" oder "Linker Abweichler" angeheftet, um sie im innerparteilichen Leben mundtot<br />

zu machen. Mit einem "Offenen Brief" der Komintern von 1925 wurde die frischgewählte Fischer-<br />

Maslow-Gruppe heftigst kritisiert und im Gefolge aus der Parteiführung entfernt. Aber schon während<br />

der Fischer-Maslow-Zeit war die Herausdrängung von Funktionären mit SPD- und USPD-<br />

Vergangenheit in vollem Gange. Der Ausschluß der "Rechten", unter denen vor allem und zunächst<br />

jene zu verstehen waren, die die Zusammenarbeit mit der SPD gesucht hatten, erfolgte 1928. Einige<br />

wurden direkt vom EKKI ausgeschlossen, andere vom Politbüro der KPD. August Thalheimer, Paul<br />

Frölich, Heinrich Brandler, Robert Siewert und andere gründeten nach ihrem Hinauswurf aus der KPD<br />

die KPD (Opposition), die freilich keine Bedeutung gewann. Interessant ist jedoch die Statistik des<br />

Gründungsparteitags der KPD (O): Von 74 Delegierten hatten 53 (= 72 %) der Vorkriegs-SPD und 43<br />

(= 58 %) dem Spartacusbund angehört. 334 Mit diesen Prozentsätzen konnte die KPD in ihrer<br />

stalinistischen Phase nicht mehr im entferntesten aufwarten. Hier gab es mit Thälmann, Pieck und<br />

Ulbricht auch noch ehemalige Sozialdemokraten, daneben stiegen jedoch viele politischen Jungtürken<br />

334 Theodor Bergmann: Gegen den Strom. Die Geschichte der KPD(O). VSA-Verlag, Hamburg 2001<br />

246


schnell auf, um genauso schnell wieder in der Anonymität der stalinistischen Gebetshäuser zu<br />

verschwinden.<br />

Mit der Bolschewisierung kam eine zweite Tendenz in der KPD zum Tragen, die der Moskauer<br />

Entwicklung glich. Waren in der frühen KPdSU zahlreiche Juden in der Führung vertreten, so waren in<br />

der väterlichen Phase der Revolution die Juden aus der Führung verdrängt. Ähnlich verlief es in der<br />

KPD. Zu Anfang saßen mit Rosa Luxemburg, Gustav Landauer, Leo Jogiches, Paul Levi, Max Lewien<br />

und August Thalheimer noch zahlreiche Juden in den Führungszirkeln der KPD. 1928 bis 1932 war<br />

nur noch Heinz Neumann in der inneren Führung übrig geblieben. Die kommunistische "Welt am<br />

Abend" berichtete am 4. August 1931 unter der Überschrift "Mordhetze. Goebbels fabriziert<br />

Proskriptionslisten", daß in ihrer Redaktion schon seit längerer Zeit kein Jude mehr tätig sei. Wollten<br />

<strong>das</strong> Blatt beziehungsweise die KPD damit ihre Attraktivität erhöhen? Fakt ist, <strong>das</strong>s 1932 kein Jude<br />

mehr kommunistischer Reichstagsabgeordneter wurde, und <strong>das</strong>s unter den 500<br />

Reichstagskandidaten der KPD auch kein einziger Jude mehr war. Es gibt natürlich den knüppelharten<br />

Verdacht, <strong>das</strong>s Josef Stalin und Ernst Thälmann nachgeholfen haben. Die KPD (Opposition) hatte<br />

dagegen überwiegend jüdische Mitglieder.<br />

Wie schädlich es ist, wenn man eine fremde Macht innenpolitisch gewähren läßt, zeigte sich täglich<br />

beim Lesen der "Roten Fahne". Die Parolen aus Moskau gingen an den deutschen Erfordernissen<br />

nicht nur vorbei. Es bildete sich bei einem guten Achtel der Bevölkerung eine Zuschauermentalität<br />

heraus, die Dunkelroten lebten zwar körperlich in Deutschland, aber ideologisch auf dem roten<br />

Planeten. Es war ähnlich wie in der DDR, wo man abends die Tagesschau mit Nachrichten aus dem<br />

Nachbarland sah, um sich dann zurückzulehnen und auf den Ausbruch des Aufstands zu warten, man<br />

fühlte sich nicht als Bestandteil des "Systems". Am 23. Oktober 1925 wurde der Thälmannsche Artikel:<br />

"Die Lehren des Hamburger Aufstandes" in der Roten Fahne abgedruckt:<br />

"Augenblicklich befinden wir uns nicht in der Periode des direkten Sturmes, des unmittelbaren<br />

Kampfes der Eroberung der Macht. Wir befinden uns in der Periode zwischen der ersten und der<br />

zweiten Revolution. Analysiert man die Weltlage und die konkrete Situation in Deutschland, so ist<br />

es für jeden ernsthaften <strong>Menschen</strong> klar, daß die gegenwärtige "Atempause" nicht lange dauern<br />

wird.....Mehr denn je muß in dieser Periode jeder deutsche Kommunist, jedes Parteimitglied, jedes<br />

Mitglied des kommunistischen Jugendverbandes, jeder revolutionäre Arbeiter stets und<br />

unverrückbar <strong>das</strong> Bild des Hamburger Oktoberkämpfers vor Augen haben: kaltblütig,<br />

todesverachtend, der Sache der Arbeiterklasse grenzenlos ergeben, <strong>das</strong> Gewehr in der Hand, vor<br />

sich die Barrikade, zum Empfang des Feindes bereit und den Blick auf ein einziges Ziel gerichtet,<br />

auf <strong>das</strong> größte stolzeste Ziel, <strong>das</strong> es für einen Kommunisten gibt: die Diktatur des Proletariats." 335<br />

1926 malte der Erzreformist George Grosz <strong>das</strong> Bild „Die Stützen der Gesellschaft“. Das Bild zeigt<br />

weniger die Realität der republikanischen Machtverhältnisse, als seine eigene expressive Gefühlswelt;<br />

der Ausstellungskatalog der Weimarer Ausstellung „Kunst der Weimarer Republik“ spricht von<br />

„giftender Hassrhetorik“. Vor allem fallen zwei Fehleinschätzungen auf, die den Machtkampf zwischen<br />

Kommunisten und Nationalsozialisten zugunsten der letzteren entschieden: Grosz hat vorne einen<br />

älteren Herrn mit Hakenkreuz porträtiert. Dieser hat einen Schmiß, trägt einen Stehkragen und ein<br />

Verbindungsbändchen. Es handelt sich offensichtlich um einen älteren völkischen Herrn. Typische<br />

Nationalsozialisten trugen keinen Stehkragen, waren nicht alt, hatten keine Schmisse und gehörten<br />

relativ selten zu Verbindungen. Grosz nahm den Nationalsozialismus nicht als <strong>das</strong> wahr, was er war,<br />

nämlich eine Jugendbewegung. Er verzerrte ihn zu einem Altherrenphänomen, um die Jugendlichkeit<br />

für die Linke zu monopolisieren. Die Zweite Fehleinschätzung betrifft den frommen Pater. Die<br />

katholische Kirche war eine der wenigen Institutionen, die den Nationalsozialismus bekämpfte und die<br />

Republik stabilisierte, ganz anders als George Grosz. Solche Säufernasen wie der fromme Kaplan<br />

links oben hatten eher jene Kommunisten, die sich am Zahltag auf der Gasse mit den<br />

Nationalsozialisten prügelten.<br />

Unbeeindruckt von den "roaring twenties" agitierte Sowjetrußland in der Periode der relativen<br />

Stabilisierung in Deutschland. Die Stabilisierung wurde nur als relativ empfunden, und diese<br />

Beobachtung sollte sich als zutreffend erweisen<br />

335 Ernst Thälmann: Ausgewählte Reden und Schriften in 2 Bänden, Bd. 1, Verlag Marxistische Blätter, Ffm, S. 69<br />

ff.<br />

247


Unter der Kultursklaverei<br />

Otto Rühle war nacheinander fast alles, was man als Volkserzieher in Deutschland werden konnte:<br />

protestantischer Lehrer, sozialdemokratischer Wanderlehrer, Schulreformer und<br />

Reichstagsabgeordneter, heilskündender Freidenker, kommunistischer Agitator, Verleger und<br />

Sachbuchautor, schließlich dilettierender Maler. Rühle schrieb als ehemaliger Lehrer am liebsten<br />

Bücher und Artikel über Wege aus der "Verbürgerlichung" der Arbeiterklasse, über die Brechung der<br />

proletarischen "Kultursklaverei". Der Begriff der Kultursklaverei war von Lenin geprägt worden. "Dort in<br />

den westlichen Ländern ist es schwieriger, die Revolution zu beginnen, weil sich dort der hohe Stand<br />

der Kultur gegen <strong>das</strong> revolutionäre Proletariat auswirkt und die Arbeiterklasse sich in der<br />

Kultursklaverei befindet." Während Marx <strong>das</strong> wachsende Kulturniveau der Arbeiterklasse begrüßt<br />

hatte, wurde es von Lenin als Ursache der ausbleibenden Revolution gedeutet. Lenin erfand die<br />

Verbürgerlichungsthese. Diese These fand in der KPD schnell reißenden Absatz, "begründete" sie<br />

doch die Abneigung der Mehrheit der deutschen Arbeiter gegen die Errichtung der von der KPD<br />

gewünschten leninistischen Diktatur, zeigte sie doch auf, warum die deutsche Arbeiterklasse von 1914<br />

bis 1924 "versagt" hatte.<br />

Der Linksreformist John Heartfild geißelte den sozialdemokratischen „Vorwärts“ als dem bürgerlichen<br />

Kulturkreis zugehörig: „Wer Bürgerblätter liest, wird blind und taub. Weg mit den<br />

Verdummungsbandagen!“. Die Witwe von John Heartfield übrigens beschäftigte in der Russenzeit<br />

eine bezahlte Gesellschafterin, die mit ihr Konversation pflegte und Karten legte.<br />

Die Zeit der Jahrhundertwende hatte ein voluntaristisches willensgeprägtes Weltbild gemalt, in dem<br />

Marxens Determinismus, seine Lehre von der Naturgesetzlichkeit des Umbruchs keinen Platz mehr<br />

hatte. Marxens Bild vom Reich der Freiheit, <strong>das</strong> auf <strong>das</strong> Reich der Notwendigkeit folge, wurde<br />

geschichtsphilosophisch neu ausgedeutet und in die vorrevolutionäre Phase übertragen. Im<br />

Sozialismus höre die Determination geschichtlicher Abläufe durch die Produktion auf und bereits vor<br />

der Erreichung des Sozialismus müsse die Kultursklaverei gebrochen werden, um <strong>das</strong> sozialistische<br />

Reich der Freiheit überhaupt erreichen zu können.<br />

Um 1900 war die These vom notwendigen "Hereintragen" des Bewußtseins in die Arbeiterklasse<br />

geboren worden. Kautsky hatte 1901 in einem Brief an Victor Adler geäußert, daß <strong>das</strong> sozialistische<br />

Bewußtsein in die Massen hineingetragen werden müßte. Ein Jahr später vertrat Lenin in "Was tun?"<br />

die gleiche Meinung, wahrscheinlich reagierte er auf entsprechende Diskussionen in der deutschen<br />

Arbeiterbewegung. Nur Rosa Luxemburg akzentuierte etwas anders und sprach auf dem<br />

Gründungskongreß der KPD von der erforderlichen geistigen Revolutionierung der Massen. Nach<br />

1925 wurde der angemahnte Lernprozeß in ein stalinistisches Kurssystem gezwängt. Das Sein<br />

bestimmte nicht mehr <strong>das</strong> Bewußtsein, sondern <strong>das</strong> Bewußtsein sollte <strong>das</strong> Sein bestimmen. Es war<br />

faktisch der definitive Abschied von Marx und vom Marxismus, Lenin und Stalin beanspruchten<br />

Marxens Erbe jedoch vehement für sich.<br />

„Es ist an der Zeit, <strong>das</strong>s der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, <strong>das</strong>s der Mensch den<br />

Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“ So war Nietzsches Vorgabe, und die war nun auch in der<br />

Arbeiterbewegung zu erfüllen.<br />

Das sozialdemokratische Vereinsleben, die Kleingartenseligkeit, die gemeinsamen Ausflüge,<br />

sozialdemokratische Sportaktivitäten wie Willi Bredel sie in seinen "Vätern" beschrieb, gerieten nun<br />

nicht nur unter Generalverdacht, sie wurden von zahlreichen Kommunisten zu Hemmnissen bei der<br />

Ausbildung des Klassenbewußtseins erklärt. Es wurde postuliert, daß zur Erreichung des Sozialismus<br />

ein neuer Mensch erforderlich wäre. Ein klassenbewußter Arbeiter, der sich bei Wertheim einen Gong<br />

kaufte, um seine Familie zum Mittagstisch zu rufen, geriet als negatives Beispiel in<br />

"verbürgerlichungstheoretische" Schriften. Willi Bredel schuf ein fünfstrophiges Poem, um die<br />

Verbürgerlichung im Kleingartenmilieu und die damit verbundene mangelnde Konzentration auf die<br />

Weltrevolution anzuprangern, welches ohne Umschweife auf den Kern des Übels zielte: "Der<br />

Postbeamte Emil Pelle hat eine Kleingartenparzelle".<br />

Der Rotfrontredakteur Fischer, schrieb einen kritischen Artikel über die Künstlerkolonie „Laubenheimer<br />

Platz“ in Berlin, die ebenfalls in den Verdacht der Verbürgerlichung geriet.<br />

„Da wird auf den Balkonen Petersilie und Schnittlauch gezüchtet wie bei Kleinbürgern; neben den<br />

ausgewaschenen fleischfarbenen Strümpfen der Künstlerinnen hängen sympatisierend die<br />

248


gesäuberten Männerunterhosen. Und es kann einem passieren, über seinem Haupte werden ein<br />

paar zerschlappte Filzpantoffeln aus dem Fenster heraus ausgeschlagen.“<br />

So textete Franz Fischer in der „Roten Fahne“ vom 2. 11.1928, nicht ohne die abschließende<br />

Bemerkung:<br />

„Den Künstler aber lehrt ihr Zusammenwohnen hoffentlich eins: daß sie auch Ausgebeutete sind<br />

und der letzte Maurer, der mit an der Künstlerkolonie baute, ebensoviel wert ist, als der erste<br />

Künstler, der sie bewohnt.“<br />

Der ehemalige Kriegsliterat und spätere Kommunist Toller brachte seine Replik in die "Weltbühne"<br />

vom 13.11.1928:<br />

„Ungehörig im Ton und unwürdig eines Arbeitsblattes“ sei der Artikel von Fischer. „Wenn er sich<br />

über die Ordnung, die in Künstlerwohnungen herrscht, lustig macht, und diese Ordnung für etwas<br />

Bürgerliches hält, so kann man nur sagen, daß er die Auffassung eines Spießers hat, der Künstler<br />

gleich wildem Bohemien setzt und nicht weiß, daß gerade der ernsthafte Künstler in Dingen des<br />

Alltags auf peinliche Ordnung sehen muß, weil er sonst gar nicht imstande wäre, konzentriert und<br />

anhaltend zu arbeiten. Er benutzt <strong>das</strong> dialektische Dilletantenstück, den Begriff Ordnung, der, auf<br />

den kapitalistischen Staat angewandt, zum Hohngelächter herausfordert, gleichzusetzen der<br />

Ordnung, die ein Mensch etwa beim Anziehen von Kleidungsstücken oder beim Aufräumen seiner<br />

Wohnung beachtet.“ 336<br />

Der bereits erwähnte Rühle erkannte im realen Arbeiterleben keine Quellen sozialistischer<br />

Vorwärtsentwicklung. Im Gegenteil war <strong>das</strong> konkrete Tun und Lassen der Arbeiter Ausfluß des<br />

bürgerlichen Wertesystems. Das Proletariat sei in Ermangelung einer eigenen Kultur beherrscht von<br />

einer Atmosphäre bürgerlicher Ideologie und kleinbürgerlicher Lebensweise. Er sprach von "kultureller<br />

Verblödung" und diagnostizierte in allen Lebensbereichen ein "durchgehendes Streben nach<br />

möglichster Verbürgerlichung". Bedürfnisse wie Entspannung, Unterhaltung und Erholung erschienen<br />

verdächtig. Erhält der Proletarier Kenntnis von seiner "historischen Mission", könnte der notwendige<br />

Wandlungsprozeß beginnen. Der proletarische Mensch müsse von der Vergangenheit frei werden und<br />

dieser Prozeß müsse bereits vor der Revolution durch Schulung soweit fortgeschritten sein, daß die<br />

Revolution überhaupt stattfinden könne. 337<br />

Während Rühle sich mit dem revolutionsunwilligen deutschen Proletariat beschäftigte, schlugen sich<br />

Lenin und Stalin mit den nachrevolutionären russischen Philistern herum, denen Michael Bulgakow ein<br />

literarisches Denkmal gesetzt hat und die auch Jahre nach der Revolution stark beschulungsbedürftig<br />

blieben. Das blieben sie übrigens bis 1990, ohne daß jemals eine auch nur zeitweilige Aufbesserung<br />

des Klassenbewußtseins zu verzeichnen gewesen wäre. Da die vorrevolutionäre KPD von der<br />

nachrevolutionären KPdSU stark abhängig war, schossen die ideologischen<br />

Schnellbesohlungsanstalten nach russischem Vorbild im Deutschland der Jahre ab 1925 bis 1932 wie<br />

Pilze aus dem Boden. 1927 begann Ernst Schneller kommunistische Kulturorganisationen aus dem<br />

Boden zu stampfen, insbesondere Erwin Piscator, Bertold Brecht und Ernst Toller ließen sich vor den<br />

klassenbewußten Agitprop-Karren spannen und wurden Stalins Prostituierte.<br />

Johannes R. Becher brachte seinen persönlichen Ausbruch aus der Kultursklaverei auf den Punkt:<br />

„Das Kaffeehaus ist vorbei, die lustige Künstlerei und Schwabingerei ist vorüber. Ich habe zu<br />

funktionieren.“<br />

Es ging für den deutschen Intellektuellen nie darum, Nietzsche zu überwinden, sondern immer nur<br />

darum ihn neu zu buchstabieren.<br />

Die Gegenbildung der schulungswütigen stalinistischen Jungtürken war der in den zwanziger Jahren<br />

zum künstlerischen Einzelgänger gewordene Heinrich Zille. Er war seit jeher kein ausgeprägter<br />

Reformist im Sinne Nietzsches und der Jugendbewegung gewesen und im Wertesystem der mittleren<br />

Kaiserzeit stehen und stecken geblieben. Allerdings ließ die Produktivität des alten Meisters langsam<br />

336<br />

»Die Künstlerkolonie« oder »Wie sieht ein Künstleralltag aus?« von Waltraud Thiel aus KünstlerKolonieKurier<br />

Nr. 2 / 1989<br />

337<br />

Horst Groschopp: Otto Rühle, Zum Arbeiterbild in der ultralinken deutschen Arbeiterbewegung der zwanziger<br />

Jahre. In Arbeiter im 20. Jh. Hg. Klaus Tenfelde, Stuttgart 1990<br />

249


nach. Wenn er gelegentlich zum Pinsel griff, waren nach wie vor der kleine Mann und die kleine Frau<br />

<strong>das</strong> Thema.<br />

So wie die Republik politisch auf Leitbildern einer seligen Vergangenheit beruhte, so auch Zilles Kunst<br />

der zwanziger Jahre.<br />

Kulturelle und politische Entwicklungen während der relativen Stabilisierung 1924-1928<br />

„Glück ist auf Erden eitel. Lust hat Grenzen, die du kennen musst“, hatte bereits Bernard Mandeville<br />

gewusst. Das traf auf die ausufernde teutonische Kulturszene zwischen 1900 und 1918 auch zu.<br />

Expressionismus, Futurismus, Aktionismus wetteiferten um die Spitze der Avantgarde. Heinrich Mann,<br />

Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Zille, die Brücke-Maler, der Blaue Reiter und viele andere<br />

waren überaus produktiv. Viele Höhepunkte, Treffen und Vernissagen sind durch Photos belegt. Mit<br />

dem Anbruch der Weimarer Republik verlor dieser aufs äußerste angeschwollene künstlerische Strom<br />

seine Substanz; dünne Rinnsale endeten in Himmelsteichen. Das Bauhaus, Ernst Jünger und <strong>das</strong><br />

epische Theater sind solche Rinnsale. Viele Schriftsteller, Maler und Dichter schienen zu bocken.<br />

Einige Künstler fingen erst wieder an, zu schreiben und zu malern, als Adolf Hitler die Macht<br />

übernommen hatte. Das trifft gerade auf jene zu, die emigriert waren. Die Brücke-Maler malten in den<br />

Zwanzigern kaum noch, obwohl sie im besten Lebensalter waren. Heinrich Mann ruhte sich in den<br />

Zwanzigern aus; Hesse war vor und nach der Republik wesentlich produktiver. Der Photoapparat<br />

wurde nur selten herausgeholt, sehr wenige gesellschaftliche und persönliche Ereignisse sind durch<br />

Photos dokumentiert. Es scheint, als sei diese Zurückhaltung ein "Protest gegen den gegenwärtigen<br />

Saustall" (Th. Mann) gewesen. Fast nichts scheint wichtig genommen worden zu sein. Es gab keine<br />

dokumentierten Haupt- und Staatsereignisse. Das poltische Leben ist so wenig dokumentiert, daß der<br />

Verdacht aufkommt, die Akteure hätten sich ihrer Rolle geschämt. Tatsächlich war die<br />

parlamentarische Republik nach der jugendbewegten Vorkriegsphase des Sturms und Dranges im<br />

intellektuellen Verständnis ein Anachronismus.<br />

Die Jahre zwischen 1924 und 1929 werden dennoch als goldene Jahre bezeichnet. Um diese<br />

Wertung zu teilen, ist es einerseits erforderlich, <strong>das</strong> politische, kulturelle und wirtschaftliche<br />

Anspruchsniveau etwas herunterzuschrauben. Es handelte sich natürlich nicht um eine Periode der<br />

Vollbeschäftigung, nicht um eine Abkehr von den Doktrinen des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> und nicht um einen<br />

Zeitabschnitt mit stabiler Regierung. Die Avantgarde wurde durch <strong>das</strong> Bauhaus, die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit<br />

und Brechts episches Theater besetzt. Das war für 14 Jahre nicht sehr viel. Der breite Strom der<br />

Alltagskultur ergoß sich als abgestandener Expressionismus, gestreckter Jugendstil und verlängerter<br />

Heimatstil in die gesellschaftliche Wahrnehmung. Die Mitte der zwanziger Jahre kann nicht nur durch<br />

die Abwesenheit von Inflation und Bürgerkrieg, Wirtschaftskrise und Nationalsozialismus, also rein<br />

negativ beschrieben und definiert werden. Am Ende der 20er und am Anfang der 30er Jahre begann<br />

der Aufstieg der Massenkultur. Die Auftritte von Duke Ellington mit den Chocolate Kiddies 1924 und<br />

von Josephine Baker mit ihrer Charleston Jazzband 1927 brachten tatsächlich einen Gegensatz zum<br />

völkischen und deutsch-tiefgründigen Einerlei. Charleston und Jazz hielten Einzug in die muffigen<br />

deutschen Großstädte. Es waren bezeichnenderweise keine deutschen Kreationen.<br />

Schneid´ dir ab den alten Zopf - schneid´ dir einen Bubikopf“ Heinrich Mann schrieb: „Kurze Haare<br />

durften nicht ausbleiben, nachdem die Figur der Dame knabenhaft geworden war. Hiervon abgesehen<br />

lässt es sich damit besser sowohl tanzen und Sport treiben wie auch in Fabriken arbeiten.“ Mann<br />

stellte die Rolle der Frau gleich prinzipiell in Frage – wiederum typisch deutsch.<br />

Tanzlokale und Kinos schossen allerdings wie Pilze aus dem Boden. Der Sport wurde zu einem<br />

Massenvergnügen. Hunderttausende zog es zu Fußballspielen in die Stadien, Max Schmeling<br />

begeisterte ein Millionenpublikum an den Rundfunkgeräten. Von 1923 bis 1933 stieg die Zahl der<br />

Radios von 10.000 auf 5,4 Millionen. Der Schlager begann seinen Siegeszug.<br />

In den großen Betrieben hielt <strong>das</strong> Fließband seinen Einzug, die Taylorisierung der Arbeit, die<br />

Zerstückelung der Arbeitsgänge war auf ihrem Höhepunkt, was zunächst die Produktivität der Arbeit<br />

steigerte.<br />

Nun hätte man vermuten können, <strong>das</strong>s mit Jazz, Taylorismus und amerikanischen Krediten ein neuer<br />

internationaler Wind wehte. Dieser Wind blies jedoch nur durch Josephine Bakers Bananenröckchen,<br />

in der Provinz kam nur ein Lüftchen davon an. Während in einer durchaus begrenzten Zahl von<br />

Lokalitäten der Charleston herrschte, ging die Kulturrevolution sowohl in Berlin wie in der Provinz ihren<br />

250


sozialistischen Gang. Das soll im folgenden an Phänomenen wie der Freigeldbewegung, der<br />

„Weltbühne“, der Publizistik von Georg Lukacs und der „Linkskurve“ gezeigt werden.<br />

Selbstverständlich ist <strong>das</strong> nur ein Ausschnitt: Betrachtungen über den „Kladderadatsch“, den<br />

„Simplicissimus“ und den „Kunstwart“ würden <strong>das</strong> Bild zwar abrunden, die Folgerungen wären jedoch<br />

keine grundsätzlich anderen.<br />

Auf der Leuchtenburg wurde 1925 ein Workshop Freiland – Freigeld – Freikultur veranstaltet, bei dem<br />

nichts obskurantistisches fehlte, was die Jugendbewegung ausgebrütet hatte. Muck Lamberty hatte es<br />

so ausgedrückt: „Besinnt Euch! Unser Volk muß untergehen, wenn die Jungen und Junggebliebenen<br />

nicht aufstehen und an sich arbeiten. Wir wollen in den Tagen, die wir bei Euch sind, mit Euch leben<br />

und kämpfen gegen Vergnügungen aller Art, die die Jugend ausbeuten an Leib und Seele aus<br />

Geldinteressen, und rufen Euch auf, die Tage mit uns zu verbringen in rechter Fröhlichkeit.“ Vor und<br />

nach dem Weltkrieg hatte er sich mit Experimenten beschäftigt, <strong>das</strong> verhaßte Geld aus dem Verkehr<br />

zu ziehen.<br />

Eine Lösung könnten Tauschläden sein, die er in nietzscheanischer Manier „Umwertungsläden“<br />

nannte, mit einer Produktpalette, die den sozialromantischen Reiz von Dritte-Welt-Läden ausmacht:<br />

„Freunde der guten Sache, klare und rare Köpfe, werden in der Stadt eine Umwertungsstelle<br />

schaffen, einen Laden mieten und wenn möglich später einmal ein ganzes Häuslein kaufen oder<br />

bauen, wo die fertigen Arbeiten unserer jungen und junggebliebenen Handwerker sich<br />

zusammenfinden. Ausstellung und Verkauf durch die Handwerkergemeinschaft. Dort gibt es feine<br />

Töpfe, schöngebundene Bücher, Lauten, guten Schmuck, rechten Hausrat, herrliche Drucke und<br />

Steinzeichnungen, fertige Kittel und Gewänder, handgewebte Stoffe, ja sogar Lichterkränze für die<br />

guten deutschen Stuben statt Blechleuchter der närrischen Welt vor dem Kriege. In der<br />

Umwertungsstelle werden wiederum <strong>Menschen</strong> unserer Art ge<strong>braucht</strong>: Kaufleute, praktische<br />

<strong>Menschen</strong>, Mädchen, Schreiberlein, Arbeiter, Gehilfen. So wird allen im Sinne der Gesundung und<br />

der Erstarkung eine Lebensmöglichkeit geboten, so daß sie auch in der Arbeit so denken und sich<br />

geben können, wie sie es sicherlich jetzt möchten." 338<br />

Lamberty´s Umwertungsläden waren nur Kinkerlitzchen gegen die ganze organisierte Wucht der<br />

Freiland- und Freigeldbewegung. Diese Bewegung ging auf Anregungen von Silvio Gesell zurück.<br />

Gesell hatte um 1900 eine Wirtschaftstheorie erdacht, bei der <strong>das</strong> Geld monatlich um 1 % entwertet<br />

wird. Damit würde ein schneller Umlauf erzwungen und Sparen unattraktiv gemacht. Krisen würden<br />

damit unwahrscheinlicher, es würde ständig Hochkonjunktur herrschen. Die beiden wichtigsten<br />

Unterstützer wurden der Berliner Tischler Georg Blumenthal und der antisemitische<br />

Ernährungsreformer Gustav Simons, der die Gartenstadt Eden bei Oranienburg mitgegründet hatte.<br />

1909 hatte Blumenthal die „Physiokratische Vereinigung“ gegründet, die sich als politischphilosophische<br />

Erbin von Max Stirner verstand. Stirner war einer der Väter des Anarchismus und<br />

Blumenthal verfügte deshalb über gute Kontakte zum Anarchisten Gustav Landauer. Der Schöpfer<br />

des Vollkorn-Siemons-Brotes, Gustav Simons war die Scharnierperson zur Lebensreformbewegung<br />

und gehörte dem rassistischen „Orden des <strong>Neue</strong>n Tempels“ des Lanz von Liebenfels an. Auf der Burg<br />

des Ordens wehte schon seit 1907 die Hakenkreuzfahne. Es war ein Orden für blonde und blauäugige<br />

Männer, die sich zur Reinzucht verpflichten mussten. Gesell störte sich nicht an den Neigungen<br />

Simons. „Die Natürliche Wirtschaftsordnung kann nicht verdorben werden.“ So seine Meinung dazu.<br />

1911 zog Gesell selbst in die Gartenstadt Eden. Biologische Anbauweisen, Vegetarismus, FKK sollten<br />

in Gütergemeinschaft verwirklicht werden.<br />

„In zahlreichen Publikationen engagierte sich Richard Ungewitter für die Verbreitung der ›Nacktkultur‹, die er als<br />

Allheilmittel gegen den körperlichen und seelischen ›Niedergang‹ des modernen Großstadtmenschen<br />

propagierte. Gleichzeitig trat er für eine bewußte ›Rassenzüchtung‹ ein, da durch die christliche und sozialistische<br />

Verbrüderung eine gefährliche Mischung der Rassen entstanden sei. Die Skandinavier stellte er als einzige noch<br />

›reine Rasse‹ als Vorbild dar, die außerdem auch <strong>das</strong> ›Nacktbaden‹ kultivierten. Schon die Mischehen zwischen<br />

dem ›nordischen‹ und dem ›alpinen‹ <strong>Menschen</strong> hätten zum körperlichen ›Niedergang‹ geführt. »Aus Gründen der<br />

gesunden Zuchtwahl fordere ich deshalb die Nacktkultur, damit Starke und Gesunde sich paaren, Schwächlinge<br />

aber nicht zur Vermehrung kommen«, – so sei es laut Ungewitter schließlich schon bei den alten Germanen<br />

gewesen, die »neben ihrem Waffen- und Jagdhandwerk gleich den Hellenen <strong>das</strong> Nackttanzen zwischen<br />

Schwertern und Spießen« geübt hätten.“ (aus dhm.de)<br />

338 Flugblätter für jungdeutsche Siedlung, Herausgegeben und zu beziehen vom Verlag Jungborn zu Sontra in<br />

Hessen, 3. Blatt<br />

251


In Eden trafen sich die Anhänger des neuheidnischen Sonnenkults, Völkische und Antisemiten in<br />

großer Zahl. Noch vor dem Krieg wurde der Bund für Freiwirtschaft gegründet. Im Ersten Weltkrieg<br />

schliefen die Aktivitäten etwas ein, weil viele Kommunarden sich freiwillig am Krieg beteiligten. Gesell<br />

ging in die neutrale Schweiz. Am Ende des Kriegs tauchte er in Berlin auf, um mit dem Artikel<br />

„Überwindung des Goldwahns und die Zertrümmerung der britischen Weltmacht“ in dem von Richard<br />

Ungewitter herausgegebenen Buch „Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen“ vertreten zu<br />

sein. Ungewitter warb in dem Sammelband für den völkischen Neuanfang Deutschlands nach dem<br />

Kriege, er war ein Verfechter der Freikörperkultur, da diese der Rassenverbesserung und „Aufartung“<br />

dienen würde. Gesell wollte durch die Einführung des Freigelds die englische Goldwährung entwerten:<br />

„Wer ist der Feind? England. Worauf gründet sich Englands Macht? Auf die Goldwährung.<br />

Drauf!“ 339<br />

Gesell publizierte nicht nur in einem Sammelband, in dem neben Ungewitter und ihm selbst Autoren<br />

wie Lanz von Liebenfels, der Antisemit Dr. Ernst Hunkel, der Gründer der „Germanischen<br />

Glaubensgemeinschaft“ Ludwig Fahrenkrog und der Antisemit Theodor Fritsch vertreten waren,<br />

sondern gab sich auch in eigenen Publikationen selbst als Rassist zu erkennen. Einige Kostproben<br />

aus der dritten Auflage seines Hauptwerks „Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und<br />

Freigeld“, die ebenfalls 1918 erschienen war, zeigen <strong>das</strong>:<br />

„Wie bei allen Lebewesen, so hängt <strong>das</strong> Gedeihen des <strong>Menschen</strong> in erster Linie davon ab, <strong>das</strong>s<br />

die Auslese nach den Naturgesetzen sich vollzieht.“<br />

Nur auf dem Wege des Wettbewerbs könne es zu einer förderlichen Entwicklung, zur Hochzucht<br />

kommen. Der Erfolg des Wettstreits müsse ausschließlich von angeborenen Eigenschaften bedingt<br />

sein, dann dürfe man hoffen, <strong>das</strong>s mit der Zeit die Menschheit von all dem Minderwertigen erlöst<br />

werden wird, mit dem die seit Jahrtausenden von Geld und Vorrecht geleitete „Fehlzucht“ sie geleitet<br />

hätte. Auch ein bisschen Blasphemie und ein bisschen Antisemitismus fehlten natürlich nicht: Die<br />

<strong>Menschen</strong> haben<br />

„keine Vorteile davon, wenn die besten immer gekreuzigt werden. Die Hochzucht verlangt eher <strong>das</strong><br />

umgekehrte Verfahren.“<br />

„Rassenpolitik darf nicht an Staaten, an Landesgrenzen, an Staatsgesetze gebunden werden.<br />

Rassepolitik ist ureigenste Angelegenheit jedes einzelnen <strong>Menschen</strong>. Das einzige Volk, <strong>das</strong> seit<br />

Jahrtausenden beharrlich Rassenpolitik treibt, die Juden, hat überhaupt kein eigenes Land, und<br />

kennt die Staatsmacht nicht.“ 340<br />

Heutige Globalisierungskritiker versuchen zuweilen aus Silvio Gesell einen fortschrittlichen<br />

Demokraten zu machen.<br />

Die rassepolitischen Überlegungen hinderten nicht, <strong>das</strong>s Silvio Gesell in der Münchener Räterepublik<br />

auf Betreiben Gustav Landauer´s, der seine Schriften und seinen Umgang kannte, und mit<br />

Zustimmung des Sozialdemokraten Niekisch „Volksbeauftragter für <strong>das</strong> Finanzwesen“ wurde, bis <strong>das</strong><br />

Moskauer Kommissarstrio Max Lewien, Eugen Leviné und Paul Borissowitsch Axelrod ihn absetzte. In<br />

seiner kurzen Amtszeit telegrafierte er der Berliner Reichsbankführung, <strong>das</strong>s München den Weg der<br />

systemlosen Papiergeldwirtschaft verlasse und „zur absoluten Währung übergehe.“ 341 Gesell täuschte<br />

sich auch hier: Die Reichsbank sollte <strong>das</strong> Geld in der Inflation noch viel schneller entwerten, als er mit<br />

seinen geplanten 12 % jährlich. Die Lohnempfänger mussten wegen der rasanten Entwertung <strong>das</strong><br />

Geld 1923 am Zahltag ausgeben; genauso ging es den Geschäftsleuten, die die empfangenen Erlöse<br />

sofort in Wäschekörben von der Bank abholten, um sie unverzüglich für Löhne und Rohstoffe<br />

wegzuzahlen. Am Schluß der Inflation war es trotz des geringeren Energiegehalts von Papier<br />

gegenüber Kohle wirtschaftlicher mit dem Papiergeld zu heizen, als dafür Kohle zu kaufen. Trotzdem<br />

kam kein krisenfreier nachhaltiger Aufschwung der deutschen Wirtschaft zustande.<br />

Anfang der zwanziger Jahre bildete sich ein buntes geldkritisches Netzwerk von Verbänden und<br />

Vereinen. Aus dem „Deutsche Freiland-Freigeld-Bund“ und der „Physiokratischen Vereinigung“ wurde<br />

der „Freiwirtschaftsbund“ zusammengeschlossen. Im Rheinland wurde ein „Kampfbund der Freiwirte“<br />

gebildet, in Württemberg eine „Proletarische Arbeitsgemeinschaft für Freiwirtschaftslehre“, eine<br />

339 Joß Fritz: Abgesang auf ein politisches Chamäleon. Lotta Nr. 15, Winter 2004, S. 46 f.<br />

340 Joß Fritz: Abgesang auf ein politisches Chamäleon. Lotta Nr. 15, Winter 2004, S. 46 f.<br />

341 s.o. S. 47<br />

252


Jugendorganisation „Ring Revolutionärer Jugend“ entstand. In Basel fand 1923 der „1. Internationale<br />

Freigeld-Kongreß“ statt. Dort musste sich Gesell mit Angriffen auseinandersetzen, die von seiner<br />

Lehre beinhaltete Freizügigkeit für alle Rassen auf der ganzen Welt würde der Zuchtmoral<br />

zuwiederlaufen. Er konterte, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Nebeneinander der Rassen und die dadurch möglichen<br />

Vergleiche zwischen diesen <strong>das</strong> „sicherste Ventil“ gegen eine „instinktwidrige, vielleicht schädliche<br />

Kreuzung“ seinen. Gesell rechnete nicht mit großen, dunkelhaarigen und glutäugigen Schönheiten,<br />

welche nach blonden Hünen Ausschau halten und die blonden Germanen aus der sexuellen Bahne<br />

werfen; auch wusste er nichts von der Vorliebe dunkler Südmänner für blonde Frauen und umgekehrt;<br />

der Glauben an sichere rasseninstinktive Ventile war eben blauäugig. 1923 gründete Otto Weißleder<br />

den völkischen und antisemitischen „Deutschen Bund für krisenlose Volkswirtschaft“. 1924 hatten die<br />

Freiwirte etwa 15.000 Mitglieder.<br />

Der Antisemit und Ariosoph Dr. Kunkel, wie schon erwähnt, auch ein Geselle von Mario Gesell,<br />

gründete Mitte der 20er Jahre in Sontra die Siedlung „Donnershag“, die ein geschlossenes deutschgläubiges<br />

Gemeindeleben führte, und die nur Kommunarden aufnahm, die versicherten, von<br />

jüdischem und farbigem Einschlag frei zu sein. 342 Da um 500 in ganz Europa, außer in Thüringen, die<br />

Völkerwanderung stattgefunden hatte, konnte jede dieser Versicherungen nicht mehr sein als eine<br />

gutgläubige Vermutung.<br />

Franz Stassen malte 1925 "Das Sonnenpaar". "Vor der abweisenden Handbewegung des<br />

Jünglings zerfallen düstere Dämonen wie Brutalität, Unzucht, Raffgier, Neid kraftlos in die Nacht<br />

des Nichts, dem sie enttaucht sind. Das Mädchen aber, welches sich mit unendlich keuscher<br />

Anmut an den Jüngling schmiegt, ladet zum Throne der reinen Liebe <strong>das</strong> ganz deutsche Volk,<br />

dessen Scharen von Männern und Frauen, Kindern und Greisen, Hand- und Kopfarbeitern sich in<br />

unabsehbarem Zuge herandrängen. B-A-C-H, die Fuge des Altmeisters über seinen eigenen<br />

Namen ertönt zu dem vielstimmigen Lobhymnus des Volkes auf <strong>das</strong> neue fortan geltende, reine<br />

Liebesideal, und im Rahmen des Bildes wiederholen vielfältige altgermanisch stilisierte Ornamente<br />

den Sieg des Adlers über den Drachen". So die Rezension Hans Schülers, eines Schwabinger<br />

Mitglieds der Kosmologischen Runde.<br />

Auch auf dem Gebiet des Tierschutzes tummelten sich antisemitische und völkische Kräfte. 1925<br />

veröffentlichte Manfred Kyber sein Buch „Tierschutz und Kultur“. Sicher hat Tierschutz seine<br />

Berechtigung, Kyber ging jedoch mit massiven Drohungen gegen <strong>Menschen</strong> ans Werk, um Tiere vor<br />

Quälerei zu schützen:<br />

"Der eigentliche Akt des Schächtens besteht in der Durchschneidung des Halses bis an die<br />

Wirbelsäule, was unbedingt sehr schmerzhaft ist. Nicht durchschnitten werden in der Wirbelsäule<br />

verlaufende, dem Gehirne ebensoviel Blut zuführende Gefässe. Solange <strong>das</strong> Gehirn aber Blut<br />

erhält, bleibt <strong>das</strong> Bewusstsein bestehen. Das ist, auf Grund dieser Feststellungen, bei den<br />

Schächttieren bis zum fast vollendeten Ausbluten der Fall. Ein Beweis, <strong>das</strong>s die gefolterten Tiere<br />

bis zum Schluss bei vollem Bewusstsein sind, ist auch dadurch erbracht worden, <strong>das</strong>s man sie<br />

nach erfolgter Schächtung von den Fesseln befreite. Die unglücklichen Geschöpfe sind, trotz des<br />

furchtbaren Halsschnitts, aufgestanden, eine ganze Strecke weit gegangen und haben in ihrer<br />

Todesangst versucht, die Ausgänge zu gewinnen, bis man sie durch Kugelschuss erlöste. Der<br />

ganze Schächtvorgang dauert 4 bis 10 Minuten, eine furchtbare Zeit bei diesen Qualen, und wird<br />

noch dadurch verschärft, <strong>das</strong>s mehrfach erneute Schnitte in die offene Wunde nötig sind, um die<br />

Verstopfung der Adern durch Anschwellung der Aderwandung an den Schnittstellen zu verhindern.<br />

Dass diese Schilderungen nicht übertrieben sind und <strong>das</strong>s alle Beschönigungsversuche von<br />

jüdischer Seite den Tatsachen nicht entsprechen, ersieht man am deutlichsten daraus, <strong>das</strong>s 612<br />

Schlachthoftierärzte und 41 tierärztliche Vereine diese Barbarei ablehnen. Ich lehne durchaus jede<br />

Gemeinschaft mit irgendwelchem Rassenhass ab, der mit meiner geistigen Einstellung nicht<br />

vereinbar ist, aber ebenso lehne ich es ab, <strong>das</strong>s wir uns den rituellen Gesetzen einer fremden<br />

Rasse fügen sollen, wenn sie in so offenkundiger Weise mit dem Sittlichkeitsempfinden in<br />

Widerspruch steht, wie <strong>das</strong> Schächten. Wenn die Juden ihrerseits den Gewissenszwang geltend<br />

machen, so können wir wohl mit grösserem Recht verlangen, <strong>das</strong>s bei uns vor allem unser<br />

Gewissensgebot geachtet werden muss. Wohin kämen wir, wenn wir jeder Sekte bei uns<br />

Verrichtungen einräumen würden, unbekümmert darum, ob diese unserer Kultur entsprechen oder<br />

nicht. Dann müssten wir folgerichtig den jeweils bei uns weilenden Kannibalen den Kannibalismus<br />

342 s.o. S. 47 f.<br />

253


gestatten. Verbeugungen vor jüdischem Kapital können wir an massgebenden Stellen nicht dulden.<br />

Geschieht <strong>das</strong> weiter, so kann man sich über <strong>das</strong> Anwachsen des Antisemitismus nicht wundern,<br />

den zu vermeiden doch schliesslich alle Teile Ursache hätten. So ist auch den Juden zu raten, in<br />

dieser Frage Entgegenkommen zu zeigen, durchaus auch in ihrem eigensten Interesse. Die Juden<br />

sollten sich warnen lassen. Sympathien und Antipathien lassen sich amtlich nicht festlegen und<br />

<strong>das</strong> Gesetz wird, sehr zum Schaden des Ganzen, die Juden einmal nicht schützen können, wenn<br />

sie nicht einsichtig genug sind. Wenn die Juden bei uns gleichberechtigte Staatsbürger sein wollen,<br />

so ist <strong>das</strong> gewiss eine Forderung, die man ihnen billigerweise zugestehen wird. Mit dieser<br />

Gleichberechtigung aber ist es ganz unvereinbar, <strong>das</strong>s sie Sonderrechte für sich in Anspruch<br />

nehmen. Damit reissen die Juden selbst, nicht der Antisemitismus, eine Kluft auf zwischen sich<br />

und uns, und es ist doch wohl ganz fraglos, <strong>das</strong>s sich solch eine von den Juden selbst<br />

verschuldete Trennung einmal zu ihrem eigenen Schaden auswirken kann und wird. Das wird man<br />

selbstverständlich und unvermeidlich finden, ohne auch nur im geringsten einen irgendwie<br />

antisemitischen Standpunkt einzunehmen. Im Gegenteil, gerade wer es gut mit den Juden meint<br />

und keinen Hass gegen sie nährt, muss ihnen den schleunigen freiwilligen Verzicht auf <strong>das</strong><br />

Schächten dringend raten. Wenn die Juden auf <strong>das</strong> Schächten nicht verzichten, müssen sie sich<br />

sagen lassen, <strong>das</strong>s gerade die Ethiker unter uns, die den Rassenhass ablehnen, nicht mehr zu<br />

ihnen stehen können und wollen.“<br />

Es dauerte nicht einmal ein Jahr, <strong>das</strong>s Fidus sich dem Anliegen von Manfred Kyber anschloß. „Über<br />

allem, was athmet, halte schirmend, Geweihter des Grales, deinen Schild!“<br />

Die Bibel hat eine klare Hierarchie: Gras und Kraut wurden am zweiten Tag geschaffen, Fische und<br />

Vögel am vierten Tag, die terrestrischen Tiere wie zum Beispiel Hunde am fünften Tag und die<br />

<strong>Menschen</strong> am sechsten Tag. Die <strong>Menschen</strong> wurden übrigens alle am sechsten Tag gemacht; auch<br />

die Juden. Demzurfolge darf man keinen <strong>Menschen</strong> töten, um ein Tier vor den Qualen des<br />

Schächtens zu schützen. So einfach ist <strong>das</strong> in einer funktionierenden Religion.<br />

Selbstverständlich ging in der Weimarer Republik auch <strong>das</strong> antisemitische Treiben auf dem<br />

Bayreuther Hügel weiter und die meisten Wehrverbände nahmen eine feindliche Haltung gegenüber<br />

der Republik ein.<br />

Der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten war einer der mitgliederstärksten Vereine der Weimarer<br />

Republik, wenn nicht der größte überhaupt. Nach 4 Jahren wirtschaftlicher Stabilisierung der<br />

Weimarer Republik hätte man nach den heututage herrschenden vulgärmaterialistischen Theorien im<br />

Jahr 1928 eine langsame Versöhnung der Vereinsführung mit dem republikanische System erwarten<br />

können. Das war nicht der Fall, weil die vulgärmaterialistische Theorie von der Dämpfung politischer<br />

Konflikte in einem konjunkturellen Aufschwung falsch ist. Im Gegenteil schlug der Stahlhelm auf seiner<br />

Tagung im September 1928 schrille Töne an und verschärfte die Kritik:<br />

„Wir hassen mit ganzer Seele den augenblicklichen Staatsaufbau, seine Form und seinen Inhalt,<br />

sein Werden und sein Wesen. Wir hassen diesen Staatsaufbau, weil in ihm nicht die besten<br />

Deutschen führen, sondern weil in ihm ein Parlamentarismus herrscht, dessen System jede<br />

verantwortungsvolle Führung unmöglich macht. Wir hassen diesen Staatsaufbau, weil in ihm<br />

Klassenkampf und Parteienkampf Selbstzweck und Recht geworden sind. Wir hassen diesen<br />

Staatsaufbau, weil er die deutsche Arbeiterschaft in ihrem berechtigten Aufstiegswillen behindert,<br />

trotz aller hochtönenden Versprechungen. Wir hassen diesen Staatsaufbau, weil er uns die<br />

Aussicht versperrt, unser geknechtetes Vaterland zu befreien und <strong>das</strong> deutsche Volk von der<br />

erlogenen Kriegsschuld zu reinigen, den notwendigen deutschen Lebensraum im Osten zu<br />

gewinnen, <strong>das</strong> deutsche Volk wieder frei zu machen, Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe und<br />

Handwerk gegen den feindlichen Wirtschaftskrieg zu schützen und wieder lebensfähig zu<br />

gestalten. Wir wollen einen starken Staat, in dem die verantwortungsvolle Führung der Beste hat<br />

und nicht verantwortungsloses Bonzen- und Maulheldentum führt.“ 343<br />

Die Märchen von den goldenen Jahren und von der fortschrittlichen Weimarer Republik geistern<br />

durch die herrschende Lehrmeinung und durch die Medien, da sie eine irreführende Funktion haben:<br />

Die Eliten der Kultur, die sich weiterhin auf die Kraftquellen der „Moderne“, des Expressionismus, des<br />

Bauhauses und der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit beziehen, wollen die Beteiligung der modernen Kraftmeier an<br />

343 Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung<br />

Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zu Zeitgeschichte, Bd. 7, Berlin o.<br />

J., S. 423.<br />

254


der Genese der nationalsozialistischen Herrschaft vertuschen. Deshalb wird die heutige<br />

Auseinandersetzung mit der NSDAP auf die Jahre nach der Machtergreifung konzentriert und die<br />

elitaristische Kulturrevolution 1890 bis 1933 wird kleingeredet. Auschwitz soll die Sicht auf die dem<br />

Nationalsozialismus vorhergehende Auflösung der politischen Moral und der marktwirtschaftlichen<br />

Fundamentierung dieser Moral verstellen. Eine breite Koalition der Vertuscher und Verpfuscher ist am<br />

Werk. Die Fakten der Weimarer Republik sprechen eine andere Sprache. Handwerkskult, Freigeld,<br />

Tierschutz, FKK, Stahlhelm, Rotfront, Okkultismus und Judenhaß.<br />

Das Bauhaus, die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit, die „Weltbühne“ und der Acht-Stunden-Tag gehörten für die<br />

Historiker zur „fortschrittlichen“ Tendenz, es war aber nicht die herrschende, wie <strong>das</strong> Ende der<br />

Republik beweist. Die Historiker haben sich im Weimarer Irrgarten auf die Betrachtung dieser<br />

„fortschrittlichen“ Gewächse konzentriert, und alles mit der Gartenschere weggeschnitten, was nicht in<br />

<strong>das</strong> von ihnen verteidigte vulgärmaterialistische System passte.<br />

In zwei zeitgenössischen Romanen findet man einiges vom Weggeschnittenen wieder:<br />

Bereits 1922 hatte Hugo Bettauer den Roman „Die Stadt ohne Juden“ veröffentlicht, in welchem er die<br />

Ausweisung der Juden aus Wien durch christsoziale Politiker schilderte. Die Motive der Bettauerschen<br />

Judengegner waren antikapitalistisch; die Juden wurden als Störer der Wiener Gesellschaftssordnung<br />

geschildert. Die Motive der Germanenzüchtung und der Einfluß der Hakenkreuzler stand in dieser<br />

Szenerie einer christlich-jüdischen Auseinandersetzung eher im Hintergrund. Im Gegenteil, die<br />

Antisemiten verschwanden in Bettauers Roman mit dem Wegzug der Juden. Bettauer lässt den<br />

Ministerpräsidenten folgende Begründung für die Judenverfolgung verlesen:<br />

„Trotzdem, ja gerade deshalb wuchs im Laufe der Jahre in mir immer mehr und stärker die<br />

Überzeugung, daß wir Nichtjuden nicht länger mit, unter und neben den Juden leben können, daß<br />

es entweder Biegen oder Brechen heißt, daß wir entweder uns, unsere christliche Art, unser<br />

Wesen und Sein oder aber die Juden aufgeben müssen. Verehrtes Haus! Die Sache ist einfach<br />

die, daß wir österreichische Arier den Juden nicht gewachsen sind, daß wir von einer kleinen<br />

Minderheit beherrscht, unterdrückt, vergewaltigt werden, weil eben diese Minderheit Eigenschaften<br />

besitzt, die uns fehlen! Die Romanen, die Angelsachsen, der Yankee, ja sogar der Norddeutsche<br />

wie der Schwabe – sie alle können die Juden verdauen, weil sie an Agilität, Zähigkeit,<br />

Geschäftssinn und Energie den Juden gleichen, oft sie sogar übertreffen. Wir aber können sie nicht<br />

verdauen, uns bleiben sie Fremdkörper, die unseren Leib überwuchern und uns schließlich<br />

versklaven. Unser Volk kommt zum überwiegenden Teil aus den Bergen, unser Volk ist ein naives,<br />

treuherziges Volk, verträumt, verspielt, unfruchtbaren Idealen nachhängend, der Musik und stiller<br />

Naturbetrachtung ergeben, fromm und bieder, gut und sinnig! Das sind schöne, wunderbare<br />

Eigenschaften, aus denen eine herrliche Kultur, eine wunderbare Lebensform sprießen kann, wenn<br />

man sie gewähren und sich entwickeln läßt. Aber die Juden unter uns duldeten diese stille<br />

Entwicklung nicht. Mt ihrer unheimlichen Verstandesschärfe, ihrem von Tradition losgelösten<br />

Weltsinn, ihrer katzenartigen Geschmeidigkeit, ihrer blitzschnellen Auffassung, ihren durch<br />

jahrtausendelange Unterdrückung geschärften Fähigkeiten haben sie uns überwältigt, sind unsere<br />

Herren geworden, haben <strong>das</strong> ganze wirtschaftliche, geistige und kulturelle Leben unter ihre Macht<br />

bekommen.“....“Sehen wir dieses kleine Österreich von heute an. Wer hat die Presse und damit die<br />

öffentliche Meinung in der Hand? Der Jude! Wer hat seit dem unheilvollen Jahre 1914 Milliarden<br />

auf Milliarden gehäuft? Der Jude! Wer kontrolliert den ungeheuren Banknotenumlauf, sitzt an den<br />

leitenden Stellen in den Großbanken, wer steht an der Spitze fast sämtlicher Industrien? Der Jude!<br />

Wer besitzt unsere Theater? Der Jude! Wer schreibt die Stücke, die aufgeführt werden? Der Jude!<br />

Wer fährt im Automobil, wer praßt in den Nachtlokalen, wer füllt die Kaffeehäuser, wer die<br />

vornehmen Restaurants, wer behängt sich und seine Frau mit Juwelen und Perlen? Der Jude!“<br />

In Bettauers Roman finden zum Schlusse nach der Verjagung der Juden und dem einhergehenden<br />

Niedergang der Wirtschaft Neuwahlen statt und der antisemitische Spuk geht zu Ende. Der Autor<br />

selbst wurde im wirklichen Leben jedoch Anfang 1925 von einem Antisemiten erschossen.<br />

Etwas anders ging der Erfolgsschriftsteller Artur Landsberger in seinem Roman „Berlin ohne Juden“,<br />

der 1925 erschien, an die Thematik heran: Ein Wahlbündnis von Nationalsozialisten und<br />

Kommunisten erringt die Macht und weist ebenfalls die Juden aus:<br />

„Der Präsident hatte <strong>das</strong> Ergebnis kaum verkündet, da wurde auch schon die neue<br />

Regierungsvorlage bekanntgegeben, die nicht mehr und nicht weniger enthielt, als daß der<br />

255


Reichstag beschließen möge: »Die deutschen Juden stehen außerhalb der Verfassung und gelten<br />

als Fremde. Da die Mehrheit des deutschen Volkes eine Volksgemeinschaft mit den Juden ablehnt,<br />

so sind sie als lästige Ausländer des Landes zu verweisen.« Es folgen die<br />

Ausführungsbestimmungen »Es sind für die Juden Termine gesetzt, innerhalb deren die<br />

Angehörigen der einzelnen Berufe Deutschland zu verlassen haben. Der äußerste Termin von<br />

sechs Monaten gilt für die Direktoren von Banken und Industrieunternehmungen, die im letzten<br />

Jahre Einkommen von mehr als hunderttausend Goldmark versteuert haben. Jeder darf sein<br />

Vermögen mitnehmen, dessen Höhe den bei der letzten Vermögensabgabe angegebenen Betrag<br />

nicht übersteigen darf. Unternehmungen, die sich nicht veräußern lassen, werden vom Staate<br />

übernommen. Der Übernahmepreis wird derart berechnet, daß der Reinertrag des letzten Jahres<br />

zweieinhalbprozentig kapitalisiert wird. Maßgebend ist auch hier die letzte Steuererklärung. Ein<br />

Unternehmen, dessen Ertrag sein Eigentümer im letzten Jahre mit 20.000 Goldmark angegeben<br />

hat, wird demnach mit 200.000 Goldmark abgelöst. Angehörige freier Berufe, wie Anwälte, Ärzte,<br />

Künstler, Schriftsteller, sowie Festbesoldete, die kein Vermögen besitzen, erhalten den Betrag<br />

ausbezahlt, den sie als Einnahme im letzten Jahre versteuert haben. Alle nicht versteuert<br />

gewesenen Vermögen werden konfisziert. Juden, die höhere Beträge als die gesetzlich<br />

festgesetzten herauszubringen versuchen, desgleichen jeder, der ihnen dabei behilflich ist, werden<br />

mit dem Tode bestraft. Juden, die über die ihnen gesetzte Frist im Lande angetroffen werden,<br />

werden mit Zuchthaus bestraft und nach verbüßter Strafe zwangsweise abgeschoben. Juden, die<br />

über 75 Jahre alt sind, desgleichen Schwerkranke, denen die hierfür eingesetzte Ärztekommission<br />

die Reiseunfähigkeit testiert, dürfen im Lande bleiben, haben aber zu gewärtigen, daß ihnen<br />

Aufenthaltsbeschränkungen auferlegt werden.« Als diese Vorlage verlesen war, herrschte<br />

zunächst Totenstille. De mortuis nil nisi bene. Nicht mehr um Kampf handelte es sich. Das Opfer<br />

war zur Strecke gebracht. Nur die Form der Bestattung stand noch zur Diskussion. Man hatte<br />

Ausnahmegesetze erwartet und erfuhr nun, daß die Hinrichtung bereits erfolgt war.“.....“Die<br />

Direktionen der Großbanken waren eben zu einer Beratung zusammengetreten, ob sie<br />

intervenieren sollten, als vom Reichstag telephonisch der Wortlaut der Rede des Reichskanzlers<br />

gemeldet wurde. Die Intervention der Banken unterblieb. Alle Werte wurden auf den Markt<br />

geworfen. Vergebens bemühten sich ein paar Besonnene, der Kopflosigkeit entgegenzutreten. Sie<br />

wurden überbrüllt. Die Kurse hatten ihren Tiefstand in Berlin und anderen Märkten erreicht, es war<br />

weit und breit niemand mehr, der <strong>das</strong> Material aufnahm, als zur allgemeinen Verblüffung plötzlich<br />

auf allen Gebieten Käufe in großem Umfange einsetzten, ohne daß mit Bestimmtheit festzustellen<br />

war, von wo die Ordres stammten. Irgendwer verbreitete »Wallstreet«. Obgleich <strong>das</strong> nicht mehr als<br />

ein Tip war, wurde es geglaubt und galt bald als Gewißheit. Man begann die Rede des Kanzlers<br />

anders auszulegen. Die Kurse zogen an, sprunghaft erst, dann langsamer. Sie hatten ihren<br />

Anfangsstand beinahe erreicht, als der Wortlaut des Gesetzes - zunächst ohne die<br />

Ausführungsbestimmungen - bekannt wurde. Da wurde die Börse zum Tribunal.<br />

Sie brüllten nicht und schrien nicht, sie waren ganz still und warfen keinen Blick mehr auf die<br />

Tafeln, vor denen die betroffenen Makler standen. Denn statt des erwarteten Ansturmes und der<br />

Rufe »Brief!« schoben sich Hunderte von <strong>Menschen</strong> mit stummen Mienen, die nun nicht mehr an<br />

ihre Geschäfte, vielmehr an ihr Haus, ihre Frauen, ihre Kinder dachten, zum Ausgang. Nicht in<br />

Todesangst sich drängend und stoßend wie bei einem Brande, um ihr Leben zu retten, langsam,<br />

als gingen sie hinter einer Leiche her, verließen sie <strong>das</strong> Haus, und – sonderbar – sie stiegen nicht<br />

in ihre Wagen, die vor der Börse hielten, sondern gingen in geschlossenem Zuge zur<br />

Oranienburgerstraße, ließen Gitter und Pforte der neuen Synagoge öffnen und wandten die Herzen<br />

zu ihrem alten Gott, dem einen, einzigen Gott, demselben Gott, zu dem auch jene beteten, die zur<br />

gleichen Zeit dies Gesetz der Nächstenliebe erdacht hatten und zur Durchführung brachten. Noch<br />

am gleichen Tage schlossen, ohne daß eine Vereinbarung erfolgt wäre, alle vom Gesetz<br />

Betroffenen zum Zeichen der Trauer ihre Geschäfte. Auch die Theater und Kinos wollten<br />

schließen. Aber schon um drei Uhr nachmittags prangte an allen Ecken folgende<br />

Bekanntmachung:<br />

Notverordnung!<br />

§1. Sämtliche Detail- und Engros-Geschäfte, Cafes, Bars, Hotels und Restaurants, Kinos und<br />

Theater im Reiche sind offen zu halten. Zuwiderhandlung wird mit Zuchthaus bestraft.<br />

§ 2. Wer Eigentum von Juden antastet oder mit Juden Streit provoziert, wird mit Zuchthaus<br />

bestraft.<br />

Zu dieser Bekanntmachung gesellte sich kurz darauf folgender Anschlag:<br />

Deutsche Bürger!<br />

256


Das deutsche Volk führt seit über einem Jahrzehnt einen schweren Kampf um seine Existenz. Die<br />

große Mehrheit ist der Ansicht, daß dieser Kampf durch eine<br />

rücksichtslose, gesetzlich nicht faßbare Konkurrenz der Juden erschwert wird. Es fühlt sich von<br />

einer ihm wesensfremden Rasse ausgebeutet und fordert aus<br />

Gründen der Selbsterhaltung strenge Ausnahmebestimmungen gegen die Juden. Deutsche<br />

Bürger! Die Regierung hat Eure Klage und Euer Begehren geprüft<br />

und als berechtigt befunden. Im Bewußtsein seiner Pflichten gegenüber dem Volk hat es dem<br />

Reichstag Euern Gesetzentwurf vorgelegt, durch den die Juden<br />

des Landes verwiesen werden. Der Entwurf hat die Zustimmung der Reichstagsmehrheit<br />

gefunden. Euer Wunsch hat sich erfüllt! Eure Freude wird groß sein. Gebt ihr auch äußerlich<br />

Ausdruck! Flaggt! Geht auf die Straßen! Feiert diese große Stunde! Singt patriotische Lieder!<br />

Gelobet Euch von der Stunde an, wo Ihr unter Euch seid, Einigkeit und Treue! Feiert!<br />

Die Reichsregierung.<br />

Und gegen Abend setzte vorschriftsmäßig der Trubel ein. Berlin im Taumel. Umzüge mit Musik und<br />

Fahnen. Allen voran die akademische Jugend, die es<br />

werden will und die es zu sein vorgibt. Endlose Züge. Fackeln. Singende Frauen. Heilrufe!<br />

Ansprachen an <strong>das</strong> judenreine Deutschland. Jubel- und Festesstimmung in Theatern, Kinos und<br />

Lokalen. Händedrücken. Heilige Beteuerungen. Bier. Gemütvolle Umarmungen. Schnaps.<br />

Schwüre. Brüderschaft. Tränen. Tusch. Sekt.<br />

Die jüdische Bevölkerung entwickelte jetzt eine fieberhafte Tätigkeit. Verständlich, daß alles in<br />

Berlin zusammenströmte. Die Zeitungen mit Verkaufsinseraten aus<br />

dem ganzen Reich erschienen im Umfang von dreißig bis fünfzig Seiten. Man konnte alles, was<br />

schwer mitzunehmen war, vor allem also Häuser, Möbel, Gardinen, Teppiche, Kronen, Porzellane,<br />

Bilder, Bücher, Wagen, Geräte, Pferde, Haustiere, Weine, Konserven und anderes mehr zu<br />

lächerlichen Preisen kaufen. Die christliche Bevölkerung kaufte sich satt. Die Leute verkauften ihre<br />

Papiere und hoben von den städtischen Kassen ihre Ersparnisse ab. Die Billigkeit reizte und die<br />

Freude, den Juden, von denen sie sich sonst übervorteilt glaubten, nun ihrerseits für <strong>das</strong>, was sie<br />

ihnen abkauften, Preise vorzuschreiben, die bis zur Hälfte, oft bis zu einem Zehntel hinter dem<br />

wirklichen Wert zurückblieben. Natürlich, sie verkauften sich, und als die Juden raus waren, fehlte<br />

ihnen <strong>das</strong> Geld für <strong>das</strong> Nötigste. Meist wußten sie gar nichts mit dem Geramschten anzufangen.<br />

Was sollte man mit einer Villa vor den Toren Berlins anfangen, wenn man Mühe hatte, seine teuere<br />

Wohnung in der Stadt zu halten, was mit einem Auto, wenn man sich <strong>das</strong> Geld<br />

für Chauffeur und Benzin vom Munde absparte, was mit echten Persern in Größen von 6 x 5 und 5<br />

x 4, wenn die Zimmer nur 4 x 3 und 3 x 2 groß waren, was mit Handfiletgardinen für 24 Fenster,<br />

wenn man nebbich - ach, man <strong>braucht</strong>e jetzt so gern die jüdischen Worte! - nur fünf Fenster Front<br />

hatte. Die Kronen paßten nicht zu den Möbeln, die Bilder nicht zu den Tapeten, und in den bei der<br />

Eile natürlich im ganzen gekauften Bibliotheken fand man statt der gesuchten Rudolfe (Herzog und<br />

Stratz) Juden, wie Wassermann, Hirschfeld und Georg Hermann, ja, manchmal stieß man sogar<br />

auf Bücher in hebräischer Sprache, vor denen man sich bekreuzigte, sofern man nicht in Krämpfe<br />

fiel. Alles <strong>das</strong> aber bemerkte man leider erst, als der große Taumel sich legte und die Juden schon<br />

draußen waren. Sonst hätte man sie gewiß des Wuchers bezichtigt und sie gezwungen, die<br />

Geschäfte rückgängig zu machen.“<br />

Auch bei Artur Landsberger gab es zumindest im Roman ein happy-end. Nachdem sich 97 Juden<br />

umgebracht hatten, entschloß sich <strong>das</strong> Ausland zu einem Boykott Deutschlands und die rotbraune<br />

Regierung wurde beendet. In der harten Wirklichkeit war <strong>das</strong> westliche Ausland nach dem Ersten<br />

Weltkrieg pazifistisch orientiert, Landsberger beging Ende 1933 Selbstmord und die ausländischen<br />

Demokratien boykottierten Deutschland aus Bequemlichkeit und Opportunismus nicht.<br />

Während Landsberger seinen Roman nur relativ schleppend verkaufen konnte, sang Rainer Maria<br />

Rilke 1926 <strong>das</strong> Hohelied auf Benito Mussolini: Im Januar und Februar 1926 schrieb er drei Briefe an<br />

die in Mailand lebende antifaschistisch eingestellte Herzogin Gallarati Scotti, in denen er die<br />

faschistische Diktatur pries und als Heilmittel empfahl, da es "sich auf die Autorität stützt". Eine<br />

"gewisse, vorübergehende Gewaltanwendung und Freiheitsberaubung" sei tolerabel. Da<br />

Ungerechtigkeit schon immer Bestandteil aller menschlichen Bewegungen gewesen sei, solle man,<br />

sofern man nur einen Plan für die Zukunft habe, nicht die Zeit damit vergeuden, Ungerechtigkeiten zu<br />

vermeiden, sondern müsse einfach über sie hinweg zur Aktion schreiten. "Das ist genau <strong>das</strong>, was sich<br />

im Augenblick in Italien abspielt, dem einzigen Lande, dem es gut geht und <strong>das</strong> im Aufstieg begriffen<br />

ist." Mussolini sei zum "Architekten des italienischen Willens" geworden, zum "Schmied eines neuen<br />

Bewußtseins, dessen Flamme sich an einem alten Feuer entzündet".<br />

257


"Glückliches Italien!"<br />

Auch der Weltbühne-Autor Kurt Hiller lobte Italien:<br />

"Der Fascismus hat immerhin Wein im Blut, der deutsche Republikanismus Bier." 344<br />

1925 wurde der Film „Wege zu Kraft und Schönheit“ uraufgeführt. Im Illustrierten Filmkurier Nr. 159<br />

hieß es:<br />

„Die Zucht, die im Altertum geübt wurde, und der Sport unserer Tage in allen seinen<br />

Differenziertheiten werden einander gegenübergestellt. - Ein römisches Bad wird mit historischer<br />

Treue rekonstruiert: anmutige Sklavinnen ergötzen sich am Ballspiel, bis die stolze Domina<br />

erscheint und die Fahrt zu den Thermen angetreten wird. Wir sind Zeugen jener Prozedur, in der<br />

wunderbare Frauenkörper vor dem Bade geölt und gesalbt werden. Wir sehen, wie holde<br />

Weiblichkeit im Terpidarium, zu deutsch Warmbad, Rückengüsse empfängt und erkennen, daß<br />

schon im alten Rom des Pfarrers Kneipp Wasserkuren gang und gäbe waren. Und weiter geht der<br />

Gang ins Frigidarium (Kaltbad), dessen klassischer Wiederaufbau uns in Entzücken versetzt. [...]<br />

Dieser Film will zeigen, welche Kräfte am Werke sind, um eine Wiedergeburt des Körpers aus dem<br />

Geiste der Antike zu ermöglichen. [...] Er zeigt den Spießer in allen seinen Schattierungen, beim<br />

Betrachten antiker Kunstwerke, deren reine Nacktkultur ja auch nicht hinwegzuleugnen ist, - und er<br />

führt den armen und geschundenen <strong>Menschen</strong> vor, der im modernen Maschinen- und Bureau-<br />

Betrieb jämmerlich verkümmert, weil er weniger aus Trägheit als infolge seiner ungünstigen<br />

Lebensbedingungen keine freie Stunde für körperliche Ertüchtigung aufzubringen vermag. Im<br />

Gegensatz zu einer dahinsiechenden Jugend treten die Repräsentanten eines neuen Geschlechts<br />

auf, denen Körperpflege <strong>das</strong> Dasein bedeutet, die Mittel und Methoden kennen, um sich<br />

abzuhärten und widerstandsfähig zu erhalten. Sei es, daß sie sich Licht, Luft oder Wasser nutzbar<br />

machen oder durch Marschieren, Gerätturnen, Boxen, Ballwerfen, Rudern ihren Körper stählen<br />

und trainieren.“<br />

Es fehlte auch nicht der Hinweis auf Benito Mussolinis sportliche Aktivitäten.<br />

Auch einer von Adolf Hitlers Lieblingsfilmen stammte aus den Studios der UFA. Nachdem der<br />

Österreicher Fritz Lang 1924 den Zweiteiler "Die Nibelungen", abgedreht hatte, entsprechend dem<br />

zeitgenössischen Werbetext "eine strahlende Waffe deutschen Glaubens, die unverzagt und<br />

unbesiegt die Welt durschwingt mit dem Glockenton einer freien Menschlichkeit" folgte 1926<br />

"Metropolis". Über der unterirdischen Arbeiterstadt mit menschenverschlingenden Kraftmaschinen ragt<br />

die Stadt des Lichts auf, deren Wolkenkratzer von wenigen Reichen und Besitzenden bewohnt<br />

werden. Der finstere Jude Rotwang, ein verblendeter Wissenschaftler, der Metropolis knechten und<br />

beherrschen will, entführt die "Arbeiterführerin" Maria und ersetzt sie durch einen gleichaussehenden<br />

Roboter, der die Arbeiter zur Revolution und zur Zerstörung aller Werte aufhetzt.<br />

Im von den Film-Arbeitern bevölkerten Studiokeller kommt es drehbuchbedingt zu Wassereinbrüchen,<br />

die <strong>das</strong> Leben der Proletarier gefährden. Der Sohn des Besitzers von Metropolis und Maria verlieben<br />

sich, beseitigen die Katastrophenauswirkungen und die Volksgemeinschaft mit der Partnerschaft von<br />

Kapital und Arbeit wird geboren.<br />

Während die rechten Elitaristen in der Deutschen Rundschau, im Kunstwart und in der Tat<br />

publizierten, wählten die Linkselitaristen den Sturm, die Aktion, die Linkskurve und die Weltbühne als<br />

Tribüne ihrer Agitation. Walter Laqueur schrieb, <strong>das</strong>s sowohl die rechte wie die linke Intelligentsia<br />

hoffnungslos in Grüppchen zersplittert und ständig in internen Querelen engagiert gewesen sei. Diese<br />

Erkenntnis muß man voranstellen, um von vornherein den Eindruck zu vermeiden, <strong>das</strong>s es sich bei<br />

linken und rechten Weltverbesserern um kompromiß- und damit politikfähige Kleingruppen gehandelt<br />

habe. Jede dieser Gruppen kämpfte im totalen ideologischen Krieg um ihren eigenen Endsieg. Dabei<br />

atomisierten sich die Grüppchen immer schneller, Freundschaften und Bündnisse zerbrachen. Einige<br />

der prominenten Personen mit tiefer Verbohrtheit in den eigenen Nabel waren Kurt Hiller, Carl von<br />

Ossietzky, Kurt Tucholsky, Georg Lukacs und Andor Gabor.<br />

Die Weltbühne-Herausgeber Tucholsky und Ossietzky benutzten ihre Zeitschrift als Stalinorgel des<br />

geistigen Unflats, um vor allem die Sozialdemokraten, die Zentristen und den Außenminister<br />

Stresemann, also alle ohnehin schwachen demokratischen Kräfte zu diffamieren. Die Weltbühne<br />

344 Das Ziel entscheidet, Die Weltbühne, 12.7.1927<br />

258


eschwor immer wieder die Aussöhnung mit Frankreich. Aber ebenjener Politiker, der diese<br />

unpopuläre und notwendige Aufgabe der Aussöhnung mit viel Engagement und angemessenen<br />

Erfolgen übernommen hatte, ebendieser Politiker Stresemann wurde in der Weltbühne als gefährlicher<br />

als der Stahlhelm attackiert. Die Sozialdemokraten wurden nicht wegen ihren politischen Fehlern<br />

gegeißelt, die sie zweifellos machten, sondern in snobistischer Manier für persönliche<br />

Unzulänglichkeiten, für ihren Mangel an Lebensart, für ihre Defizite bei höherer Bildung an den<br />

journalistischen Pranger gestellt. Ebert war ein Sattler und Gastwirt, Severing ein Schlosser,<br />

Scheidemann ein Drucker, Noske ein Korbmacher und Wels ein Polsterer.<br />

Sie hatten traditionell keinen großen Respekt vor Intellektuellen. Sie <strong>braucht</strong>en Redakteure für die<br />

Parteizeitungen, ansonsten hielten sie die Intellektuellen auf Armlänge von sich fern. Henrik de Man<br />

schrieb über sie, <strong>das</strong>s er fähig wäre sich mit Barbaren abzufinden, jedoch nicht mit diesen<br />

halbgebildeten petty-bourgeoisen Elementen. Die Intellektuellen hielten die Sozialdemokraten für<br />

kleinliche Bürokraten, die sich weder um die Revolution, noch um kulturelle Werte kümmerten. In<br />

Hemdsärmeln Bier trinken, am Kartentisch sitzen oder Kegeln, typische deutsche Vereinsmeier und<br />

Philister seien sie. Nach der Reichstagswahl von 1930, bei der die NSDAP zweitstärkste Kraft<br />

geworden war, attackierte die Weltbühne die Sozialdemokraten, weil sie ihren Wahlkampf nicht gegen<br />

die herrschenden Katholiken geführt hatten, sondern gegen die NSDAP. Ab 1932 übernahm die<br />

Weltbühne die stalinistische These, <strong>das</strong>s in Deutschland unter der Herrschaft der Katholiken der<br />

Faschismus herrschen würde. Ossietzky akzeptierte keinen Unterschied mehr zwischen der<br />

bürgerlichen Demokratie und der NS-Herrschaft. 345 Tucholsky, der sein Wissen über menschliches<br />

und allzumenschliches während seiner Tätigkeit für die Feldpolizei in Rumänien beim Ausspionieren<br />

des Privatlebens von Offizieren erworben hatte, brachte 1931 <strong>das</strong> Buch „Deutschland, Deutschland<br />

über alles“ heraus.<br />

Tucholskys Buch zielte auf die Sprengung des äußerst zerbrechlichen Bündnisses zwischen<br />

Hindenburg, dem Zentrum und der Sozialdemokratie gegen die radikal reformistischen Kräfte. Es war<br />

in seinen starken Übertreibungen und schiefen Wertungen Wasser auf die Mühlen aller extremen<br />

Kräfte. Bereits der Einband zeigt <strong>das</strong> Problem: der eingebildete Feind war alt und trug einen Zylinder.<br />

Der wirkliche Feind war jung und trug Schirmmützen. Tucholsky war zeitlebens ein gefährlicher<br />

politischer Idiot.<br />

In einem Aufwasch wurden alle tradierten Institutionen angegriffen, die Ikonen der Jugendbewegung<br />

wurden dagegen heilig gehalten. Der intellektuelle Zorn ergoß sich nicht über die intellektuellen<br />

Brandstifter der Vorkriegszeit, sondern gegen die Reichswehr, die Kirche, die Justiz, biertrinkende<br />

Studenten, Hindenburg, die sozialdemokratischen Kommandeure der Polizei, Stresemann, die<br />

Gewerkschaftssekretäre und alle anderen in leitenden Positionen. Das Buch zielte nicht nur gegen die<br />

Lebensart der deutschen Philister, nicht nur gegen den Militarismus, sondern gegen die<br />

Landesverteidigung als solche.<br />

„Da gibt es kein Geheimnis der deutschen Armee, <strong>das</strong>s ich nicht schnellstens einer fremden Macht<br />

übereignen würde.“<br />

So schrieb Tucholsky. Der Eindruck, der von Tucholskys Buch erzeugt wurde, war der <strong>das</strong>s die<br />

Deutschen doof sind. „Tiere schauen auf dich“ war ein Bild betitelt, <strong>das</strong>s acht böse Herren zeigte, die<br />

alle die sechzig überschritten hatten, die meisten von ihnen in Uniform. Walter Laqueur resümierte<br />

dazu:<br />

„Wenn Tucholsky andeuten wollte, <strong>das</strong>s die deutsche Armee und Polizei besser aussehende<br />

Offiziere benötigen würde, so verschafften ihm <strong>das</strong> die Nazis ein paar Jahre später in den Figuren<br />

von Heydrich und anderen jungen Männern mit auffallender Erscheinung.“<br />

Laqueur hielt mit dieser Bemerkung den Finger auf die blutende Wunde der Weimarer Intellektuellen:<br />

Sie konnten sich entsprechend ihrer Sozialisierung in der Jugendbewegung der Kaiserzeit definitiv<br />

nicht vorstellen, <strong>das</strong>s eine junge Bewegung böse und tradierte Instuitutionen gut und nützlich sein<br />

könnten. Jung war nun einmal per Definition gut und alt war böse.<br />

345 Walter Laqueur: Weimar – the left-wing intellectuals<br />

259


Die ideologische Fahrgasse des „Wahren Jakob“, des „Simpel“, der „Jugend“, des „Kladderadatsch“, der „lustigen<br />

Blätter“, der „fliegenden Blätter“ und des „Ulk“ trennte <strong>das</strong> dem vermeintlichen Fortschritt zustimmende junge und<br />

<strong>das</strong> den angeblichen Fortschritt ablehnende alte Deutschland. So war es dem Volk von den Intellektuellen<br />

jahrzehntelang polarisierend eingebläut worden.<br />

Die NSDAP selbst wählte eine Außendarstellung als junge Kraft: Sie profilierte sich einerseits in<br />

Konkurrenz zum ebenfalls jungen Linkselitarismus der KPD, andererseits grenzte sie sich jedoch auch<br />

von der alten Reaktion ab. Aus Rücksicht auf die schwachen Nerven vieler Leser zitiere ich nur eine<br />

Strophe des Horst-Wessel-Liedes, nicht ohne zu erwähnen, <strong>das</strong>s die Abgrenzung gegenüber der<br />

Reaktion mehrfach wiederholt wurde:<br />

Die Fahne hoch die Reihen fest geschlossen<br />

S.A. marschiert mit ruhig festem Schritt<br />

|: Kam'raden die Rotfront und Reaktion erschossen<br />

Marschier'n im Geist in unsern Reihen mit :|<br />

So wie jung per definition fortschrittlich war und alt reaktionär, so war gesund per Dekret gut und krank<br />

war böse. Konsequenterweise tadelte Tucholsky Joseph Goebbels nicht wegen seiner<br />

Tribunenraserei, sondern wegen Klumpfuß und Psychose. Wegen diesem Jugend- und<br />

Gesundheitswahn wurden der junge Faschismus und der gesunde Stalinismus bewundert und<br />

gepriesen, und <strong>das</strong> in traditionellen parlamentarischen Bahnen seinem sicheren Untergang<br />

entgegenwankende demokratisch verfasste Deutschland von ganzem Herzen zutiefst gehasst.<br />

Tucholsky schrieb 1926 in der Weltbühne:<br />

„Da sind zwei Kräfte in Europa, die ausgeführt haben, was sie wollten: Die Faschisten und die<br />

Russen. Der entscheidende Faktor ihrer Siege war die mutige Unversöhnlichkeit.“<br />

Die Saat von Kurt Hillers Aktionismus war aufgegangen, die geernteten Früchte waren nicht rot, nicht<br />

braun, sondern wie man an Tucholsky sieht rotbraun. Zur Ehre und Teilentschuldigung der deutschen<br />

Intellektuellen muß man daran erinnern, <strong>das</strong>s Schriftsteller und Literaten auch im Ausland gegen die<br />

Demokratie mobil machten: George Bernard Shaw schrieb an Lady Astor:<br />

„... so kommt es dazu, daß Leute, die etwas getan sehen wollen, sogar Hitler, Mussolini und<br />

Atatürk dem Parlament vorziehen.“<br />

Triumph des Willens, Sieg der Aktion, <strong>das</strong> waren die Parolen der Expressionisten der unmittelbaren<br />

Vorkriegszeit. 12 Jahre waren inzwischen vergangen und ein Krieg verloren. Wenn es intellektuelle<br />

Tiere gibt, die auf dich schauen, so gehören sie zu den Widerkäuern. Tucholsky gehörte zu den<br />

Widerkäuern von Nietzsche, den er 1929 dafür lobte, dem Deutschen wieder eine Prosa gegeben zu<br />

haben. Alle Wünsche von Tucholsky gingen für 12 Jahre in Erfüllung: Sozialdemokraten und<br />

Katholiken wurden von der Macht verdrängt, Stresemann ärgerte sich zu Tode, und jüngere Leute<br />

kamen ans Ruder. Nur mit der Gesundheit dieser Jungen haperte es: Hitler war Abstinenzler aus<br />

Todesangst, Göring rauschgiftsüchtig und übergewichtig, Goebbels hatte einen Klumpfuß.<br />

Nun gibt es noch die herrschende Meinung, <strong>das</strong>s alle Unzulänglichkeiten Tucholskys durch seinen<br />

Pazifismus aufgewogen würden. Dieser Pazifismus entstand bei Tucholsky vergleichsweise spät.<br />

Viele kriegsfreiwillige Expressionisten und einige Wandervögel hatten bereits 1915, 1916 oder 1917<br />

erkannt, <strong>das</strong>s es einen Unterschied zwischen dem heiligen Schauer beim Töten im Gedichtband und<br />

dem profanen Schlamm und Schmutz im Schützengraben gab. Tucholsky gehörte dagegen offenbar<br />

zum letzten Aufgebot der Kriegsliteraten. Noch im August 1918 anläßlich des Aufrufs zur 9.<br />

Kriegsanleihe nahm Tucholsky in der Kategorie „Literarische Beiträge“ am<br />

Heldenverschönerungswettbewerb der „Frankfurter Zeitung“ teil. Tucholsky bemühte sich zwar, kam<br />

bei diesem Kriegsverlängerungscontest nicht unter die preiswürdigen Beiträge.<br />

Auch nach 1918 fiel dem selbsternannten Pazifisten Tucholsky die Friedenspfeife aus dem<br />

zweizüngigen Mund, als er im Konflikt mit Polen um Oberschlesien <strong>das</strong> publizistische Kriegsbeil<br />

ausgrub, und als einer der schlimmsten Kriegshetzer auffällig wurde. Pazifismus war nur solange<br />

opportun, wie er „jungen Völkern“ und dem Reformismus half; wenn es gegen den alten Katholizismus<br />

herging, dann wurde dem alten heidnischen Krigsgott Mars gefrönt.<br />

Georg Lukacs war der Theoretiker, der den reformistischen Lenin mühelos rechts überholte. Er<br />

überarbeitete in der Mitte der zwanziger Jahre die Lehre von der Partei neuen Typus dahingehend,<br />

260


<strong>das</strong>s er offen aussprach, <strong>das</strong>s die Arbeiterklasse selbst unfähig wäre, eine konsistente revolutionäre<br />

Theorie zu entwickeln; <strong>das</strong> könne nur eine kleine elitaristische, strikt disziplinierte Avantgardepartei,<br />

die hauptsächlich aus Intellektuellen zusammengesetzt sei. Diese kleine fanatische ergebene Gruppe<br />

von Leuten müsste der individuellen Freiheit entsagen, sie müssten sich engagieren für Taktiken, legal<br />

und illegal, moralisch oder unmoralisch, so wie die Sache des Kommunismus am besten<br />

vorangebracht werden könne. Bis hierher folgte Lukacs seinem Herrn bis auf Nuancen. Lenin schätzte<br />

jedoch zumindest theoretisch auch Arbeiter in der Partei 346 , und moralisch war für ihn <strong>das</strong>, was der<br />

Arbeiterklasse nützt. Für Lenin konnte ein Mittel, <strong>das</strong> der Arbeiterklasse nutzt nicht unmoralisch sein.<br />

An der Wertneutralität zeigte sich: Lukacs war noch mehr und konsequenter als Lenin Nietzscheaner.<br />

Das äußerte sich noch wesentlich deutlicher in erkenntnistheoretischen Fragen. Lenin folgte in diesen<br />

philosophischen Fragen Friedrich Engels, und dieser war ein Kind der Aufklärung und ein Gläubiger<br />

der Wissenschaft. „Ist die Welt erkennbar?“ fragte Lenin, und wer auf diese Frage nicht überzeugt wie<br />

aus der Pistole geschossen mit „Ja“ antwortete war noch vor 20 Jahren den bürgerlichen Spielarten<br />

des Idealismus verfallen. Für Lukacs waren <strong>das</strong> Relikte des Positivismus des 19. Jahrhunderts. Die<br />

kommunistische Philosophie müsste von unhegelianischen und scientistischen Einflüssen gereinigt<br />

werden, die Stunde des philosophischen Idealismus habe geschlagen. Diese neuerliche „Anpassung“<br />

des Marxismus an den Nietzscheanismus übertraf die Reform, die Lenin unter dem Namen des<br />

wissenschaftlichen Kommunismus vorgenommen hatte. Nun musste die marxistisch-leninistische<br />

Philosophie selbst dran glauben. Es war sehr bezeichnend, <strong>das</strong>s auch dieses neue idealistische<br />

Wolkengebäude gerade in Deutschland errichtet wurde, wenn auch von einem zu Hause fortgejagten<br />

Volkskommissar.<br />

Ein weiterer zugereister Ausländer war der Ungar Andor Gabor, der Herausgeber der „Linkskurve“,<br />

der führenden kommunistischen Literaturzeitschrift, die seit 1929 erschien. Im Gegensatz zu Georg<br />

Lukacs förderte er entsprechend den aktuellen Moskauer Instruktionen nicht die Intellektuellen,<br />

sondern die originären Arbeiterschriftsteller. Wirkliche proletarische Literatur, die dem Klassenkampf<br />

nützt, könnten nur geborene Proletarier schreiben, und keine bourgeoisen Intellektuellen, die die<br />

wirklichen proletarischen Anliegen nur kontaminieren würden. Von der eisernen Vorherrschaft des<br />

gebürtigen Proletariers nahm Gabor nur sich selbst aus, und mit einigem Widerwillen Johannes R.<br />

Becher, seinen Mitherausgeber. Walter Laqueur schreibt, <strong>das</strong>s es um den höheren Wahnsinn der<br />

Linkskurve zu verstehen, erforderlich wäre, sie zu lesen. Es wäre schwierig, in gemessener Sprache<br />

<strong>das</strong> volle Feuer und <strong>das</strong> kulturelle Niveau wiederzugeben. Es würde genügen zu sagen, <strong>das</strong>s die<br />

meisten Seiten nicht dem Kampf gegen den Nationalsozialismus gewidmet worden seien, sondern der<br />

Bekämpfung des Sozialfaschismus der SPD. Barbusse, Sinclair, Rolland, Piscator, Ossietzky seien<br />

attackiert worden, so wie Döblin, Toller, Remarque und Kästner. Von Heinrich Mann habe die Welt<br />

des Fortschritts nichts mehr zu erwarten, Tucholsky wurde als ein gutgekleideter Snob beschrieben,<br />

<strong>das</strong> Bauhaus als eine Gruppe von formalistischen radikal kleinbürgerlichen Elementen denunziert,<br />

gerade als der Kommunist Hannes Meyer es leitete. Denn Meyer habe eine Kommission für die<br />

Errichtung eines Gewerkschaftshauses akzeptiert.<br />

Ehrenburg wurde als Nihilist verteufelt, Kandinsky und Klee seien darlings der Bourgeoisie. Alfred<br />

Rosenberg, der Chefkulturpropagandist der Nationalsozialisten würde nicht so viele linke Querelen<br />

gefunden haben, als in den Schwarzen Listen der Linkskurve. 347<br />

Es ist unsinnig zu untersuchen, ob der Nationalsozialismus in Kulturfragen toleranter war, als der<br />

Bolschewismus stalinscher Prägung. Nicht vergessen darf man, <strong>das</strong>s es sich bei den meisten der<br />

genannten Zerwürfnisse um innerelitaristische Auseinandersetzungen handelte, die mit großem Eifer,<br />

manchmal mit Fanatismus geführt worden sind und in die sich die demokratische Welt nicht<br />

einmischen kann, ohne sich unglaubwürdig zu machen.<br />

Dieselbe Vorgehensweise ist bei der Kommentierung der elitaristischen Angriffen auf die damaligen<br />

Sozialdemokraten, die Zentristen und Stresemann nicht richtig. Hier ist es erforderlich, für die letzteren<br />

Partei zu ergreifen.<br />

Zur Regierungszeit von Kaiser Wilhelm hatten gekrönte und ungekrönte Häupter in Berlin ihre<br />

Aufwartung gemacht. Seit dem Ende des Weltkriegs hatte dagegen kein ausländisches<br />

Staatsoberhaupt in die deutsche Republik hereingeschaut. Ende Februar 1928 gab es seit gut 10<br />

346 “Unter den ´Besserwissern´ sind, wie ich schon wiederholt betont habe, in organisatorischer Hinsicht nur die<br />

Berufsrevolutionäre zu verstehen, einerlei ob sie sich aus Studenten oder Arbeitern hierzu entwickeln”, schrieb<br />

Lenin in „Was tun?“, Kap. 4, Buchstabe c)<br />

347 Walter Laqueur: Weimar – the left-wing intellectuals<br />

261


Jahren eine erste Staatsvisite. Und es war gleich ein König, der Deutschland seinen Besuch<br />

abstattete. Und dazu noch einer, der gegen <strong>das</strong> verhaßte England 1919 bis 1921 erfolgreicher als<br />

Deutschland Krieg geführt hatte und damit die Interessen Deutschlands am Hindukusch verteidigte.<br />

"Als der Salonzug Amanullahs hielt, lüftete Reichspräsident Paul von Hindenburg den Zylinder.<br />

Kantiger Schädel, eisgraues Haar... Amanullah trug einen hellblauen Waffenrock. Goldbestickt, mit<br />

Orden übersät, scharlachrote Hosen, eine tschakoähnliche Uniformmütze mit Brillant-Agraffe und<br />

Reiherstutz. Ein schwarzer Umhang wallte um die Schultern des jungen sympathischen Königs." 348<br />

Einen Tag später stand Trude Hesterberg verkleidet als des Königs Frau Soraya gemeinsam mit Kurt<br />

Gerron als König Amanullah auf der Bühne des Theaters des Westens und sie sangen gemeinsam<br />

erstmalig den eigens komponierten Schlager "Wer soll <strong>das</strong> bezahlen, wer hat <strong>das</strong> bestellt, wer hat<br />

soviel Pinke-Pinke, wer hat soviel Geld?" Tatsächlich soll der Staatsbesuch eine Million Reichsmark<br />

gekostet haben und anschließend wurden noch 6 Millionen nach Afghanistan überwiesen. Von<br />

Entwicklungshilfe kann man wohl nicht sprechen, wenn ein Kriegsverlierer die Spendierhosen für eine<br />

ferne Siegermacht anzog.<br />

Kurt Tucholsky teilte die kindliche Freude der Bürger und Untertanen über jenen Staatsbesuch nicht,<br />

über den die deutsche Regenbogenpresse täglich berichtete. Über die Arbeiter-Illustrierte Zeitung<br />

brachte er folgendes Gedicht in Umlauf, welches dem jungen König aus offensichtlich rassischen<br />

Motiven eine harmlose Ehrendoktorwürde mißgönnte:<br />

Ersatz<br />

Einen richtigen König? Wir haben keinen<br />

und daher borgen wir uns einen.<br />

Sei gegrüßt, du schöne Gelegenheit!<br />

Alles ist wie in alter Zeit:<br />

Straßenabsperrung und Schutzmannsgäule,<br />

Neugier der Kleinbürger, Hurra-Geheule,<br />

Monokel-Kerle die Kreuz und die Quer<br />

und: Militär! Militär! Militär!<br />

Endlich wissen die deutschen Knaben,<br />

wozu sie eine Reichswehr haben!<br />

Dazu.<br />

Denn wenn Deutschland was feiert,<br />

kommt immer die Reichswehr angemeiert,<br />

als der vollendete Ausdruck des Landes<br />

und zur Erfrischung des Bürgerverstandes.<br />

Im Spalier aber steht bei Aman Ullah-Chan<br />

Er: der deutsche Untertan.<br />

(...)<br />

Generale und Admirale.<br />

Bürgermeister und Ehrenpokale –<br />

oben, auf dem Brandenburger Tor,<br />

lugt eine richtige Feldwache vor<br />

– sie spielen Krieg – als ob sie drauf lauern,<br />

vor der Macht eines Königs zu erschauern.<br />

Und in allen Augen ein Glanz:<br />

Heil Aman Ullah im Siegerkranz!<br />

(Unsrer ist leider – Gott seis gepfiffen –<br />

leise weinend ausgekniffen.)<br />

Und wer kommt denn da –?<br />

Der liebe gute republikanische Kronprinz ist auch noch da!<br />

Mit dem Geschmack von Papa<br />

und mit Tatü und Tata<br />

348 Zitiert in „Die Welt“ am15.03.2002<br />

262


fährt er im Auto durch die Linden,<br />

um in den Pferdeäppeln eine verlorene Krone zu finden.<br />

Das gute Kind –! Wie die Rücken sich beugen<br />

wie die Fräcke sich demutsvoll verneigen!<br />

Uniformen blitzen ordensbesternt!<br />

Das können sie. Das haben sie gelernt.<br />

Lacht da einer? Da lacht keiner drüber.<br />

Die Zeitungen schwappen vor Schwachsinn über,<br />

berichten vom Präsidenten-Salon,<br />

von Gala-Oper und Hühnerbouillon,<br />

Der braune König wird Ehrendoktor ...<br />

Und nur ein vaterlandsloser, verstockter<br />

Roter sieht in der ganzen Musik<br />

den schönen Traum einer Republik.<br />

Nichts vergleichbares zu berichten hatte dagegen die Berliner yellow press über Gusto Gräser´s<br />

Seifenphobie und den Stuttgarter Vagabundenkongreß.<br />

Der Alt-Reformist Gusto Gräser wandelt 1928 in Sandalen und in einen härenen Sack gewandet durch<br />

Berlin und wirbt für ein anspruchsloses Leben. Er tötete keine Läuse und keine Flöhe und wusch sich<br />

nur dort, wo reines Quellwasser zur Verfügung stand. Der Kongress von 600 Vagabunden fand<br />

Pfingsten 1929 in der heimlichen Hauptstadt des Vagabundismus Stuttgart statt. Die Teilnehmer<br />

kamen aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei, Polen und Ägypten. 1928 soll es in<br />

Deutschland 70.000 Vagabunden gegeben haben, 1933 eine noch höhere Zahl.<br />

Zum Schluß des Kapitels über die relative Stabilisierung erfolgt ein Blick in die Politik. Die<br />

sogennanten goldenen Jahre von 1924 bis 1928 waren durch einen Rückgang des politischen<br />

Einflusses der Sozialdemokratie gekennzeichnet. Die SPD zog sich in die Opposition zurück und<br />

Reichspräsident Ebert starb. Andererseits stabilisierte sich während der kurzzeitigen Stabilisierung der<br />

Wirtschaft auch die proletarische Basis der Partei. Es gab erstmals wieder Licht am Ende des<br />

sozialistischen Tunnels, auch wenn es nur ein Irrlicht war. Der Streit zwischen DDP und Zentrum über<br />

die Frage der Regierungsbeteiligung der DNVP, der zur Auflösung des Reichstags geführt hatte,<br />

endete nach der Neuwahl des Reichstags Ende 1924. Nun wurde die DNVP zunächst mit ins<br />

Regierungsboot genommen. Nichts schadete ihr mehr, als Regierungsverantwortung, wie sich bei der<br />

Wahl von 1928 zeigen sollte.<br />

Regierungsarithmetik:<br />

DNVP 20,5 %<br />

Zentrum 13,6 %<br />

DVP 10,1 %<br />

DDP 6,3 %<br />

----------<br />

Summe 50,5 %<br />

Im Februar 1925 starb Reichspräsident Ebert, weil er eine notwendige Gallenoperation mit<br />

Rücksichtnahme auf laufende Beleidigungsprozesse verschleppt hatte. Im April 1925 beim 2.<br />

Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl siegte der kaiserliche Reichsfeldmarschall v. Hindenburg mit<br />

48,3 % knapp vor dem Kandidaten der Weimarer Verfassungsparteien Wilhelm Marx (45,3 %).<br />

Es ist eine Arbeitshypothese, daß die Anhänger der Konservativen, der DVP, der Wirtschaftspartei<br />

und der Nationalsozialisten (zusammen bei der letzten Reichstagswahl etwa 37 %) zu Hindenburg<br />

tendierten, dagegen die Anhänger der Verfassungsparteien Zentrum, DDP-Reformisten und<br />

Sozialdemokraten (zusammen bei der letzten Reichstagswahl etwa 50 %) zu Marx. Am Wahlergebnis<br />

wird eines der Probleme der Republik deutlich: Die Verfassungsparteien konnten ihr Wählerpotential<br />

nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten fokussieren: Die jahrzehntelange antikatholische Hetze trug<br />

ihre Früchte: Die Vorbehalte vieler Sozialdemokraten und DDP-Reformisten waren stärker, als die<br />

Vernunft. Lieber wurde zu Hause geblieben oder der Protestant Hindenburg gewählt, als der Katholik<br />

Marx. Nicht einmal im katholischen Lager herrschte Eintracht. Die Bayerische Volkspartei rief zur Wahl<br />

Hindenburgs auf.<br />

263


Im Juli 1925 erfolgte die Räumung des Ruhrgebiets durch die Franzosen. Im September wurde der<br />

Putschist Thälmann auf Druck Moskaus KPD-Vorsitzender. Im Oktober 1925 auf der Konferenz von<br />

Locarno verzichteten Deutschland, Frankreich, Belgien und Polen auf die gewaltsame Veränderung<br />

ihrer Grenzen. Im Dezember trat die DNVP aus der Regierung aus und die Regierung Luther trat<br />

zurück. Im Januar bildete Reichskanzler Luther ein neues Kabinett aus DDP, Zentrum und DVP.<br />

Zentrum 13,6 %<br />

DVP 10,1 %<br />

DDP 6,3 %<br />

----------<br />

Summe 30,0 %<br />

Unterstützung durch SPD 26,0 %<br />

----------<br />

Summe 56,0 %<br />

Im Februar 1926 beantragte Deutschland die Aufnahme in den Völkerbund. Im April wurde ein<br />

Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion über 5 Jahre geschlossen, der Berliner Vertrag.<br />

"Die Deutsche Regierung und die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, von<br />

dem Wunsche geleitet, alles zu tun, was zur Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens beitragen<br />

kann, und in der Überzeugung, daß <strong>das</strong> Interesse des deutschen Volkes und der Völker der Union<br />

der Sozialistischen Sowjetrepubliken eine stetige vertrauensvolle Zusammenarbeit erfordert, sind<br />

übereingekommen, die zwischen ihnen bestehenden freundschaftlichen Beziehungen durch einen<br />

besonderen Vertrag zu bekräftigen....". 349<br />

Die freundschaftlichen Beziehungen zeigten sich in der Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen<br />

Reichswehr und Roter Armee. Die Reichswehr bildete mit der Roten Armee eine Achse des Bösen<br />

und durfte in Rußland an verbotenen Waffen (Panzer, Flugzeuge und Giftgas) üben und die Rote<br />

Armee bekam deutsches Generalstabs-know how.<br />

Nach einem symbollastigen Streit über die preußische Flagge (altpreußisch schwarz-weiß-rot) trat die<br />

Regierung Luther im Mai 1926 zurück. Es folgte <strong>das</strong> dritte Kabinett Marx. Im September 1926 wurde<br />

Deutschland in den Völkerbund aufgenommen. Durch ein Arbeitsbeschaffungsprogramm konnte die<br />

Arbeitslosigkeit halbiert werden. Im Dezember kam es im Reichstag zu einer Kontroverse zwischen<br />

der SPD und der Regierung über die Militärpolitik. Die SPD kritisierte die Verbindungen der<br />

Reichswehr zu Rechtsextremisten und zur Roten Armee. Darüber stürzte die Regierung. Im Ergebnis<br />

wurde im Januar 1927 <strong>das</strong> 4. Kabinett Marx aus Zentrum, DVP, DNVP und BVP gebildet.<br />

DNVP 20,5 %<br />

Zentrum/BVP 17,3 %<br />

DVP 10,1 %<br />

----------<br />

Summe 47,9 %<br />

Im März 1927, mitten in der sogenannten Periode der relativen Stabilisierung, lieferten sich NSDAP<br />

und KPD in Berlin die ersten Straßenschlachten, die ab jetzt periodische und aperiodische<br />

Neuauflagen erlebten, besonders die Zahltage waren von nun an als Krawalltage gefürchtet. Zahltage<br />

gab es viele, denn in den zwanziger Jahren wurde überwiegend wöchentlich Lohn bzw. Stütze<br />

gezahlt.<br />

Im Juni 1927 erklärte Reichsaußenminister Stresemann, daß die Beziehungen zur Sowjetunion durch<br />

den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen London und Moskau nicht berührt seien.<br />

Auch wenn sich der vielgerühmte Friedensnobelpreisträger diese Bemerkung verbissen hätte, man<br />

hätte in London ahnen können, was in finsteren Hinterzimmern des Auswärtigen Amts im Stillen<br />

gedacht wurde. Die öffentliche und offensichtliche Brüskierung Londons war vielleicht der Preis, der<br />

für die heimliche Rüstungszusammenarbeit mit Rußland gezahlt werden mußte, um Josef Stalin bei<br />

Laune zu halten. Im Juli 1927 wurden bemerkenswerterweise von den nichtsozialistischen<br />

Regierungsparteien <strong>das</strong> Mutterschutzgesetz und <strong>das</strong> Gesetz über die Arbeitslosenversicherung<br />

verabschiedet. Im September lehnte die Reichsregierung eine Anerkennung der Ostgrenze ab, im<br />

Dezember sprach sich Reichsaußenminister Stresemann erneut gegen die Anerkennung der<br />

349 www.documentarchiv.de/wr/1926/berliner-vertag.html (ist nur mit Schreibfehler richtig)<br />

264


polnischen Grenze aus. Auch hier ergibt sich der Verdacht, daß Deutschland von Sowjetrußland<br />

erpreßbar war, vielleicht glaubte Stresemann auch im deutschen Interesse zu handeln. Die Koalition<br />

war Anfang 1928 über ein neues Schulgesetz total zerstritten, wobei <strong>das</strong> Zentrum und die<br />

Reformparteien reflexhaft aufeinanderprallten. Der Reichstag wurde im März 1928 aufgelöst.<br />

Was wollen wir im Reichstag?<br />

Dr. Goebbels konnte die parlamentarische Demokratie genauso wie sein Chef nicht leiden: Im<br />

"Angriff" vom 28.04.1928 verkündigte er den Grund, sich an Wahlen dennoch zu beteiligen.<br />

„Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen<br />

Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer<br />

eigenen Unterstützung lahm zu legen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen<br />

Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist <strong>das</strong> ihre eigene Sache....Uns ist jedes<br />

Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. Wenn es uns gelingt, bei diesen Wahlen 60<br />

bis 70 Agitatoren unserer Partei in die verschiedenen Parlamente hineinzustecken, so wird der<br />

Staat selbst in Zukunft unseren Kampfapparat ausstatten und besolden.....Wir kommen als Feinde!<br />

Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir. Jetzt seid ihr nicht mehr unter euch!<br />

Ich bin kein Mitglied des Reichstags. Ich bin ein IdI. Ein IdF. Ein Inhaber der Immunität, ein Inhaber<br />

der Freifahrkarte....."<br />

Die Republik ließ sich von den Nationalsozialisten widerstandslos ausnehmen, genau wie sie heute<br />

den demokratiefeindlichen Linken und der NPD <strong>das</strong> Geld in den unersättlichen Rachen wirft. 1928<br />

mußte sich die NSDAP im Reichstag noch mit 12 Freifahrern begnügen.<br />

Wahl zum 4. Reichstag im Mai 1928:<br />

SPD 29,8 % (+ 3,8 %)<br />

KPD 10,6 % (+ 1,7 %)<br />

DDP 4,9 % ( - 1,4 %)<br />

DVP 8,7 % ( - 1,4 %)<br />

NSDAP, DVFP 3,5 % (+ 0,5 %)<br />

Landvolk 1,9 % (+ 1,9 %)<br />

WP 4,5 % (+ 1,2 %)<br />

DNVP 14,3 % ( - 6,2 %)<br />

Zentrum/BVP 15,1 % ( - 2,2 %)<br />

Sonstige 6,7 % (+ 2,2 %)<br />

Die Wahl zum 4. Reichstag fand in einer Zeit des gedämpften wirtschaftlichen Aufschwungs statt.<br />

Trotzdem verloren die Regierungsparteien erdrutschartig 11,2 %. Am deutlichsten und am meisten<br />

verloren die Konservativen, die in der Regierungsverantwortung ein zerstrittenes und konfuses Bild<br />

abgegeben hatten.<br />

Abschneiden von Regierungsparteien bei Reichstagswahlen<br />

Reichstagswahl Regierungsparteien Gewinn oder Verlust<br />

1920 MSPD, Zentrum, DDP - 32,2 %<br />

1924 I SPD, Zentrum, DDP, DVP, BVP -10,1 %<br />

1924 II Zentrum, DVP, DDP + 1,8 %<br />

1928 DNVP, Zentrum, DVP, DDP, BVP - 11,2 %<br />

1930 SPD, Zentrum, DVP, DDP, BVP - 10,5 %<br />

1932 I Zentrum, DVP, DDP, WP, KVP, Landvolk - 14,6 %<br />

1932 II DNVP + 2,9 %<br />

1933 DNVP, Landvolk - 0,9 %<br />

Einen Automatismus zwischen Wirtschaftsentwicklung und Zustimmung zur Politik der Regierenden<br />

gab es nicht. In der Weltwirtschaftskrise konnte <strong>das</strong> Zentrum zulegen, obwohl Brüning Reichskanzler<br />

war; während 1932 <strong>das</strong> Kabinett der Barone regierte, wuchs die Zustimmung zur DNVP. Dagegen<br />

265


verfiel <strong>das</strong> Vertrauen zu den Regierenden in den sogenannten Goldenen Zwanzigern von 1924 bis<br />

1928.<br />

Tief drunten in der Volksseele nagte der Zweifel. Charleston, Bubikopf und Tingeltangel konnten nicht<br />

über eine tiefsitzende Skepsis hinwegtäuschen, von der viele Wähler beschlichen wurden. Die Wähler<br />

begannen auf die Suche zu gehen. Für den Ausdruck einer gewissen Ernüchterung - von Protest<br />

sollte man hier noch nicht sprechen - wurde zunächst die kleine Lösung gesucht: Die NSDAP konnte<br />

von der eben erst beginnenden Auflösung des tradierten Parteiensystems noch nicht profitieren,<br />

solche im Kern vorbürgerlichen, konservativen und völkischen Parteien, wie die Wirtschaftspartei, <strong>das</strong><br />

Landvolk oder die Partei für die Aufwertung der Tausendmarkscheine waren diesmal die Gewinner.<br />

Das Suchen nach dem Heil hatte den Nationalsozialisten noch nichts genutzt, aber die Suche nach<br />

dem Heil hatte sich 1928 bereits in Gang gesetzt.<br />

Ab 1925 begann sich langsam eine Wechselstimmung aufzubauen, die auch mit dem Wechsel im<br />

Reichspräsidentenamt und einer beginnenden kulturellen Wende zu tun hatte. Der Wechsel des<br />

Generalfeldmarschalls Hindenburg ins Präsidentenamt war eine Teilmenge der von vielen Deutschen<br />

gewünschten Rückkehr zur Stabilität des Kaiserreichs. Wo sie diese Teilmenge und die zeitweilige<br />

Beteiligung der Konservativen an der Reichsregierung nun endlich hatten, verloren Hindenburg, die<br />

Konservativen und die kaiserliche Vergangenheit einen Teil ihres Glanzes. Eine vergleichbare<br />

Situation ergab sich 2001/2002 nach der Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin, Mecklenburg und<br />

Sachsen-Anhalt. Der Lack platzte ab und die PDS verlor bei der Bundestagswahl 2002 ein Fünftel<br />

ihrer Stimmen. Der Glanz des Kaiserreiches verblasste etwas und der Blick richtete sich nach 1925<br />

wieder mehr nach vorn, in eine ungewisse und rätselhafte Zukunft, die Wechsellust hielt sich noch in<br />

Grenzen, aber sie war unübersehbar. Bei keiner Wahl vorher war die Zersplitterung des<br />

Parteienspektrums so ausgeprägt wie 1928.<br />

Wahlergebnisse in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DDP DVP NS Landv WP DNVP Vrp Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt 43,1 7,7 4,2 18,6 2,3 0,2 4,5 14,2 1,2 4,1<br />

Braunschweig 50,0 3,4 3,5 16,7 6,9 1,8 9,5 1,5 6,8<br />

Bremen 42,1 9,9 9,8 18,8 1,0 6,0 7,7 2,4 2,3<br />

Hamburg 36,8 16,8 11,6 13,8 2,6 2,4 12,8 1,6 1,6<br />

Lippe 37,5 4,3 5,3 17,4 2,1 2,8 2,9 16,8 6,0 2,9 1,4<br />

Lübeck 46,3 7,5 4,1 17,8 1,7 5,5 12,4 1,1 3,5<br />

Meckl.-Schwerin 40,9 4,9 3,1 8,2 6,8 8,3 16,2 0,6 11,0<br />

Meckl.-Strelitz 39,7 7,0 4,2 4,8 5,7 2,9 7,0 23,1 3,4 0,7 1,5<br />

Oldenburg 28,4 3,4 9,3 9,6 8,2 6,0 4,7 8,7 17,1 4,5<br />

Sachsen 36,6 14,0 5,2 11,6 2,7 5,3 8,5 9,3 3,4 0,9 2,5<br />

Schaumburg-Li 51,7 2,7 7,1 10,8 0,6 3,0 2,0 16,2 0,5 4,9<br />

Thüringen 34,9 12,9 3,8 11,2 3,7 7,8 5,4 1,1 3,9<br />

Waldeck 22,9 1,7 4,6 12,3 4,8 31,3 4,3 11,1 2,9 4,0<br />

Süddt. Länder SPD KPD DDP DVP NS Landv WP DNVP Vrp Z/BVP Sonst.<br />

Baden 22,5 7,4 7,0 9,5 2,3 3,4 8,1 32,8 6,2<br />

Bayern 24,4 3,8 3,0 3,8 6,4 3,2 10,0 31,1 14,4<br />

Hessen 32,3 8,7 6,3 11,3 1,9 13,4 1,3 3,5 2,3 16,0 3,0<br />

Württemberg 24,0 7,3 9,7 5,6 1,9 1,3 6,3 3,7 19,2 22,1<br />

Ostprovinzen SPD KPD DDP DVP NS Landv WP DNVP Vrp Z/BVP Sonst.<br />

Berlin 32,9 24,7 7,9 6,4 1,6 2,7 17,7 3,3 2,8<br />

Brandenburg 30,2 9,3 4,9 7,9 1,4 5,4 27,9 1,5 6,5<br />

Niederschlesien 37,8 4,4 4,2 6,2 2,4 0,3 5,0 23,5 12,7 3,6<br />

Oberschlesien 12,6 12,7 1,6 2,7 1,6 1,1 1,3 17,1 40,0 9,3<br />

Ostpreußen 26,8 9,5 3,8 9,8 5,0 2,1 31,4 7,4 4,2<br />

Pommern 30,2 6,1 4,0 5,5 1,6 0,3 5,0 41,6 1,0 4,8<br />

Posen-Westpr. 19,5 3,7 3,4 5,7 0,7 0,9 2,0 31,4 24,2 8,6<br />

Prov. Sachsen 32,4 15,1 4,8 11,5 2,3 5,9 18,7 3,5 5,8<br />

Schleswig-Holst. 35,1 8,0 5,6 13,8 4,1 0,3 5,4 22,9 1,1 3,7<br />

Westprovinzen SPD KPD DDP DVP NS Landv WP DNVP Vrp Z/BVP Sonst.<br />

Hannover 36,2 4,2 4,0 10,9 3,6 4,0 3,4 9,7 8,2 16,0<br />

266


Hessen-Nassau 32,6 8,2 5,7 10,2 3,7 6,7 4,2 10,1 14,8 3,9<br />

Hohenzollern 9,3 2,3 4,7 1,8 1,6 0,7 2,6 66,9 10,8<br />

Rheinprovinz 17,5 14,3 2,9 8,2 1,5 5,5 9,5 34,9 5,6<br />

Westfalen 26,2 10,8 3,3 9,2 1,3 2,2 5,3 8,5 28,8 4,5<br />

Gewinne und Verluste in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DDP DVP NS Landv WP DNVP Vrp Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt + 1,5 + 2,4 - 1,9 - 4,2 - 0,7 + 0,2 + 2,3 - 2,7 + 3,3<br />

Braunschweig +12,3 - 1,1 - 2,1 - 4,8 + 2,6 + 1,8 - 11,7 - 0,1 + 2,9<br />

Bremen + 4,9 + 1,1 - 3,1 - 1,0 - 4,2 + 6,0 - 5,1 + 1,4<br />

Hamburg + 4,6 + 2,5 - 0,9 + 0,6 + 0,4 + 2,4 - 8,8 - 0,1 - 0,6<br />

Lippe + 4,9 - 0,3 - 2,3 - 0,8 - 1,1 + 2,8 + 2,6 - 9,3 + 2,6 - 0,1 + 1,2<br />

Lübeck + 5,3 + 1,1 - 3,3 + 2,7 - 2,4 - 0,3 - 4,5 - 0,3 + 1,6<br />

Meckl.-Schwerin + 8,1 - 0,9 - 2,4 - 1,9 - 7,1 + 6,0 - 11,5 - 0,1 + 9,7<br />

Meckl.-Strelitz + 6,4 + 0,5 - 2,1 - 2,7 - 4,9 + 2,9 + 5,5 - 9,6 + 3,0 - 0,2 + 1,1<br />

Oldenburg + 4,6 - 0,1 - 3,1 - 5,5 + 4,3 + 6,0 + 4,4 - 9,7 - 4,0 + 3,0<br />

Sachsen + 1,4 + 2,9 - 2,0 - 3,8 + 0,2 + 5,3 + 3,8 - 11,3 + 3,3 - 0,1 + 0,3<br />

Schaumburg-Li + 4,9 + 0,0 - 0,5 - 4,8 - 0,4 + 3,0 + 1,5 - 7,6 - 0,4 + 4,4<br />

Thüringen + 4,5 - 0,2 - 1,4 - 2,9 - 1,7 + 3,6 - 3,3 - 0,1 + 1,5<br />

Waldeck + 3,3 + 0,0 - 3,7 - 6,9 + 1,6 +31,3 + 3,0 - 32,3 + 0,1 + 3,7<br />

Süddt. Länder SPD KPD DDP DVP NS Landv WP DNVP Vrp Z/BVP Sonst.<br />

Baden + 2,6 + 0,9 - 2,3 - 0,3 + 1,0 + 1,7 - 0,8 - 1,7 - 1,1<br />

Bayern + 3,3 - 1,3 - 0,8 - 0,5 + 1,3 + 1,5 - 4,4 - 3,5 + 4,3<br />

Hessen - 3,3 + 3,3 - 2,4 - 0,5 + 0,6 + 0,8 + 0,4 - 4,2 + 2,3 + 0,2 + 2,8<br />

Württemberg + 3,6 - 0,9 - 1,4 - 0,2 - 0,3 + 0,8 - 4,8 + 3,7 - 2,4 + 3,7<br />

Ostprovinzen SPD KPD DDP DVP NS Landv WP DNVP Vrp Z/BVP Sonst.<br />

Berlin + 2,6 + 8,4 - 3,0 - 0,1 - 0,4 - 0,7 - 6,2 - 0,6 + 2,0<br />

Brandenburg + 0,0 + 2,7 - 0,5 - 2,3 - 1,2 + 1,6 - 9,9 - 0,1 + 6,0<br />

Niederschlesien + 5,6 + 1,3 - 1,7 - 1,7 - 1,2 + 0,3 + 2,3 - 5,3 - 2,4 + 3,1<br />

Oberschlesien + 5,8 + 0,5 - 0,6 - 0,1 - 0,8 + 1,1 - 0,2 - 4,7 - 1,0 + 2,6<br />

Ostpreußen + 6,0 + 1,4 - 0,2 + 0,8 - 1,3 - 0,3 - 7,8 - 0,6 + 2,7<br />

Pommern + 5,6 + 0,3 + 0,2 - 1,0 - 3,7 + 0,3 + 2,6 - 7,5 + 0,0 + 3,2<br />

Posen-Westpr. + 5,8 - 0,2 + 0,6 - 0,9 - 8,7 + 0,9 + 1,6 - 3,2 - 0,8 + 5,1<br />

Prov. Sachsen + 5,3 + 1,2 - 1,9 - 1,2 - 1,6 + 2,3 - 7,9 + 0,6 + 5,2<br />

Schleswig-Holst. + 5,0 + 1,2 - 3,1 - 1,0 + 1,4 + 0,3 + 4,9 - 10,2 - 0,0 + 2,3<br />

Westprovinzen SPD KPD DDP DVP NS Landv WP DNVP Vrp Z/BVP Sonst.<br />

Hannover + 6,4 - 0,1 - 0,8 - 2,1 - 0,3 + 4,0 + 3,4 - 8,1 - 1,0 - 0,7<br />

Hessen-Nassau + 0,6 + 2,5 - 2,8 - 2,4 + 1,2 + 6,7 + 2,0 - 8,7 - 2,4 + 3,4<br />

Hohenzollern + 2,2 - 0,4 - 2,7 + 0,2 + 1,0 + 0,5 - 1,2 - 1,2 + 2,0<br />

Rheinprovinz + 2,9 + 1,4 - 0,9 - 1,4 + 0,6 + 2,4 - 1,5 - 6,9 + 4,5<br />

Westfalen + 3,6 + 1,0 - 1,4 - 1,4 + 0,2 + 2,2 + 4,1 - 5,0 - 5,1 + 3,4<br />

NS = NSDAP, DSP und DVFB<br />

Die Wählerwanderung zwischen Konservativen und Nationalsozialisten bewies sich auch bei dieser<br />

Wahl nicht: So wie Anfang 1924 die Nationalsozialisten gewannen, ohne daß die Konservativen<br />

verloren, so verloren 1928 die Konservativen stark, ohne daß die Nationalsozialisten erheblich davon<br />

profitieren konnten. Erst in den Dreißiger Jahren sind starke Abhängigkeiten zwischen<br />

Nationalsozialisten und Konservativen nachweisbar, in den ganzen 20ern nicht wirklich. Das mag<br />

daran liegen, <strong>das</strong>s die Konservativen bis in die Mitte der Zwanziger Jahre eine Nostalgiebewegung<br />

war, und die NSDAP eine Reformbewegung. In den dreißiger Jahren verstärkte sich der<br />

Neokonservatismus der DNVP, sie dachte wie die NSDAP in die Zukunft Deutschlands und wurde zu<br />

einem Dubel der Nationalsozialisten.<br />

Stärker als zwischen DNVP und NSDAP scheinen die Abhängigkeiten zwischen DDP und NSDAP zu<br />

sein. Überdurchschnittliche Gewinne und Verluste bedingen sich wechselseitig. Die beiden einzigen<br />

Wahlbezirke mit DDP-Gewinnen sind Wahlbezirke mit starken NSDAP-Verlusten. In fast allen<br />

Wahlbezirken mit überdurchschnittlichen NSDAP-Gewinnen (Braunschweig, Oldenburg, Hessen,<br />

267


Waldeck, Schleswig-Holstein, Hessen-Nassau und Hohenzollern) verlor die DDP ganz<br />

überdurchschnittlich.<br />

Die konservativen Wähler wanderten vor allem zu den ihr programmatisch sehr nahestehenden<br />

Parteien: der Wirtschaftspartei, der Volksrechtspartei und dem Landvolk. Diese Splitterparteien, die<br />

nun ihren Höhepunkt hatten, waren programmatisch auf der antikapitalistisch-konservativen Linie, sie<br />

transportierten überhaupt keine neuen Standpunkte auf die politische Bühne. Die 1925 entstandene<br />

Volksrechtspartei (im Volksmund "Partei zur Aufwertung der Tausendmarkscheine") beispielsweise<br />

erlangte ihr Alleinstellungsmerkmal lediglich durch die originelle Idee, die in der Nachkriegsinflation<br />

entwerteten Sparvermögen zu entschädigen. Ansonsten lieferte sie den dutzigsten Aufguß des<br />

preußischen Sozialismus als Parteiprogramm: gegen die Parteibuchwirtschaft, gegen die Genußsucht<br />

und die kapitalistische Gewinnsucht. 350<br />

Die Identifikation des Kapitalismus mit der Gewinnsucht ist auch aus damaliger Sicht umstritten. Es<br />

handelte sich aber um ein sehr hartnäckiges zeitgenössisches Urteil. Max Weber kannte es und hielt<br />

dagegen:<br />

"Die universelle Herrschaft a b s o l u t e r Skrupellosigkeit der Geltendmachung des<br />

Eigeninteresses beim Gelderwerb war gerade ein spezifisches Charakteristikum solcher Länder,<br />

deren bürgerlich-kapitalistische Entfaltung - an den Maßstäben der okzidentalen Entwicklung<br />

gemessen - rückständig geblieben war." 351<br />

Der chinesische Mandarin, der altrömische Aristokrat, der neapolitanische Kutscher und der moderne<br />

Agrarier halten bei der Geldgier jeden Vergleich aus, meinte Weber. 352<br />

Besonders deutlich wird die konservative Wählerwanderung in Waldeck, wo über 30 % von den<br />

Konservativen zum Landvolk wechselten. Unterlagert wird die Wanderung innerhalb des<br />

konservativen Lagers durch Verluste der Konservativen an die Sozialdemokraten und Kommunisten.<br />

Gut ablesen läßt sich <strong>das</strong> zum Beispiel im Wahlbezirk Hamburg, wo alle anderen Gewinne und<br />

Verluste sehr klein waren oder in Braunschweig, Ostpreußen und Berlin, wo alle anderen Verluste<br />

zusammengezählt nicht ausreichen, um die sozialdemokratischen bzw. kommunistischen Gewinne zu<br />

erklären.<br />

Durch Wanderungen von DVP und DDP zu den konservativen Splitterparteien wurden die<br />

konservativen Defizite in vielen Wahlbezirken verkleinert.<br />

Insgesamt konnten SPD und KPD Stimmen zurückgewinnen, die sie seit 1919 verloren hatten. Es fällt<br />

auf, daß dort, wo die KPD mehr Zuwachs erreichte, die SPD mehr oder weniger stagnierte. Wo die<br />

SPD sehr starke Zuwächse erreichte, stagnierte die KPD. Es läßt sich auf eine Konkurrenzsituation<br />

schließen.<br />

Gebiete mit starken Zentrumsverlusten, wie <strong>das</strong> Rheinland, Bayern, Westfalen und Oldenburg sind<br />

keineswegs Gebiete mit überdurchschnittlichen sozialdemokratischen oder kommunistischen<br />

Gewinnen. Es sieht eher so aus, als wenn überwiegend die kleineren Parteien von diesen Verlusten<br />

profitiert hätten.<br />

Schon bei den vorhergehenden Wahlen hatte sich eine relativ starke Wählerwanderung zwischen<br />

Konservativen und Sozialdemokraten gezeigt, bis 1924 eher zu den Konservativen hin und 1928<br />

zurück. In Berlin hatten die heterodoxen Sozialisten der USPD 1924 massenhaft Stimmen an die<br />

Konservativen verloren, 1928 entdeckten diese verlorenen Söhne der Arbeiterbewegung ihre Wurzeln<br />

neu.<br />

Die DNVP behielt in Ostelbien eine zahlenmäßig stärkere Anhängerschaft als in anderen<br />

Reichsteilen. Sie wurde in der Wahlniederlage noch preußischer.<br />

Im Ergebnis der Wahl waren die Sozialdemokraten so erstarkt, daß sie bei der Regierungsbildung den<br />

Ton angaben und den Reichskanzler stellten. Reichskanzler Müller (SPD) regierte mit DDP, DVP und<br />

BVP.<br />

350 Hans Fenke: Deutsche Parteiengeschichte, S. 168<br />

351 Max Weber: Religionssoziologie I, S. 42<br />

352 s.o. S. 41<br />

268


SPD 29,8 %<br />

DVP 8,7 %<br />

DDP 4,9 %<br />

BVP 3,1 %<br />

----------<br />

Summe 46,5 %<br />

Der Rest des Jahres 1928 war mit Verhandlungen über die Reparationsfrage und<br />

Auseinandersetzungen über den Bau des Panzerkreuzers A erfüllt. Die Sozialdemokratie befand sich<br />

zwar in der Regierung, opponierte aber ständig, besonders wegen dem Panzerkreuzer im besonderen<br />

und wegen Rüstungsangelegenheiten im allgemeinen.<br />

Anfang 1929 begann die Arbeitslosigkeit von unter 2 auf 3,2 Mio zu steigen. Im April 1929 trat <strong>das</strong><br />

Zentrum mit in die Regierung ein. Damit entstand eine solide Mehrheit, mit der man bis 1932 hätte<br />

unangefochten regieren können.<br />

SPD 29,8 %<br />

DVP 8,7 %<br />

DDP 4,9 %<br />

Zentrum/BVP 15,1 %<br />

----------<br />

Summe 58,5 %<br />

Anfang Mai 1929 kam es zu schweren und blutigen Kämpfen zwischen der KPD und der<br />

sozialdemokratisch geführten Polizei in Berlin. Ebenfalls im Mai 1929 stimmte die deutsche Delegation<br />

auf der Pariser Sachverständigenkonferenz dem Young-Plan zu, der Reparationen von 112 Mrd.<br />

Goldmark vorsah. In der SPD kam es Mitte 1929 zu Spannungen wegen der Zustimmung zum<br />

Rüstungshaushalt.<br />

Nach der Unterzeichnung des Young-Planes bilden DNVP, Stahlhelm, Alldeutscher Verband und<br />

NSDAP den "Reichsausschuß für <strong>das</strong> Volksbegehren gegen den Young-Plan". Sie forderten ein<br />

"Gesetz gegen die Versklavung des deutschen Volkes". "Bis in die dritte Generation müßt Ihr fronen!"<br />

stand auf dem Agitationsplakat der DNVP, auf dem ein Mühlrad abgebildet war, <strong>das</strong> von drei blonden<br />

Deutschen mit nackten Oberkörpern gedreht wurde, und auf dessen Mittelsäule ein peitschender, fies<br />

und finster grinsender, dunkelhäutiger Schwarzhaariger saß, offensichtlich der Jude.<br />

Das Volksbegehren gegen die Versklavung des deutschen Volks bot der NSDAP die Handhabe zu<br />

ihrem Aufstieg. So wie <strong>das</strong> überfällige Frauenwahlrecht den Konservativen nutzte, so nutzte <strong>das</strong><br />

Recht zu Volksbegehren den Nationalsozialisten. Die Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik<br />

führten <strong>das</strong> Volksbegehren deshalb nicht in <strong>das</strong> Grundgesetz ein, sie hatten zu schlechte<br />

Erfahrungen. Sie mißtrauten dem Wähler mit Recht und setzten, um der Bundesrepublik die<br />

notwendige Stabilität zu verleihen, auf die parlamentarischen Beharrungskräfte. Aus dem gleichen<br />

Grund wurde die Auflösung des Bundestages fast unmöglich gemacht und an ein konstruktives<br />

Mißtrauensvotum gebunden. Die drei Reichstagswahlen auf dem Höhepunkt der Krise 1932 und 1933<br />

wären mit dem heutigen Grundgesetz nicht wahrscheinlich gewesen. Die heutigen Verfechter der<br />

direkten Demokratie stehen nicht mehr unter dem Eindruck der Weimarer Republik und wollen<br />

radikalen Kräften wieder größere Möglichkeiten eröffnen.<br />

Am 25.10.1929 leitete der schwarze Freitag an der Wallstreet die Weltwirtschaftskrise ein. Im<br />

November wurde die Besetzung der Koblenzer Rheinlandzone beendet. Am Jahresende scheiterte<br />

<strong>das</strong> Volksbegehren gegen den Young-Plan. Für die NSDAP war es trotzdem ein riesiger<br />

Propagandaerfolg. Im März 1930 wurde der Young-Plan im Reichstag angenommen. Gleichzeitig<br />

wurde ein Gesetz zum Schutz der Republik verabschiedet. Kurz danach verstritt sich die Regierung<br />

über die Arbeitslosenversicherung und die Regierung Müller trat zurück. Als neuer Reichskanzler<br />

wurde Heinrich Brüning ernannt, der eine Regierung ohne parlamentarische Mehrheit bildete. Es<br />

begann die Zeit, wo mit Notverordnungen des Reichspräsidenten regiert wurde. Im Mai 1930 wurde<br />

der Rest des Rheinlandes geräumt. Gleichzeitig verklagte Innenminister Marx (Zentrum) <strong>das</strong> Land<br />

Thüringen, da der nationalsozialistische Minister für Volksbildung dort nationalsozialistische<br />

Schulgebete eingeführt hatte. Im Juli 1930 lehnte der Reichstag mit den Stimmen von SPD, DNVP,<br />

KPD und NSDAP die Vorlage zur Deckung des Defizits des Reichshaushalts ab. Im Ergebnis wurde<br />

269


der Reichstag aufgelöst. SPD und DNVP wurden dafür vom Wähler bestraft, NSDAP und KPD<br />

belohnt.<br />

Die Landvolk-Bewegung<br />

Die Landwirte gehörten nicht zu jenen, die sich zu den Profiteuren der republikanischen Wende<br />

zählten. Von 1918 bis 1921 blieben die Kriegsmaßnahmen in Kraft, die Preisbindungen und den<br />

Zwangsankauf landwirtschaftlicher Produkte beinhalteten. Während die Arbeiter günstige Tarifverträge<br />

abschließen konnten, produzierten die Landwirte unter Kriegsbedingungen zu Preisen, die nicht<br />

marktgerecht und teilweise nicht kostendeckend waren. 1921 wurden die Kriegsmaßnahmen<br />

aufgehoben und die Landwirte hatten Gelegenheit sich bei steigender Nachfrage sowie steigenden<br />

Preisen etwas zu erholen und sich im Zuge der Inflation zu entschulden. Andererseits war bei<br />

Einführung der Rentenmark auch bei den Landwirten kein Geldkapital mehr vorhanden. Die<br />

Landwirtschaft bekam bei Einführung der Rentenmark aus den Währungskrediten der deutschen<br />

Rentenbank ein Betriebskapital von 870 Mio. Rentenmark zur Verfügung gestellt, <strong>das</strong> aber in drei<br />

Jahren wieder zurückbezahlt werden sollte. 353 In dieser Rückzahlungsphase verstärkte sich ab 1925<br />

der ökonomische Druck auf die landwirtschaftlichen Produzenten wieder. Die Preise für die<br />

klassischen Agrarprodukte verfielen auf dem Weltmarkt. Die bäuerlichen pressure groups hatten nicht<br />

mehr die Macht, wie in der Vorkriegszeit Schutzzölle durchzusetzen, um die heimische Produktion zu<br />

schützen. Die Rückzahlung der Kredite war in vielen Fällen nicht möglich. Selbst zur Zahlung der<br />

Steuern mussten in vielen Höfen neue Kredite aufgenommen werden. Es kam zu Konkursen,<br />

Zwangsversteigerungen und Bauernprotesten. Erst 1929 beispielsweise begann die SPD-geführte<br />

Landwirtschaftsbürokratie Roggen aufzukaufen, um den Preis zu stabilisieren.<br />

Die Landwirte sahen sich als Verlierer der republikanischen Umwälzung und ihre Verbände begannen<br />

sich zu radikalisieren. Eine besondere Rolle spielten dabei die Jungbauernorganisationen, denn<br />

gerade die Jungbauern hatten im Weltkrieg Kontakt zur bündischen Bewegung gefunden. Sie<br />

transportierten, soweit <strong>das</strong> überhaupt noch neue Ideen waren, bündische Gedanken in die<br />

Bauernverbände und Bauernparteien. H.-U. Wehler hat in seiner Gesellschaftsgeschichte<br />

Deutschlands den Aufstieg des Landvolks am Beispiel Schleswig-Holsteins beschrieben. Die<br />

Landvolkideologie war nach Wehler ein Gemisch aus der traditionellen konservativen Agrarideologie,<br />

völkisch-nationalistischen Überzeugungen und ständischen Illusionen.<br />

Tatsächlich standen in der Weimarer Republik die Interessen der Verbraucher mehr im Vordergrund<br />

der Politik, als die der landwirtschaftlichen Produzenten, aber die Vorstellungen von der Stellung des<br />

Landwirts in einer ständischen Welt waren natürlich keine Illusionen, wie von Wehler und anderen<br />

Autoren immer wieder behauptet wurde, sondern die Ideen der Bauernverbände sollten in den<br />

dreißiger Jahren realisiert werden, und <strong>das</strong> durchaus zum kurzfristigen Nutzen der Bauern. Die<br />

Gesellschaftsvorstellungen der damals agierenden Akteure als illusionistisch abzutun, beruht auf einer<br />

ideologisch gefärbten Auffassung vom Funktionieren einer kapitalistischen Klassengesellschaft, in der<br />

ein Rückfall in den Ständestaat des Mittelalters oder der frühen Neuzeit ein Anachronismus gewesen<br />

wäre, weil sich <strong>das</strong> Rad der Geschichte vorwärts zu drehen hat. Tatsächlich drehte sich <strong>das</strong> Rad der<br />

Wirtschaftsgeschichte in Deutschland jedoch von 1890 bis 1949/90 rückwärts, ein ständig sich<br />

verstärkendes ständisch-korporatistisches roll-back erfaßte Industrie, Landwirtschaft und Handwerk.<br />

Kapitalistische Marktmechanismen wurden zunehmend außer Kraft gesetzt und die Autonomie der<br />

produzierenden Einheiten verringert. Am Ende wurde aus einem "organisierten Kapitalismus" ein<br />

Mischsystem aus warenproduzierender Planwirtschaft und staatssozialistischer Allmacht.<br />

Die landwirtschaftliche Krise begann, als in den anderen Wirtschaftszweigen gerade Konjunktur<br />

herrschte, mitten in den „goldenen“ Jahren der Republik, und <strong>das</strong> reizte die Landwirte. Als es allen<br />

gleichmäßig schlecht ging, wie im Weltkrieg, wurde die mißliche Lage leicht grollend hingenommen, in<br />

der Nachkriegszeit begannen sich die wirtschaftlichen Schicksale jedoch zu differenzieren und die<br />

Landwirte standen auf der Verliererseite. 1927 und 1928 waren deshalb die Jahre, als fast überall in<br />

Deutschland spannungsgeladene Bauerntreffen und aggressive Bauernrevolten stattfanden. Am 28.<br />

Januar trafen sich beispielsweise in 17 Kreisstädten in Schleswig-Holstein 140.000 Bauern zum<br />

Demonstrieren. Die Organisation erfolgte zumindest in Schleswig-Holstein nicht durch die großen<br />

Verbände, sondern ein kleines Netzwerk aufsässiger Bauern nutzte die Bereitschaft zum<br />

Aufbegehren. Seit Januar 1929 erschien die Zeitung "Landvolk", deren Herausgeber die<br />

353 Fritz Federau; Von Versailles bis Moskau. Politik und Wirtschaft in Deutschland 1919 bis 1970; Haude &<br />

Spenersche Verlagsbuchhandlung Berlin, S. 24f.<br />

270


nationalrevolutionären Gebrüder v. Salomon waren. Ernst von Salomon gehörte zu den Rathenau-<br />

Mördern. Massenaufmärsche erfolgten unter der schwarzen Fahne des Bauernkriegs,<br />

Zwangsversteigerungen wurden verhindert und die Finanzbehörden boykottiert. Zehntausende<br />

Bauern verpflichteten sich feierlich, bei Zwangsversteigerungen nicht zu bieten und keinen<br />

Offenbarungseid abzulegen. Es folgten 11 Bombenattentate. Die Agitation erfolgte gegen <strong>das</strong><br />

"jüdische Auslaugungssystem" mit seinen "Parteien, Bonzen und Cliquen" und die SPD als "Partei des<br />

organisierten Landesverrats". Parolen vom "Dritten Reich", vom "größten Volksbetrug" und vom<br />

"Schweinestall der deutschen Demokratie" machten die Runde.<br />

Das Liedgut der Landvolk-Bewegung ordnete sich in diese hitzige Agitation ein:<br />

Herr Landrat, keine Bange, Sie leben nicht mehr lange...<br />

Heute nacht um Zwei, da besuchen wir Sie<br />

Mit dem Wecker, dem Sprengstoff und der Taschenbatterie!<br />

Im September 1930 fuhren die Landbündler ihr bestes Wahlergebnis mit über 3 % der Stimmen ein,<br />

gleichzeitig setze ihr Niedergang ein. Der Staat begann zu reagieren. Der sozialdemokratische<br />

Oberpräsident drohte Hochverratsprozesse gegen die Organisatoren der "Nothilfe" an und im Oktober<br />

1930 wurde der Bauernführer Heim zu 7 Jahren Zuchthaus verurteilt. Konservative und<br />

Nationalsozialisten distanzierten sich von der militanten Bürgerkriegspraxis der Landbündler. Als die<br />

Landbündler überall an die Grenzen der Staatsmacht stießen, erschlafften sie, im August 1930 war<br />

bereits die Landvolk-Zeitung in Konkurs gegangen. Hitler verbot die Doppelmitgliedschaft von<br />

Landbund und NSDAP, einige Zeit später standen die Landbündler in Scharen vor den Toren der<br />

nationalsozialistischen Parteilokale, um Aufnahmeanträge zu ergattern.<br />

Die Reparationen als internationales Zahlungsproblem<br />

Das Volksbegehren gegen die Versklavung des deutschen Volks wurde kurz vor dem<br />

Bedeutungsverlust der Reparationen ins Leben gerufen.<br />

Das deutsche Volk war Anfang der zwanziger Jahre mit Forderungen in astronomischer Höhe<br />

konfrontiert und geschockt worden. Im Verlauf der zwanziger Jahre zeigte sich, daß die Eintreibung<br />

auch nur eines Teils dieser Forderungen die Weltwirtschaft ruinierte. Die Forderungen wurden deshalb<br />

ständig reduziert.<br />

Die Schuld an den Reparationsforderungen wird in der Geschichtsliteratur Frankreich gegeben.<br />

Frankreich stand als Heizer auf der Reparationslokomotive, England und die USA waren eher die<br />

Bremser auf dem Führerstand. Das hing einmal damit zusammen, daß Frankreich nach 1871 selbst<br />

Reparationen an Deutschland bezahlt hatte und nun auf einer Geld-zurück-Garantie bestand.<br />

Andererseits war Frankreich aber Gefangener der eigenen Verpflichtungen. Auch in Frankreich war<br />

der Krieg nicht zum Nulltarif geführt worden. Die Kriegsführung war teilweise mit amerikanischen<br />

Krediten finanziert worden, die nun zurückgezahlt werden mußten. Dabei waren die deutschen<br />

Reparationen eine willkommene Hilfe. Der Krieg hatte sich auf dem Gebiet Frankreichs abgespielt, so<br />

daß die Zerstörungen in Frankreich nicht unbeträchtlich waren. Auch <strong>das</strong> ist ein Argument für<br />

Reparationen an Frankreich.<br />

Amerika bremste die Franzosen immer wieder, ohne jedoch sofort auf die Rückzahlung der<br />

französischen Kriegsschulden zu verzichten. In der Hoffnung, zumindest einen Teil der französischen<br />

Schulden zurückzubekommen, gaben die Amerikaner Deutschland Kredite zur Bedienung der<br />

französischen Reparationen. Damit kam ein Geldkreislauf USA - Deutschland - Frankreich - USA<br />

zustande. Immer in der Hoffnung, daß Deutschland wieder zu Kräften kommen würde, und dann von<br />

sich aus die Verpflichtungen bedienen könnte, wurde Berlin mit Krediten bedient. Nach einigen Jahren<br />

wurde in Amerika erkannt, daß Deutschland nicht auf die Beine kam und daß die internationalen<br />

Zahlungsverpflichtungen den Welthandel ruinierten. Das war der Zeitpunkt des Schuldenerlasses.<br />

Alles, was in Richtung des Schuldenerlasses getan wurde, war richtig, aber alles, was getan wurde,<br />

erfolgte zu spät, um eine positive politische Wirkung entfalten zu können.<br />

271


Stolpersteine auf dem Kriegspfad gegen die Planwirtschaft<br />

Joseph A. Schumpeter war 1917/18 Mitarbeiter des Generalkommissariats für Kriegs- und<br />

Übergangswirtschaft beim k.k. Handelsministerium in Wien gewesen, hatte 1919 in der deutschen<br />

Sozialisierungskommission gesessen und war anschließend sieben Monate österreichischer<br />

Finanzminister gewesen. Er war von Hause aus ein planwirtschaftliches Sumpfgewächs, hatte jedoch<br />

aus der Kenntnis des bürokratischen Milieus heraus und auch durch seine Kenntnis der liberalen<br />

Österreichischen Schule der Nationalökonomie eine kritische Haltung zur uneingeschränkten<br />

Reglementierung. Er mußte wissen, worüber er am 21. September 1928 vor der<br />

Mitgliederversammlung des Reichsverbandes des Deutschen Groß- und Überseehandels sprach. 354<br />

Der Vortrag wirft zusammen mit den Aussagen von Schumpeter vor dem Katellausschuß 1929 ein<br />

Schlaglicht auf die wirtschaftlichen Zustände am Ende der Periode der relativen Stabilisierung und am<br />

Vorabend der Weltwirtschaftskrise.<br />

Um gute Stimmung zu erzeugen, erwähnte Schumpeter eingangs die Pionierrolle des Überseehandels<br />

für <strong>das</strong> moderne Wirtschaftsleben, "als reinsten Repräsentanten des kapitalistischen<br />

Wirtschaftsgeistes", nicht ohne sich die Bemerkung verkneifen zu können, daß die Interessen des<br />

Überseehandels niemals politisch geherrscht hätten.<br />

Der Vortrag ist ein gedämpftes Plädoyer für die Marktwirtschaft und eine Auseinandersetzung mit dem<br />

Glauben an die Planwirtschaft. Für Schumpeter "ist es praktisch durchaus nicht gleichgültig, ob im<br />

ganzen Volk der Glaube lebt, daß jeder Schritt zu planwirtschaftlicher Ausschaltung des<br />

Unternehmers unter allen Umständen ein Fortschritt ist." Dem unter eigener Verantwortung<br />

handelnden kaufmännischen und industriellen Unternehmer stellte Schumpeter die "gebundene<br />

Wirtschaft" gegenüber, unter der er die "grundsätzlich unbegrenzte Beteiligung von Staaten,<br />

Gemeinden usw." verstand, aber auch "alle Formen des planwirtschaftlich regelnden Verhaltens<br />

seitens dieser Körperschaften gegenüber der Sphäre der privaten Wirtschaftsführung". Immer wieder<br />

setzte Schumpeter voraus, daß der Glaube an die Planwirtschaft in Deutschland weitestgehend<br />

Allgemeingut war:<br />

"Da ist z.B. die rein gefühlsmäßige Freude vieler Leute über jeden neuen Staatsbetrieb als<br />

solchen. Jene Sozialisten, die in produktiver Tätigkeit des Staates oder der Gemeinden eine<br />

Sozialisierungsmethode sehen, haben ein Recht darauf, sich über dergleichen zu freuen. Aber<br />

beim Nichtsozialisten ist die Freude vernunftmäßig überhaupt nicht zu erklären..."<br />

Was Schumpeter als Theoretiker vor allem ärgerte, war die nicht nur in der Weimarer Republik<br />

verbreitete Verwechslung von Begrifflichkeiten:<br />

"Die Wirtschaft der privaten Initiative war <strong>das</strong> Resultat eines langen historischen Prozesses."<br />

(Und nicht nur der zersetzenden Wühlarbeit der Juden zu verdanken wie bei Werner Sombart)<br />

"Andererseits hat sich diese Wirtschaftsform ja nie und nirgends völlig durchgesetzt. Nicht nur die<br />

geistige und wirtschaftliche Erbschaft früherer Zeiten, auch ihrem Wesen fremde wirtschaftliche<br />

und soziale Machtpositionen haben sich in ihrem Milieu erhalten, seine Entwicklung gemodelt und<br />

abgelenkt, und so hat sich für die soziale Kritik jene unsterbliche Verwechslung ergeben, Kraft<br />

deren immer dem modernen Wirtschaftssystem vorgeworfen wird, was sich nur daraus erklärt, daß<br />

es sich nicht vollständig durchsetzen konnte."<br />

Sehr widersprüchlich sind die Ausführungen von Schumpeter über die branchenübergreifenden<br />

Wirtschaftsvereinigungen, die Trusts: Der moderne Trust sei eine Unternehmung,<br />

".. die über den Rahmen des einzelnen Betriebes hinauswächst, bis sie die ganze Industrie erfaßt<br />

hat, oder doch ihr beherrschender Faktor geworden ist - dadurch, daß er produktionstechnisch und<br />

organisatorisch einen Fortschritt bedeutet...Irgendwelche Persönlichkeiten von<br />

überdurchschnittlichen Maßen müssen sie schaffen, sonst entsteht sie nicht, und führen, sonst<br />

zerbricht sie."<br />

354 J. A. Schumpeter: Individualismus und gebundene Wirtschaft, www.schumpeter.info/text1~1.htm<br />

272


Schumpeters Irrtum war, daß Kartelle für die rationelle Durchsetzung neuer Produktionsmethoden<br />

erforderlich sind. Hiermit war er Kind seiner Zeit. Jeder Brüsseler Wettbewerbskommissar würde<br />

angesichts der wettbewerbsfeindlichen Vorstellungen der 20er Jahre im Viereck springen.<br />

Besonders deutlich wird Schumpeters inkongruente Haltung bei seiner Vernehmung vor dem<br />

Kartellausschuß des Reichstags 1929:<br />

"Da man auf Grund der heutigen wirtschafts- und betriebswirtschaftlichen Erkenntnisse und<br />

Methoden noch nicht in der Lage ist, die Bedeutung der Kartellierung für die Entwicklungsschancen<br />

jeder einzelnen Industrie exakt abzuschätzen, um z.B. produktionsfortschrittlich orientierte Kartelle<br />

gewähren lassen, Preishochhaltungskartelle dagegen reprimieren zu können, würde ein<br />

Registerzwang unzweckmäßig sein, besonders, da unsere Kartelle infolge der<br />

Reparationsverpflichtungen eine nationale Bedeutung haben...."<br />

Die Konzentrationswelle rollte in den zwanziger Jahren. Big war beautiful. 1926 wurden unter dem<br />

Einfluß der Deutschen Bank Mercedes und Benz miteinander fusioniert.<br />

Heute kümmert sich <strong>das</strong> Bundeskartellamt überhaupt nicht um den Unterschied zwischen<br />

technologieorientierten und Preishochhaltungskartellen. In den zwanziger Jahren war die freie<br />

Konkurrenz so weit weg, daß auch Schumpeter im Zeitgeist befangen war und sich nichts anderes als<br />

Planwirtschaft auf der Ebene der Industriezweige vorstellen konnte. Reale Hintergründe für<br />

Rechtfertigung der Kartelle im allgemeinen war die Bewirtschaftung der Reparationen und für<br />

technologieorientierte Kartelle im besonderen der Kapitalmangel in den zwanziger Jahren. Über<br />

mögliche Nachteile der Kartelle war sich auch Schumpeter bewußt:<br />

"So groß die Bedeutung der Kartelle auch für die moderne Wirtschaft sein mag, so ist doch bei<br />

einer unentrinnbaren Kartellierung die Gefahr der wirtschaftlichen Versteinerung und<br />

Bürokratisierung nicht gering. Man sollte daher auf die in der Kündigungsmöglichkeit liegende<br />

potentielle Konkurrenz nicht ganz verzichten." Vorsitzender des Ausschusses: "Liegt nicht darin<br />

eine geistige Inkongruenz, <strong>das</strong>s man in der Zeit eines auch staatlich geforderten Kollektivismus ein<br />

liberalistisches Element in Form individualistischer Konkurrenz einschaltet?" Sachverständiger Dr.<br />

Schumpeter: "Liberalistisch wäre ein aktives Vorgehen gegen die Kartelle....Die geistige<br />

Inkongruenz ist in einer von Widersprüchen erfüllten und alle Zeichen einer Umbildungsperiode<br />

tragenden Zeit vermutlich <strong>das</strong> Charakteristikum einer richtigen Politik." 355<br />

Leider war diese Inkongruenz wie man heute weiß, <strong>das</strong> Charakteristikum einer falschen Politik. Von<br />

der Umbildungsperiode hatte der Sachverständige Dr. Schumpeter weitere zwei Jahre später die<br />

Nase voll, er folgte im September 1932 einem Ruf an die Harvard University und besuchte<br />

Deutschland fürderhin als Tourist.<br />

In den dreißiger Jahren entwickelten einige wenige deutsche Wirtschaftswissenschaftler eine neue<br />

ordoliberale Wirtschaftstheorie, in der der Staat die Rahmenbedingungen schaffen sollte, in deren<br />

Bahnen sich die wirtschaftlichen Abläufe bewegen. Dazu war jedoch die Ablösung des<br />

korporatistischen Paradigmas erforderlich. Soweit war es in den zwanziger Jahren noch nicht, wie<br />

man an den Ausführungen Schumperters im Ausschuß sieht. Die Spielregeln der kartellierten<br />

Wirtschaft wurden noch nicht wirklich auf die Probe gestellt. Während Schumperter an der<br />

Notwendigkeit von Kartellen letztlich einräumte, werkelte Werner Sombart an seinem „Deutschen<br />

Sozialismus“.<br />

Die ganze zeitgenössische Wirtschaftswissenschaft widerkäute <strong>das</strong> korporatistische Hexeneinmaleins:<br />

Robert Liefmann schrieb in „Kartelle und Trusts und die Weiterentwicklung der volkswirtschaftlichen<br />

Organisation“:<br />

„Die Kartelle sind ja nichts wirklich von den Unternehmen Geschaffenes, sondern sie und ihre<br />

Weiterbildungen sind notwendige Ergebnisse unserer ganzen wirtschaftlichen Entwicklung; wir<br />

könne sie auch gar nicht mehr entbehren, und ihre Unterdrückung, wenn überhaupt möglich, wäre<br />

ein Verzicht auf den wirtschaftlichen Fortschritt, der wie wir sahen, durch sie gefördert wird.“<br />

Der Nationalökonom Moritz Julius Bonn wurde mit folgender Wertung aus dem Jahre 1932 im<br />

Standardwerk „Die Republik von Weimar“ Bd. 2 zitiert:<br />

355 Vernehmung zur Kartellpolitik: www.schumpeter.info/Edition-Kartell%20.htm<br />

273


„Durch seine eigenartige Sozialgeschichte ist Deutschland zum Land der großen<br />

Organisationsmöglichkeiten, nicht der großen Organisatoren, gewissermaßen vorherbestimmt<br />

worden. Der einzelne Deutsche kann zwar nicht besser und geschickter organisieren als die<br />

Angehörigen anderer Staaten, obwohl man sich <strong>das</strong> gerne einbildet; <strong>das</strong> deutsche Volk hat aber<br />

vor anderen Völkern die Fähigkeit zum Organisiertwerden voraus. Es legt auf die äußere Freiheit<br />

seines Handelns keinen großen Wert und meidet den Zwang nicht, solange es im Denken sich<br />

keine großen Schranken zu setzen bracht. Nur in Deutschland verliert der einzelne, wenn er<br />

gezwungen wird und den Zwang empfindet, nicht die Lust zur Initiative. Im Gegenteil.<br />

Gezwungenwerden erlöst breite Schichten von Verantwortung und ermöglicht ihnen, mit ganzer<br />

Kraft den von anderen gesteckten Zielen entgegenzustreben. Es ist ein eigenartig starrer,<br />

autoritativer Kapitalismus entstanden, dem die Ordnung die Freiheit ersetzt, dem <strong>das</strong> Monopol<br />

natürlicher erscheint, als der freie Wettbewerb, der nur in Substanzen und nicht in<br />

Wertvorstellungen zu denken pflegt und dem überhaupt viele Elemente fehlen, die man anderswo<br />

als Elemente des Kapitalismus betrachtet.“<br />

Der Ökonom Eugen Schmalenbach ging 1928 davon aus, <strong>das</strong>s sich die deutsche Wirtschaft in einen<br />

zunftähnlichen Zustand entwickeln werde und Walther Rathenau plädierte für staatlich überwachte<br />

Berufsverbände, die ein halböffentliches Supermonopol bilden sollten. 356<br />

Das von Moritz Bonn erwähnte Denken in Substanzen bedeutete, <strong>das</strong>s man Begriffe wie<br />

Produktionsmittel, Geld, Gewinn, Zins, Kapital wohl kannte und benutzte; die zugehörigen<br />

Wertvorstellungen, die die Produktionsverhältnisse betrafen und sich in Begriffen wie Vertragsfreiheit,<br />

Wettbewerb, wirtschaftliche Freiheit, individuelle Entscheidung spiegelten, blieben der<br />

Wirtschaftswissenschaft und der Diskussion des Fachpublikums verschlossen wie ein<br />

Dornröschenschloß. Die Deutschen hatten sich Geld und Kapital sowie die Maschinerie nutzbar<br />

gemacht, ohne den zugehörigen Geist der Freiheit zu akzeptieren. Ein Buchtitel von Bonn aus dem<br />

Jahre 1927 heißt bezeichnenderweise: „Geld und Geist. Vom Wesen und Werden der amerikanischen<br />

Welt“. Auch Moritz Bonn verließ Deutschland 1933, allerdings im Unterschied zu Schumpeter nicht<br />

ganz freiwillig.<br />

Die Kartellpolitik Deutschlands war im internationalen Vergleich besonders zahnlos. Zwar war im<br />

November 1923 eine Kartellverordnung erlassen worden. Sie wurde jedoch nur sehr restriktiv<br />

angewendet. In anderen Industrienationen wurde die Vertrustung und Kartellierung mehr oder weniger<br />

behindert, in Deutschland eher nicht. 357 Die Vernehmung von Dr. Schumpeter wirft ein erhellendes<br />

Licht auf diesen Sachverhalt.<br />

Die tatsächliche Kartellierungsquote, der Anteil der von den Kartellen kontrollierten Produkte betrug<br />

um 1925 etwa 50 %. Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat kontrollierte 78 % der deutschen<br />

Steinkohlenproduktion, weitere 23 % der Ruhrkohlenproduktion wurden von den Vereinigten<br />

Stahlwerken kontrolliert. 1924 entstand die "Rohstahlgemeinschaft" als Nachfolgerin des<br />

"Stahlwerksverbands". Das "Deutsche Stickstoff-Syndikat" der IG Farben beherrschte die<br />

Vermarktung von Stickstoff zu 100 %. Siemens und die AEG kooperierten in der Firma "Osram" und<br />

seit 1924 im "Phoebus-Lampenkartell". Die Marktmacht näherte sich in vielen Fällen dem Monopol.<br />

Ein kleines Machtkartell von Verbandsfunktionären, Ministerialbürokraten und Berufspolitikern konnte<br />

im Stil einer Privatregierung folgenreiche, da <strong>das</strong> gesamte Gemeinwesen bindende Entscheidungen<br />

treffen. 358 Und in diesem Machtkartell wurde die Macht nicht nach demokratischen Regeln im Lichte<br />

der Öffentlichkeit ausgeübt, sondern in Hinterzimmern wurde die autoritäre Herrschaft<br />

vorweggenommen. Wehler beklagt zu Recht, daß in dem Parlament vorgelagerten informellen<br />

Entscheidungsgremien die Regulierungskompetenz der Verfassungsorgane unterlaufen wurde. Keine<br />

politische Gruppierung (außer den Linkselitaristen, die die aufgezeigten demokratischen<br />

Legitimationsmängel noch radikal verstärken wollten) wollte aus dem korporatistischen und<br />

interventionistischen System, <strong>das</strong> in den späten 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren worden<br />

war und sich im Weltkrieg wie infektiöser Eiter in alle Blutgefäße der Wirtschaft ergossen hatte,<br />

ausbrechen und darum war es wie es war: die Wirtschaft hatte Strukturen, die zu einer<br />

parlamentarischen Republik nicht paßten, die die Agenten der demokratische Herrschaftsform zu<br />

356<br />

Martin Höpner: Sozialdemokratie, Gewerkschaften und organisierter Kapitalismus, MPlfG Discussion Paper<br />

04/10, S. 17ff.<br />

357<br />

M. Nußbaum: Wirtschaft und Staat in Deutschland während der Weimarer Republik, Akademie-Verlag, Berlin,<br />

1978, S. 137<br />

358<br />

H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, C. H. Beck, München 2003, S. 266 ff.<br />

274


diktatorischen Experimenten herausforderten. Die Wirtschaftspolitiker der Republik standen auf der<br />

Zinne der korporatistischen Wirtschaftszitadelle und wurden fast täglich vom korporatistischen Teufel<br />

versucht, der ihnen einen korporatistischen Staat einreden wollte. Wie lange würden sie der<br />

Überzeugungsmacht des Fürsten der ökonomischen Finsternis widerstehen können?<br />

Der neue Franke<br />

Wenn nun fast alles auf die Züchtung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> hinauslief; müsste da nicht auch der<br />

<strong>Neue</strong> Franke entstehen?<br />

Der neue Franke machte zeitlebens einen altfränkischen Eindruck; sein Vokabular beispielsweise<br />

enthielt seit langem nicht mehr gebräuchliche Worte wie „fürderhin“. Er war am 4.2.1897 in Fürth<br />

geboren worden und hörte auf den Namen Ludwig Erhard. Sein Vater stammte von einem Bauernhof<br />

in der Röhn, seine Mutter aus einer Handwerkerfamilie aus Rothenburg. Ludwig wuchs in<br />

kleinbürgerlich-ständischen und sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Er besuchte die kgl. bayrische<br />

Realschule bis zur 6. Klasse und machte anschliessend eine kaufmännische Lehre. Er gehörte zu<br />

jenen, die als Volksschulabsolventen diffamiert wurden, wenn sie in die Politik gingen. Als der Erste<br />

Weltkrieg ausbrach, meldete er sich nicht wie zahllose Gymnasiasten freiwillig, sondern wurde in die<br />

kgl. bayerische Armee eingezogen und diente dort ab 1916 als Kanonier. 1919 kehrte er schwer<br />

verwundet aus Rumänien zurück. Die Zeit seiner Genesung nützte er zur Aufnahme des Studiums an<br />

der neu gegründeten Handelshochschule in Nürnberg. Hier begann seine wissenschaftliche Karriere,<br />

wobei er sich schwerpunktmässig mit der Bedeutung des Marktes und der Nationalökonomie<br />

auseinandersetzte.<br />

Bei Prof. Franz Oppenheimer in Frankfurt hatte Erhard die Oppenheimersche Synthese von<br />

Sozialismus und Liberalismus kennengelernt:<br />

"Liberaler Sozialismus, <strong>das</strong> ist der Glaube an eine Wirtschaftsordnung, in der <strong>das</strong> wirtschaftliche<br />

Selbstinteresse seine Herrschaft bewahrt und sich in völlig freiem Wettbewerb durchsetzt. Und in<br />

der doch nur noch eine Art von Einkommen existiert, <strong>das</strong> Arbeitseinkommen, während<br />

Kapitalprofite und Grundrenten bis auf harmlose Splitter verschwunden sind. Eine Ordnung, in der<br />

also <strong>das</strong> wirtschaftlich - soziale Klassenverhältnis der kapitalistischen Wirtschaft nicht mehr<br />

besteht."<br />

An dieser Stelle ist es angebracht auf <strong>das</strong> Wirken von Franz Oppenheimer am Lehrstuhl für Soziologie<br />

und theoretische Nationalökonomie an der Frankfurter Uni von 1919 bis 1929 etwas näher<br />

hinzuweisen. Oppenheimer ging davon aus, <strong>das</strong>s sich die Qualität einer Theorie an der Wahrheit ihrer<br />

Prognosen bewiese. In seinem Roman „Sprung über ein Jahrhundert“, den er 1932 veröffentlichte,<br />

sah er für 2032 ein geeintes Europa, Bildtelefone in jedem Haushalt, die Atombombe und lautlose<br />

Elektrofahrzeuge voraus. Dazu gehörte im muffigen Weimarer Klima außergewöhnlicher Weitblick und<br />

ein gerüttelt Maß an Optimismus, <strong>das</strong> auf Oppenheimers fundierten Forschungen der zwanziger Jahre<br />

beruhte. Oppenheimer war also ein Ausnahmewissenschaftler, der über den völkischen,<br />

neokonservativen und stalinistischen Tellerrand sehen konnte und damit für Weimarer Verhältnisse<br />

einen gewissen Seltenheitswert hatte.<br />

Als alle teutonische Welt sich kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Theorien von neuen Eliten,<br />

Blutreinigung, Übermenschentum und Rassenüberlegenheit ergingen, brachte Franz Oppenheimer<br />

seine unzeitgemäße Schrift über die Demokratie auf den Büchermarkt. Seiner Auffassung nach war<br />

die Demokratie die Reaktion auf die Herrschaft Einzelner und ein grundsätzlich überlegenes System:<br />

„Nun, der Gegenbegriff gegen Demokratie ist Oligokratie, Herrschaft weniger über eine<br />

Gesamtheit. Unter ihren Begriff fällt die Herrschaft jeder Minderheit (es kann auch ein einzelner<br />

sein, dann ist es Monokratie), und zwar ist die rechtliche Verfassung überall von wenig Bedeutung.<br />

Ob die Monokratie patriarchalisches Fürstentum, absoluter Cäsarismus, Militärdespotie oder<br />

konstitutionell beschränkte Monarchie; ob die Oligokratie im engeren Sinne, als Herrschaft einer<br />

mehrköpfigen Minderheit, eine Blutsaristokratie oder eine Plutokratie oder eine Bureaukratie ist, ist<br />

ebenso gleichgültig für den Begriff wie die Tatsache, ob sie drückend oder milde, im Einklang oder<br />

im Gegensatz zu den Gesetzen und der Verfassung ausgeübt wird.<br />

In dieser weitesten Bedeutung des Wortes hat die Oligokratie in ihren verschiedenen Formen und<br />

mit ihrer verschiedenen faktischen und rechtlichen Begründung alle bisherige Menschheit und<br />

275


Menschheitsgeschichte beherrscht. Sie ist keine »Weltanschauung«, keine »Theorie«, kein<br />

»Ideal«, sondern eine ungeheure Tatsache.<br />

Und die »Demokratie« ist ursprünglich ebensowenig eine Weltanschauung, eine Theorie, ein Ideal,<br />

sondern sie ist nichts anderes, als die auf jene ungeheure Tatsache notwendig eintretende<br />

Reaktion, die sich je nach den Umständen verschieden äußert: kritisch als Weltanschauung,<br />

logisch als Theorie, ästimativ, vor dem Werturteil, als Ziel, praktisch als Politik der Reform oder der<br />

Revolution.“ 359<br />

Oppenheimer unterschied, um die Demokratie als politisches System und ihre wirtschaftlichen<br />

Grundlagen logisch zu scheiden, in ökonomische und politische Mittel:<br />

„Nun hat der Mensch zwei grundsätzlich entgegengesetzte Mittel, um sich die Güter zu beschaffen,<br />

deren er bedarf. Das eine Mittel ist die eigene Arbeit an der Natur und auf höherer Stufe der als<br />

äquivalent betrachtete Austausch seiner Arbeitserzeugnisse gegen Fremde. Weil es sich hier um<br />

die beiden Tätigkeiten handelt, die die Wirtschaftsgesellschaft begründen, habe ich dieses Mittel<br />

<strong>das</strong> »ökonomische Mittel« genannt.<br />

Das zweite Mittel, dessen sich der Mensch bedient, um sich die Güter zu beschaffen, ist die<br />

unentgoltene Aneignung durch Gewalt, und zwar durch körperliche Gewalt oder den Mißbrauch<br />

geistlicher Gewalt durch Patriarchen und Priesterschaften. Dieses Mittel habe ich als <strong>das</strong><br />

»politische Mittel« bezeichnet.“<br />

Um die Überlegenheit der Demokratie über ein autokratisches System zu illustrieren, verglich er<br />

entsprechend dem zeitgeist Russland und die Vereinigten Staaten, allerdings mit völlig umgekehrtem<br />

Ergebnis wie sein wissenschaftliches Umfeld:<br />

„Und vergleichen wir z. B. die heutigen Vereinigten Staaten mit dem heutigen Rußland. Wir haben<br />

zwei ungeheure Gebiete von fast gleicher Volkszahl und Ausdehnung, beide vom Polargebiet bis in<br />

die Subtropen erstreckt, beide mit den gleichen Naturschätzen: Eisen, Petroleum, Kohlen, Holz,<br />

Gold usw. verschwenderisch ausgestattet, beide mit natürlichen Binnenschiffahrtsstraßen,<br />

vermittelt durch ungeheure, meerähnliche Süßwasserseen, wie sie sonst kaum auf diesem<br />

Planeten zu finden sind: zwei Objekte, die ein spöttisch-wohltätiger Genius uns geradezu<br />

nebeneinandergestellt zu haben scheint, um sie zu vergleichen und aus dem Vergleich zu lernen,<br />

was Oligokratie und Demokratie leisten können. Denn unendlich hoch, von jedem Gesichtspunkte<br />

der Bewertung aus, in geistiger und materieller Kultur, in Reichtum und Macht, im Glück seiner<br />

Bevölkerung, steht die Demokratie der <strong>Neue</strong>n Welt über der Oligokratie der Alten, noch viel höher<br />

als <strong>das</strong> neue Frankreich über dem alten. Nichts spricht mehr dafür als die Grundstimmung der<br />

Bevölkerung: in Rußland dumpfe Verzweiflung, Lebensflucht, Mystik und religiöser Fanatismus, in<br />

Amerika ein überquellender Optimismus, helle Lebensbejahung, Feuer und Kraft. (...) Male man<br />

ihn (den amerikanischen Mammonismus) so schwarz, wie man will - und unsere oligokratischen<br />

Theoretiker haben für ihn zentnerweise schwarze Deckfarbe zur Verfügung, während sie die<br />

ungleich ärgere russische Mißwirtschaft rosa zu lasieren versuchen -, die Oligokratie ist allein<br />

schuld daran, die Demokratie ist unschuldig.“<br />

Hinsichtlich des notwendigen Kampfs zwischen Gut und Böse sah Franz Oppenheimer die gleiche<br />

Notwendigkeit, wie seine expressionistischen Gegner des idealistischen Deutschlands, allerdings mit<br />

unterschiedlicher Perspektive:<br />

„Wenn es in einer unvollkommenen Staatengesellschaft keinen vollkommenen Staat geben kann,<br />

so ist die Aufgabe der Demokratie klar vorgeschrieben: sie muß eine democratia militans werden,<br />

um die Welt und damit sich selbst auf die Dauer zu sanieren und zu sichern. Internationale<br />

politische Hygiene, <strong>das</strong> ist <strong>das</strong> Programm der nächsten Zukunft.“<br />

Diese antinietscheanistische Perspektive drückte Oppenheimer klar aus:<br />

„Niemand, er sei denn ein Kranker, wird jemals zu behaupten wagen, Raub und Ausbeutung,<br />

Schädigung und Unterdrückung seien an sich gut, seien an sich Recht, sondern er wird immer eine<br />

Entschuldigung vorbringen, wenn er dem Imperativ nicht gehorcht. Er wird bestreiten, daß die<br />

bemängelte Handlung dem Sittengesetz widerspreche, oder er wird, wie unsere Nietzscheaner und<br />

Sozialdarwinisten, behaupten, die Ausbeutung der Gegenwart sei eine bittere Notwendigkeit, ein<br />

notwendiges Opfer für <strong>das</strong> höhere Glück der Zukunft, etwa für die Erziehung des Übermenschen<br />

359 F. Oppenheimer: Demokratie in: Der Staatsbürger, München u. a., Bd. 5, 1914, S. 18-35 und 57-68<br />

276


oder die Vervollkommnung der Rasse; - oder er wird schließlich behaupten, es handle sich um die<br />

schmerzliche Wahl zwischen zwei Übeln, der Anarchie auf der einen und der Herrschaft mit all<br />

ihrer zugestandenen Ausbeutung und Unterdrückung auf der anderen Seite: aber niemand wird,<br />

wir wiederholen es, jemals zu behaupten wagen, die Ausbeutung sei an sich kein Übel, sondern<br />

ein Gut. Niemand wird es wagen, auch nicht der verbissenste Oligokrat und Legitimist. Und mehr<br />

brauchen wir nicht, um den Streitfall zu entscheiden, als diese sehr wider Willen erfolgende<br />

Zustimmung aller unserer möglichen Gegner zu unserem Prinzip. Sie können nicht bestreiten, daß<br />

die Oligokratie vor dem Sittengesetz unter allen Umständen ein Übel ist, und werden sich damit<br />

begnügen müssen, zu erklären, es sei leider ein notwendiges Übel.“ 360<br />

Ludwig Erhard sprach in einer Rede zum 100. Geburtstag von Franz Oppenheimer 1964 an der FU<br />

Berlin über seine Frankfurter Zeit bei Oppenheimer:<br />

„Die Fortsetzung des Studiums in Frankfurt lag mal durchaus im Fahrplan der Diplomkaufleute.<br />

Aber dort ereignete sich etwas Merkwürdiges. Dort herrschte bereits der Massenbetrieb unserer<br />

heutigen Universitäten. Gerade in meiner Disziplin gab es einige sehr gesuchte Professoren - über<br />

die ich gewiß kein nachträgliches Urteil fällen möchte. Das war eben so, daß, wer sein Examen<br />

leicht und schnell hinter sich bringen mochte, zu dem und jenem Lehrer ging; also habe auch ich<br />

mir Vorlesungen angehört - und war todunglücklich. Denn ich suchte wirklich Brot und fand meist<br />

nur Steine. Als es mir zuviel wurde, ging ich ins Dekanat, faßte mir ein Herz und fragte, ob und wo<br />

man denn hier Wissenschaft geboten bekäme. Man sagte mir etwa: < Ja, da ist schon einer da; er<br />

heißt Franz Oppenheimer, aber ich muß Ihnen gleich dazu sagen, daß Sie bei ihm nicht<br />

promovieren können. Das ist ein Außenseiter an unserer Universität; er hat auch eine ganz<br />

spezifische Lehre entwickelt, aber damit können Sie im Examen überhaupt nichts anfangen.> Ha,<br />

<strong>das</strong> war immerhin eine Empfehlung und Trost für meine dürstende Seele. So also begegnete ich<br />

Franz Oppenheimer und war vom ersten Augenblick an fasziniert. Ich besuchte seine Seminare<br />

dazu, ohne auch nur einmal zu fragen, wie es um eine spätere Promotion bestellt wäre.“<br />

In seiner Rede von 1964 ging Erhard auch darauf ein, <strong>das</strong>s er als Neoliberaler bezeichnet werden<br />

würde:<br />

„Es mag so geschehen; ich wehre mich gar nicht dagegen, denn Gelehrte, von Walter Eucken<br />

angefangen über Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow zu Hayek und Franz Böhm, um nur einige zu<br />

nennen, haben im tiefsten Grunde Oppenheimersches Gedankengut in sich aufgenommen und in<br />

unsere Gegenwart übersetzt, indem sie einen leidenschaftlichen Kampf gegen die<br />

Beschränkungen des Wettbewerbs und vor allen Dingen gegen Monopole führten. Sie zerstörten<br />

wie Oppenheimer den Optimismus sowohl der klassischen Lehre als auch des üblichen<br />

Liberalismus, daß die prästabilierte Harmonie ein Eigengewächs der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

wäre. Nein, wenn und wo nicht ein vollständiger Wettbewerb besteht, wo immer Konkurrenz durch<br />

faktische oder rechtliche Maßnahmen unterbunden, unterdrückt oder geschmälert wird, gibt es<br />

keine Freiheit - dort gibt es auch keine Gerechtigkeit. Ich habe es mir angewöhnt, <strong>das</strong> Wort<br />

Gerechtigkeit fast immer nur in Anführungszeichen auszusprechen, weil ich erfahren habe, daß mit<br />

keinem Wort mehr Mißbrauch getrieben wird als gerade mit diesem höchsten Wert.“ 361<br />

Seine Studien beendete Erhard 1925 mit der Arbeit „Wesen und Inhalt der Werteinheit“. Die 1929<br />

beginnende Weltwirtschaftskrise vernichte <strong>das</strong> väterliche Geschäft, in dem Erhard tätig gewesen war.<br />

1929-44 war Erhard am Institut für Wirtschaftsbeobachtung an der Handelshochschule Nürnberg als<br />

Assistent des Leiters Wilhelm Vershofen tätig. Sein Spezialgebiet war hier die Markt- und<br />

Absatzforschung. Mit seinem Chef war Erhard recht selten ein Herz und eine Seele. Aus der<br />

Marktforschung entwickelte sich für Ludwig Erhard langsam die Überzeugung, <strong>das</strong>s der Kunde über<br />

die Produktion bestimmen müsse, und nicht die Industrie.<br />

Während deutsche Wirtschaftsprofessoren in der Weimarer Republik unter Anleitung der Komintern<br />

die sowjetische Planwirtschaft studierten, in der die Bedürfnisse des Kunden nicht vorkamen; während<br />

der Gotha der deutschen Industriellen die Sowjetunion besuchte, um eine Wirtschaft mit<br />

Genickschussanlagen und Galgen, aber ohne Gewerkschaften zu besichtigen; während Adolf Hitler<br />

sich auf die Machtübernahme konzentrierte, gab es in der fränkischen Provinz einen noch<br />

unauffälligen, aber hoffnungsvollen jungen Mann, der sich in gebotener Seelenruhe darauf<br />

360 F. Oppenheimer: Demokratie in: Der Staatsbürger, München u. a., Bd. 5, 1914, S. 18-35 und 57-68<br />

361 Ludwig Erhard, Gedanken aus fünf Jahrzehnten, Reden und Schriften, hrsg. v. Karl Hohmann, Düsseldorf<br />

u. a. 1988, S. 858 ff<br />

277


vorbereitete, Deutschland 20 Jahre später noch gründlicher zu renovieren, als der Ausländer<br />

Napoleon <strong>das</strong> seinerzeit bewerkstelligt hatte.<br />

Die Führung des Unternehmens ist nicht mehr Privatsache des Unternehmers<br />

Wie wir bereits gesehen hatten, bestimmte die SPD bereits 1894 ihre Haltung zur zunehmenden<br />

Kartellierung der deutschen Wirtschaft. Die korporatistischen Strukturen seien dem Erreichen des<br />

Sozialismus eher förderlich, so lautete die grundfalsche Grundüberzeugung.<br />

1924 errichtete Mussolini eine korporatistisch fundamentierte Diktatur und auch die NSDAP hatte im<br />

Punkt 25 ihres Programms die Zielvorstellung einer berufsständisch organisierten Gesellschaft<br />

geäußert. Diese Affinität hätte die SPD zu einer Überarbeitung ihrer Haltung zum Korporatismus<br />

motivieren können. Diese Überarbeitung erfolgte auch, allerdings erst Ende der 40er Jahre, nachdem<br />

der Korporatismus in seiner extremsten Ausprägung in Italien und Deutschland buchstäblich<br />

abgewirtschaftet hatte.<br />

In den zwanziger und dreißiger Jahren blieben SPD und Gewerkschaften im staatsmonopolistischen<br />

Denken verhaftet. Die beiden tonangebenden Theoretiker dieser Richtung waren Rudolf Hilferding<br />

und Fritz Naphtali.<br />

„Durch Übernahme zentraler Positionen Bernsteins reformulierte Hilferding in der Weimarer<br />

Republik seine Theorie dahingehend, <strong>das</strong>s der organisierte Kapitalismus nicht nur die reifste<br />

kapitalistische Spielart war, sondern auch die krisenfestere, planerischere und politisierbarere –<br />

kurz, <strong>das</strong>s er nicht nur ein sozialistisches Potential, sondern tatsächlich bereits sozialistische<br />

Elemente in sich trug und deshalb einen evolutionären, stetigen Übergang zum Sozialismus, auf<br />

dem Weg fortschreitender Konzentration, Organisation und Planung erlaubte.“ 362<br />

Die Grundsatzkommission des ADGB um Fritz Naphtali ließ 1928 verlauten:<br />

„Wir glauben, <strong>das</strong>s von dieser Entwicklung zum organisierten Kapitalismus in letzter Linie ein<br />

großer Antrieb der Entwicklung zur Demokratisierung der Wirtschaft ausgehen wird und bereits<br />

auszugehen beginnt.“<br />

Auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927 referierte Hilferding:<br />

„Wir haben heute alle <strong>das</strong> Gefühl, <strong>das</strong>s auch der Privatbetrieb, die Wirtschaftsführung des<br />

einzelnen Unternehmers aufgehört hat, Privatsache dieses Unternehmers zu sein. ...Führung des<br />

Unternehmens ist nicht mehr Privatsache des Unternehmers, sondern gesellschaftliche<br />

Angelegenheit.“<br />

1926 verkündete Hilferding im Reichstag:<br />

„Weil dem Kapitalismus der Sozialismus immanent ist, weil die Organisation, die der Kapitalismus<br />

in der Wirtschaft schafft, schließlich in die demokratische Kontrolle dieser Wirtschaft durch die<br />

große Masse der Produzenten wird umschlagen müssen, gerade deshalb sagen wir: ... Wir treten<br />

ein für eine Staatsmacht, die diese gesellschaftliche Kontrolle vorbereitet und erweitert...“<br />

Ebenfalls 1926 war in einer Entschließung des Reichsbeirats der Betriebsräte des Deutschen<br />

Metallarbeiter-Verbands zu lesen:<br />

„Der Zusammenschluß der Industrie zu Trustgebilden und die Ausdehnung von Kartellen und<br />

ähnlichen Organisationen, die im Rahmen der Volkswirtschaft oder international eine<br />

monopolistische Beherrschung des Marktes erstreben, wird von der Arbeiterschaft als der<br />

Ausdruck einer Entwicklung des Hochkapitalismus erkannt, in der erste Ansätze zur Überwindung<br />

der Produktionsanarchie durch eine geregelte Wirtschaft sichtbar werden.“<br />

362 Martin Höpner: Sozialdemokratie, Gewerkschaften und organisierter Kapitalismus, MPlfG<br />

Discussion Paper 04/10, S. 14. Aus dieser Arbeit wurden alle Ziatate dieses Abschnitts übernommen.<br />

278


Der Kapitalismus könne, bevor er gebrochen wird, gebogen werden, meinte Fritz Naphtali 1928. Viele<br />

Gewerkschafter und Sozialdemokraten bogen sich ihre kleine sozialistische Welt zurecht, bevor sie als<br />

Organisation oder Partei gebrochen wurden.<br />

Ende 1929 war die ideologische Seifenblase von der Krisenfestigkeit des korporatistischen<br />

Wirtschaftsmodells durch den Beginn der Weltwirtschaftskrise zerplatzt. Die Zunftstrukturen waren so<br />

fragil, ja eigentlich noch anfälliger als andernorts Wettbewerbssysteme. Noch vier Jahre später war<br />

klar, <strong>das</strong>s auf die Entmündigung der Kapitalisten durch allmächtige Kartellorganisationen die<br />

Entmündigung der Bürger durch den allmächtigen Staat mit jener Naturgesetzlichkeit folgte, wie im<br />

Gewitter der Knall auf den Blitz folgt.<br />

Verteilung der Kriegslasten und Kapitalmangel<br />

Durch die ganze Weimarer Republik zog sich der Jammergesang über den Kapitalmangel.<br />

Exemplarisch sei hier eine Denkschrift des Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom 2.<br />

Dezember 1929 wiedergegeben, soweit es sich um <strong>das</strong> Thema des Kapitalmangels handelte:<br />

Leitsätze für die Umstellung der deutschen Wirtschaftspolitik.<br />

A. Kapitalbildung.<br />

1. Ausgangspunkt für alle Maßnahmen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist unter den<br />

für die deutsche Wirtschaft gegebenen Umständen die Förderung der Kapitalbildung. Sie ist<br />

die Voraussetzung für die Steigerung der Produktion und liegt daher im Interesse aller<br />

Schichten des deutschen Volkes.<br />

2. Die verschiedenen Möglichkeiten der Kapitalbildung müssen nach ihrem<br />

volkswirtschaftlichen Nutzen abgewogen werden. Die Beantwortung der Frage, wo am<br />

zweckmäßigsten Kapital zu bilden und wie es zu verwenden ist, hat auf Jahre hinaus<br />

entscheidende Bedeutung.<br />

3. Um größtmögliche Wirtschaftlichkeit zu erzielen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und den<br />

Lebensbedarf der breiten Massen zu befriedigen, muss vor allem die Kapitalbildung<br />

gefördert werden, die auf kürzestem und sicherstem Wege <strong>das</strong> neu gebildete Kapital der<br />

Produktion zuführt.<br />

4. Die Unternehmungen müssen über die Sicherung der Rentabilität hinaus Eigenkapital<br />

bilden können.<br />

5. Die deutsche Wirtschaft muss von allen unwirtschaftlichen Hemmungen befreit werden. Die<br />

Vorbelastung der Produktion durch Steuern ist auf <strong>das</strong> unumgänglich notwendige Maß<br />

zurückzudämmen.<br />

Tatsächlich waren Industrie und Banken zunehmend von ausländischen Krediten abhängig. Die<br />

Problematik der Verschuldung der deutschen Wirtschaft hing eng mit dem Problem der Arbeitskosten<br />

und mit der wachsenden Arbeitslosigkeit zusammen, bis zu einem gewissen Grade auch mit der<br />

Reparationsproblematik. Die deutsche Wirtschaft, egal ob es sich um die Industrie oder die<br />

Landwirtschaft handelte, war nach dem ersten Weltkrieg ausgelaugt. Am bildlichsten zeigte sich <strong>das</strong><br />

am Zustand der Böden, die im Weltkrieg kaum gedüngt worden waren, und wo die Folgeschäden in<br />

Form geringer Hektarerträge bis in die 30er Jahre zu beobachten waren. Ebenso war auch in der<br />

Industrie ein Investitionsstau entstanden. Nach dem Krieg mußten Millionen von Frontrückkehrern in<br />

den Arbeitsmarkt integriert werden, gleichzeitig standen die starken Alterskohorten der Jahrgänge<br />

1900 bis 1915 vor den Toren der Werkstätten, Fabriken und Kontore, um eine Ausbildung zu<br />

beginnen. Es wurden Modernisierungs- und Erweiterungsinvestitionen und der Ersatz verschobener<br />

Instandhaltung benötigt. Es wäre eigentlich <strong>das</strong> Ansparen von Eigenkapital nötig gewesen, um alle die<br />

genannten Kriegsfolgen zu beseitigen und die Vorkriegsproportionen der Wirtschaft zu erreichen.<br />

Viele Geldvermögen waren jedoch in Kriegsanleihen geflossen, und der Krieg war verloren, <strong>das</strong><br />

flüssige Kapital im Reich war von den Expressionisten im wahrsten Sinne des Wortes verpulvert<br />

worden.<br />

"Den Tag festlich zu begehen, verbietet die sorgenschwere Gegenwart, die unsere Gemüter bedrückt<br />

und eine freudige Stimmung nicht aufkommen läßt." So schrieb der Vorstand der Deutschen Bank im<br />

279


Vorwort eines dünnen und äußerst schlichten "Gedenkblattes" zum 50jährigen Jubiläum am 9. April<br />

1920.<br />

Ein ungünstiger Begleitumstand der Restrukturierung nach dem Weltkrieg waren natürlich die<br />

aufgelaufenen Staatsschulden des Reichs, die Zins und Tilgung verlangten, ein anderer die zu<br />

bedienenden Reparationen und Besatzungskosten. Weitere Zusatzkosten verursachten die vielen<br />

Invaliden, Witwen und Waisen des Weltkriegs und Aussiedler aus den verlorengegangenen Gebieten.<br />

Dazu kamen zeitweise die Kosten des Ruhrkampfabenteuers. Alle diese Kosten mußten aus dem<br />

Bruttosozialprodukt erwirtschaftet werden, <strong>das</strong> zunächst niedriger war, als 1913.<br />

Nun mußten aus dem Bruttosozialprodukt nicht nur Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Industrie,<br />

sondern auch in allen anderen Wirtschaftszweigen, also der Landwirtschaft, Handel, Verkehr,<br />

Handwerk und Dienstleistungen befriedigt werden. Daneben alle selbstarbeitenden Landwirte,<br />

Kleinhandwerker und Freiberufler, die Angestellten und Beamten des Reichs, der Länder und der<br />

Kommunen.<br />

Der seit 1913 geschrumpfte Kuchen mußte nach dem Kriege neu verteilt werden. Eine Möglichkeit<br />

wäre natürlich gewesen, die Kriegslasten gleichmäßig auf alle Schultern zu verteilen, also alle<br />

Einkommen gleichmäßig zu verringern. Diese Option bestand angesichts der gewerkschaftlichen<br />

Offensive am Ende des Weltkriegs nicht: Die Arbeiter hatten den Krieg nicht begonnen und nicht<br />

gewollt, und sie wollten mit seinen Folgekosten nichts zu tun haben. Eine andere Möglichkeit wäre<br />

gewesen, die Lasten vor allem den Kriegstreibern, also den Intellektuellen und dem Adel aufzubürden.<br />

Insbesondere Arbeiter, Landwirte und Gewerbetreibende hätten in diesem Fall von den Kosten<br />

freigestellt werden müssen. Eine dritte Möglichkeit wurde schließlich gewählt, nämlich die, die Lasten<br />

nach der Stärke der Interessenvertretungen der jeweiligen Interessengruppe zu zerteilen. Die<br />

dominierende Interessenvertretung waren die Gewerkschaften. Die Löhne hatten vor allem in den<br />

durch Tarifverträge geregelten Bereichen die Vorfahrt vor den Gewinnen. Den Landwirten wurden,<br />

während die Löhne der Arbeiter und Angestellten stiegen, gleichzeitig Ablieferungen zu niedrigen<br />

Festpreisen zugemutet. Handwerkliche Einkünfte mußte der Markt regeln, und Beamte hatten<br />

erheblich niedrigere Einkünfte als vor dem Krieg.<br />

Kriegsgewinner (nicht Kriegsgewinnler) waren Arbeiter und Angestellte in planwirtschaftlich geregelten<br />

Wirtschaftsbereichen, aber auch nur in diesen. Alle anderen, also auch die Arbeiter im Kleingewerbe<br />

und auf dem Lande, waren mehr oder weniger die Verlierer, die den Krieg bezahlen mußten. Nicht alle<br />

fanden sich damit ab. Die SPD und die Gewerkschaften wurden insbesondere von den Landwirten als<br />

Egomanen angesehen, aber auch <strong>das</strong> Bildungsbürgertum, der Adel und die Gewerbetreibenden<br />

sahen mit Neid auf die Wendegewinner.<br />

Die Novemberrevolution hatte die Rechte der Arbeiter erweitert. Der Achtstundentag und <strong>das</strong><br />

Tarifrecht führten zu einer Erhöhung der Tariflöhne pro Arbeitseinheit gegenüber dem Vorkriegsjahr<br />

1913. Auch die Inflation änderte daran nichts, ja im Gegenteil ermöglichte sie erst die<br />

Aufrechterhaltung eines durch die Fundamentaldaten der Wirtschaft und die Schuldenuhr des Reichs<br />

nicht gerechtfertigten Lohnniveaus. Nur in der allerletzten Phase der Inflation in der zweiten<br />

Jahreshälfte 1923 kam es zu einer Verringerung der Reallöhne. Die Löhne stiegen in den meisten<br />

Perioden der Republik, einschließlich der Weltwirtschaftskrise schneller, als <strong>das</strong> Bruttosozialprodukt.<br />

Für viele Produktionszweige, die den inneren Markt belieferten, hatte <strong>das</strong> über längere Zeit auch<br />

positive Auswirkungen. Die Lohnquote als Indikator der Teilhabe der Arbeiter und Angestellten am<br />

Sozialprodukt stieg von 1913 bis 1929 von 46,4 % auf ganz ungewöhnliche 59,8 % an. 363<br />

Der Umgang der republikanischen Wirtschaftspolitiker mit der Problematik des gesamtwirtschaftlichen<br />

Gleichgewichts läßt sich in drei Perioden einteilen: bis 1923 wurden alle Probleme mit der<br />

Notenpresse geglättet, von 1924 bis 1929 mit ausländischen Krediten glattgestellt und von 1930 an<br />

stand die Politik vor dem Hintergrund ausbleibender ausländischer Kredite vor der Entscheidung,<br />

wieder an der Inflationsschraube zu drehen. Bei einer Option für die erneute Inflation mußte natürlich<br />

auch die Frage beantwortet werden: Wer sollte dieses Mal um sein Geldvermögen betrogen werden,<br />

war überhaupt genug inländisches davon vorhanden? Und war <strong>das</strong> ausländische dumm genug, sich<br />

ein zweites Mal verbrennen zu lassen?<br />

Die Konstante in allen drei genannten Perioden der Geldpolitik war die zu geringe Akkumulation von<br />

Kapital. Gemessen an der Produktionskraft war <strong>das</strong> Eigenkapital zu gering, so <strong>das</strong>s kleine<br />

363 H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C. H. Beck, München 2003, S. 315<br />

280


wirtschaftliche Störungen relativ große Krisenwirkungen zeitigten. Wie es der Industrie, dem<br />

Handwerk und der Landwirtschaft ging, so ging es auch den Banken: Auch hier war gemessen an den<br />

ausgereichten Krediten <strong>das</strong> deckende Eigenkapital viel zu gering.<br />

Die Gewinner der Inflation von 1919 bis 1923 waren alle jene, die Schulden hatten: <strong>das</strong> waren vor<br />

allem <strong>das</strong> Reich, die Kommunen und die Landwirte. Weiterhin die Arbeiterklasse, die Löhne erzielen<br />

konnte, die nicht mit der Wirtschaftsleistung zu begründen waren. Verlierer waren in- und<br />

ausländische Kreditgeber und Besitzer von Geldvermögen. Unter den deutschen Besitzern von<br />

vernichtetem Geldvermögen waren besonders viele Bildungsbürger, die ihre Ersparnisse in mehr oder<br />

weniger flüssiger Form thesaurierten und die naturgemäß weniger unbewegliches Anlagevermögen<br />

hatten, als Landwirte, Industrielle oder Handwerker. Die Besitzer von Geldvermögen waren in der<br />

Regel schon durch die neue Verteilung des BSP zurückgesetzt, durch die Inflation wurden sie ein<br />

zweites Mal zur Kasse gebeten. Da die Betroffenen meist zu den Kriegstreibern gehörten, war es zwar<br />

moralisch gerechtfertigt, sie um ihr Vermögen zu erleichtern, ob es jedoch auch clever war, ist eine<br />

andere Frage. Viele Multiplikatoren der gedruckten und gesprochenen Meinung gehörten der Schicht<br />

der um ihr Vermögen Gebrachten an und waren bis zum bitteren Ende erklärte Feinde der Republik<br />

und insbesondere der SPD.<br />

Nach 1923 blieb <strong>das</strong> Problem der Modernisierungsinvestitionen auf der Tagesordnung. Sie wurden<br />

notgedrungen weniger aus Gewinnen, mehr jedoch mit Fremdmitteln finanziert, und <strong>das</strong> zu relativ<br />

hohen Zinsen. Nicht nur die Industrie, auch <strong>das</strong> zwischen der Industrie und den Geldgebern<br />

vermittelnde Kreditwesen hatte nicht die erforderlichen Eigenmittel, um die Kreditrisiken abzusichern.<br />

Im Gefolge des Eigenkapitalmangels litt die Investitionsqoute.<br />

Verlierer der neuen Zeit waren auch die Vermieter. Hatten die Ausgaben eines Arbeiterhaushalts für<br />

Mieten 1913 noch 20 % betragen, so fielen diese Ausgaben auf ca. 2 %. Bedingt war dieser<br />

Rückgang der Mieteinnahmen durch <strong>das</strong> neue Mietrecht und die Wohnraumbewirtschaftung. Der<br />

Mietwohnungsneubau musste zunehmend durch Kommunen organisiert werden, private Bauherren<br />

bauten in geringerem Umfang als vor dem Kriege, und wenn dann selbstgenutzte Immobilien. Der<br />

Mietwohnungsneubau von privaten Bauherren kam völlig zum Erliegen.<br />

Eine weitere Neuigkeit im Gefolge der Änderung der Spielregeln war die dauernde<br />

Massenarbeitslosigkeit. Bis 1913 hatte die Arbeitslosenquote sich unter 3 % bewegt, wobei<br />

Langzeitarbeitslosigkeit noch unbekannt war. Im Gefolge der wirtschaftlichen Verwerfungen und<br />

gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichte der zwanziger Jahre kam <strong>das</strong> Gleichgewicht zwischen<br />

Löhnen, konsumtiven Ausgaben des Staats und Investitionen in eine Schieflage. Nur ein Beispiel<br />

dafür ist die Entwicklung während der Weltwirtschaftskrise: Verglichen mit 1928 sank die<br />

Industrieproduktion bis 1932 auf 58 %, während <strong>das</strong> Lohn- und Gehaltseinkommen sich nur auf 62 %<br />

verringerte. Das einzige Ventil für <strong>das</strong> Ungleichgewicht der ökonomischen Drücke im dampfenden<br />

Weimarer Wirtschaftskessel war die Arbeitslosenquote, die von 16,2 % im Jahr 1923, 13,1 % in 1924,<br />

8,7 % 1925, 16,7 % 1926, 7,3 % 1927, 7,1 % 1928 und 7,9 % 1929 auf ca. 30 % im Jahr 1932<br />

anstieg. Die Arbeitslosenquote hätte den Verantwortlichen signalisieren müssen: hier ist etwas nicht in<br />

Ordnung, hier müssen die Verantwortlichen, nämlich alle drei Agenten des tripartistischen Systems<br />

aus Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden auf Vordermann gebracht werden.<br />

<strong>Neue</strong> Sachlichkeit<br />

Der Umzug des Bauhauses nach Dessau fällt zeitlich mit dem Übergang vom Expressionismus zur<br />

<strong>Neue</strong>n Sachlichkeit zusammen. Hatte man in Weimar noch erwartet, daß Industrie und Handwerk auf<br />

den Knien zur Künstlerschaft rutschen würden, um die durchgeistigte Form ehrfürchtig<br />

entgegenzunehmen, so suchte man in Dessau erstmalig nach partnerschaftlichen Beziehungen zur<br />

Industrie. 364 Die nüchterne Glasfassade des neuen Bauhauses zeigt <strong>das</strong>. Der Entwurf von Walter<br />

Gropius war funktionalistisch. Das Skelett der innen liegenden Konstruktion ermöglichte die<br />

nichttragende umlaufende Glasfassade.<br />

In der Architektur und Innenarchitektur kam es schrittweise zu einem nüchternen und pragmatischen<br />

Herangehen an die Bedürfnisse der Industriegesellschaft. Auch die Malerei wurde in der zweiten<br />

Hälfte der Zwanziger gegenständlicher. Die grellen Farben der Nachkriegszeit, <strong>das</strong> abstrakte<br />

364 Achim Preiss: Abschied, VDG, S. 145<br />

281


Durcheinander von Dreiecken, Zahnrädern und Gestirnen traten zurück und machten einer<br />

detaillierteren Darstellung der Wirklichkeit Platz.<br />

Der spekulative Charakter der Lyrik als Schwimmen und Versinken in der Natur und in subjektiven<br />

Stimmungen verschwand. Die Lyrik der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit verstand sich als Naturbeschreibung.<br />

Das epische Theater, als Beispiel die "Dreigroschenoper" kritisierte die Gesellschaft nicht mehr in<br />

unverständlichen Metaphern, sondern in für <strong>das</strong> breite Publikum verständlicher Form, wenn auch mit<br />

fragwürdigen Inhalten. Über den Wert der Lehrstücke als Lehrstücke kann man geteilter Meinung sein,<br />

denn zur Empirie gehört eben auch der Irrtum. Die Lehrstücke könnten von Nietzscheanern als<br />

Beweis gewertet werden, daß die Welt nicht erkennbar ist, da die Lehren der Lehrstücke elitaristische<br />

Irrlehren sind. Allein der Glaube an eine wie immer geartete Wahrheit und die Annahme von<br />

Erkennbarkeit gesellschaftlicher Phänomene war jedoch ein kleiner Fortschritt.<br />

Die Darreichungsform des neuen Theaters war nüchtern, modern und auf eine rationale<br />

Wahrnehmung ausgerichtet. Der Erfolg der Dreigroschenoper als Kassenreißer war eigentlich<br />

unbeabsichtigt, wollte Brecht doch provozieren statt zu amüsieren. Das Publikum schien auf <strong>das</strong><br />

epische Theater zu warten, es amüsierte sich über <strong>das</strong> Spruchband "Glotzt nicht so romantisch", es<br />

erfreute sich an der neuen Form. Das Lehrstück geht prinzipiell von der Erkennbarkeit der Welt aus,<br />

Analyse, Synthese, Lehre, <strong>das</strong> sind Begriffe, die sich vor allem gegen die verschwommenen und<br />

verwaberten Ismen und gegen Nietzsches Verdikt über die Wissenschaft richteten. Es schien so, als<br />

wären die Rationalität, die Erklärbarkeit, die Erkennbarkeit und der Pragmatismus auf dem Vormarsch.<br />

Der Irrationalismus Nietzsches hatte ein gutes Jahrzehnt ge<strong>braucht</strong>, um Deutschland und Europa zu<br />

infizieren, zu reformieren und zu verderben. Um 1925 begann der steinige, mißverständliche,<br />

ungleichmäßige und widersprüchliche Weg zurück zur Rationalität. Dieser Weg setzte nicht da an, wo<br />

er geendet hatte, wo er abgebrochen worden war. Widersprüchlich war der Rückweg zur Vernunft vor<br />

allem deshalb, weil er auch und zunächst gerade von den Verkündern von Heilslehren und<br />

Erlösungssystemen beschritten wurde.<br />

Die lange verdrängte Rationalität betrat die Bühne in Brecht´s Lehrstücken als allerbilligste<br />

stalinistische Parteipropaganda. Bertold Brecht machte aus dem epischen Theater eine Plattform der<br />

kommunistischen Agitation und Adolf Hitler forderte in einem Brief an Adolf Gemlich, daß der<br />

Antisemitismus als politische Bewegung nicht durch Momente des Gefühls, sondern durch die<br />

Erkenntnis von Tatsachen bestimmt werden müsse. Die Wiedergeburt der formalen Rationalität<br />

erfolgte so plötzlich, daß der Geist der Rationalität sich nicht im selben Tempo generieren konnte, wie<br />

dessen Form. Die gegenständliche Form wurde so zur Hülle des Irrationalen.<br />

Fast alle Künstler der Sachlichkeit waren Ästhetizisten oder Elitaristen und übersetzten Nietzsche ins<br />

Gegenständliche. Es fällt schwer eine poltische Grundrichtung der neuen Sachlichkeit zu erkennen:<br />

sie wird in der Kunstgeschichte gern in einer Affinität zur Sozialdemokratie gesehen; blos warum gab<br />

es dann so viele malende Kommunisten und Nationalsozialisten?<br />

Vor und verstärkt nach 1933 verließen viele Künstler Deutschland, aber der Stil der <strong>Neue</strong>n<br />

Sachlichkeit überlebte auf die eine oder andere Weise. In der Architektur beispielsweise zog sich der<br />

Funktionalismus unter Ziegeldächer zurück. Ein Beispiel unter vielen ist <strong>das</strong> Haus Mohrmann von<br />

Hans Scharoun, <strong>das</strong> 1939 in Berlin errichtet wurde. Die Nationalsozialisten hatten im Gegensatz zu<br />

den künstlerischen Strömungen um den Ersten Weltkrieg zur <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit ein entspanntes<br />

Verhältnis. Der Volks-Brockhaus von 1936 referierte: "<strong>Neue</strong> Sachlichkeit, Schlagwort für die<br />

Kunstrichtung der jüngsten Zeit, besonders in Bezug auf Häuser und Wohnräume: Verzicht auf<br />

äußeren Prunk und unechte Behaglichkeit zugunsten einer bis ins letzte durchdachten<br />

Zweckmäßigkeit." Die Nationalsozialisten eigneten sich die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit so an, wie <strong>das</strong> Lied von<br />

der Loreley: ohne Angabe des Verfassers als Volkskunst. Gelegentliche Ausfälle von Frick oder Hitler<br />

gegen die Sachlichkeit bezogen sich weniger auf Formfragen, als auf die künstlerische Haltung, die<br />

nicht engagiert genug, eben zu distanziert, zu sachlich erschien.<br />

Barthel Gilles malte 1930 "Ruhrkampf". Gilles Bild nahm Bezug auf die Kämpfe der roten Ruhrarmee<br />

1923. Gilles kam vom Expressionismus, trat 1929 in die KPD und die nach Moskauer Vorbild<br />

gegründete kommunistische Künstlervereinigung ASSO ein. Bereits 1933 stellte er in der Ausstellung<br />

"Gesunde Frau, Gesundes Volk" aus. Es folgten regelmäßige Ausstellungen der "Deutschen<br />

Arbeitsfront, NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude." Viele seiner Arbeiten wurden 1943 durch einen<br />

Bombenangriff vernichtet. "Entartete Kunst" war nicht sein Ding.<br />

282


Albert Heinrich, Georg Siebert, Werner Peiner, Barthel Gilles und Bernhard Dörries machten<br />

nationalsozialistische Karriere, Alexander Kanoldt, Richard Gessner, Wilhelm Heise, Walter Schulz-<br />

Mathan, Franz Radziwill und Georg Schrimpf arrangierten sich zumindest zeitweilig mit den Machern<br />

des Schönheitsstaates, alle Juden und die nicht zum Nationalsozialismus konvertierten Stalinisten<br />

waren und blieben jedoch Unpersonen, deren Werke als entartet abgestempelt wurden. Die<br />

Nationalsozialisten machten ihre Akzeptanz von Kunstrichtungen oft per se davon abhängig, wieviele<br />

Juden und Nichtgermanen an diesen Richtungen beteiligt waren. Die Kunstrichtungen des<br />

Expressionismus wurden deshalb, wenn man vom NS-Studentenbund einmal absieht, von Anfang an<br />

als entartete Kunst bekämpft.<br />

Die relative Leichtigkeit, mit der die Nationalsozialisten <strong>das</strong> Thema behandelten, ergab sich daraus,<br />

daß der "<strong>Neue</strong> Mensch" den Umbruch zur <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit bis in die Mitte der dreißiger Jahre<br />

hinein zunächst nahezu schadlos überstanden hatte. Die Weltverbesserer gaben sich nach 1925 ein<br />

moderneres sachliches Gesicht, ohne modernere sachliche Gedanken zu pflegen. Gropius mit seinem<br />

Entwurf des Sowjetpalastes ist ein beredtes Beispiel. Mit der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit wurde <strong>das</strong> Formen-<br />

und Ideologiesammelsurium des Jugendstils entmottet und insofern modernisiert, als die<br />

Massenakzeptanz für einige Reformansätze der Lebensreform hergestellt wurde. Die <strong>Neue</strong><br />

Sachlichkeit erscheint zunächst als missing link zwischen Jugendstil und Nationalsozialismus, sie war<br />

aber mehr, sie reichte in den Nationalsozialismus herein und von der Lebensreform befreit<br />

überdauerte sie den Nationalsozialismus. Sie war kein Kind des herrschenden Nationalsozialismus,<br />

sondern sie ging ihm etwa 8 Jahre voraus. Hitler setzte sich auf die Welle der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit in<br />

ihrer light-Variante auf und konnte mit einem geschickten Mix aus Lebensreform und Sachlichkeit auf<br />

der Welle der ästhetischen Wechselstimmung die politische Wechselstimmung auslösen oder<br />

verstärken.<br />

Nicht nur linke Phantasten und Steigbügelhalter der Stalinisten wie Bertold Brecht oder George Grosz<br />

rüsteten in der Mitte der Zwanziger Jahre künstlerisch und literarisch auf. Auch die Promotoren der<br />

Lebensreform liefen durch die relative Stabilisierung und die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit nicht aus ihrer einmal<br />

eingeschlagenen Bahn. 1926 erschien "Volk ohne Raum" von Hans Grimm, wovon noch im gleichen<br />

Jahr 150.000 Exemplare verkauft wurden.<br />

Hans Blunck veröffentlichte 1928 "Urväter" und Hans Zöberlein 1931 "Glaube an Deutschland". Das<br />

Mitglied der reformistischen DVP, Edgar Julius Jung schrieb 1927 den Bestseller "Die Herrschaft der<br />

Minderwertigen", in der er gegen die demokratische Pöbelherrschaft zu Felde zog. Hans Freyer, der<br />

seine Sozialisation in der bündischen Jugendbewegung erhalten hatte, forderte bereits 1925 den<br />

totalen Staat, 1931 veröffentlichte er seine "Revolution von rechts", ganz unbeeinflußt von der <strong>Neue</strong>n<br />

Sachlichkeit in der expressionistischen Sprache der bündischen Vorkriegsjugend. 1927 schrieb Hugo<br />

von Hofmannsthal, der zum George-Kreis gehörte, sein Essay über <strong>das</strong> "Schrifttum als geistiger<br />

Raum der Nation", in dem der Begriff der "Konservativen Revolution" geprägt wurde. Auffallend war,<br />

daß erst ab 1929 die beschönigende Kriegsliteratur sich in einer gewaltigen Welle in den deutschen<br />

Büchermarkt ergoß, als habe die literarische Verarbeitung des Kriegs <strong>das</strong> Moment des Verdrängens<br />

benötigt, um nur <strong>das</strong> Positive in Ehren und in Erinnerung zu behalten. Waren bis 1928 etwa 10<br />

Kriegsbücher pro Jahr neu erschienen, so stieg die Zahl 1929 auf 300 an, um etwa in dieser Höhe bis<br />

1932 zu verharren. Bemerkenswert ist die Feststellung, daß die Fronterzählungswelle noch kurz vor<br />

der Weltwirtschaftskrise die Buchhandlungen erreichte, daß es sich weniger um Notlösungen für<br />

arbeitslose Schriftsteller handelte, sondern daß die Zeit gerade reif zu sein schien, um die<br />

Kriegsgeschichte am Schreibtisch zu berichten und bei Bedarf nachträglich zu berichtigen.<br />

283


Endzeitstimmung<br />

Der Marsch durch die Institutionen der Gehirne<br />

Die Lebensreform hatte als Liebhaberei und Rechthaberei von schrulligen Sektierern ihren Anfang<br />

genommen. Ob Kohlrabiapostel, Theosophen, Leibeszüchter, Nacktbader, Vegetarier, Okkultisten,<br />

Astrologen oder Anthroposophen, viele dieser Sonderlinge gaben sich geheimnisvolle Regeln, lebten<br />

nach komplizierten Heilslehren, die nicht leicht zu verstehen waren, selbst harmlose Kleingärtner<br />

unterwarfen sich demutsvoll umfangreichen Satzungen und mächtigen Vereinsvorständen.<br />

Verbindungen von Turnen mit Okkultismus und Buddhismus, von Architektur mit Nietzsches<br />

Philosophie, von ekstatischem Tanz mit Vegetarismus erforderten die Einübung bizarrer<br />

Gedankengebäude, die nur von einem kleinen Teil der Kulturbürger einigermaßen im Sinne ihrer<br />

Schöpfer verstanden wurden.<br />

Spaß an der Körperlichkeit vermittelt über den Sport war eins der Einfalltore der Lebensreform in die<br />

Massengesellschaft.<br />

Es mußte <strong>das</strong> kommen, was kommen mußte, die Popularisierung der neuen elitären Theorien auf ein<br />

allgemein verständliches Niveau. Kollossale Gedankengebäude mit enormen Volumina wurden<br />

binnen verhältnismäßig kurzer Zeit auf die Stärke einer Flunder herabgebügelt. Was blieb nun bei der<br />

Masse hängen? Viele Sportarten erlebten ihre Geburt als Massensport, insbesondere der Fußball.<br />

Eine Luft- und Lichtsucht ergriff die Massen, man verbrannte sich die Haut beim Sonnenbaden und<br />

schlief auch im tiefsten Winter nachts bei geöffnetem Fenster.<br />

Dieses Phänomen des Flachbügelns von Ideologie skizzierte schon Milton in „Das verlorene<br />

Paradies“, es ist mehr ein Wahrnehmungs- als ein Manipulationsproblem:<br />

Doch wisse du,<br />

Daß in der Seele sich manch mindre Kraft,<br />

Die der Vernunft als höchster dient, befindet;<br />

Darunter wirkt, im Range ihr zunächst,<br />

Die Phantasie; aus allen äußern Dingen,<br />

Die uns die fünf wachsamen Sinne zeigen,<br />

Formt sie die Einbildungen, Luftgestalten,<br />

Die die Vernunft, verknüpfend oder trennend,<br />

Zusammenfügt zu dem, was wir, bejahend<br />

Oder verneinend, unser Wissen nennen<br />

Oder die Meinung; und zurück sich zieht<br />

In ihr geheimstes Fach, indes wir schlafen.<br />

Oft, wenn sie weg ist bleibt die Phantasie,<br />

Die mimende, noch wach, sie nachzuahmen,<br />

Nur daß sie oft, Gestalten falsch verbindend,<br />

Verpfuschte Arbeit leistet, und zumal<br />

In Träumen, wo sie Wort und Tat, die längst<br />

Vergangen oder jüngst geschehn verklittert.<br />

Ein Unbekannter hatte 1900 über Vergangenheit und Zukunft, Religion und Natur getextet und dem<br />

Lebensgefühl der Jahrhundertwende Ausdruck verliehen:<br />

Zum neuen Jahrhundert.<br />

So lang' <strong>das</strong> alte Jahrhundert war,<br />

Nun ist es endlich zu Ende,<br />

Und auf der Zukunft Brandaltar<br />

Erglühen die Sehnsuchtsbrände.<br />

Hochauf zum Himmel <strong>das</strong> Feuer loht,<br />

Das Feuer der jungen Herzen.<br />

Die alte Geisternacht ist tot,<br />

Und tot sind die alten Schmerzen.<br />

284


Ihr konntet uns früher mit schlechtem Rat<br />

Die Freude am Leben zügeln.<br />

Das ist vorbei. Der Morgen naht<br />

Auf rosenroten Flügeln.<br />

Wie lange waren wir blind und taub,<br />

Dass wir ihn nicht erkannten!<br />

Wir wühlten vergrübelt im Moderstaub<br />

Gelehrter Folianten.<br />

Wir schlössen vor jedem Sonnenstrahl<br />

Erschrocken Türen und Fenster<br />

Und knieten in abergläubischer Qual<br />

Und glaubten an alte Gespenster.<br />

Es war eine lange, dunkle Zeit,<br />

Jetzt endlich soll sie sterben<br />

Und uns eine lachende Ewigkeit<br />

Im Sonnenschein vererben.<br />

Greift mutig zu, der Morgen winkt<br />

Und spricht sein unsterbliches Werde!<br />

Wer frisch vom Born des Lebens trinkt,<br />

Nur der erobert die Erde.<br />

Die Tage tanzen in Freud' und Schmerz<br />

Um ihn den harmonischen Reigen,<br />

Ein König ist sein pochendes Herz,<br />

Und alles, und alles sein eigen.<br />

So wandert er als ein froher Held<br />

Die Jahre, die ihm gegeben,<br />

Und grüßt noch im Sterben lächelnd die Welt<br />

Und ihr ewig blühendes Leben. 365<br />

Die „fröhliche Bosheit“ des nietzscheanischen Kriegers hörte sich dagegen im Volkslied banal an:<br />

Hinaus in die Ferne<br />

Mit Butterbrot und Speck<br />

Das essen wir so gerne<br />

Das nimmt uns keiner weg.<br />

Und wer <strong>das</strong> tut<br />

Der kriegt eins auf den Hut<br />

Der kriegt eins auf die Nase<br />

Dass sie blut!<br />

Reformhäuser, in denen man gesunde und vermeintlich gesunde Lebensmittel erwerben konnte,<br />

schossen nach der Jahrhundertwende wie Pilze aus dem Boden. Schulen veranstalteten Wandertage<br />

und Zeltlager, immer mehr Leute fuhren in die Sommerfrische oder veranstalteten Picknicks und<br />

Gartenfeste. Manche Jahre kamen hunderte Kleingärtner ums Leben, die köstlichen Kartoffelsalat<br />

genossen hatten, der in Zinkbadewannen angerührt worden war. Aus der Philosophie Nietzsches<br />

wurden Schlagwörter herausgelöst, vor allem natürlich die schlimmen und gefahrgeneigten Phrasen<br />

vom Übermenschen, vom Ende Gottes, von Sklaven- und Herrenmoral, von unwertem Leben und vom<br />

Willen zur Macht. Dar ganze stark verdünnte Reformsalat vermischte sich mit der Propagan<strong>das</strong>oße<br />

des Kaiserreichs vom "Platz an der Sonne", von der Überlegenheit der deutschen Arbeit und Kultur.<br />

Die Gewaltsphilosophie eines Nietzsche hatten nur wenige Deutsche selbst gelesen, über den Umweg<br />

der Literatur und Poesie (Rilke, Hesse, Th. Mann) erreichte sie etwas breitere Schichten, die sie<br />

wiederum weiter popularisierten und verflachten.<br />

365 aus www.Payer.de<br />

285


Hatte Nietzsche zum Beispiel in „ecce homo“ ein ganzes Feuerwerk an antideutschen Ressentiments<br />

abgefeuert und regelrechte antigermanische Tiraden von sich gegeben, so hielten seine<br />

Popularisierer diesen Punkt hintan. Nietzsches Ideen der Umwertung der Werte und des<br />

Übermenschen erreichten die unteren Stufen der deutschen Bildungspyramide verfremdet, verwässert<br />

und verändert; dennoch gab es kaum ein Handtuch und kaum eine Blumenvase, die nicht einen<br />

kleinen reformistischen Zug aufwiesen. Es war wie beim IKEA-Katalog: in einer massenakzeptablen<br />

homöopatischen Dosis war reformistisches Gift in den deutschen und mitteleuropäischen Alltag<br />

eingesickert.<br />

Viele der neuen Reformideen schlossen sich gegenseitig aus, die Reformsekten ignorierten sich und<br />

bekämpften sich untereinander. Links- und Rechtsintellektuelle zerfielen immer wieder in kleine<br />

Sekten und atomisierten sich, Expressionisten grenzten sich von Impressionisten ab. Kleingärtner<br />

konnten mit Steiners Bewußtseinsseele nichts anfangen, Sport und Vegetarismus gingen wegen<br />

großem Kalorienbedarf bei der Körperbewegung überwiegend getrennte Wege. Die Brauereiindustrie,<br />

die Zigarettenherstellung und der Fußball arrangierten sich in einer symbiotischen Beziehung.<br />

Das Sektierertum, <strong>das</strong> die heterodoxe Welt der Lebensreform begleitete, zeigte sich auch in Hitler<br />

selber: Er war inkonsequenter Vegetarier, konsequenter Nichtraucher und Antisemit, Nichttrinker,<br />

dillettierender Architekt, professioneller Ausrichter von Aufmärschen und Weihen sowie über Darwin<br />

hinausdenkender Sozialdarwinist, der "dem Flickenteppich seiner Ideologie doch Dichte und Struktur"<br />

zu geben verstand. Die Freßgewohnheiten der Affen bestätigten ihn beispielsweise in seiner eigenen<br />

Ernährungsweise. 366 Viele völkische und ariosophische Theorien wehrte er ab, weil er sie als<br />

sektiererisch betrachtete, Rosenbergs "Mythos" war ihm zu kompliziert, die Germanenschwärmer<br />

waren ihm zu wenig zielführend. Er fragte nicht wie der Staatsbürgerkundelehrer: "was nutzt <strong>das</strong> der<br />

Partei der Arbeiterklasse?", sondern er fragte: "was nützt <strong>das</strong> der blonden Weltherrschaft?"<br />

Insbesondere aber grenzte sich Hitler von allen Sektierern ab, die eine Generation älter waren, als er<br />

selbst. Alle jene, die älter waren, als er und seine „alten Kameraden“ waren aus seiner Sicht<br />

„Rückwärtse“. Hitler war wie seine ganze Umwelt jugendgläubig; nur die Glieder seiner Alterskohorte<br />

waren aus seinem Blickwinkel authentische Nationalsozialisten.<br />

Eine Quelle der gewollten Volkstümlichkeit der Nationalsozialisten, wurde von Gerd Koenen an einer<br />

eigentümlichen Stelle angetroffen: „Der Drang zum , zu einer Kulturproduktion,<br />

die einen und eine zu erfüllen hatte, worin der Künstler mit der Macht (in der<br />

Gestalt eines aufgeklärten Staatsführers) und andererseits mit dem Volk in eine Art direkter<br />

Kommunikation trat, <strong>das</strong> alles war nicht nur ein deutscher, sondern ein moderner Intellektuellentraum<br />

dieser Zeit. Aber er besaß in Deutschland einen besonders kräftigen Resonanzboden. Und derselbe<br />

Goebbels, der gegen den angiftete, schulte sich so eifrig wie neidisch am Stil<br />

und an den Inszenierungen der sowjetischen Agitprop-Kunst.“<br />

In seinem Buch „Der Russland-Komplex stellte Koenen <strong>das</strong> Plakat zur Erstaufführung des<br />

„Panzerkreuzers Potemkin“ und <strong>das</strong>jenige für den „Panzerkreuzer Sebastopol“ (1936) gegenüber, um<br />

diese sklavische Nachahmung aufzuzeigen. 367<br />

Die Reformbewegung hatte nur wenige Nervenknoten, wo sich alle oder fast alle trafen. Wenn man<br />

von den Mitternachtstänzen auf dem Monte Veritá absieht, so war ein solcher Verkehrsknoten der<br />

Reformbewegung die Sonne. Aber genau genommen drehten sich selbst Mitternachtszeremonien um<br />

die Sonne, wenn es beispielsweise um die Sonnenwende ging, so wurde diese ausgerechnet nachts<br />

begangen.<br />

Für die Anthroposophen und Theosophen hatte die Sonne zentrale Bedeutung, für die Nudisten,<br />

Kleingärtner und Artamanen war sie für die Körperbräune und den letzten Schliff bei der Bildung der<br />

grünen Farbe des Gemüses ebenso unverzichtbar, für die Wandervogelbewegung war sie wegen des<br />

Landschaftsgenusses und trockener Sandalen nice to have, bei den Okkultisten gehörte sie zum<br />

Gestirnsrepertoire, Lichttherapien, <strong>das</strong> Lichtgebet, Lichtmenschen, Sonnenauf- und -untergänge in der<br />

366 Joachim Fest: Hitler, Ullstein, S. 312 ff.<br />

367 Gerd Koenen, Der Russland-Komplex, München 2005, S, 364 f. Der Regisseur des Films Panzerkreuzer<br />

Potemkin Sergej Eisenstein war wie Joseph Goebbels kein Kind der Arbeiterbewegung. Er stammte aus einem<br />

baltischen Elitaristenhaushalt. Sein Vater war Architekt und plante im Vorkriegs-Riga eine große Anzahl von<br />

Jugendstilbauten.<br />

286


Malerei, fast alles drehte sich um die Sonne, die Sonne hatte hohen Symbolgehalt. Dieser<br />

Symbolgehalt sollte den weiteren Wandel der Werte überstehen.<br />

Über mindestens zwei Jahrzehnte war die Lebensreform eine Krankheit der Metropolen und der<br />

Provinzstädte. Das Land wurde kaum berührt, weil die <strong>Menschen</strong> auf dem Lande zu sehr mit<br />

existenziellen Fragen beschäftigt waren. Die Lieferung von eigens hergestellter steriler Reformmilch<br />

nach Weimar seitens des Gutes, die Veröffentlichung des hochinteressanten Futterplans der Reform-<br />

Rindviecher in der Weimarer Tagespresse und ein von der Gemeinde finanzierter Ausflug des Lehrers<br />

zum Turnertreffen nach Bad Kösen waren die einzigen schriftlich dokumentierten reformatorischen<br />

Aktivitäten in einem kleinen Ort vor den Toren von Weimar zwischen 1890 und 1930.<br />

Die Reform mußte popularisiert und von obskurantistischen Details bereinigt werden, für breite<br />

Massen verdaulich gemacht, <strong>das</strong> war die eigentliche Arbeit Hitlers in der zweiten Hälfte der zwanziger<br />

Jahre. Übrig blieben die Sonne, die frische Luft, der Sport, der Führerkult, der Jugendkult, ein<br />

unscharfer Atheismus und der Schönheitswahn. Diese zentralen nietzscheanischen Botschaften<br />

begleiteten die Massen in die neue Zeit.<br />

Viele bahnten den Weg in diese neue sonnendurchflutete Zeit; auch die Lieder der Arbeiterbewegung<br />

priesen <strong>das</strong> Licht, welches in die Nacht führte, nicht ohne den Märtyrertod zu preisen:<br />

Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor.<br />

Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor.<br />

Seht nur den Zug der Millionen endlos aus Nächtigem quillt,<br />

bis eurer Sehnsucht Verlangen Himmel und Nacht überschwillt.<br />

Brüder, in eins nun die Hände, Brüder <strong>das</strong> Sterben verlacht:<br />

Ewig der Sklaverei ein Ende, heilig die letzte Schlacht.<br />

Das Lied wurde 1897 in einem finsteren russischen Gefängnis von Leonid P. Radin nach einem<br />

Volkslied gedichtet und 1918 von Hermann Scherchen deutsch nachgearbeitet.<br />

In der Architektur gab es ebenfalls die Bewegung zum Licht. 1924 wurde im Klub der Architekten in<br />

Brno eine Vortragsreihe zur modernen Kultur gehalten. Verschiedene Architekturkonzepte prallten bei<br />

dieser Gelegenheit aufeinander: Auguste Perret ging in traditioneller Auffassung davon aus, <strong>das</strong>s<br />

Architektur Konstruktion sei; Le Corbusier meinte, <strong>das</strong>s Architektur <strong>das</strong> genaue, großartige und<br />

kunstvolle Spiel der Formen im Licht, geschaffen durch Grundriß und Baukörper sei. Walter Gropius<br />

setzte seine extremere Position dagegen: "Architektur, <strong>das</strong> ist Hygiene, Raum und Wissenschaft."<br />

1926 hatte Le Corbusier einen 1. Preis beim Wettbewerb für den Palast der Nationen in Genf<br />

errungen; beauftragt wurde jedoch der zweite Sieger, der einen historistischen Entwurf eingereicht<br />

hatte. Le Corbusier sann auf Rache und initiierte den "Internationalen Kongresses für Moderne<br />

Architektur" vom 25.-29. Juni 1928 in La Sarraz (Schweiz). In der Erklärung von La Sarraz, die einer<br />

Architektendiktatur <strong>das</strong> Wort redete, wurden die Architekten darauf eingeschworen, mehr Einfluß auf<br />

öffentliche Meinung ausüben. Die schlecht unterrichtete Bevölkerung müsse durch Erziehung<br />

Grundlagen vermittelt bekommen, damit sie in Zukunft gegenüber den Achitekten die richtigen<br />

Forderungen zum Wohnungsproblem stellen kann. 368<br />

„Die Gründungserklärung der CIAM kann man als Ausgangspunkt für einen kontinuierlichen<br />

Prozeß konzeptioneller Arbeit bis zum IV Kongreß 1933 in Athen über die <br />

sehen. Dieser Kongreß fand jedoch nicht nur in Athen, sondern auch auf der Dampferreise<br />

Marseille-Athen und zurück statt. Auf Grundlage einer Analyse von 33 Städten sollte eine Charta<br />

über den Städtebau ausgearbeitet werden. Die 100 Teilnehmer aus 20 Nationen kamen alle (bis<br />

auf die Ausnahme des indonesischen Teilnehmers) aus dem abendländischem Kulturkreis.<br />

Auf der Abschlußsitzung des 4. Kongresses der CIAM an Bord der Patris II am 13. August 1933<br />

verlas Le Corbusier einen Entwurf der "Resolution", der jedoch erst im September 1933 in der<br />

"Gazette des Beaux-Art", Paris, veröffentlicht wurde. Die Abschlußerklärung dieses Kongresses<br />

hat Le Corbusier 1943 mit Kommentaren versehen als publiziert. So<br />

einheitlich, wie Le Corbusier in dieser Publikation berichtet, waren jedoch die Positionen nicht. Die<br />

368 www.isl.uni-karlsruhe.de/module/charta_von_athen/charta_von_athen.html<br />

287


Fassung der "Charta von Athen", die Le Corbusier herausgab, hat dem Sinn nach Ähnlichkeit mit<br />

den während des Kongresses erarbeiteten Thesen, es ist jedoch nicht die einzige Version.“ 369<br />

Die von Le Cobusier veröffentlichten Fassung erhob folgende Forderungen zum Wohnen:<br />

§ 23 bis 29:<br />

- Die Wohnviertel müssen künftig im Stadtgebiet die besten Baustellen einnehmen, ihre Vorteile<br />

aus Topographie und Lage ziehen, über die günstigste Sonnenlage und bequem gelegene<br />

Grünflächen verfügen.<br />

- Die Wahl der Wohnbezirke muß nach hygienischen Gesichtspunkten erfolgen.<br />

- Eine vernünftige Bevölkerungsdichte, entsprechend der durch die Natur des Geländes<br />

bestimmte Siedlungsform.<br />

- Für jede Wohnung ist ein Sonnenstundenminimum zu bestimmen.<br />

- Die Baulinie der Häuser entlang der Verkehrsstraßen muß verboten werden.<br />

- Erstellung von hohen Bauten durch Nutzung der modernen Technik.<br />

- Die hohen Bauten müssen in ausreichend weiten Abständen voneinander stehen und<br />

begünstigen damit weite Grünflächen.<br />

Auch zum Umgang mit historischer Bausubstanz hatte Le Corbusier feste Vorstellungen, die dem<br />

Ensembledenkmalschutz widersprachen. Es war die <strong>Neue</strong> Stadt für den <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong><br />

beabsichtigt, die mit der jahrhundealten Bautradition radikal brach.<br />

§65 - 70:<br />

• Architektonische Werke müssen erhalten bleiben (einzelne Gebäude oder ein Stadtganzes),<br />

wenn sie der Ausdruck einer früheren Kultur sind und wenn sie einem allgemeinen Interesse<br />

entsprechen.<br />

• Die Erhaltung alter Bausubstanz darf jedoch nicht untragbare Wohnbedingungen für die<br />

Bevölkerung bedeuten.<br />

• Die Beseitigung der Elendsquartiere rings um die historischen Denkmäler wird es<br />

ermöglichen, Grünflächen zu schaffen.<br />

• Es hat verheerende Folgen, neue Bauten in alten Vierteln unter dem Vorwand der Ästhetik in<br />

Stilarten der Vergangenheit aufzuführen.<br />

Die Charta von Athen wurde zwar erst kurz nach dem Machtantritt Adolf Hitlers besprochen, die<br />

Entwicklung ihrer Grundsätze, nämlich eine normierte Sonnenscheindauer in jeder Wohnung zu<br />

gewährleisten, reicht tief in die zwanziger Jahre zurück. Selbstverständlich wurde die<br />

Sonnenscheindauer den Bewohnern von elitaristischen und hygienewütigen Architekten<br />

aufgezwungen.<br />

Nachdem in vielen Städten durch Sanierung von Altbausubstanz und Bevölkerungsrückgang die<br />

extreme Wohnungsnot zurückgeht, verlassen die Bewohner der allseits sonnenbeschienenen Platten<br />

die nach den Grundsätzen der Charta von Athen geschaffenen Plattenbaugroßsiedlungen fluchtartig.<br />

Hoyerswerda, Schwedt, Stalinstadt und Halle-Neustadt veröden, die Vorstädte von Paris verasseln.<br />

Die autogerechten Trabantenstädte, die so abwechslungsreich waren, <strong>das</strong>s man selbst bis zum<br />

nächsten Postkasten lieber mit dem Auto fuhr, sind Monumente der Vergangenheit.<br />

Nicht nur Hitler, auch die Hygieniker arbeiteten an der Abtötung alles Krankmachenden und an der<br />

Volksaufklärung. 1930 wurde nicht nur die zweite internationale Hygieneausstellung eröffnet (die erste<br />

hatte 1911 stattgefunden), auch <strong>das</strong> Hygienemuseum öffnete seine Pforten. Vor dem Weltkrieg und<br />

vor der Machtergreifung wurde auf dem Altar der Reinlichkeit geopfert. Gleichzeitig träumte der<br />

Städtebau von sonnenbeschienenen Wohnungen für die Arbeiterklasse.<br />

Die Sonne war als ein Gestirn mit zentralistischem Anspruch auch <strong>das</strong> Symbol des<br />

Nationalsozialismus. Hitler stellte sie durch ein Kreuz mit verbogenen Enden dar und setzte damit auf<br />

den für ihn konsenzfähigen Teil der Reformbewegung auf. Im Programm der NSDAP wurde unter<br />

Punkt 22 der Lebensreform Tribut gezollt, als die Turn- und Sportpflicht angeordnet wurde. Ehemalige<br />

Artamanen entwickelten sich von Tier- zu <strong>Menschen</strong>züchtern. Ohne Zwang gings nicht, die<br />

Reformbewegung war als Erziehungsdiktatur gedacht, und nach dem hohen Sinnen nahten die<br />

Konsequenzen.<br />

369 www.isl.uni-karlsruhe.de/module/charta_von_athen/charta_von_athen.html<br />

288


Die Verwilderung der politischen Sitten<br />

Bereits im Dezember 1929 beklagte Reichsinnenminister Severing (SPD) sich über den<br />

fortgeschrittenen moralischen Verfall:<br />

„Gelegentlich der Verfassungsfeier und der Reichsbannerkundgebung am 10. und 11. August 1929<br />

kam es in Berlin wie auch schon an den Tagen vorher verschiedentlich zu Ausschreitungen. Die<br />

Schuld traf in acht Fällen Mitglieder der KPD, in drei Fällen Mitglieder des Stahlhelms, in einem Fall<br />

ein Mitglied des Bismarckbundes. (. . . .) Am 25. 8. wurden in Essen vier von einer Veranstaltung<br />

des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold kommende Mitglieder dieses Verbandes auf ihrem<br />

Heimwege von Nationalsozialisten überfallen. Die Nationalsozialisten rissen ihnen die Abzeichen<br />

des Reichsbanners ab und zerfetzten zum Teil ihre Kleidung. Die mitgeführten Musikinstrumente<br />

wurden zertrümmert; ein Reichsbannermitglied erhielt mit einem Schlagring einen Hieb über den<br />

Kopf.<br />

Am 1.9.1929 überfielen in Köln einige Kommunisten zwei der Hitlerjugend angehörende junge<br />

Leute und verletzten einen durch Messerstiche in die Hand. Am gleichen Tage veranstaltete der<br />

Stahlhelm in Hamburg einen Umzug nach dem Sportplatz in Lokstedt. An der Hamburger Grenze<br />

hatten sich etwa 500 Kommunisten angesammelt, die über die Stahlhelmmitglieder mit Stöcken,<br />

Totschlägern und Gummischläuchen herfielen. Den ganzen Tag wurden auch in der übrigen Stadt<br />

von Kommunisten Gewalttätigkeiten gegen Andersdenkende begangen, die teilweise<br />

schwerverletzt wurden. Zwei Stahlhelmmitglieder wurden in einer Straßenbahn von drei<br />

Kommunisten mißhandelt. Auf dem Loignyplatz wurden aus einem Kraftwagen von<br />

Jungkommunisten Seltersflaschen gegen die Teilnehmer eines marschierenden Stahlhelmzuges<br />

geworfen. Am 6. 9. wurde in Köln ein Angehöriger der Lützow-Jugend von Kommunisten schwer<br />

mißhandelt. Am gleichen Tag kam es in Oranienburg zu einer Schlägerei zwischen 25<br />

Nationalsozialisten, die in ein von der KPD benutztes Versammlungslokal einzutreten begehrten,<br />

und Anhängern der KPD. Dabei fanden Messer, Spaten und andere gefährliche Werkzeuge<br />

Verwendung, so <strong>das</strong>s verschiedene Personen verletzt wurden. (...) Dieser hier skizzierte Zustand<br />

politischer Verwilderung kann im Interesse der Staatsautorität, des Ansehens Deutschlands in der<br />

Welt, der Sicherheit des einzelnen Staatsbürgers wie der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung<br />

gesunder Grundlagen des Staats- und Gesellschaftslebens nicht länger geduldet werden. Ein<br />

Mittel - sicherlich nicht <strong>das</strong> nachhaltigste und wirkungsvollste - bietet der vorliegende Entwurf eines<br />

Gesetzes zum Schutz der Republik und zur Befriedung des politischen Lebens. Gewiss werden<br />

durch ein solches auf rasche und naturgemäß äußere Wirkungen eingestelltes Zeitgesetz nicht die<br />

tieferliegenden Ursachen des beklagenswerten Zustandes mit einem Schlage beseitigt. Das<br />

Gesetz ist aber unentbehrlich, weil die naturgemäß langsam reifenden Wirkungen der staatlichen<br />

Aufbauarbeit nicht abgewartet werden können und die Bestimmungen des geltenden Straf-,<br />

Vereins-, Versammlungs- und Presserechts wie auch die auf einen Dauerzustand eingestellten<br />

Bestimmungen der entsprechenden Entwürfe in dieser erregten Zeit nicht ausreichen. Den akuten<br />

Erkrankungen muss sofort mit allen Mitteln entgegengetreten werden, die eine weitere<br />

Ausdehnung erschweren.“ 370<br />

Nicht unerwähnt bleiben darf, <strong>das</strong>s die von Severing genannten elitaristischen Ausschreitungen sich<br />

im Sommer und Herbst 1929 ereigneten, also noch vor dem Schwarzen Freitag an der Wallstreet, vor<br />

dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, in der Periode leidlicher Properität. Nicht die Arbeitslosigkeit der<br />

Weltwirtschaftskrise war der Auslöser, nicht der Hunger nach physischer Nahrung, sondern der<br />

Hunger nach Erlösung aus dem parlamentarischen System, der Terror Hitlers und Thälmanns und ihr<br />

Kampf um die Macht.<br />

Kämpft für ein sozialistisches Sowjetdeutschland<br />

Die Fragmentierung der Weimarer Gesellschaft, die sogenannte Versäulung der Gesellschaft in<br />

verschiedene voneinander getrennte parteipolitische Kolumnen, begleitete die Republik auch in die<br />

Weltwirtschaftskrise. Am weitesten von der deutschen Realität waren Stalins deutsche Knechte<br />

entfernt. Ihre deutschen Wurzeln steckten für die breiten Massen unsichtbar in der expressionistischen<br />

Vorkriegserde. Die deutschen Stalinisten leiteten ihren Herrschaftsanspruch nicht aus der heimischen<br />

370 aus: Gotthard Jasper, Zur innenpolitischen Lage in Deutschland im Herbst 1929. In. Vierteljahrshefte für<br />

Zeitgeschichte, Bd. 8 (1960), S. 281 ff.<br />

289


Puppenstube des deutschen Idealismus her, was sich biografisch für die meisten Stalinisten hätte<br />

nachweisen lassen, sondern aus dem vermeintlichen Urknall Oktoberrevolution, der draußen im<br />

großen welthistorischen Universum stattgefunden hatte.<br />

Das Anknüpfen an deutsche Traditionen war weltgeschichtlich kein Vorteil, wie sich 1914 bis 1918 und<br />

1933 bis 1945 zeigte, aber in der Endphase der Weimarer Republik war die Beschwörung von<br />

Traditionen ein riesiges machtpolitisches Pfund. Die Kommunisten warben dagegen mit<br />

Traditionsbruch und auswärtigen Attraktionen. Wilhelm Pieck warb am 5. August 1930 zur<br />

Reichstagswahl für Sowjetdeutschland:<br />

"Nur die Kommunisten helfen den Werktätigen. Unter ihrer Führung wächst die Radikalisierung der<br />

Massen. Sie hat bereits zu einer Krise der bürgerlichen Demokratie und Parteien geführt. Darum<br />

auch die Vorbereitung der faschistischen Diktatur. Was ist zu tun? Gibt es einen Ausweg aus der<br />

Not? Ja. Ihr Werktätige in Stadt und Land. Der einzige Ausweg aus eurer Not ist allein der<br />

Klassenkampf, den Ihr gemeinsam in einer Front unter Führung der Kommunisten zur<br />

Verbesserung eurer wirtschaftlichen Lage und zum Sturz der Klassenfeinde austragen müßt.<br />

Gewaltig ist die vereinte Kraft des werktätigen Volkes. Das beweisen die russischen Arbeiter und<br />

Bauern, die unter Führung Lenins den Kapitalismus stürzten und mit der proletarischen Diktatur<br />

den Sozialismus aufbauen. Darum reiht euch alle ein in die rote Klassenfront. Stimmt alle für die<br />

Kommunisten. Seid rote Wahlhelfer. Hinaus aufs Land. Werbt für die KPD und ihre Presse. Stärkt<br />

die rote Gewerkschaftsopposition. Kämpft gegen den Polizei- und Justizterror und für die<br />

Freilassung aller proletarischen Gefangenen. Stärkt die rote Hilfe Deutschlands. Kämpft gegen<br />

imperialistische Kriegsgefahr und Faschismus“,<br />

Mit dem Faschismus war nach der Sprachregelung des VI. Weltkongresses der Komintern vom Juli<br />

1928 nicht der italienische Faschismus gemeint, auch nicht der deutsche Nationalsozialismus,<br />

sondern der sozialfaschistische Sozialdemokratismus.<br />

Unter dem Titel: "Sowjetstern oder Hakenkreuz; Die Rettung Deutschlands aus der Youngsklaverei<br />

und Kapitalknechtschaft" umriß der Kommunistenfunktionär Remmele am 8. Juli 1930 die Rolle der<br />

Bedeutung des Sozialfaschismus:<br />

"...aber der Sozialfaschismus, der in alle Poren des kapitalistischen Staatsapparats eingedrungen<br />

ist und bei fetten Sinekuren 371 die räuberische "Staatsordnung" hütet, ist heute in- und außerhalb<br />

der Regierung der eifrigste Verfechter des faschistischen Terrorregimes gegen die Arbeiterklasse.<br />

Die Sozialdemokraten Braun und Waenting waren es, die die sofortige Entlassung aller Beamten,<br />

die sich zum Kommunismus bekannten, proklamierten. Die Zörgiebelei 372 ist weltberühmt.<br />

Sozialfaschistische Polizeipräsidenten und Offiziere sind es, die bei den Arbeitermorden der<br />

Faschisten hilfreich zur Seite stehen. Alle diese, sich ständig wiederholenden Wahrheiten und<br />

Tatsachen müssen wir immer und immer wiederholen, die sozialdemokratischen Arbeiter und<br />

Anhänger von diesen Tatsachen, die sich ebenso gegen sie richten als Arbeiter wie gegen die<br />

Kommunisten, zu überzeugen, welch schädliche Henkerrolle die sozialfaschistische Führerschaft<br />

spielt. All <strong>das</strong> muß man immer und immer wiederholen, um zu erkennen, wie notwendig der<br />

revolutionäre Kampf gegen den Faschismus in all seinen Formen ist und der Faschismus nicht<br />

geschlagen werden und besiegt werden kann ohne den Sieg gegen den Sozialfaschismus". 373<br />

Die Worte "Youngsklaverei" und "Kapitalknechtschaft" waren dem Wortschatz der völkischen<br />

Konkurrenz entlehnt, die Verwendung von Fremdwörtern wie "Sinekuren" war eine alte marxistische<br />

Tradition. Neben diesen formalen Anmerkungen ist jedoch der inhaltliche Aspekt der Argumentation<br />

aufschlußreich, der den Funktionswandel der SPD berührt.<br />

Der Wind des Wandels hatte sich gedreht: August Bebel hatte ein dialektisches<br />

Zusammenbruchsszenario des Kapitalismus entwickelt, in dem die SPD dominieren würde: Er war<br />

davon ausgegangen, daß im gleichen Maße, wie die Überzeugung von der Notwendigkeit der<br />

Umwälzung, von der Unhaltbarkeit des Bestehenden in der Mehrheit der Gesellschaft wächst, die<br />

Widerstandsfähigkeit der herrschenden Klasse sinkt. Die Arbeiterklasse würde die Macht<br />

371<br />

Sinekuren basieren auf mühelosem Erwerb für Ämter, die nicht mit Pflichten, sondern nur mit Einkünften<br />

verbunden sind.<br />

372<br />

Zörgiebel war sozialdemokratischer Polizeipräsident von Berlin<br />

373<br />

Hermann Remmele: der Sozialfaschismus in www.marxistische-bibliothek.de/kpd2.html<br />

290


übernehmen, wenn die Überzeugung von der Notwendigkeit des Kapitalismus im Schwinden begriffen<br />

sei. Die Kritik der Mittelschichtenjugend, des akademischen Proletariats, der Lehrer, Redakteure und<br />

Staatsbediensteten, würde die erforderliche Zersetzungsarbeit leisten, Hilfsenergie für die<br />

proletarische Machtübernahme liefern. Mit der Gründung der Republik kam alles anders. Nicht die<br />

Sozialdemokratie rüttelte nach dem Weltkrieg an den Grundfesten der Staatsgewalt, sondern die<br />

Mittelschichtenjugend. Die Sozialdemokratie mußte von Anfang an unter den Schutz kaiserlicher<br />

Militärs wie Wilhelm Gröner, v. Seeckt und v. Hindenburg flüchten, um sich vor dem revolutionären<br />

Mob des Bildungsbürgertum zu schützen. Jenes fragile und staatserhaltende konservativsozialdemokratische<br />

Haß-Bündnis, <strong>das</strong> Heinrich Mann im "Untertan" zwischen Diederich Heßling und<br />

Napoleon Fischer als literarischer Nostradamus skizziert hatte, und <strong>das</strong> gegen den Reformisten Dr.<br />

Heuteufel gerichtet war, benötigte die Republik von der Wiege bis zur Bahre.<br />

Bereits vor der Wahl zur Nationalversammlung mußten mit Hilfe Gröners linkselitaristische Aufstände<br />

niedergeschlagen werden, Hans von Seeckt hütete die Flammen im Tempel der parlamentarischen<br />

Macht in der Krise von 1923 und Hindenburg wurde 1932 von den Sozialdemokraten dazu<br />

ausersehen, dem radikalen Reformisten Hitler Paroli zu bieten. Bis Ende 1932 ging diese Rechnung<br />

auch auf, hielt <strong>das</strong> ungleiche Bündnis. Hindenburg bemerkte einmal, Reichskanzler Müller sei sein<br />

bester Kanzler gewesen, blos leider ein Sozialdemokrat.<br />

Die Sozialdemokraten sahen sich in der Rolle der Verteidiger der Republik, <strong>das</strong> akademische<br />

Proletariat in der Rolle des revolutionären Angreifers. Die Bebel´schen Hilfstruppen der<br />

sozialdemokratischen Machtübernahme, die reformistischen Mittelschichten hatten sich<br />

verselbständigt, hatten ihr vitales und vitalistisches Eigenleben entwickelt und trommelten vor den<br />

Toren der Macht. Sie trommelten in SA-Uniformen und in Uniformen des Rotfrontkämpferbundes.<br />

Beiden Formationen war klar: Erst mußten die verhaßten Sozialdemokraten weg, nur über deren<br />

politische Leichen käme man an die Macht.<br />

Die Sozialdemokratie ist in der glücklichen Lage<br />

Unglücklicherweise gab es auch in der SPD-Führung Reformisten, die den Ernst der Lage nicht<br />

begriffen. Dazu gehörte Rudolf Breitscheid, der wie wir gesehen hatten, aus der heterodoxen USPD<br />

kam. Es war bereits erwähnt worden, daß der Reichstag mit den Stimmen von SPD, DNVP, KPD und<br />

NSDAP die Vorlage zur Deckung des Defizits des Reichshaushalts abgelehnt hatte, was die<br />

Auflösung des Reichstags mitten in der Weltwirtschaftskrise verursacht hatte. Das Ausscheren der<br />

SPD aus der Front der bedingungslosen Ja-Sager wurde von den Genossen nicht als <strong>das</strong> verstanden,<br />

was es war, nämlich die große Chance der Nationalsozialisten, sondern es wurde zumindest vor der<br />

Wahl als eine Chance für die Sozialdemokraten mißdeutet: Breitscheid versuchte aus der Situation<br />

Kapital zu schlagen:<br />

"Die Sozialdemokratie ist in der glücklichen Lage, daß ihr für den Wahlkampf wertvolle Parolen von<br />

Politikern aus dem Lager der bürgerlichen Parteien geliefert worden sind. Da ist zunächst der Ruf,<br />

den der demokratische Finanzminister Dietrich in einer der letzten Stunden des alten Reichstags<br />

ausstieß: Er lautete "Es muß sich entscheiden, ob wir ein Staatsvolk oder ein Interessentenhaufen<br />

sind." Nie aber hat -- so stellen wir fest -- die Interessentenpolitik größere Triumphe gefeiert als<br />

unter der Regierung Brüning.... Gegen diese Regierung hat die Sozialdemokratie gekämpft und<br />

wird sie weiter streiten. Denn unsere Partei ist es, die <strong>das</strong> Allgemeinwohl und damit <strong>das</strong> Wohl des<br />

arbeitenden Volkes über die Interessen einzelner blicken läßt. Aber die Regierung Brüning mußte<br />

den Weg einer solchen Interessentenpolitik beschreiten, weil sie ohne die Sozialdemokratie<br />

regieren wollte. Dazu <strong>braucht</strong>e sie im Reichstag eine Mehrheit, die sich weit nach rechts hin<br />

ausdehnte. Sie mußte nun die Wünsche der Gruppen befriedigen, die hinter den bürgerlichen<br />

Parteien bis hin zu den Volkskonservativen stehen, und mußte darüber hinaus bemüht sein, durch<br />

Zugeständnisse und Versprechungen auch den größten Teil der Deutschnationalen zu gewinnen.<br />

Das zwang die Bürgerblockregierung dazu, nicht nur ohne die Sozialdemokratie, sondern auch<br />

gegen die Sozialdemokratie und damit gegen <strong>das</strong> arbeitende Volk zu regieren. Sie würde zu einer<br />

solchen Politik nicht den Mut gefunden haben, wenn die Arbeiterschaft einig wäre und nicht von<br />

kommunistischer und nationalsozialistischer Seite die Front derer, die von ihrer Arbeit leben,<br />

zersetzen würde..." 374<br />

374 aus www.dhm.de/sammlungen/zendok/weimar/breit.html<br />

291


Breitscheid war der Hans-im-Glück der SPD: Mit seinen Ratschlägen verkleinerte sich die<br />

Reichstagsfraktion der SPD innerhalb von drei Jahren von 30 % auf 18 %. 1933 klatschte Breitscheid<br />

verzückt in die Hände, als Hitler an die Macht kam. Endlich werde sich Hitler zugrunde richten. Hitler<br />

richtete sich natürlich zugrunde, als "Kollateralschaden" wurden Breitscheid und viele Unbeteiligte im<br />

Konzentrationslager mit zugrunde gerichtet.<br />

Wahl zum 5. Reichstag im September 1930:<br />

Um 1930 gab es einen Schub der weiteren Verjüngung der Jugendbewegung. War diese bisher vor<br />

allem von den gemäßigt reformistischen Mittelparteien und der heterodoxen und leninistischen Linken<br />

repräsentiert worden, so fühlten sich nun noch jüngere Jugendliche als Avantgarde. Der Jugendstil<br />

war weitgehend verschlissen, er war binnen 30 Jahren zum Altenstil geworden. Der Futurismus und<br />

die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit hatten ihn abgelöst, teilweise begleitet von einem bodenständigen<br />

materialgerechten Heimatstil als eines der Vorprodukte des Sozialistischen Realismus. Diese<br />

beginnende Vermengung von erneuerter Lebensreform und <strong>Neue</strong>r Sachlichkeit mit einer veränderten<br />

Sichtweise und Ästhetik als kulturelles Phänomen, <strong>das</strong> Volksbegehren gegen die Versklavung des<br />

deutschen Volkes als politische Bewegung und die beginnende Weltwirtschaftskrise als ökonomischer<br />

Begleitumstand bildeten die Rahmenbedingungen der 5. Reichstagswahl.<br />

SPD 24,5 % ( - 5,3 %)<br />

KPD 13,1 % (+ 2,5 %)<br />

DStP 3,8 % ( - 1,1 %)<br />

DVP 4,8 % ( - 3,9 %)<br />

NSDAP 18,3 % (+15,7 %)<br />

Landvolk 3,2 % (+ 1,3 %)<br />

WP 4,0 % ( - 0,5 %)<br />

DNVP 7,0 % ( - 7,3 %)<br />

Zentrum/BVP 14,8 % ( - 0,3 %)<br />

Sonstige 6,5 % ( - 0,8 %)<br />

Da es nur 2 nennenswerte Wahlgewinner gab, nämlich NSDAP und KPD, sowie 3 nennenswerte<br />

Verlierer (DNVP, SPD und DVP) ist die grobe Wahlanalyse relativ einfach. Von den Konservativen,<br />

den antiklerikalen gemäßigten Reformistenparteien und den Sozialdemokraten strömten die Wähler in<br />

die ideologisch jüngeren radikal elitaristischen Parteien, besonders in die NSDAP. Diejenigen<br />

Parteien, die der NSDAP ideologisch am nächsten standen, wurden ausgezehrt. Das Zentrum als ein<br />

ideologisch erratischer Block im Strom der Jugendbewegung war dagegen von dieser<br />

Wählerwanderung wieder nicht betroffen.<br />

Gerade die DNVP, die sich unter dem Einfluß Hugenbergs und Stadtlers um 1930 von einer<br />

monarchistischen Honoratiorenpartei in eine neokonservative Bewegung transformierte, zahlte dafür<br />

einen hohen Preis. Als Bewegung war die NSDAP perfekter und ursprünglicher, die DNVP war eine<br />

Kopie und die NSDAP war <strong>das</strong> Original. Der Wähler vor die Wahl zwischen einem Original und einer<br />

Kopie gestellt, wählt fast immer <strong>das</strong> Original.<br />

Die DNVP löste sich langsam vom alten Reichspräsidenten und seinem monarchistischen Ambiente.<br />

Sie wurde jugendlicher, reformistischer und antibürgerlicher. Das wurde zum Beispiel in einem<br />

Artikel des Hauptgeschäftsführers des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, Jakob Wilhelm<br />

Reichert, vom September 1930 deutlich. Dieser schrieb unter anderem:<br />

„Zum Reichspräsidenten hätten die alten vertraulichen Beziehungen erhalten werden müssen.<br />

Statt dessen hat man es infolge der taktlosen und maßlosen Angriffe deutschnationaler Blätter mit<br />

dem Reichspräsidenten gründlich verdorben. (...) Hugenberg und sein engerer Freundeskreis legt<br />

größeren Wert auf gute Beziehungen zu den revolutionären Nationalsozialisten als auf<br />

ersprießliche Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien. (...) Hugenberg erstrebte mit Zustimmung<br />

der Partei die Zerschlagung der sozialistisch-bürgerlich gemischten "Großen Koalition". Warum<br />

führt er den gleichen Kampf gegen ein rein bürgerliches Kabinett fort, in dem auch alte<br />

Deutschnationale sitzen? (...) Die großen Reformarbeiten des Kabinetts Brüning-Schiele-<br />

292


Treviranus durften nicht abgelehnt werden, wenn man sich nicht gegen die staatspolitischen<br />

Belange und gegen <strong>das</strong> deutschnationale Programm selbst versündigen wollte...“ 375<br />

Ein Begeitumstand des Erfolgs der NSDAP war auch die Wahl einer veränderten Ästhetik: Die<br />

Nationalsozialisten begannen die Arbeit und den Arbeiter in der Agitation positiv und sauber<br />

darzustellen, und nicht den Arbeiter als Opfer sowie die Arbeit als Quelle von Verelendung. Die Arbeit<br />

war Kraftquell, unabhängig vom Ecklohn.<br />

Den grauen Darstellungen der Arbeit wurde eine saubere Ästhetik entgegengesetzt. Auch hier galt:<br />

Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. Es setzte sich langsam ein nationalsozialistischer<br />

Realismus durch.<br />

Die elendbefrachtete künstlerische Abstraktion in Grautönen wich dem schönen, glatten und<br />

kraftvollen Gegenständlichen. Mit dieser neuen glatten Ästhetik wurde der Durchmarsch in <strong>das</strong><br />

reformorientierte Lager der Mittelparteien eingeläutet, <strong>das</strong> Wahlergebnis von 1930 war erst der<br />

Beginn.<br />

Eine satte saturierte Gesellschaft kann sich graue Hemden und graue Bilder leisten, sie benötigt sie<br />

sogar als Ausgleich, um die mit dem Reichtum verbundenen Selbstzweifel zu verdrängen. Eine<br />

unzufriedene Gesellschaft hat diese Ästhetik irgendwann satt. Hitler begriff den ästhetischen Aspekt<br />

der Politik und er kümmerte sich um die Darstellung seiner Partei persönlich. Er entwarf die<br />

Standarten und die Uniformen der NSDAP, und er entwarf die Riten für seine Massenauftritte. Dafür<br />

entwickelte er höchste künstlerische Kompetenz.<br />

Neben dem kulturhistorisch-ästhetischen Phänomen der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit, <strong>das</strong> seit Mitte der<br />

Zwanziger Jahren auf der ästhetischen Gefühlsebene wirksam war und Teil einer Such- und<br />

Wechselstimmung war, kann man <strong>das</strong> Ergebnis der Reichstagswahl von 1930 auch auf einer<br />

politischen Gefühlsebene werten und erklären. Die ewigen Straßenschlachten zwischen<br />

Kommunisten, Eiserner Front und Nationalsozialisten nervten einerseits, andererseits waren die<br />

Nationalsozialisten im Wettbewerb um die kraftvollere Entfaltung des Straßenterrors erfolgreicher.<br />

Eine weitgehend entchristlichte und den Ideologien der natürlichen Auslese sowie des Kampfs ums<br />

Dasein verpflichtete Bevölkerung musste die strahlenden Sieger des schleichenden Bürgerkriegs<br />

attraktiver finden, als die ewigen Verlierer.<br />

Trotz des respektablen Wahlerfolgs der Elitaristen hatten die demokratischen Parteien noch die<br />

Mehrheit. Sie hätten nun wieder zusammenrücken können. Es gibt auch die Behauptung, daß die<br />

Aktionseinheit zwischen Sozialdemokraten und Stalinisten den Nationalsozialismus hätte verhindern<br />

können. Rein rechnerisch ging <strong>das</strong> jedoch nicht, wie die obige Tabelle zeigt, zumindest nicht in einem<br />

parlamentarischen System. Politisch funktionierte es schon gar nicht, da seitens der Stalinisten die<br />

politische Linie des Kampfes gegen den Sozialfaschismus erst auf der nächsten Kominterntagung<br />

1935 aufgegeben wurde.<br />

Gewinne und Verluste in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP KVP<br />

CSVd<br />

Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt - 4,4 + 3,1 - 1,9 - 8,2 + 17,5 + 5,7 - 0,2 - 10,5 - 1,1<br />

Braunschweig - 9,5 + 3,4 - 0,4 - 9,3 + 19,7 + 1,9 - 4,2 + 0,1 - 1,8<br />

Bremen - 8,4 + 1,9 - 3,9 - 2,2 + 10,9 - 2,1 - 0,6 + 3,3 + 1,0<br />

Hamburg - 4,8 + 1,2 - 3,1 - 4,6 + 16,6 - 0,1 - 8,6 + 2,8 - 0,1 + 0,7<br />

Lippe - 4,6 + 2,3 - 0,5 - 10,2 + 20,3 + 0,1 - 0,6 - 8,6 + 4,6 - 3,0<br />

Lübeck - 4,8 + 1,9 - 0,3 - 6,0 + 16,7 - 1,5 - 7,1 + 2,2 + 0,1 - 1,1<br />

Meckl.-Schwerin - 6,0 + 2,8 - 0,9 - 2,3 + 13,3 - 1,2 - 2,1 - 5,1 + 2,1 - 0,6<br />

Meckl.-Strelitz - 11,9 + 5,7 - 0,7 - 0,9 + 16,9 + 1,0 - 2,2 - 7,6 - 0,3<br />

Oldenburg - 4,7 + 1,6 - 4,4 - 4,8 + 19,1 - 1,4 - 1,1 - 3,6 - 0,6<br />

Sachsen - 4,2 + 1,9 - 0,9 - 5,2 + 15,6 - 1,3 - 1,1 - 4,8 + 2,5 - 2,1<br />

Schaumburg-Li - 3,9 + 1,3 - 0,2 - 4,3 + 17,5 - 2,1 - 0,8 - 8,2 + 2,5 + 0,1 - 4,6<br />

375 Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung<br />

Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zu Zeitgeschichte, Bd. 7, Berlin o.<br />

J., S. 357.<br />

293


+ 2,7<br />

Thüringen - 3,8 + 2,3 - 0,8 - 5,8 + 15,8 - 2,5 - 2,2 - 2,9<br />

Waldeck - 5,8 + 2,1 + 3,0 - 7,3 + 21,2 - 12,0 - 0,5 - 6,2 + 6,7 - 0,1 - 1,5<br />

Süddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Baden - 4,6 + 2,3 - 6,9 + 16,3 - 0,5 - 5,3 + 4,9 - 2,9 - 3,1<br />

Bayern - 3,5 + 2,2 - 1,2 - 1,9 + 11,6 + 4,3 - 0,4 - 8,0 - 2,9<br />

Hessen - 3,4 + 2,6 - 1,1 - 4,6 + 16,6 - 5,7 + 1,0 - 1,9 + 1,7 - 2,0 - 2,0<br />

Württemberg - 3,5 + 2,2 - 5,4 + 7,5 + 1,5 - 2,3 + 6,7 + 1,3 - 11,5<br />

Ostprovinzen SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd<br />

KVP<br />

Z/BVP Sonst.<br />

Berlin - 5,5 + 2,7 - 2,5 - 2,7 + 13,0 - 0,3 - 4,8 + 0,3<br />

Brandenburg - 1,1 + 3,2 - 1,7 - 4,2 + 20,9 + 6,1 - 0,8 - 14,3 - 3,1<br />

Niederschlesien - 7,4 + 2,7 - 1,1 - 3,2 + 20,5 + 3,1 - 1,3 - 14,7 + 3,0 + 0,2 - 1,8<br />

Oberschlesien - 3,3 + 3,9 - 0,6 - 1,3 + 7,9 + 1,1 + 0,8 - 1,9 - 4,8 - 1,9<br />

Ostpreußen - 5,7 + 2,3 - 1,3 - 4,4 + 17,5 - 0,4 - 11,8 + 4,2 + 0,5 - 0,9<br />

Pommern - 5,5 + 2,7 - 1,5 - 2,2 + 22,7 + 2,9 - 1,7 - 16,8 + 0,1 - 0,9<br />

Posen-Westpr. - 5,7 + 4,2 - 1,5 - 3,3 + 16,7 + 2,8 - 14,0 + 5,7 - 0,5 - 4,2<br />

Prov. Sachsen - 5,5 + 2,1 - 1,3 - 5,2 + 17,3 + 5,1 - 0,6 - 10,6 + 0,1 - 1,3<br />

Schleswig-Holst. - 5,5 + 2,7 - 0,8 - 6,6 + 23,1 + 3,5 - 1,3 - 16,8 + 2,0 - 0,1<br />

Westprovinzen SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Hannover - 4,6 + 1,4 - 0,9 - 4,9 + 18,5 - 2,0 - 0,9 - 3,2 + 0,6 - 6,6<br />

Hessen-Nassau - 6,7 + 2,1 - 1,7 - 4,7 + 17,5 - 0,8 - 0,3 - 6,9 + 4,3 - 0,9 - 2,0<br />

Hohenzollern - 2,1 + 2,3 - 2,7 + 6,7 - 0,7 - 0,5 - 4,2 + 0,6<br />

Rheinprovinz - 4,7 + 3,1 - 0,6 - 3,6 + 14,3 - 0,6 - 5,0 - 3,9 + 1,0<br />

Westfalen - 6,6 + 3,9 - 1,0 - 3,8 + 11,1 - 0,6 - 1,4 - 3,8 + 4,6 - 0,7 - 1,8<br />

Den Nationalsozialisten war vor allem der Einbruch ins konservative und ins Milieu der gemäßigten<br />

Reformisten gelungen, daneben mußten auch die Sozialdemokraten Überläufer abschreiben. Der<br />

Weg von den Konservativen zu den Nationalsozialisten erforderte für die nichtbegüterten Anhänger<br />

der Konservativen, insbesondere die 2 Millionen Arbeiterwähler, die die Konservativen in ihren besten<br />

Zeiten mobilisieren konnten, keine wirklichen Verbiegungen. Eine antisemitische und<br />

antikapitalistische Stimmung hatten die Konservativen immer transportiert, <strong>das</strong> Wahlpublikum bekam<br />

außer dem Verzicht auf den politischen Protestantismus nichts wirklich neues, sie bekamen die alten<br />

Programminhalte noch etwas konzentrierter. Das Reformpublikum von DStP und DVP bekam bei den<br />

Nationalsozialisten seinen Korporatismus, seine Volksgemeinschaft, den Massensport und die seit<br />

Friedrich Naumann gewünschte soziale Komponente. Für sozialdemokratische Anhänger war <strong>das</strong><br />

Überlaufen zu den Nationalsozialisten mit einer Veränderung verbunden. Man wurde zusätzlich zum<br />

Antikapitalisten auch Antisemit und mußte statt dem gewerkschaftlichen den völkischen Mief atmen.<br />

Der arbeiteraristokratische organisierte Kern der sozialdemokratischen Wähler blieb wie wir sehen<br />

werden bis zum bitteren Ende bei der SPD.<br />

Die Abspaltung der Konservativen Volkspartei bremste <strong>das</strong> Abbröckeln der Konservativen zu den<br />

Nationalsozialisten in einigen nordwestlichen Wahlbezirken geringfügig. Die Gewinne des Landvolks<br />

östlich der Elbe wurden ebenfalls von den Konservativen gespeist, zu einem geringeren Teil auch die<br />

des Christlich-Sozialen Volksdienstes. Im Durchschnitt kann davon ausgegangen werden, daß die<br />

Hälfte der konservativen Verluste den Nationalsozialisten zugute kam, die andere Hälfte den<br />

genannten kleineren Parteien.<br />

Dieses Abbröckeln zu den Kleineren war aber nicht unbedingt eine Absage an demokratiefeindliche<br />

Konzepte. Denn programmatisch war die NSDAP nur die Spitze des antidemokratischen Eisberges.<br />

Das Landvolk beispielsweise nannte sich im Gegensatz zu manch anderen Bauernparteien Landvolk,<br />

weil es völkisch war. Aber auch andere Bauernparteien, denen die Bewahrung des Volkstums nicht in<br />

den Namen gebrannt war, transportierten zunehmend völkische Ideen.<br />

In Süddeutschland war die DNVP 1930 zur Splitterpartei geworden, in Thüringen, Sachsen und in den<br />

preußischen Westprovinzen war es nicht viel anders. Lediglich in Ostelbien konnten sich die<br />

Konservativen einigermaßen behaupten.<br />

In einigen Wahlkreisen traten Landvolk, CSVd und KVP nicht an. Dort gewannen nur die NSDAP und<br />

die KPD. Es handelt sich um Oldenburg, Thüringen und Berlin. Ohne Überlagerungen durch diese<br />

294


neuen kleineren Parteien ist zu erkennen, daß von der SPD über die DStP, DVP und DNVP alle direkt<br />

an die NSDAP verloren. In den katholischen Hochburgen Hohenzollern, Rheinland und Oberschlesien<br />

bröckelte es auch an den Rändern des Zentrums.<br />

Ab 1930 wurde <strong>das</strong> Gründungsland Bayern der NSDAP zu einem Gebiet mit unterdurchschnittlichen<br />

NSDAP-Wahlergebnissen. Das lag besonders im Süden an der katholischen Bevölkerung. Das<br />

intellektuelle Schwabing und <strong>das</strong> protestantische Oberfranken und Mittelfranken einschließlich der<br />

Reichsparteistadt Nürnberg waren orientierungslose Inseln im katholischen Meer.<br />

Wähler sind keine Leibeigenen der Parteien. Bestimmte Milieus fühlen sich von bestimmten<br />

Programmen angezogen. Man sollte nicht davon sprechen, daß bestimmte Parteien Wähler an andere<br />

Parteien verlieren, sondern daß bestimmte Wählermilieus sich die passendsten Programme suchen<br />

und deshalb die Parteien wechseln.<br />

Die Wählerschaft der Nationalsozialisten ist oft als kleinbürgerlich bezeichnet worden, insbesondere<br />

um <strong>das</strong> proletarische Lager vor dem Verdacht zu bewahren, vom nationalsozialistischen Bazillus<br />

befallen gewesen zu sein. Das ist ungenau und nicht zielführend.<br />

Zunächst muß zwischen den protestantischen und den katholischen Wählern unterschieden werden.<br />

Im katholischen Hohenzollern holte die NSDAP 8,3 %, im protestantischen Pommern 27,0 %. Die<br />

Katholiken waren wesentlich resistenter. Zum zweiten wird die Generationsfrage oft übersehen. Die<br />

NSDAP war eine junge Partei, während ihre Konkurrenten zur Vergreisung neigten. Und drittens war<br />

<strong>das</strong> ländliche Umfeld anfälliger, als <strong>das</strong> städtische. In Berlin gewann die NSDAP 14,6 %, im<br />

angrenzenden Brandenburg 22,3 %.<br />

Wenn man die Wählerschaft in Milieus unterscheidet, so zeigt sich ein Umfeld als besonders anfällig:<br />

Das Milieu der nichtindustriellen Arbeiter- und Handwerkerschaft, <strong>das</strong> fließend ineinander übergeht.<br />

Wo war die Grenze zwischen Meistern und Gesellen, zwischen Postboten und Reichsbahnern,<br />

zwischen Gemeindearbeitern und Landarbeitern, zwischen Verkäufern und Handlungsreisenden?<br />

Es ergibt sich folgendes Profil: Der nationalsozialistische Wähler war vorwiegend aus protestantischen<br />

Gebieten, konfessionell nur schwach oder nicht gebunden, jung, lebte in ländlichen Gebieten, war ein<br />

Grenzgänger zwischen der industriellen, handwerklichen und landwirtschaftlichen Welt und erfüllte<br />

zumindest eins der genannten Kriterien.<br />

Weiterwursteln und Durchwursteln<br />

Nach der Wahl im Oktober 1930 regierte <strong>das</strong> 1. Kabinett Brüning weiter, als hätte es keinen Erdrutsch<br />

im reformistischen Milieu, keine Radikalisierung der Positionen gegeben. In der Regierung vertreten<br />

waren <strong>das</strong> Zentrum, die BVP, die aus der DDP hervorgegangene Deutsche Staatspartei (DStP), die<br />

DVP, die Wirtschaftspartei und gemäßigte Konservative. Die Regierung wurde von den<br />

Sozialdemokraten unterstützt, da diese bei Neuwahlen nicht zu Unrecht eine weitere Stärkung der<br />

Radikalen fürchteten. Die Sozialdemokraten hatten Neuwahlen provoziert, um hinterher mit leeren<br />

Händen dazustehen und doch wieder <strong>das</strong>selbe zu machen, wie vor der Wahl: nämlich die Zähne<br />

zusammenzubeißen und anderen Parteien ihre Politik zu ermöglichen. Die parlamentarische Basis für<br />

die Regierungsparteien betrug:<br />

Zentrum/BVP 14,8 %<br />

DVP 4,8 %<br />

WP 4,0 %<br />

DStP 3,8 %<br />

----------<br />

Summe 27,4 %<br />

Unterstützung durch SPD 24,5 %<br />

----------<br />

Summe 51,9 %<br />

Das reichte rechnerisch als parlamentarische Mehrheit. Außer dem Zentrum wären heute alle<br />

Regierungsparteien an der 5-%-Hürde gescheitert.<br />

295


Kurz nach der Wahl machte Reichskanzler Brüning am 5. Oktober einen folgenschweren taktischen<br />

Fehler. Er lud Hitler, Göring und Frick zu Sondierungsgesprächen über eine Teilnahme an der<br />

Regierung ein. Ab nun sprach jeder mit Hitler oder mit den revolutionären Strasser-Twins über<br />

Regierungsbeteiligungen. Das Gespräch selbst verlief für Brüning fruchtlos, für Hitler war es ein<br />

Erfolg, denn sein Ansehen stieg.<br />

Welche Distanz bestand zu Hitler ?<br />

„Gegen eine Dummheit, die gerade in Mode ist, kommt keine Klugheit auf“, hatte bereits Theodor<br />

Fontane bemerkt. Und hinterher waren alle schlauer, nicht nur in Deutschland, sondern auch im<br />

Ausland. Deutsche Politiker luden Hitler von 1930 bis 1933 immer wieder zu Koalitionsgesprächen ein,<br />

die französische Nationalmannschaft grüßte Hitler bei der Olympiade mit dem Olympischen Gruß,<br />

welcher dem Deutschen Gruß entsprach, und die internationale Gemeinschaft suchte Hitler mit der<br />

Draufgabe des Sudetenlandes beim Münchner Abkommen zu besänftigen. Woran lag es, daß die<br />

Distanz zu Hitler so gering war, daß national und international die Befriedungspolitik überwog?<br />

Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle, seine SA-Schlägertrupps und seine antisemitischen Ausfälle<br />

waren weder im In- noch im Ausland ein Geheimnis. Reichte <strong>das</strong> aus, um ihn und seine Bewegung zu<br />

ächten?<br />

Man sollte analysieren, welche Schnittmengen es mit anderen Parteien gab. Viele Zielstellungen der<br />

nationalsozialistischen Bewegung waren auch die Ziele der reformistischen, konservativen und<br />

sozialistischen Parteien.<br />

In der Außenpolitik gab es kaum Unterschiede. Die Zusammenarbeit mit Rußland (um Polen zu<br />

ruinieren) wurde von den Kommunisten über die Sozialdemokraten, Reformisten, Konservativen bis zu<br />

den Nationalsozialisten angestrebt und soweit man in der Regierung vertreten war auch praktiziert.<br />

Das Rapallo-Abkommen wurde ausgerechnet unter dem Zentrums-Kanzler Wirth abgeschlossen.<br />

Einig waren auch alle Parteien über die Revision des Versailler Vertrages. Hitler unterschied sich nur<br />

im Tonfall, aber nicht in der Sache. Otto Wels von derSPD begann seine berühmte Rede im Reichstag<br />

am 23. März 1933 nicht umsonst so:<br />

"Der außenpolitischen Forderung deutscher Gleichberechtigung, die der Herr Reichskanzler<br />

(gemeint ist A. Hitler) erhoben hat, stimmen wir Sozialdemokraten um so nachdrücklicher zu, als<br />

wir sie bereits von jeher grundsätzlich verfochten haben. Ich darf mir wohl in diesem<br />

Zusammenhang die persönliche Bemerkung gestatten, daß ich als erster Deutscher vor einem<br />

internationalen Forum, auf der Berner Konferenz vom 3. Februar des Jahres 1919, der Unwahrheit<br />

von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten bin."<br />

In der Leugnung der Schuld Deutschlands am Weltkrieg waren sich Sozialdemokraten und<br />

Nationalsozialisten offensichtlich einig und alle Parteien dazwischen sowieso.<br />

In der Wirtschaftspolitik gab es ebenfalls keine gravierenden Unterschiede, wie der Umstand beweist,<br />

daß die Wirtschaftspolitik aus den zwanziger Jahren in den dreißiger Jahren im wesentlichen<br />

fortgesetzt wurde. Das gemeinwirtschaftliche Konzept wurde von allen Parteien getragen, außer der<br />

KPD. Das Schuldenmachen wurde in den Dreißigern und Vierzigern verstärkt, der Anteil der<br />

Staatsindustrie wurde etwas vergrößert und die Zwangskartellierung wurde insofern verdeutlicht, als<br />

die Betriebsleiter nun Betriebsführer genannt wurden. Das waren aber mehr Verfeinerungen des<br />

bestehenden Wirtschaftssystems. Betriebe wurden im Rahmen der Kartelle schon vor 1933 autoritär<br />

geführt, der Unterschied zur Republik war nach der NS-Machtübernahme mehr atmosphärisch und<br />

symbolisch. Karl Marx hätte gesagt: der autoritäre Unterbau sucht sich einen autoritären Überbau.<br />

Hier ist genau die richtige Stelle erreicht, den nationalsozialistischen Antikapitalismus zu verstehen.<br />

Verstehen setzt zunächst voraus, eine verbreitete Denkgewohnheit beiseite zu schieben: die<br />

Gleichsetzung von Privateigentum und Kapitalismus. Nur die Kommunisten wollten die<br />

"Expropriateure expropriieren", die Ausbeuter enteignen. Die Reformparteien, <strong>das</strong> Zentrum und die<br />

Konservativen wollten <strong>das</strong> Privateigentum beibehalten. Die Sozialdemokraten wollten Privateigentum,<br />

außer für die Großindustrie und die Nationalsozialisten wollten Privateigentum, außer für die Juden.<br />

Das bedeutet jedoch keineswegs, daß alle, die <strong>das</strong> Privateigentum wollten, automatisch den<br />

Kapitalismus wollten. Die Sozialdemokraten wollten einen Sozialismus mit einem Mischsystem aus<br />

296


Staats- und Privateigentum mit staatlicher Planung, die Konservativen einen korporatistischen<br />

Feudalismus mit Privateigentum, <strong>das</strong> Zentrum wollte einen korporatistischen Staat nach der<br />

Soziallehre und die Mittelstands- und Reformparteien ein korporatistisches planwirtschaftliches<br />

Schlaraffenland mit billigen Preisen und ohne Streiks für Mittelständler, Kleinbürger, Landwirte und<br />

Freiberufler, am liebsten ohne scharfen Wettbewerb. Das letztere Mittelstandsparadies entsprach der<br />

späteren Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten und war insofern kein Märchenland. Für Bauern und<br />

Handwerker war die Zeit von 1934 bis 1939 ein kleines Schlaraffia. Wir müssen uns immer wieder<br />

einschärfen: Privateigentum gestattet alles mögliche: antike Sklaverei, Markgenossenschaft,<br />

mittelalterliches Lehnssystem, Zunftwesen, Kapitalismus und auch neuzeitlichen Korporatismus. Die<br />

Beibehaltung oder Abschaffung des Privateigentums entscheidet lediglich über die Frage, ob man<br />

noch vor die Antike zu den orientalischen Despotien oder zur Urgesellschaft zurückkehren will oder<br />

nicht. Wenn man sich für <strong>das</strong> Privateigentum entschieden hat, eröffnet sich ein enormer politischer<br />

Supermarkt der Möglichkeiten. Die Parteien, die sich für <strong>das</strong> Privateigentum entschieden hatten,<br />

hatten sich noch lange nicht für den Kapitalismus entschieden, in Deutschland wünschte man sich im<br />

allgemeinen <strong>das</strong> schöne Mittelalter mit dem Zunftwesen zurück. Der nationalsozialistische<br />

Antikapitalismus hatte keine Spitze gegen <strong>das</strong> Privateigentum, sondern gegen den Kapitalismus des<br />

freien Wettbewerbs, und dieser Kapitalismus wurde entsprechend den Lehren von Werner Sombart<br />

fälschlicherweise auf <strong>das</strong> zersetzende Wirken der Juden zurückgeführt. Die Stellung zum<br />

Privateigentum war nicht <strong>das</strong> Unterscheidungsmerkmal der Nationalsozialisten zu den anderen<br />

politischen Kräften, genausowenig wie die Stellungnahme zum Kapitalismus.<br />

In Verfassungsfragen unterschied man sich dadurch, daß die Parteien, die in den Zwanzigern nur<br />

verächtlich waren, von Hitler als die Quelle allen Übels dargestellt wurden. Das Ersatzkaisertum des<br />

Weimarer Präsidialsystems, <strong>das</strong> 1919 von SPD, Zentrum und DDP gewollt worden war und <strong>das</strong> ein<br />

Regieren am Parlament vorbei ermöglichte, wurde durch <strong>das</strong> Ermächtigungsgesetz nur zum<br />

Normalfall erhoben. Es war auch nicht <strong>das</strong> erste Ermächtigungsgesetz in der Zeit der Weimarer<br />

Republik.<br />

Auch in Fragen der Erbgesundheit gab es Berührungen mit anderen politischen Kräften, die<br />

daherrührten, daß alle Parteien durch die Lebensreformbewegung mehr oder weniger negativ<br />

beeinflußt waren. Hier stand allein <strong>das</strong> Zentrum auf einem abweichenden Standpunkt.<br />

Eine ähnliche Sonderstellung nahm die Schulpolitik ein. Auch hier waren bei der Verweltlichung alle<br />

Kräfte einig, außer dem Zentrum, <strong>das</strong> auf jeden Versuch der Veränderung im Sinne der Trennung von<br />

Kirche und Staat reflexhaft reagierte und Veränderungen ausbremste. Selbst im tiefsten<br />

Nationalsozialismus kam es zum siegreichen Kreuzzug gegen den braunen Satan, als die heidnischen<br />

Nationalsozialisten vergeblich die Kreuze aus den bayrischen Klassenzimmern verbannen wollten.<br />

Man kann alle Politikfelder durchgehen und kommt zum Ergebnis: Wenn man vom abweichenden<br />

<strong>Menschen</strong>bild des Zentrums einmal absieht, so betraf ein weiterer gravierender Unterschied zwischen<br />

den Verfassungsparteien der Weimarer Republik und der NSDAP <strong>das</strong> Verhältnis zu den Juden. Aus<br />

dem Antisemitismus speisen sich alle anderen Unterschiede, zum Beispiel in der Kulturpolitik. Die<br />

entartete Kunst wurde als jüdische Kunst dargestellt, die Zinsknechtschaft beruhte auf den Schulden<br />

gegenüber Juden usw.<br />

Diese Unterschiede im <strong>Menschen</strong>bild wurde in der allgemein recht übereinstimmenden<br />

Weltanschauung nicht genügend wahrgenommen. Es war ein sehr wesentlicher Unterschied, Achim<br />

Preiss schreibt, daß alle anderen diktatorischen Systeme mit der Zeit an Radikalität verloren, nur der<br />

Nationalsozialismus radikalisierte sich in der Frage der <strong>Menschen</strong>züchtung und Judenvernichtung<br />

immer mehr.<br />

Es ist die Frage, wieweit ein "Normaler" einen Fanatiker verstehen kann. Diesem Verständnis sind<br />

enge Grenzen gesetzt. Immer wieder werden deshalb Fanatiker unterschätzt. Milosevic, Bin Laden,<br />

Putin, Karasic, die sudanesischen Machthaber oder die Hutu-Milizen können auch heute großen<br />

Schaden anrichten, bevor sich die Welt, und hier insbesondere Europa zur Tat aufrafft. Mit<br />

ehemaligen Massenmördern, Folterern und <strong>Menschen</strong>händlern werden auch heute Koalitions- und<br />

Friedensgespräche geführt, überall auf der Welt, auch in Deutschland. Insofern sollten wir uns über<br />

die damalige Gesprächsbereitschaft mit einem Radikalen nicht verwundern, sondern uns die<br />

damaligen Denkweisen an denen der heutigen Zeit vergegenwärtigen.<br />

Insbesondere Journalisten haben immer den Hang allen Schmutz zu durchwaten und zu durchörtern,<br />

über ihn zu berichten oder Mörder zum Interview einzuladen. Wie oft wurde von deutschen Künstler-,<br />

297


Wirtschafts- und Journalistendelegationen in den zwanziger Jahren in Stalins Sowjetparadies gereist,<br />

um die sozialistischen Errungenschaften und Stalin zu preisen. Ein Journalist, der von den Taliban ein<br />

Interwiev begehrte, wurde in Karatschi enthauptet, ein anderer kroch mit verbundenen Augen in <strong>das</strong><br />

Loch, in dem sich Ramsi Binalshib aufhielt. Eine dauerhafte Distanz zu fraglichen Auffassungen und<br />

Personen ist schon wegen Sensationssucht, Gafferei und positivistischen Anwandlungen und<br />

Tendenzen nicht möglich.<br />

Es war nicht irgendein Karikaturist, der dem Reichskanzler Brüning im Mai 1932 anläßlich seiner<br />

Entlassung durch den Reichspräsidenten Hindenburg die Worte in den Mund legte: „Adieu, Herr<br />

Reichspräsident, und schreiben sie mir mal ´ne Ansichtskarte aus dem Dritten Reich!“ Es war einer<br />

der beiden Herausgeber des Simplicissimus, Thomas Th. Heine, welcher sich in einer Anwandlung<br />

schwarzen Humors als Kassandra versuchte. Der Begriff des Dritten Reiches war für ihn, wie für fast<br />

die Hälfte aller Deutschen nicht eindeutig negativ besetzt, mit dem Dritten Reich verbanden sich<br />

gerade auch positive Assoziationen wie Jugendlichkeit, wie der Kult der Tat und des Körpers, wie<br />

Ästhetizismus, Korporatismus und Patriotismus sowie Frische und Willenskraft. Es waren die Werte<br />

der Jugendbewegung und der konservativen Revolution. Bestenfalls hatte der Begriff des Dritten<br />

Reiches für die reformistische Hälfte der Bevölkerung einen ambivalenten Beigeschmack. Und diese<br />

Ambivalenz ergab sich allenfalls daraus, <strong>das</strong>s Hitler´s Sturmabteilungen eines der möglichen<br />

Werkzeuge der Wende waren, in manchen Augen ein unwürdiges Werkzeug mit einem nur gefreiten<br />

Vorgesetzten. Heines Karikatur setzte die geringe Distanz zwischen Reformismus und Drittem Reich<br />

in ein treffendes Bild.<br />

Die Distanz zu Hitler war wegen des Konsenses der politischen Strömungen in vielen Fragen des<br />

deutschen Sonderweges gering. Die Nationalsozialisten entnahmen ihre Programmatik zu 100 % aus<br />

vorhandenen Versatzstücken, ohne etwas neu zu schöpfen. Den Rassismus, den Nationalismus, den<br />

Antikapitalismus, den Antisemitismus, die planwirtschaftliche Verzunftung und Verkammerung vieler<br />

Wirtschaftsbereiche, die Mitteleuropakonzeption der Außenpolitik, die Frontstellung gegen Polen und<br />

Frankreich als Erbfeinde, die Ablehnung gegen England und die Vereinigten Staaten, antikatholische<br />

Stimmungen, den Sonnen- und Körperkult, die Eugenikgedanken, den Germanenkult sowie die<br />

Abneigung gegen die Parteienherrschaft gab es bereits vor der Novemberrevolution. Alle<br />

machtpolitisch brauchbaren Teile des Reformismus wurden von Hitler zusammengetragen<br />

(systematisiert waren sie schon) und mit einer braunen Ästhetik aufbereitet und schöngemacht. Das<br />

ganzheitliche Denken der Politik als Programm, als Auftritt, als Schau, die Politik zu ästhetisieren,<br />

darauf kamen Hitlers Gegner nicht in der gleichen zum Machtgewinn erforderlichen Schärfe. Die Rolle<br />

der politischen Rede mit dem Blickkontakt des Führers zum Zuhörer, die Uniformen, Blöcke,<br />

Standarten, Aufmärsche, Fackelzüge, Lichtdome, <strong>das</strong> sind Zeichen und Symbole, die uns<br />

Nachgeborenen fremd erscheinen, die aber in den Kontext der damals herrschenden<br />

Grundüberzeugungen hineinpaßten.<br />

Auch die Kommunisten und <strong>das</strong> Reichsbanner versuchten sich in Auftritten und Aufmärschen, aber<br />

diese eher nüchtern anmutenden Zurschaustellungen schwammen nicht auf der fetten Soße der<br />

elitaristischen Kulturrevolution. Sie waren nicht durchästhetisiert und sie waren was die Kommunisten<br />

betraf auch inhaltlich nicht konsenzfähig. Thälmann konnte aus dem obigen Konsenztopf nur<br />

Teilmengen wie den Antikapitalismus, den Antikatholizismus, die Frontstellung gegen Polen, England<br />

und Amerika sowie die Abneigung gegen die Parteien herauslöffeln und unter <strong>das</strong> Publikum verteilen.<br />

Die Parole von Sowjetdeutschland war überhaupt kein agitatorischer und propagandistischer Kracher,<br />

sie war nicht konsenzfähig. Solche Ladenhüter mied Hitler. Er wollte auf dem mainstream schwimmen<br />

und er schwamm auf diesem. Seine Machtergreifung als Betriebsunfall darzustellen ist deshalb<br />

unsachgemäß. Sein Aufstieg ist <strong>das</strong> berechenbare Produkt aus den gewachsenen Faktoren der<br />

Kaiserzeit wie der Weimarer Republik und seine Machtergreifung resultiert aus der berechenbaren<br />

Summe der abgegeben Stimmen bei den letzten drei Reichstagswahlen.<br />

Zwischen Hitler und Thälmann gab es noch eine Schnittmenge, die es zu Sozialdemokraten, Zentrum<br />

und gemäßigten Reformisten nicht gab: Es war der Straßenterror mit Gewaltsorgien. Als die eine Seite<br />

über die andere Seite gesiegt hatte, traten im Frühjahr 1933 freiwillig ganze Rotfrontstürme zur SA<br />

über, bei Beibehaltung des Sturmlokals. Sie wurden als Bulettenstürme bezeichnet: außen braun und<br />

innen rot. 376<br />

376 Joachim Fest in der TAZ vom 27.9.2003, S. 13<br />

298


Entfaltet <strong>das</strong> rote Banner des Weltoktobers!<br />

Nach der Konstituierung des Reichstages am 13.10.1930 brachten KPD und NSDAP<br />

Mißtrauensanträge gegen die Regierung ein und versuchten über Geschäftsordnungstricks die<br />

parlamentarische Arbeit zu behindern. Bereits am 18.10. beschloß der Reichstag mit den Stimmen der<br />

Regierungsparteien und der SPD gegen alle Mißtrauensanträge der KPD und der NSDAP zur<br />

Tagesordnung überzugehen.<br />

Zu NSDAP und KPD, die zusammen über ein Drittel der Reichstagssitze verfügten, gesellten sich bei<br />

der Behinderung der parlamentarischen Arbeit von Fall zu Fall auch die DNVP- und Landvolk-<br />

Abgeordneten, so auch am 18.10.1930. Diese Zusammenarbeit von Kommunisten, Nationalsozialisten<br />

und Neokonservativen sollte von nun an eine größere Bedeutung gewinnen.<br />

Es kam darauf an, wieweit <strong>das</strong> Regierungslager und die SPD gegen die Feinde der Republik<br />

zusammenhielten. Hätten die demokratischen Parteien zusammengehalten, wäre die nächste<br />

Reichstagswahl Ende 1934 fällig gewesen, lange nach dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise.<br />

Soviel Stabilität lag jedoch nicht in Hitlers und nicht in Stalins Interesse.<br />

Wie aus einer anderen Welt kamen die Forderungen der Kommunisten. Sie wohnten auf einem<br />

anderen Stern, es war ein roter Stern, dessen Licht in Moskau gezündet und gebrannt wurde. Am<br />

07.11.1930 mischte sich Moskau wie bereits gewohnt in die deutsche Politik ein. Es war eigentlich<br />

schon lange klar, daß die Sowjetunion und ihre Wasserträger von der KPD einen russischen<br />

Satellitenstaat aus Deutschland machen wollten. Im November wurde diese Option nur klarer<br />

ausgesprochen, als vorher. "Entfaltet <strong>das</strong> rote Banner des Weltoktobers!" hieß der Thälmann-Artikel in<br />

der "Roten Fahne", dem Zentralorgan der KPD. 377<br />

"Während in allen kapitalistischen Ländern, vor allem in Deutschland, unter den Schlägen der<br />

Weltwirtschaftskrise <strong>das</strong> morsche System der niedergehenden kapitalistischen Welt erzittert,<br />

während die Fabriken stillgelegt werden, in jeder Woche neue Zehntausende und Hunderttausende<br />

von Arbeitern aufs Straßenpflaster fliegen, wachsen in der Sowjetunion gigantische Werke der<br />

sozialistischen Wirtschaft empor, drehen sich die Räder, rauchen die Schlote, dehnen sich die<br />

riesigen Getreidefabriken, die sozialistischen Sowjetgüter, auf dem urbar gemachten Land."<br />

Kein Klischee war zu platt, keine Metapher zu abgedroschen, um <strong>das</strong> Heimatland der Werktätigen zu<br />

preisen. Heinrich Vogeler, der seine künstlerische Bahn vor dem Krieg in der Künstlerkolonie<br />

Worpswede mit neoromantischen und Jugendstilgemälden begonnen hatte (rechts exlibris für Bertha<br />

Bienert), wurde 1923 Kommunist und besuchte die Sowjetunion. Danach schuf er drei<br />

„Komplexbilder“, in denen er alle vermeintlichen Errungenschaften gemäß der sowjetischen<br />

Propaganda pries. Die Agitationstafel „Baku“ zeigt die ideologisch gefärbten Wunschbilder vom<br />

aserbaidschanischen <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>. Im Bildzentrum dominieren Schul- und Initiationsszenen<br />

sowie ein Heiligenbild von Lenin.<br />

Thälmann pries den Stalinismus in allen Tonarten, nicht ohne auf den Versailler Friedensvertrag mit<br />

seinen Reparationen hinzuweisen. Darin stand er Hitler und Hugenberg in nichts nach:<br />

"Das Proletariat der Sowjetunion kennt keine Young-Sklaverei, keinen Dawes-Plan, keinen<br />

Versailler Friedensvertrag. Die siegreiche proletarische Revolution hat die imperialistischen<br />

Raubverträge zerrissen und die zaristischen Schulden für null und nichtig erklärt. Die proletarische<br />

Diktatur hat den Massen Arbeit, Brot und Freiheit gegeben. Die Rote Armee, <strong>das</strong> Schwert der<br />

Arbeiter-und-Bauern-Macht, hat in der Vergangenheit alle Anschläge der imperialistischen<br />

Banditen auf <strong>das</strong> Land des Sozialismus abgewehrt und wird auch in Zukunft die räuberischen<br />

Gelüste der Imperialisten zurückzuschlagen wissen. Mit dem Takt der Maschinen in den Fabriken<br />

der sozialistischen Industrie, mit dem Knattern der Traktoren auf den Feldern der Sowjetgüter und<br />

Kollektivwirtschaften, mit dem Sturmschritt der Bataillone der Roten Armee entfacht <strong>das</strong> Land des<br />

Roten Oktobers in den Herzen der Arbeiter aller Länder die Flamme des proletarischen<br />

Kampfwillens für den Sozialismus. Das Beispiel der russischen Revolution, <strong>das</strong> Beispiel des<br />

siegreichen sozialistischen Aufbaus, der erfolgreichen Durchführung des Fünfjahrplans wird zum<br />

Hebel für den revolutionären Klassenkampf in allen kapitalistischen Staaten. Der rote Oktober<br />

entfaltet zugleich <strong>das</strong> Sturmbanner des kommenden Weltoktobers! Die deutsche Arbeiterklasse,<br />

377 www.thaelmann-gedenkstaette.de/werke/19301107.htm<br />

299


die <strong>das</strong> kapitalistische Massenelend der Joung-Sklaverei erduldet, blickt mit glühender<br />

Begeisterung auf die Sowjetunion. Die Millionen Erwerbslosen in Deutschland, denen der<br />

Kapitalismus den Hungertod für Männer, Frauen und Kinder beschert, begreifen aus dem Beispiel<br />

der Sowjetunion, daß ein kommendes Sowjetdeutschland auch ihnen Arbeit und Brot durch den<br />

Siebenstundentag mit vollem Lohnausgleich und die Fünftagewoche schaffen wird."<br />

Die Kooperationsfähigkeit, der Wille mit anderen gesellschaftlichen Kräften gemeinsame Ziele zu<br />

verfolgen, war gleich Null. Die kommunistische Tendenz, sich von der übrigen deutschen Gesellschaft<br />

völlig abzugrenzen und abzusondern, hatte eine fatale Konsequenz. Parlamentarische und<br />

außerparlamentarische Bündnisse mußten damit leben, daß ein Achtel der Gesellschaft bei der<br />

demokratischen Lösungsfindung und später bei der Abwehr der nationalsozialistischen<br />

Machtübernahme von vornherein ausfiel. Mit den Parolen von der Young-Sklaverei fiel die KPD als<br />

Gegengewicht gegen die NSDAP nicht nur aus, sondern sie spielte Hitlers Spiel mit, bis <strong>das</strong><br />

republikanische Gegenspiel aus war. Auf den verhießenen 7-Stunden-Tag warteten die Werktätigen<br />

der DDR bei einer 43-Stunden-Woche noch 1989.<br />

Das Unbehagen in der Kultur<br />

1930 erschien unter der headline „Das Unbehagen in der Kultur“ eine Arbeit von Siegmund Freud, die<br />

sich dem Zusammenhang zwischen der Zivilisation und der Psyche widmete. Die Kultur und die<br />

Zivilisation erschienen nach dem Erstarken der Nationalsozialisten und Kommunisten in Deutschland<br />

tatsächlich gefährdet.<br />

Aber warum gab es nun Unbehagen in der Kultur? Warum war gerade jetzt der Firnis der Zivilisation<br />

eine abblätternde Schicht?<br />

Der Zuchtmeister der ödipalen Geister selbst schrieb am Ende der zwanziger Jahre im „Unbehagen in<br />

der Kultur“, daß "Überleben und Zivilisation unvereinbar" seien und "daß die Zukunft der Menschheit<br />

ohne die alles durchdringende Heimsuchung der Zivilisation sicherer wäre". 378 Die Bedürfnisse der<br />

Kultur ständen dem Todestrieb des <strong>Menschen</strong> prinzipiell im Wege. Wegen jeder menschlichen<br />

Triebregung steige <strong>das</strong> Schuldgefühl, welches durch die Triebkontrolle des Über-Ichs ausgelöst<br />

werde. Da eine Triebregung stärker werde, wenn der Mensch ihr nicht folge, und die Kulturentwicklung<br />

immer stärkeren Triebverzicht verlange, steige mit fortschreitender Kulturentwicklung auch die<br />

Differenz zwischen Triebverlangen und Triebabfuhr und <strong>das</strong> durch die im Über-Ich gespeicherten<br />

Normen veranlasste Schuldgefühl der <strong>Menschen</strong>. Freud diagnostizierte eine zunehmende<br />

Kulturfeindlichkeit der Frauen, die mit dem Widerspruch zwischen Familie und Kultur verflochten sei.<br />

Kultur wäre nun einmal Männersache. Und er sah einen wachsenden Widerspruch zwischen dem<br />

Sexualverlangen und der Kultur. Die Kultur fresse die Energie für den Sex.<br />

Wer die heutigen Malkurse der Volkshochschulen kennt oder einen Tennisplatz am Vormittag, der<br />

weiß, <strong>das</strong>s Freuds Anmerkungen über den Zusammenhang zwischen Familie, Kultur, Frau, Mann und<br />

Sex aus einer Momentaufnahme der 20er Jahre resultierten. Frauen gehen heute genauso wie<br />

Männer kulturellen und sportlichen Beschäftigungen nach. Seine eigene Lebenszeit mit<br />

vorherrschenden Männerbünden hat Freud beschrieben; aber wie wir seit Albert Einstein wissen, sind<br />

Raum und Zeit gekrümmt und relativ. Kultur war nur bei den frühen Nietzscheanern eine<br />

Männersache; Männerbünde, die der Familie und dem Sex die Zeit stahlen, waren ein Phänomen der<br />

ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.<br />

Wie dem auch sei: Siegmund Freud bekam, was er wollte. Bereits 1933 wurde die Zivilisation<br />

schrittweise zurückgedrängt. Wer zum Beispiel Juden, die katholische Kirche oder Sozialdemokraten<br />

ärgern wollte, <strong>braucht</strong>e dabei keinen qualvollen Triebverzicht mehr zu erleiden. Die Differenz zwischen<br />

Triebverlangen und Triebabfuhr wurde immer geringer und es trat zum Schluß <strong>das</strong> ein, was Freud<br />

nicht erwartet hatte: die Triebregung der SA und der SS wurde sogar immer stärker, obwohl kein<br />

Triebverzicht mehr verlangt wurde. Die Theorie war also definitiv falsch. Freud war intelligent und<br />

erkannte in den dreißiger Jahren, <strong>das</strong>s er sich geirrt hatte.<br />

378 zitiert aus: Die Psychoanalyse wird 100: Der ewige Krieg um Freud von Bernd Nitzschke, DIE ZEIT Ausgabe<br />

Nr. 29 vom 12. Juli 1996<br />

300


Arnold Zweig übermittelte ihm ein Lob für <strong>das</strong> „Unbehagens in die Kultur“ ins Londoner Exil. Von dort<br />

aus schrieb Freud kurz vor seinem Tod an Arnold Zweig:<br />

„Was Sie für trostreiche Aufklärungen in meinem Unbehagen entdeckt haben wollen, kann ich nicht<br />

leicht erraten. Dieses Buch ist mir heute sehr fremd geworden.“ 379<br />

Wir können sehen: der Meister entschied sich am Schlusse doch für den unverzichtbaren humanitären<br />

Kitt der Religion und den ölig-schleimenden kulturellen Firnis der Zivilisation.<br />

Wie bereits angemerkt: Kommunisten und Nationalsozialisten trommelten 1930 vor den Toren der<br />

republikanischen Ordnung und bedrohten unverhohlen <strong>das</strong> bissel Freiheit, welches die Republik<br />

garantierte. Es war ohnehin kein wirtschaftlicher Wettbewerb, der sich in der Gefahr befand,<br />

abgeschafft zu werden, es war auch kein breit angelegter Wettbewerb der politischen Konzeptionen,<br />

der gefährdet schien, es war nur <strong>das</strong> bisschen Freiheit, welches Leib und Leben sowie die Wohnung<br />

und die etwas eingeschränkte Pressefreiheit schützte, aber selbst dieses bisschen wurde nicht<br />

geschätzt; es war für die meisten noch nicht einmal etwas wert, als es fehlte.<br />

Es wäre Zeit gewesen, aufzustehen und den Deutschen eine Orientierung zu geben. Der Autor<br />

Hermann Hesse hätte sich zum Beispiel ins Zeug legen können und wenigstens im ureigensten<br />

Interesse den Finger gegen die drohende Zensur und gegen Berufsverbote rühren können. Fast sah<br />

es auch so aus, als wenn er <strong>das</strong> täte. 1927 erschien seine short story „Bei den Massageten“, die den<br />

Empfang eines deutschen Literaten in der Sowjetunion karikierte:<br />

„Sehr verbunden, sprach etwas düster der Massagete. Ihr Name ist uns nicht unbekannt. Unser<br />

Propagandaministerium verfolgt alle Äußerungen des Auslandes über uns mit größter Sorgfalt, und<br />

so ist es uns nicht entgangen, <strong>das</strong>s Sie der Verfasser von dreißig Zeilen über massagetische Sitten<br />

und Bräuche sind, die Sie in einer Zeitung veröffentlicht haben. Es wird mir eine Ehre sein, Sie auf<br />

Ihrer diesmaligen Reise durch unser Land zu begleiten und dafür zu sorgen, <strong>das</strong>s Sie bemerken<br />

können, wiesehr manche unserer Sitten sich seither verändert haben.“<br />

1930 erschien Hesse´s rätselhafte von jeglicher europäischen Moral bereinigte Geschichte „Edmund“.<br />

Bereits die Einleitung ließ schlimmes befürchten, da sich Hesse so wie seinerzeit der Geheimrat<br />

Goethe hinter einem anonymen „man“ verbarg, wenn er Gemeinheiten lancierte:<br />

„Man hatte genug und übergenug von den analytischen Methoden, von der Technik als<br />

Selbstzweck, von den rationalistischen Erklärungskünsten, von der dünnen Vernünftigkeit jenes<br />

Weltbildes, <strong>das</strong> einige Jahrzehnte vorher die Höhe europäischer Bildung bezeichnet hatte und<br />

unter dessen Vätern einst die Namen Darwin, Marx und Haeckel hervorragten. In fortgeschrittenen<br />

Kreisen wie denen, welchen Edmund angehörte, herrschte sogar eine gewisse allgemeine<br />

Geistesmüdigkeit, eine skeptische, von Eitelkeit übrigens nicht freie Lust an illusionsloser<br />

Selbstkritik, an einer kultivierten Selbstverachtung der Intelligenz und ihrer herrschenden<br />

Methoden.“<br />

Hesse schrieb selten eine Erzählung, ohne etwas Angesagtes aus Wissenschaft oder Kultur zu<br />

verarbeiten. Wie eine Wurstfabrik aus Schweinen Wurst herstellt, so machte Hesse aus Ideologie<br />

Geschichten. Seine Kindheitserinnerungen replizierten auf Ellen Keys Kinderpsychologie, sein<br />

Klingsor seufzte die Seufzer der Expressionisten, in der Erzählung „Tragisch“ (1922) erfolgte die<br />

Auseinandersetzung mit Nietzsches Sprachgewalt; warum sollte „Edmund“ nicht auf „<strong>das</strong> Unbehagen<br />

in der Kultur“ einen literarischen Refrain zusammenreimen? Die Erzählungsfigur Edmund studierte<br />

altindische Tantren bei Professor Zerkel. Während sich Zerkel am rationalistischen Sammeln,<br />

Vergleichen, Erklären, Einordnen erfreute, versenkte sich sein Student voll Sehnsucht nach indischer<br />

Religiösität in den Geist:<br />

„nämlich voll Hochachtung, ja Neid gegen die Erscheinungen religiösen Lebens, voll Hunger nach<br />

den Inhalten jener Kultur und Formeln, die uns die Geschichte überliefert hat, und voll heimlicher,<br />

halb lebensmüder, halb zum Glauben breiter Begierde nach dem Kern aller jener Erscheinungen,<br />

nach einem Glauben und einer Seelenhaltung, die es ihnen vielleicht ermöglichen würde, gleich<br />

ihren fernen Vorfahren aus starken und hohen Antrieben heraus und mit jener verlorengegangenen<br />

Frische und Intensität zu leben, wie sie aus den religiösen Kulten und aus den Kunstwerken der<br />

Vorzeit strahlt.“<br />

379 Referat von M. Hofmüller und T. Elze vom 5. Nov. 1998 im Seminar „Freuds Religions- und Kulturkritik“ bei<br />

Prof. Dr. Klaus Christian Köhnke<br />

301


Hesse ließ seinen Edmund, eine Inkarnation der Irrationalität, eine tantrische Übung vollführen:<br />

„Schon kurz nach Beginn des einfachen Atem-Yoga, <strong>das</strong> er oft geübt hatte, fühlte er etwas in<br />

seinem Inneren geschehen, fühlte dann in der Mitte des Kopfes eine kleine Höhlung entstehen,<br />

sah sie klein und dunkel gähnen, richtete mit zunehmender Glut seine Aufmerksamkeit auf die<br />

nußgroße Höhle, (...). Und die Höhle begann sich von innen her zu erhellen, und die Helligkeit<br />

nahm allmählich zu, und klar und klarer enthüllte sich seinem Blick in der Höhle <strong>das</strong> Bild dessen,<br />

was zu tun ihm nötig war, damit er <strong>das</strong> Leben weiterleben könne. Er erschrak nicht über <strong>das</strong> Bild,<br />

er zweifelte keinen Augenblick an seiner Echtheit; er spürte im Innersten, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bild recht habe,<br />

<strong>das</strong>s es ihm nichts zeige als <strong>das</strong> vergessene tiefste Bedürfnis seiner Seele. (...) Er schlug die<br />

während der Übung gesenkten Lider wieder auf; er erhob sich von der Bank, trat einen Schritt vor,<br />

streckte die Hände aus, legte sie beide um den Hals des Professors und drückte ihn so lange<br />

zusammen, bis er fühlte, <strong>das</strong>s es genug sei.“<br />

Hermann Hesse ließ den rationalistischen Professor Zerkel ohne ein Wort des Bedauerns erdrosseln.<br />

Die neue Zeit der starken Seele und des starken <strong>Menschen</strong> forderte ihre Opfer.<br />

Wenn Hesse einen älteren Rationalisten kritiklos in den ewigen Schlaf befördern ließ; warum sollten<br />

<strong>das</strong> andere wie die Nationalsozialisten nicht auch dürfen? War die Republik nicht auch ein älteres<br />

rationalistisches Konstrukt, <strong>das</strong> von kräftigen jüngeren Händen und überzeugten Köpfen erwürgt<br />

wurde?<br />

„Das viele Lesen hat uns eine gelehrte Barbarei zugezogen“, hätte J. G. Lichtenberg dazu bemerkt.<br />

Der Begriff der Bürgerlichkeit<br />

Die deutsche Sprache ist an manchen Stellen vage und ungenau. Exemplarisch ist der Begriff des<br />

Bürgers ganz überwiegend mit ungenauem Sinn verwendet worden, als sich selbst erklärend, <strong>das</strong><br />

eine Mal als Antonym zum Arbeiter, manchmal als Kurzwort für den mündigen Staatsbürger und sonst<br />

ohne jeden Sinn. Zuweilen wurde der Bürger auch zum Schimpfwort, der Kleinbürger wurde oft als<br />

schwankender Geselle an die Wand der Kritik gestellt. Aus der Kritik an der Bürgerlichkeit saugten<br />

viele Rattenfänger ihren Honig. Besonders antibürgerlich gab sich Herrmann Hesse, ohne <strong>das</strong>s er<br />

einen präzisen Begriff verwendet hätte. Der Begriff der Bürgerlichkeit ist bei Hesse ein kultureller<br />

Begriff, kein ökonomisch durchdachter oder gerechtfertigter, der Bürger ist bei Hesse einfach ein<br />

verzopfter Standesgenosse, und nicht jener Bürger, der als Bourgeois Waren produziert, der als<br />

ausbeutende Klasse der Arbeiterklasse gegenübersteht, auch nicht der idealisierte<br />

verantwortungsvolle Staatsbürger der deutschen Staatslehre. Bereits Karl Marx gab den<br />

unentwickelten Zuständen in Deutschland die Schuld, daß sich keine moderne Forschung zur<br />

politische Ökonomie in Deutschland entwickelte, außer Anwendungen der Kameralistik auf die Volks-<br />

und Betriebswirtschaft; <strong>das</strong>s alles politische Denken um die tradierten Begriffe des späten Mittelalters<br />

und der frühen Neuzeit kreiste. 380<br />

Herrmann Hesse war Württemberger, und insofern in einer seit dem Mittelalter gewachsenen<br />

Stadtkultur und Stadtwirtschaft sehr verwurzelt. Biedere selbstgerechte Handwerksmeister, arme<br />

Handwerksburschen und Gesellen, Kaufleute und Krämer, Ackerbürger, Zolleinnehmer, Postillione,<br />

Stadtsoldaten und Nachtwächter, Lehrer, Hausangestellte, Tagelöhner, eine insbesondere in der<br />

Geburtsstadt von Hesse, Calw pietistisch orientierte Geistlichkeit, aber kaum industrielle Kapitalisten<br />

und Industriearbeiter. 381 Ludwig Richter und Spitzweg haben die süddeutsche Stadt immer wieder<br />

treffend ins Bild gesetzt, eben eine vorbürgerliche Scheinromanze mit Beschaulichkeit, einer gewissen<br />

geografischen Enge und harter Traditionspflege. Wenn etwas sehr traditionell war, so nannte man es<br />

altfränkisch. Der industrielle Kapitalist aus dem kommunistischen Manifest, der über den Erdball jagt,<br />

um irgendetwas in Mengen auf den Weltmarkt zu werfen, der alle standesgesellschaftlichen Werte<br />

und Regeln über den Haufen wirft, der kam zu Hesses Zeiten in Süddeutschland nur am Rande vor,<br />

der konnte der Gesellschaft seinen Stempel nicht aufdrücken.<br />

Selbst Narren waren in Zünften organisiert, es ging ihnen weniger um den Gott Jokus, sondern um<br />

<strong>das</strong> zähe Festhalten am mittelalterlichen archaischen Handwerker<strong>braucht</strong>um. Nachweislich wurde der<br />

lockere literarische Karnevalismus in Schwaben und Alemannien durch die Narrenzünfte seit der<br />

380 K. Marx, Nachwort zur 2. Aufl. Des „Kapitals“, 1873<br />

381 Hesses Vater war pietistischer Pfarrer.<br />

302


zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgedrängt und verdrängt. Hinter standardisierten<br />

Holzmasken verborgen, bar jeder Individualität, springen die Rottweiler Narren gemäß tradierten Riten<br />

durch ihre Stadt, jede Maske und jede Schelle muß von der Disziplinarkommission abgenommen<br />

werden. Jede entindividualisierte Maske hat ein numeriertes Zugband. Wenn ein Narr beim Umzug<br />

aus der Reihe tanzt, wird <strong>das</strong> Zugband von den Tugendwächtern abgerissen und der außer Rand und<br />

Band geratende Narr wird anhand der Zugbandnummer identifiziert und vor der Disziplinarkommission<br />

verklagt. In der Regel wird ihm <strong>das</strong> Zugband aberkannt, ohne dieses Band darf kein Narr am Zug<br />

teilnehmen. Diese Zensur ist sehr unindividualistisch, sie ist unverkennbar zünftigen Ursprungs.<br />

Die Gewerbefreiheit wurde in Württemberg bezeichnenderweise mehr als 50 Jahre später eingeführt,<br />

als in Preußen.<br />

In diesem vorbürgerlichen Zusammenhang spielte sich die Bürgerlichkeit bei Herrmann Hesse als<br />

sauberkeitsbesessener und ordnungsvernarrter Exzess von Zwangscharakteren ab. Staubphobie und<br />

Strammstehen von Blumenkübeln im Treppenhaus, Leistungsdruck für Gymnasiasten, Druck, Zwang,<br />

Ordnung, Sauberkeit <strong>das</strong> war für Herrmann Hesse Bürgerlichkeit. Max Weber beschrieb diese<br />

Traditionen nicht als Bürgerlichkeit, sondern als puritanische Tyrannei. 382<br />

Es handelt sich nicht um Bürgerlichkeit im modernen Sinne, sondern um kulturelle Rückstände des<br />

Zunftwesens, die Hesse beschreibt, eine ständisch-zünftige Bürgerlichkeit des Mittelalters eben. Die<br />

Zersetzungsprodukte des Zunftwesens mit lokalen, beschränkten, diktatorischen, detailbesessenen<br />

Vorgaben prägten die gesellschaftlichen Grundfiguren. "Bürger im ständischen Sinn gab es schon vor<br />

der Entwicklung des spezifisch abendländischen Kapitalismus", wußte schon Max Weber. 383 Und er<br />

unterschied sie genauso wie Karl Marx von den Bürgern im modernen Sinne.<br />

Wenn Hesse die Ordnung und der Muff Süddeutschlands um die Jahrhundertwende gestört hat, so ist<br />

<strong>das</strong> für den normal denkenden Mitbürger nachvollziehbar und verständlich. Hesse war leider zu wenig<br />

in der Welt herumgekommen, um die kritisierten Zustände richtig einzuordnen.<br />

Statt Mittelalterkritik schwingt Kapitalismuskritik mit, der Künstler wird als Vorbild dem Spieß-Bürger<br />

gegenübergestellt, aber es ist schon wider ein Künstler, der fest auf dem Boden dessen steht, was er<br />

bekämpft: es ist ein süddeutscher Spieß-Künstler, dem die Tendenz der welthistorischen Entwicklung<br />

und die welthistorische Rolle des Kapitals als Motor des Fortschritts fremd sind. Objektiv gehört Hesse<br />

zu den kulturellen Totengräbern der Republik, sein originärer Beitrag liegt auch in direkten Angriffen<br />

auf die Demokratie, mehr jedoch in der Verwirrung eigentlich klarer Begrifflichkeiten. Diese Verwirrung<br />

war eine der Voraussetzungen für die Rolle rückwärts.<br />

Die vagen Begriffe des Bürgertums und der bürgerlichen Gesellschaft haben sich eingebürgert.<br />

Natürlich waren diejenigen, die in einer mittelalterlichen Stadt die Bürgerrechte hatten, Bürger. Aber<br />

sie waren wirkliche Sklaven ihres Gemeinwesens, keine Individuen im modernen Sinne, sondern die<br />

Vögel eines Schwarms oder die Wölfe eines Rudels in <strong>Menschen</strong>gestalt. Sie konnten keinen Schritt<br />

tun, ohne beäugt zu werden, ob dieser Schritt auch der Gleichschritt sei. „Wald hat Ohren, Feld<br />

Gesicht“, hieß es damals. Das war im weltläufigen Venedig genauso wie im abgelegenen<br />

Landstädtchen Calw. Alle Aktivitäten dienten nur der Erhaltung des Gemeinwesens als Ganzem.<br />

Individuelle Abweichungen waren nicht gewünscht, Neid auf Andere wurde als gemeinsinnstiftende<br />

Moral kultiviert, obwohl die 10 Gebote ihn eigentlich nicht zuließen. Die Bürgerhäuser am Marktplatz<br />

von Hirschberg waren alle etwa gleich hoch und gleich breit. Wenn eines einige Zentimeter höher war,<br />

so musste es zum Ausgleich einige Zentimeter schmäler sein. Die Gastwirte der DDR durften genau<br />

20.000 Mark im Jahr verdienen. Wenn dieses Ziel erreicht war, egal ob nach 6 oder 11 Monaten<br />

mussten sie die Gaststätte schließen, um zu renovieren. So kleinkariert war Deutschland. Diese<br />

Bürgerlichkeit des Mittelalters ist von der Bürgerlichkeit des individualistischen Zeitalters begrifflich<br />

nicht getrennt, faktisch war die Bürgerlichkeit der Marktwirtschaft jedoch <strong>das</strong> genaue Gegenteil der<br />

bürgerlichen Ideale der Gemeinwirtschaft. In der Lehre von Adam Smith tun die Bürger genau <strong>das</strong>,<br />

was sie in Gemeinwirtschaften nicht durften: Sie nabelten sich vom Gemeinwesen soweit als möglich<br />

ab und kämpften gegeneinander um persönlichen Erfolg. Und dieser persönliche Erfolg wurde zum<br />

Ausweis der Einhaltung der Normen einer neuen Moral, so wie der Gleichschritt der Ausweis der<br />

Einhaltung der Normen der Moral der Gemeinwirtschaft war. Diese gegenteiligen Normen des<br />

individualistischen englischsprachigen Raumes und des gemeinwesensüchtigen mitteleuropäischen<br />

Raumes spachlich unter einen und denselben Begriff der bürgerlichen Gesellschaft zu fassen, ist eine<br />

382 Max Weber: Religionssoziologie I, S. 20<br />

383 s.o. S. 10<br />

303


Meisterleistung geistiger Verwirrung. Man sollte von der marktwirtschaftlichen Gesellschaft und der<br />

gemeinwirtschaftlichen Gesellschaft sprechen, um zu unterscheiden. Ebenso muß der spießige<br />

Sklave der Gemeinwirtschaft vom mündigen Bürger der Marktwirtschaft unterschieden werden.<br />

Die Geburt der Massenkultur<br />

Als neues Medium entwickelte sich <strong>das</strong> Kino technisch und inhaltlich weiter. Der Tonfilm wurde ab<br />

Mitte der zwanziger Jahre zum Standard. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die Kräfte der<br />

Finsternis nicht <strong>das</strong> Medium des Films genutzt hätten. Die Fridericus Rex–Filme, „Metropolis“, „Wege<br />

zu Kraft und Schönheit“ und „Die Nibelungen“ waren bereits erwähnt worden, sogar die Kommunisten<br />

begannen Propagan<strong>das</strong>treifen zu drehen, zum Beispiel „Kuhle Wampe“.<br />

Ganz aus der elitaristischen Tradition fielen jedoch einige Filme, die am Beginn der 30er Jahre<br />

gedreht wurden und für die Massen geschmackbildend wurden. Durch Erich Pommer war der<br />

Komponist Richard Heymann zum Film gekommen, und wurde 1926 Generalmusikdirektor der UfA.<br />

Zunächst komponierte er an Filmmusiken, zum Beispiel zu Murnaus „Faust“ oder zu Fritz Langs<br />

„Spione“. Es begann eine Zusammenarbeit mit den Erfindern des Tonfilms Masolle, Vogt und Engel, in<br />

deren Gefolge <strong>das</strong> Genre der Tonfilm-Operette entstand.<br />

Als Max Reinhardt 1928 „Artisten“ herausbrachte, wurde Richard Heymann engagiert, <strong>das</strong><br />

Musikmaterial zu bearbeiten und einzurichten. Aus einer Improvisation heraus entstand sein erster<br />

Schlager „Kennst du <strong>das</strong> kleine Haus am Michigansee...“ Erich Pommer beauftragte Heymann<br />

daraufhin, für den Film „Liebeswalzer“ die Musik zu komponieren. „Du bist <strong>das</strong> süßeste Mädel der<br />

Welt“ wurde ein erster internationaler Erfolg.<br />

Mit dem Texter Robert Gilbert arbeitete Heymann seit 1930 zusammen und komponierte bis zum<br />

Machtantritt Hitlers die Musik für 13 UfA-Filme mit zahlreichen Hits, deren Texte in der Regel von<br />

Gilbert stammten, etwa „Ein Freund, ein guter Freund“ und „Liebling, mein Herz lässt dich grüßen“ (im<br />

Film: Die Drei von der Tankstelle), „Das ist die Liebe der Matrosen“ (Bomben auf Monte Carlo), „Das<br />

muss ein Stück vom Himmel sein“, „Das gibt's nur einmal, <strong>das</strong> kommt nicht wieder“ (Der Kongress<br />

tanzt), „Hoppla, jetzt komm ich“ (Der Sieger), „Irgendwo auf der Welt“, „Alles verstehen, heisst alles<br />

verzeihn“ (Ein blonder Traum). Die Interpreten waren Stars wie Lilian Harvey, Willy Fritsch, Oskar<br />

Karlweis, Heinz Rühmann, Hans Albers, Paul Hörbiger und die Comedian Harmonists. Harry<br />

Frommermann, Robert Biberti, Erich Collin, Erwin Bootz, Roman Cycowski und Ari Leschnikoff sangen<br />

ab 1930 so unelitaristische Texte wie „Veronika, der Lenz ist da“ oder „Mein kleiner grüner Kaktus“<br />

sowie einige der oben erwähnten Gilbert-Schlager.<br />

Am 14. Januar 1926 trat Josephine Baker <strong>das</strong> erste Mal in Berlin auf und verzauberte <strong>das</strong> Publikum<br />

mit ihrer Phantasie und Energie. Sie war zwar etwas knapp bekleidet, man konnte jedoch nicht davon<br />

ausgehen, <strong>das</strong>s sie völkische Propaganda für germanisches Nacktbaden machte.<br />

Was hatten die drei von der Tankstelle mit der stalinistischen Weltrevolution, mit Germanenzüchtung,<br />

dem Übermenschen oder dem Überdruß an der Kultur zu tun?<br />

Es waren <strong>Menschen</strong>, wie du und ich, der kleine Mann und die kleine Frau mit ihren kleinen Sorgen<br />

und Erfolgen, die im Mittelpunkt der Handlung standen. Und <strong>das</strong> wäre auf die Dauer eine Gefahr für<br />

die Diktatoren aller Couleur gewesen. Die Diktatoren wollten große Sorgen und gigantische Erfolge<br />

und strebten nach Heldentaten, die in einer wirklichen Massenkultur mega-out zu sein scheinen. Adolf<br />

Hitler ärgerte sich folgerichtig über die drei von der Tanke und verbot den Film am 1. Oktober 1937.<br />

Kurz vor dem deutschen Triumph des Elitarismus wurde noch schnell die moderne Massenkultur<br />

geboren. Ihre Schöpfer verließen <strong>das</strong> gedankentiefe alte Europa und trafen sich ab 1934 im seichten<br />

Hollywood wieder, um ihre Späße zu treiben.<br />

Jahrmarktsrohheit, Massenkrampf, Budengeläut und Halleluja<br />

Thomas Mann war uns 1914 als einer der schlimmsten Kriegshetzer aufgefallen. 1919 hatte er die<br />

demokratische Republik als Saustall bezeichnet. Aber Thomas Mann hatte nie ganz aufgehört, zu<br />

304


denken. Bereits Ende 1922 räumte er ein, <strong>das</strong>s es zwischen Demokratie und Humanität einen<br />

Zusammenhang gebe. Da der Mensch dem Prinzip der Humanität folgen solle, habe er also nach<br />

einem demokratischen Zusammenleben zu streben. Er trat in der Folge sogar in eine Partei ein, und<br />

zwar in die reformistische DDP. 1926 machte er eine Badereise nach Forte dei Marmi, so <strong>das</strong>s er<br />

praktisch mit dem Faschismus in Berührung kam. Er war not amused und verarbeitete seine<br />

Beobachtungen in der Erzählung „Mario und der Zauberer“, die 1930 erschien. 1929 hatte Thomas<br />

Mann den literarischen Olymp erklommen; er war Nobelpreisträger für Literatur geworden. Wenige<br />

Wochen nach der Reichstagswahl vom September 1930, am 17. Oktober hielt Thomas Mann<br />

anlässlich einer Lesung in der Berliner Singakademie einen Vortrag, bei dem er endgültig mit dem<br />

Elitarismus brach. Thomas Mann überlegte öffentlich, ob so ein politischer Vortrag zur Verteidigung<br />

der Demokratie im Berliner Beethovensaal angemessen sei:<br />

„Dieser Schritt könnte als Anmaßung und Narretei aufgefasst werden, könnte - ich mag es kaum<br />

aussprechen - dahin gehend verstanden werden, als gäbe es hier jemanden, der nach der Rolle<br />

des praeceptor patriae griffe und den neuen Fichte spielen möchte ...“<br />

Aber er überwand seine Zweifel. Am Beginn seines Vortrags sah es fast so aus, als sehe er die<br />

Schuld am Aufstig des Nationalsozialismus nur bei den Siegermächten. Man ist an Mann´s<br />

Propagandaphrasen vom „rhetorischen Bourgeois“ erinnert:<br />

„Diese demokratische Moralität, die während des Krieges den Mund so voll genommen hatte und<br />

den Krieg als Mittel zu betrachten schien, eine neue, bessere Welt zu schaffen, hat bei<br />

Friedensschluss nur sehr bruchstückweise Wort gehalten und sich durch die Wirklichkeit, die<br />

physischen Nachwirkungen der Kriegswut und durch den Machtrausch des Sieges in einem Grade<br />

verderben lassen, <strong>das</strong>s es dem deutschen Volke aufs äußerste erschwert war, an den moralischen<br />

und historischen Sinn seines Unterliegens und an die höhere Berufung der anderen zum Siege zu<br />

glauben.“ Der Versailler Vertrag sei »ein Instrument, die Lebenskraft eines europäischen<br />

Hauptvolkes auf die Dauer der Geschichte niederzuhalten.“<br />

Aber bei dieser Erinnerung und Anknüpfung an seine alten Tiraden blieb es nicht: Wenn ein Saulus<br />

zum Paulus wird, werden Geheimnisse offenbar:<br />

„Es ist nicht richtig, <strong>das</strong> Politische als reines Produkt des Wirtschaftlichen hinzustellen; sondern um<br />

einen Seelenzustand zu deuten, wie den, den unser Volk jetzt auf eine die Welt verblüffende Weise<br />

an den Tag gelegt hat, ist es notwendig, die politische Leidenschaft, zutreffender gesagt, <strong>das</strong><br />

politische Leiden heranzuziehen. (...) der Nationalsozialismus hätte als Massen- Gefühls-<br />

Überzeugung nicht die Macht und den Umfang gewinnen können, die er jetzt erwiesen, wenn ihm<br />

nicht, der großen Mehrzahl seiner Träger unbewusst, aus geistigen Quellen ein Sukkurs käme, der,<br />

wie alles zeitgeboren Geistige, eine relative Wahrheit, Gesetzlichkeit und logische Notwendigkeit<br />

besitzt und an die populäre Wirklichkeit der Bewegung abgibt.“<br />

Mann diagnostizierte<br />

„die Empfindung einer Zeitwende, welche <strong>das</strong> Ende der von der Französischen Revolution<br />

datierenden bürgerlichen Epoche und ihrer Ideenwelt ankündigte. Eine neue Seelenlage der<br />

Menschheit, die mit der bürgerlichen und ihren Prinzipien: Freiheit, Gerechtigkeit, Bildung,<br />

Optimismus, Fortschrittsglaube, nichts mehr zu schaffen haben sollte, wurde proklamiert und<br />

drückte sich künstlerisch im expressionistischen Seelenschrei, philosophisch als Abkehr vom<br />

Vernunftglauben, von der zugleich mechanistischen und ideologischen Weltanschauung<br />

abgelaufener Jahrzehnte aus, als ein irrationalistischer, den Lebensbegriff in den Mittelpunkt des<br />

Denkens stellender Rückschlag, der die allein lebensspendenden Kräfte des Unbewussten,<br />

Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild hob, den Geist, unter dem man schlechthin<br />

<strong>das</strong> Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn <strong>das</strong> Seelendunkel, <strong>das</strong><br />

Mütterlich- Chthonische, die heilig gebärerische Unterwelt, als Lebenswahrheit feierte.“<br />

Letztlich war es der Nietzschanismus in allen seinen Entfaltungen mit seinem Blut- und Bodenkult, mit<br />

seiner Naturvergpötzung, mit seinem Irrationalismus, mit seinem Herrschaftskult, den Thomas Mann<br />

als Quelle des Nationalsozialismus herausstellte. Wie Alfred Kurella stellte er auch den<br />

selbstdisziplinlosen Expressionismus unter Generalverdacht.<br />

Der alten rationalistischen Welt des 19. Jahrhunderts stellte Thomas Mann die neue Zeit gegenüber.<br />

Der „Neo- Nationalismus unserer Tage“ sei eine<br />

305


„neue Stufe gegen den bürgerlichen, durch stark kosmopolitische und humanitäre Einschläge doch<br />

ganz anders ausgewogenen Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts (...) Germanisten-<br />

<strong>Romantik</strong> und Nordgläubigkeit aus akademisch- professoraler Sphäre, die in einem Idiom von<br />

mystischem Biedersinn und verstiegener Abgeschmacktheit mit Vokabeln wie rassisch, völkisch,<br />

bündisch, heldisch auf die Deutschen von 1930 einredet und der Bewegung ein Ingrediens von<br />

verschwärmter Bildungsbarbarei hinzufügt, gefährlicher und weltentfremdender, die Gehirne noch<br />

ärger verschwemmend und verklebend als die Weltfremdheit und politische <strong>Romantik</strong>, die uns in<br />

den Krieg geführt haben“.<br />

In eines konnte sich Mann 1930 noch nicht hereinschicken, weil er persönlich auf seinem Zauberberg<br />

wohnte: Daß es in einer Demokratie eine Massenkultur gibt, welche nicht naturnotwendig zum<br />

Nationalsozialismus beitragen muß. Er sah eine Vermischung der geistigen Zuströme des<br />

Nationalsozialismus „mit der Riesenwelle exzentrischer Barbarei und primitivmassendemokratischer<br />

Jahrmarktsrohheit, die über die Welt, als ein Produkt wilder, verwirrender und zugleich nervös<br />

stimulierender, berauschender Eindrücke, die auf die Menschheit einströmen“. Er sah<br />

„Massenkrampf, Budengeläut, Halleluja und derwischmäßiges Wiederholen monotoner<br />

Schlagworte, bis alles Schaum vorm Munde hat“.<br />

„Die abenteuerliche Entwicklung der Technik mit ihren Triumphen und Katastrophen, Lärm und<br />

Sensation des Sportrekordes, Überschätzung und wilde Überzahlung des Massen anziehenden<br />

Stars, Box- Meetings mit Millionen- Honoraren vor Schaumengen in Riesenzahl: Dies und<br />

dergleichen bestimmt <strong>das</strong> Bild der Zeit zusammen mit dem Niedergang, dem Abhandenkommen<br />

von sittigenden und strengen Begriffen wie Kultur, Geist, Kunst, Idee. Entlaufen scheint die<br />

Menschheit wie eine Bande losgelassener Schuljungen aus der humanistisch-idealistischen Schule<br />

des neunzehnten Jahrhunderts, gegen dessen Moralität, wenn denn überhaupt von Moral die Rede<br />

sein soll, unsere Zeit einen weiten und wilden Rückschlag darstellt. Alles scheint möglich, scheint<br />

erlaubt gegen den <strong>Menschen</strong>anstand, und geht auch die Lehre dahin, <strong>das</strong>s die Idee der Freiheit<br />

zum bourgeoisen Gerümpel geworden sei, als ob eine Idee, die mit allem europäischen Pathos so<br />

innig verbunden ist, aus der Europa sich geradezu konstituiert und der es so große Opfer gebracht<br />

hat, je wirklich verloren gehen könnte, so erscheint die lehrweise abgeschaffte Freiheit nun wieder<br />

in zeitgemäßer Gestalt als Verwilderung, Verhöhnung einer als ausgedient verschrienen<br />

humanitären Autorität, als Losbändigkeit der Instinkte, Emanzipation der Rohheit, Diktatur der<br />

Gewalt.“ (....) „Ist <strong>das</strong> deutsch? Ist der Fanatismus, die gliederwerfende Unbesonnenheit, die<br />

orgiastische Verleugnung von Vernunft, <strong>Menschen</strong>würde, geistiger Haltung in irgendeiner tieferen<br />

Seelenschicht des Deutschtums wirklich zu Hause?“<br />

Die kommende Zeit sollte demonstrieren, <strong>das</strong>s es typisch deutsches nicht gibt. Weder der<br />

Nationalsozialismus war typisch deutsch, noch <strong>das</strong> darauffolgende Wirtschaftswunder. Die Zeit bewies<br />

nur <strong>das</strong>s man mit Deutschen in historisch kurzer Zeit sehr gegensätzliche Dinge machen kann. Der<br />

Nationalsozialismus war mit seiner <strong>Menschen</strong>verachtung typisch sozialistisch und <strong>das</strong><br />

Wirtschaftswunder mit seinem Glauben an die Marktkräfte war typisch individualistisch.<br />

Thomas Mann beendete seinen Vortrag mit dem Appell, sich um die Sozialdemokratie zu scharen, um<br />

die Republik zu verteidigen. Er kam aus einer protestantischen Gegend, in der man <strong>das</strong> Zentrum<br />

immer noch als separatistischen Reichsfeind wahrnahm. Die Sozialdemokratie habe <strong>das</strong> Reich<br />

gerettet, als sie den Separatismus des Rheinlandes verhinderte.<br />

„Ich kenne die weltanschauliche Abneigung wohl, die deutsche Bürgerlichkeit gegen den<br />

Sozialismus, gegen <strong>das</strong>, was man ,marxistische Gedankengänge nennt, von Instinkt wegen hegt.<br />

Die Vorherrschaft des Klassengedankens vor denen des Staates, des Volkes, der Kultur; der<br />

ökonomische Materialismus: ich weiß, <strong>das</strong> ist bürgerlicher Überlieferung nicht geistig genug.“<br />

Auf dem Gebiet bildungsbürgerlicher Traditionen war Thomas Mann seit seiner Jugend zu Hause, auf<br />

dem Gebiet des Marxismus war er allerdings ein Fremder. Deshalb mag es ihm verziehen werden,<br />

<strong>das</strong>s er bei diesem Ausflug in <strong>das</strong> Reich des Sozialismus den orthodoxen Stalinismus als Marxismus<br />

bezeichnete.<br />

„Nun gibt es in Wirklichkeit keinen schärferen und tieferen politisch- parteimäßigen Gegensatz als<br />

den zwischen der deutschen Sozialdemokratie und dem orthodoxen Marxismus moskowitisch-<br />

kommunistischer Prägung. Der sogenannte Marxismus der deutschen Sozialdemokratie besteht<br />

heute in der Betreuung einer dreifachen Aufgabe: sie bemüht sich erstens, die soziale und<br />

wirtschaftliche Lebenshaltung der arbeitenden Klasse zu schützen und zu bessern, sie will<br />

306


zweitens die doppelt bedrohte demokratische Staatsform erhalten, und sie will drittens die aus dem<br />

demokratischen Staatsgeist sich ergebende Außenpolitik der Verständigung und des Friedens<br />

verteidigen. In diesen Bestrebungen und Willensmeinungen erschöpft sich heute in praxi der<br />

Marxismus der deutschen Sozialdemokratie.“<br />

So habe<br />

„die Sozialdemokratie <strong>das</strong> Reich gerettet (...) als es mit uns zum Letzten gekommen war, als die<br />

Zügel der Herrschaft und Selbstbeherrschung im blutigen Kote schleiften und niemand da war, sie<br />

zu ergreifen, sie hat diese herrenlosen Zügel aufgenommen, die tragische und namenlos<br />

undankbare Verantwortung für die Bereinigung des Krieges getragen und <strong>das</strong> Chaos, in dem ein<br />

geschichtlich geschlagenes und flüchtiges System <strong>das</strong> Land zurückgelassen hatte, in eine<br />

notdürftige Ordnung überführt“.<br />

Thomas Mann hatte insofern Recht, als es außer der Sozialdemokratie und dem Zentrum 1930 keine<br />

weiteren demokratischen Kräfte gab, an die man sich anlehnen konnte. Aber die Schwäche dieser<br />

beiden demokratischen Kräfte war ihre dominierende Eigenschaft. Die SPD befand sich in der<br />

Verteidigung und nicht im Angriff. Die ersten deutschen Intellektuellen begannen erst um 1930 wieder<br />

über demokratische Perspektiven nachzudenken. Die Altelitaristen Thomas Mann und Alfred Paquet<br />

gehörten beispielsweise dazu, die große Masse der deutschen Kulturmuftis predigte aber immer noch<br />

die bevorstehende Zeitenwende. Im Beethovensaal hatten sich drei Repräsentanten dieser großen<br />

Masse eingefunden: Arnolt Bronnen, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger störten Mann´s Rede<br />

durch Zwischenrufe nach Kräften und Thomas Mann musste den Saal schließlich durch die Hintertür<br />

verlassen.<br />

Alfred Paquet, der sich die ganzen Gründerjahre der Weimarer Republik für die elitaristische<br />

Gewaltherrschaft engagiert hatte, kam kurz vor Thomas Mann, nämlich bereits 1927 ins<br />

demokratische Schleudern. Er wollte zum humanistischen und liberalen Westen zurückfinden, der<br />

nach einem letzten vertieften Ausdruck der alten Freiheitsideen verlange. 384 Bei solchen, wenn auch<br />

seltenen Äußerungen müssen in Hitlers und Stalins Terrorzentralen die Alarmglocken geläutet haben.<br />

Eines hatte Thomas Mann genausowenig wie die SPD im Programm: Daß eine marktwirtschaftliche<br />

Fundamentierung der Demokratie überfällig wäre. Solch eine Überzeugung wäre endlich ein<br />

erkennbares Kontrastprogramm zu KPD und NSDAP gewesen, aber für so ein Kontrastprogramm<br />

waren weder die SPD noch Thomas Mann gemacht worden. Von Oktober 1930 bis Januar 1933 war<br />

die Entwicklungszeit für demokratische Überzeugungen einfach zu kurz. Weder die SPD noch<br />

Thomas Mann konnten Adolf Hitler aufhalten.<br />

Matthäus Kapitel 13, Vers 15 beschreibt bereits eine ähnliche verfahrene Situation: „Denn dieses<br />

Volkes Herz ist verstockt, und ihre Ohren hören übel, und ihre Augen schlummern, auf <strong>das</strong>s sie nicht<br />

dermaleinst mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich<br />

bekehren, <strong>das</strong>s ich Ihnen hülfe.“<br />

Vom Jugendlichen zum Berufsjugendlichen<br />

Seit Mitte der zwanziger Jahre hatte sich im Jugendherbergsmilieu der sogenannte Leuchtenburgkreis<br />

gebildet. Er spiegelte wie andere bündische Abteilungen ein biologisches Phänomen wieder, nämlich<br />

<strong>das</strong>s alle Jugendlichen älter wurden, <strong>das</strong>s einige aber dennoch heftig weiter pubertierten und forever<br />

joung blieben. Die jüngsten Mitglieder dieses Kreises waren 1931 20 Jahre alt, <strong>das</strong> älteste Semester<br />

war mittlerweise 49, im Durchschnitt waren die Damen und Herren um die 30.<br />

Die meisten Mitglieder waren Lehrer. Im Oktober 1931 wurde ein technisches Treffen durchgeführt,<br />

mit Diskussionen zur Kultur- und Staatskrise.<br />

Tagungsplan<br />

Technisches zum Treffen (1931)<br />

Z e i t : 9.-11. Oktober<br />

O r t : Leuchtenburg bei Kahla, Jugendherberge<br />

B a h n s t a t i o n : Kahla (Thür.), Strecke Naumburg-Saalfeld<br />

384 Gerd Koenen, Der Russland-Komplex, München 2005, S. 371<br />

307


T a g u n g s b e i t r a g : 4,50 RM (für 2x Übernachten und Mittagessen)<br />

Mitzubringen sind unbedingt: Schlafsack und alle vorhandenen Jugendherbergsausweise; ferner<br />

nach Möglichkeit Schlafdecke, Fahrtenkluft, Sportkleidung, Liederbücher, Musikinstrumente,<br />

Verpflegung für die Morgen = und Abend = Freßgemeinschaften<br />

B e g i n n : Freitag, den 9 Okt., abends 6 Uhr<br />

Begrüßung auf einer Waldwiese am Dohlenstein, dann gemeinsamer Aufstieg zur Burg.<br />

Die weitere Tagungsordnung soll - entsprechend unseren Vereinbarungen zu Ostern - nicht im<br />

Voraus festgelegt werden. Am Sonnabend (10. Okt. ) morgens 9 Uhr wird Fritz Borinski die<br />

geplante freie Aussprache einleiten durch ein Referat mit dem Thema:<br />

D e m o k r a t i e ?<br />

(Unsere Stellung zur Kultur = und Staatskrise)<br />

Ich erinnere daran, daß diese Tagung internen Charakter tragen soll. Gäste möchten daher nur<br />

nach vorheriger Anfrage bei Fritz Borinski eingeladen werden.<br />

Fritz Borinski (1903 in Berlin geboren) studierte Rechtswissenschaften und Geschichte. Es folgte eine<br />

steile Lehrerkarriere: 1923 Mitarbeiter der Leipziger Volkshochschule. Januar 1928 Leitung eines<br />

Volkshochschulheimes für junge Arbeiter, seit Herbst 1929 Lehrer an der Heimvolkshochschule<br />

Sachsenburg bei Chemnitz, seit Herbst 1931 Assistent für freie Volksbildung an der Universität<br />

Leipzig, unter Theodor Litt. Im Sommer 1933 aus politischen und rassischen Gründen entlassen;<br />

Ostern 1934 nach England emigriert. 1947 Rückkehr nach Deutschland und Übernahme der<br />

Heimvolkshochschule Göhrde. 1954-56 Leiter der Bremer Volkshochschule. 1956-70 Professor für<br />

Erziehungswissenschaften an der Freien Universität Berlin. Bis 1965 Mitglied des "Deutschen<br />

Ausschusses für Erziehungs- und Bildungswesen". 1920-23 Jungdemokrat (freideutscher Flügel),<br />

1924 Gründung des Leuchtenburgkreises, 1928 Deutsche Freischar. 1928 SPD, 1947-65 Mitglied des<br />

Kulturausschusses beim Parteivorstand der SPD. 385<br />

An die Diskussionsinhalte auf der Leuchtenburg kann man sich nur über Indizien heranarbeiten. Wir<br />

wissen, <strong>das</strong>s der Leuchtenburgkreis die Besonderheit hatte, <strong>das</strong>s er bündischen Charakter hatte, und<br />

gemäßigt links orientiert war. Die Leuchtenburger Studienräte traten früher oder später fast alle in die<br />

SPD ein, kein einziger blieb nach dem Zweiten Weltkrieg im stalinistischen Osten. Zweitens wissen<br />

wir, <strong>das</strong>s Borinski von 1930 bis 1933 Mitarbeiter beim Periodikum "<strong>Neue</strong> Blätter für den Sozialismus"<br />

war, <strong>das</strong> im Dunstkreis der SPD angesiedelt war. Zwei theoretische Artikel dieser Blätter aus der Zeit<br />

vor der Tagung waren:<br />

• Walter Mannzen: Die sozialen Grundlagen des Nationalsozialismus (8. Heft 1930)<br />

• Eduard Heimann: Was will der Nationalsozialismus? (April 1931)<br />

Mannzen engte die Genese des Nationalsozialismus auf die Verbindung aller tradierten konservativen<br />

Werte mit dem Antisemitismus und Aktivismus ein:<br />

„Sieht man zunächst vom Antisemitismus ab, so erscheint der Nationalsozialismus als der wahre<br />

Erbe des alten Konservatismus, der einst von dem Juden Stahl theoretisch begründet wurde. Alle<br />

wichtigen Bestandteile dieser Lehre tauchen in der nationalsozialistischen Ideologie wieder auf.<br />

Vor allem die grundsätzlich gliedhafte „organische“ Ein- und Unterordnung der Individuen und<br />

wirtschaftlichen Machtgruppen unter den als reale Verbandsperson gedachten Staat.“<br />

Der alte Konservatismus habe Wert auf die Verteidigung des historisch Gewordenen gelegt,<br />

„Der Nationalsozialismus ist so aktiv, <strong>das</strong>s er sich selbst für revolutionär halten kann.“<br />

Mannzen verlor kein Wort über die weiteren Bausteine wie Theosophie, Ariosophie, Biologismus,<br />

Rassismus kein Wort über die Gewaltsphilosophie der Jugendbewegung; woher der Aktionismus kam;<br />

alle Entwicklungen zwischen 1880 und 1930 wurden ausgeblendet. Der Konservatismus war darüber<br />

hinaus keine jüdische Erfindung eines Herrn Stahl, sondern von Anfang an auch antisemitisch.<br />

Wirtschaftliche Machtgruppen, die sich unterordnen, sind Ohnmachtsgruppen. Richtig ist nur, <strong>das</strong>s der<br />

Korporatismus, <strong>das</strong> Träumen von den Zünften aus der <strong>Romantik</strong> und aus dem Konservatismus<br />

herrührte. Noch abenteuerlicher waren Mannzen´s Thesen über die Rolle der „liberalen“ Presse:<br />

„Diese (die liberale Presse) verfolgt jedoch lediglich die Politik, ihn (den Nationalsozialismus)<br />

lächerlich zu machen. Aber sie versäumt es, die Gefahr ernsthaft ins Auge zu fassen. Das hat<br />

385 Die Biografien des Leuchtenburgkreises sind auf den Internetseiten der Leuchtenburg dokumentiert<br />

308


einen Grund darin, <strong>das</strong>s diese beiden feindlichen Brüder einen viel gefährlicheren gemeinsamen<br />

Feind haben: <strong>das</strong> sozialistische Proletariat. Für beide ist <strong>das</strong> Privateigentum <strong>das</strong> heiligste Gut der<br />

Nation, auch wenn der nationalsozialistische Faschismus <strong>das</strong> spezifisch kapitalistische Eigentum<br />

der Theorie nach zum Nutzen des Staates bändigen will. Gegen diesen äußeren Feind sind die<br />

Zweige der Bourgeoisie sofort wieder eins.“<br />

Sicher ist: es gab in der Weimarer Republik keine liberale Presse, die der Marktwirtschaft eine<br />

publizistische Gasse schlug. Es gab allenfalls eine sehr zahlreiche reformistische Presse. Tatsächlich<br />

setzte sich diese Presse mit Hitler nicht auseinander. Weder die reformistische Presse noch Hitler<br />

hatten Angst vor der revolutionären SPD. Kein Mensch hatte Anfang der 30er Jahre Angst vor der<br />

SPD, es gab objektiv und subjektiv keinen Grund Angst vor dem Papiertiger „<strong>Neue</strong> Blätter für den<br />

Sozialismus“ zu haben. Wenn die reformistische Presse Hitler allenfalls lächerlich machte, und sich<br />

nicht wirklich mit ihm auseinandersetzte, so hatte <strong>das</strong> damit zu tun, <strong>das</strong>s ihre Herausgeber und die<br />

NSDAP einige gemeinsame ideologische Wurzeln in der Jugendbewegung hatten. Wenn die Presse<br />

Hitler lächerlich machte, so darum weil sie ihn nicht für eine adäquate Verkörperung der Elite, sondern<br />

für einen Volksschulabsolventen und Gefreiten hielt, nicht aber deshalb, weil sie dem Elitekult<br />

prinzipiell ablehnend gegenüberstand. Die Autoren der "<strong>Neue</strong>n Blätter für den Sozialismus"<br />

überschätzten sich und die SPD maßlos, wenn sie glaubten, <strong>das</strong>s ihre bloße Existenz Hitler und die<br />

„liberale“ Presse zusammenschweißen täte. Viel besser schweißten der Ästhetizismus, der<br />

Elitarismus, der Aktionismus, der Korporatismus, der Antiparlamentarismus, der Kult des Körpers und<br />

der Heimatschutz zusammen, als ein sozialdemokratischer Popanz. Eine ähnlich glänzende<br />

theoretische Abhandlung war die von Heimann:<br />

„Die nationalsozialistische Bewegung erscheint ihrem soziologischen Kerne nach als eine<br />

Auflehnung gegen die hochkapitalistische Entwicklung.“ Mit Bezug auf den Abstieg des alten<br />

Mittelstandes in die Arbeiterklasse schrieb er: „Im organisierten Spätkapitalismus, in der<br />

Demokratie, die die Arbeiterschaft als politische Grundlage ihres eigenen Aufstiegs erkämpft hat,<br />

gibt es keine massenhaft parallelen Privatschicksale mehr; jetzt wird es zu Gruppenschicksal, und<br />

schafft sich seinen politischen Ausdruck, d.h. seine politische Ideologie und seine politische<br />

Organisation. Der politischen Organisation wird dann notwendig die Aufgabe gestellt, die<br />

ökonomisch-soziale Entwicklung abzuwenden, die sich an früheren Generationen der gleichen<br />

Lage unabwendbar vollzogen hat. In dieser Perspektive stellt der Nationalsozialismus sich als ein<br />

Versuch dar, mit politischer Gewalt die ökonomisch-soziale Entwicklung aufzuhalten und<br />

abzudrängen. Ein solcher Fall ist im bisherigen Verlauf der kapitalistischen Konzentration nicht<br />

vorgekommen und er ist in der sozialistischen Theorie nicht vorgesehen.“<br />

Hauptproblem von Heimann war die Verwechslung des wirtschaftlichen Imperialismus, des<br />

korporativen Industrialismus mit Kapitalismus. Die sozialistische Theorie von Karl Marx konnte und<br />

sollte keine Antworten auf Fragen bereitstellen, die mit dem Kapitalismus nichts, aber auch nichts zu<br />

tun hatten. Der Korporatismus war auf seinem Siegeszug; die Wirtschaft war schon lange<br />

korporatistisch organisiert; dieser Korporatismus suchte sich noch einen konsequenteren politischen<br />

Ausdruck, und dieser war die NSDAP.<br />

Heimann verkannte, <strong>das</strong>s die Proletarisierung zünftiger und landwirtschaftlicher Schichten um 1920<br />

abgeschlossen war. Das Proletariat wuchs seit dem Weltkrieg nicht mehr an; im Gegenteil die<br />

Schrumpfung der Arbeiterklasse begann ab 1930 relativ und absolut. Die Mittelständler liefen weniger<br />

der SPD weg, als der DNVP, der DVP, der DDP und der Wirtschaftspartei.<br />

Wir wissen nicht, was auf der Leuchtenburg alles über die Kultur- und Staatskrise diskutiert wurde, wir<br />

wissen aber anhand der beiden Artikel von großer Verwirrtheit im persönlichen Umfeld des<br />

Organisator des Leuchtenburgtreffens, Fritz Borinski.<br />

Einerseits verbreiterten die Eintritte von Reformisten <strong>das</strong> Spektrum der SPD; die unumschränkte<br />

Herrschaft der Arbeiteraristokratie über die Partei wurde erst gemildert und dann gebrochen;<br />

andererseits verstärkten sich nach dem Zweiten Weltkrieg reformistische Tendenzen in der Partei.<br />

Einerseits wurde Godesberg möglich, andererseits verloren die Arbeiter ihren angestammten Platz in<br />

der Parteiführung.<br />

309


Überstunden für den Reichspräsidenten<br />

Da Reichskanzler Brüning mit Notverordnungen des Reichspräsidenten regierte, benötigte er nicht die<br />

Zustimmung des Reichstags, sondern nur die des Alten Herrn. Dieser musste, was <strong>das</strong> Unterzeichnen<br />

von Notverordnungen betraf, bis 1933 Überstunden machen. Am 1.12.1930 wurde eine<br />

Notverordnung zur "Sicherung der Wirtschafts- und Finanzlage" erlassen, um den Haushalt 1931 auf<br />

den Weg zu bringen. Mit den Stimmen der SPD lehnte der Reichstag am 6.12.1931 einen Antrag der<br />

KPD zur Aufhebung der Notverordnung ab. Noch hielten die Demokraten zusammen, wenn auch mit<br />

Zähneknirschen.<br />

Reichskanzler Brüning wird bei der nachträglichen Analyse seiner Wirtschaftspolitik oft vorgeworfen,<br />

eine deflationistische Politik zur falschen Zeit gemacht zu haben. Was Cuno 1923 nicht geschafft<br />

habe; zu beweisen, daß die Reparationen nicht bezahlt werden konnten, <strong>das</strong> hätte Brüning auf ein<br />

neues versucht. Er habe die Wirtschaftskrise als Begleitumstand mißverstanden, der internationalen<br />

Gemeinschaft endlich zu beweisen, daß Deutschland zu weiteren Reparationszahlungen nicht in der<br />

Lage sei und hätte deshalb auf die Ankurbelung der Wirtschaft mit geliehenem Geld verzichtet. Dieser<br />

Vorwurf an Brüning war insbesondere <strong>das</strong> Markenzeichen von Hans Mommsen.<br />

Die Weltwirtschaftskrise war neben der Herstellung der deutschen Einheit 1990 sicher die einzige<br />

Situation in der deutschen Geschichte, die <strong>das</strong> Regieren auf Pump rechtfertigte. Seit 1969 bis 1989<br />

beispielsweise haben alle deutschen Regierungen unsägliche Schulden angehäuft, ohne die geringste<br />

Notwendigkeit. Aber ausgerechnet in der Zeit der Weltwirtschaftskrise wurde <strong>das</strong> Geld knapp<br />

gehalten.<br />

Um den realen Handlungsrahmen von Brüning und der Reichsregierung insgesamt zu erkennen, muß<br />

man sich die Randbedingungen vor Augen halten:<br />

• Der Weltkrieg hatte dem Staat Unsummen gekostet. Der Staat entschuldete sich durch die<br />

Inflation von 1919 bis 1923 und vernichtete dabei alle nicht bereits in Kriegsanleihen<br />

geflossenen Geldvermögen.<br />

• Die Möglichkeit, deutsches Geld zu leihen bestand also kaum, da die deutschen<br />

Geldvermögen in der Inflation vollständig vernichtet worden waren und sich seit 1923 noch<br />

nicht konsolidiert hatten. Die Sparquote war zwischen 1924 und 1930 aus objektiven und<br />

subjektiven, jedoch verständlichen Gründen gering.<br />

• Die Staatsschulden stiegen, obwohl die Regierung Brüning die Steuern ständig erhöhte und<br />

die Sozialausgaben ständig drosselte. Die Steuern schnurrten wegen der ständigen<br />

Verschmälerung der Steuerbasis auch bei höheren Steuersätzen zusammen.<br />

• Jede Kreditschöpfung hätte zur Folge gehabt, daß die Zinsen, die bereits mehr als doppelt so<br />

hoch waren wie 1913, weiter angestiegen wären.<br />

• In der vorhergehenden Periode der relativen Stabilisierung war der Aufschwung notgedrungen<br />

mit ausländischen Krediten erkauft worden. Die Wirtschaft war aufgrund der Umverteilung von<br />

den Gewinnen zu den Löhnen bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise nicht in der Lage<br />

gewesen, viel Eigenkapital zu bilden. Sie war zu Beginn der Krise stark verschuldet und von<br />

der Kreditwürdigkeit Deutschlands im Ausland abhängig. Die Eigenkapitalbildung hinkte dem<br />

Umsatz hinterher und war zu gering.<br />

• Entsprechend der Erfahrung ausländischer Geldgeber aus der Inflation von 1919 bis 1923<br />

wurden mehr kurzfristige Kredite als langfristige von den ausländischen Geldgebern nach<br />

Deutschland ausgereicht. Die Kredite waren kurzfristig, um sie bei einer erneuten inflationären<br />

Entwicklung in Deutschland noch vor der Entwertung wieder nach Hause ins Trockene<br />

bringen zu können. Zur Zeit der Bankenkrise 1931 betrugen die bei ausländischen Gläubigern<br />

gemachten Schulden 28 Milliarden Mark, wovon 16 Milliarden kurzfristige Kredite waren.<br />

• Um den Abzug der ausländischen Darlehen, insbesondere der kurzfristigen zu verhindern,<br />

musste der Anschein einer inflationistischen Politik vermieden werden.<br />

Mit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde <strong>das</strong> ausländische Kapital ängstlich und erste<br />

Rückflüsse ins Ausland komplizierten die Lage in Deutschland. Die große Bankenkrise erschütterte<br />

1931 <strong>das</strong> Vertrauen in die deutschen Banken. Es stellte sich heraus, daß die Eigenkapitalbasis der<br />

deutschen Banken, gemessen an den ausgereichten Krediten, viel zu schmal war und die ganze<br />

Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von ausländischen Geldgebern wurde unter diesem Aspekt<br />

noch einmal deutlich. Die Handlungsfähigkeit der Regierung bei der Krisenbekämpfung war durch den<br />

hausgemachten Kapitalmangel deutlich eingeschränkt.<br />

310


Der Kapitalmangel hatte seinen Ursprung nicht allein im Bermudadreieck der Inflation, der<br />

Reparationen und der Besatzungskosten. Sicher waren die Reparationen ein zusätzlicher Abzug vom<br />

zu verteilenden Kuchen. Neben diesem Abzug wogen jedoch auch die relativ hohen Zinsen für die<br />

kurzfristigen Auslandskredite schwer. Vor allem hatte nach dem Krieg niemand den Mut besessen,<br />

den verschiedenen Teilnehmern am Wirtschaftsleben zu sagen, daß nach dem Kriege die<br />

Kriegskosten und die nachfolgenden Reparationskosten einen erheblichen Abzug vom zu verteilenden<br />

Produkt bedeuten würden, also einen Abzug von Gewinnen, Löhnen, Gehältern, Arbeitseinkommen<br />

aus eigener Arbeit, Mieten und Kapitalerträgen. Die Inflation von 1919 bis 1923 beseitigte die inneren<br />

Staatsschulden auf Kosten in- und ausländischer Geldvermögen. Es blieben jedoch die<br />

Reparationsleistungen zu begleichen und mehr noch <strong>das</strong> Eigenkapital der Betriebe aufzufrischen.<br />

Statt eigene Anstrengungen zu fordern, wurde der Achtstundentag mit zusätzlichen Lohnkosten<br />

eingeführt und die Kosten für den industriellen Aufschwung wurden über Kredite abgedeckt. Diese<br />

Unehrlichkeit und Unsolidität rächte sich in der Krise.<br />

Ein Fehler war die Vorfahrt beim Kampf um den Ecklohn gegenüber der Bekämpfung der<br />

Arbeitslosigkeit. Jahrelang wurde die Illusion genährt, daß die Arbeitslosigkeit von vorübergehender<br />

Dauer wäre, selbst in Phasen konjunktureller Überhitzung sank die Arbeitslosigkeit jedoch nie unter 7<br />

%. Die Arbeitslosenhilfe selbst war sehr mangelhaft organisiert, so daß für die Arbeitslosen ein hoher<br />

Anreiz bestand, sich Arbeit zu suchen. Dieser Anreiz bewirkte jedoch nichts, da <strong>das</strong> Verhältnis von<br />

Sozialprodukt, Lohnhöhe und Kapitalstock gestört war. Selbst bei einer soliden Politik hätte es große<br />

Probleme bereitet, <strong>das</strong> im Weltkrieg gestörte gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht wieder herzustellen.<br />

Ein einseitiger Vorrang für die Wiederherstellung des Kapitalstocks hätte bei den von der Konsumtion<br />

abhängigen Produzenten psychologische Probleme bereitet, der einseitige Vorrang der<br />

Wiederherstellung der Vorkriegslöhne brachte jedoch wie <strong>das</strong> Ende der Republik zeigt, keine<br />

brauchbare Lösung.<br />

Eine gesunde Wirtschaft, die in eine Krise gerät, kann mit Krediten und Subventionen auf die Beine<br />

gebracht werden, und zwar solange, und in dem Maße wie die Kredite und Subventionen fließen.<br />

Einer Wirtschaft, die die Konjunktur auf den tönernen Füßen des Kredits durchlaufen hat, ist in der<br />

Krise mit neuen Krediten nicht zu helfen, sondern nur mit Subventionen. Um 28 Milliarden Kredit auch<br />

nur zu einem geringen Bruchteil durch Subventionen zu ersetzen, fehlte dem Reich die Kraft. Beim<br />

Vergleich mit dem Reichshaushalt 1931/32 von 8,2 Milliarden Mark werden die Größenverhältnisse<br />

deutlich. Das zusätzliche Geld für die Subventionen hätte <strong>das</strong> Reich am ausländischen Kapitalmarkt<br />

zu steigenden Zinsen aufnehmen müssen. Oder <strong>das</strong> Reich hätte <strong>das</strong> Geld einfach drucken lassen<br />

müssen, wie es Hitler dann tat. Dafür gab es bis Mitte 1931 keine Mehrheit und keine Bündnispartner.<br />

Nachdem am 13. Juli 1931 die Danat, die zweitgrößte Bank zusammengebrochen war, und <strong>das</strong><br />

Vertrauen in <strong>das</strong> deutsche Bankwesen ohnehin am Boden zerstört worden war, änderte sich <strong>das</strong>.<br />

Wirtschaftstheoretiker, einzelne Industrielle, Banker und der ADGB forderten Spritzen für die<br />

Wirtschaft. In geringem Maße wurde den Wünschen unfreiwillig dadurch nachgekommen, daß der<br />

Haushaltsausgleich nicht herbeigeführt werden konnte. Freiwillig gab Brüning den Wünschen nach<br />

einer direkten Ausweitung der Subventionen jedoch nicht nach. Er hätte eine Kreditblase durch<br />

Anwerfen der Notenpressen initiieren können. Die Erfahrung mit der Inflation 1923 sprach dagegen<br />

und <strong>das</strong> Gelddrucken der Hitler-Administration nach 1933 führte tatsächlich zur nächsten<br />

Währungsreform 1948.<br />

Die Zeit arbeitete der NSDAP und der KPD in die Hände. Brünings Rechnung, daß die<br />

nationalsozialistische Bewegung mit dem Ende der Reparationen auch am Ende wäre, ging nicht auf.<br />

Die Reparationen wurden im Juli 1932 gestrichen, und die Nationalsozialisten waren stärker als<br />

vorher.<br />

Die Krise führte immer schneller zur Radikalisierung und zur Polarisierung. Die Weltwirtschaftskrise<br />

als Ursache für den Aufstieg Hitlers überzubewerten, ist genauso falsch, wie sie als Ursache zu<br />

unterschätzen. Die Krise war eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung des Erstarkens<br />

radikaler Kräfte. Sie ist ein Begleitumstand der Wahlerfolge der NSDAP, aber sie ist einer unter<br />

mehreren. Wenn nur die Not entscheidend für die Wahlentscheidungen der Deutschen gewesen wäre,<br />

so hätte auch in Ländern mit vergleichbar hoher Arbeitslosigkeit eine nationalsozialistische Diktatur<br />

entstehen müssen. Das war aber nirgends der Fall. 386<br />

386 Zahlen aus Stanley Payne: Geschichte des Faschismus, S. 228 und S. 279. Bei einer monokausalen<br />

Ursachensuche könnte man schließen: wo die Gewerkschaften keinen Einfluß mehr hatten, wie in der<br />

Sowjetunion, in Italien oder in Deutschland nach 1933 war die Arbeitslosigkeit am geringsten.<br />

311


Jahr d. höchsten Arbeitslosigkeit zugehörige Arbeitslosenquote<br />

Deutschland 1932 30,1<br />

Österreich 1933 26,0<br />

Norwegen 1933 33,4<br />

Dänemark 1932 31,7<br />

Schweden 1933 23,7<br />

Niederlande 1936 32,7<br />

Belgien 1932 und 1934 23,5 und 23,4<br />

Frankreich 1933 16,1<br />

Großbritannien 1932 17,0<br />

USA 1933 24,9<br />

Italien 1933 ca. 6,0 (1,0 Mio. Arbeitslose)<br />

Zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten gab es Berührungen, wenn es direkt darum ging, die<br />

Lebenszeit der Republik zu verkürzen. Das konnte auf der Tribüne einer Streikkundgebung und auf<br />

der Tribüne des Reichstages vorkommen.<br />

Am Jahreswechsel kam es zu Tarifstreitigkeiten im rheinischen Kohlebergbau. Die KPD begann<br />

Streiks zu organisieren. Am 9.1.1931 erließ der Reichskanzler eine Notverordnung über<br />

Schlichtungskommissionen. Diese Kommissionen konnten auch ohne eine Einigung der Tarifparteien<br />

einen Schiedsspruch fällen. Einen Tag später beschloß eine Schlichtungskommission für den<br />

Kohlebergbau eine sechsprozentige Lohnkürzung und die gleichzeitige Rücknahme von<br />

Massenkündigungen.<br />

Als Reaktion auf den Einfluß der KPD in den Betrieben beschloß auch die NSDAP die Gründung von<br />

Betriebszellen. Die Nationalsozialistische Betriebzellenorganisation (NSBO) stand nun der<br />

kommunistischen revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) gegenüber. Ab und zu arbeiteten<br />

beide bei der Destabilisierung der Republik zusammen. Es gibt ein Foto, auf dem Ulbricht und<br />

Goebbels sich anläßlich eines Streiks auf derselben Berliner Rednertribüne befinden.<br />

1931 bildete sich in Berlin eine Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Planwirtschaft der Sowjetunion<br />

„Arbplan“. Das politische Spektrum der Mitglieder umspannte wie üblich <strong>das</strong> gesamte reformistische<br />

Kontinuum. Angefangen vom späteren Kronjuristen des Dritten Reiches Carl Schmidt über die<br />

Professoren Otto Hoetzsch, Friedrich Lenz und Adolf Grabowsky, die Publizisten Ernst Jünger, Georg<br />

Lukács, Friedrich Hielscher (TAT-Kreis), Arvid Harnack (TAT-Kreis) und Ernst Niekisch, reichte die<br />

Teilnehmerliste bis zu den Kommunisten Paul Massing und Karl-August Wittfogel. Im Sommer 1932<br />

setzte die KPD noch eins drauf und gründete den „Bund geistiger Berufe“ als Transmissionsriemen in<br />

<strong>das</strong> intellektuelle Milieu, um die Planwirtschaft a la Stalin zu propagieren. Hier krochen der Ökonom<br />

Friedrich Lenz, der Schriftsteller Ernst Jünger, und der TAT-Kreisler Adam Kuckhoff auf den<br />

kommunistischen Leim. 387<br />

Bereits im Februar 1931 lehnte der Reichstag erneut einen Mißtrauensantrag der NSDAP und der<br />

KPD gegen die Regierung Brüning ab. Der Reichstag beschloß eine Änderung der Geschäftsordnung,<br />

mit der die Behinderung des Parlaments durch die wiederholte Einbringung von Mißtrauensanträgen<br />

erschwert wurde. Darauf verließen am 10.2.1931 151 Abgeordnete der NSDAP, der DNVP und des<br />

Landvolks bis zum 13.10.1931 <strong>das</strong> Parlament. Die 5. Kolonne Moskaus blieb derweilen im Reichstag<br />

zum Stören sitzen.<br />

Im März 1931 erreichte die Arbeitslosenzahl 5 Mio. Eine allgemeine Katastrophenstimmung griff<br />

Raum. Der Reichspräsident schränkte mit einer Notverordnung die Pressefreiheit und <strong>das</strong><br />

Versammlungsrecht ein. Im Juli mußte er diese Notverordnung durch eine neue Notverordnung<br />

nachbessern, mit der Verbote von Zeitungen besser durchgesetzt werden konnten.<br />

Im Mai 1931 wurde die NSDAP stärkste Fraktion bei den Landtagswahlen in Oldenburg. Ein Jahr<br />

später fanden in Oldenburg schon wieder Landtagswahlen statt, bei denen die NSDAP die absolute<br />

Mehrheit erreichte.<br />

Am 5.6.1931 verlangte die Reichsregierung ein Ende der Reparationen. Postwendend lehnte<br />

Frankreichs Außenminister einen Tag später jede diesbezügliche Forderung ab. Am 20.06.1931<br />

387 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, München 2005, S. 343 f.<br />

312


schlug der amerikanische Präsident Hoover einen einjährigen Aufschub für die Reparationszahlungen<br />

vor. Ende Juli kam es zu Treffen der Reichsregierung mit französischen Regierungsvertretern und<br />

eine internationale Sieben-Mächte-Konferenz zur deutschen Finanzlage fand statt. Gleichzeitig<br />

verkündeten Hitler, Hugenberg und Seldte, daß sie internationale Zahlungsverpflichtungen<br />

Deutschlands im Falle einer Regierungsübernahme nicht mehr erfüllen würden. Im August wurden die<br />

Reparationszahlungen für ein Jahr ausgesetzt. Der deutschen Regierung stand <strong>das</strong> Wasser bis zum<br />

Hals, aber jedes Entgegenkommen der Alliierten war immer zu wenig, da es jedes Mal zu spät kam.<br />

Letztlich sollten die Kriegsgewinner ab Mitte 1932 keinen Pfennig mehr bekommen, aber sie<br />

verzichteten spät, vielleicht zu spät. Die Reparationsfrage blieb eine Belastung der Republik. In ihrem<br />

dunklen Schatten verbarg sich der allgemeine Reformstau, der die ganze Wirtschaftsverfassung<br />

betraf.<br />

Im September 1931 diskutierte die Reichsregierung erstmals über Siedlungen für Arbeitslose. Land im<br />

Besitz der öffentlichen Hand sollte für die Bebauung freigegeben werden, um Arbeitslose zu<br />

Selbstversorgern zu machen. Die Siedlungsfrage sollte zu einer Zusatzbelastung der Republik<br />

werden, da die Junker im Osten um ihre Ländereien bangten und Hindenburg gegen Brüning<br />

aufbrachten.<br />

Ein republikanischer Sargnagel wurde aus der Frage geschmiedet, ob Deutschland und Österreich<br />

eine Zollunion bilden dürften. Die Regierung erarbeitete einen Vorschlag für eine Zollunion mit<br />

Österreich, die als Muster für eine neue Wirtschaftsordnung in Europa gedacht war. Endlich eine Idee,<br />

die aber bei den Alliierten auf Skepsis und in Frankreich auf harte Ablehnung stieß. So kam es am<br />

7.10.1931 zum Rücktritt des Außenministers Curtius (DVP), der sich in dieser Frage engagiert hatte.<br />

Der Rücktritt eines Ministers ist eigentlich ein normaler Vorgang, aber dieser Rücktritt löste eine<br />

Regierungsumbildung aus, die vom Druck des Reichspräsidenten nach einem weiteren Rechtsruck<br />

begleitet war. Die Kabinettsumbildung war gleichbedeutend mit dem Ausscheiden der DVP und der<br />

Wirtschaftspartei aus dem Kabinett. Es entstand eine ungünstigere Arithmetik:<br />

Zentrum/BVP 14,8 %<br />

DStP 3,8 %<br />

----------<br />

Summe 18,6 %<br />

Unterstützung durch SPD 24,5 %<br />

----------<br />

Summe 43,1 %<br />

Am 10.10.1931 wurde Hitler von Reichskanzler Brüning schon wieder zu einer Unterredung über die<br />

Regierungsbeteiligung gebeten, und wieder nur mit dem Ergebnis einer Aufwertung der NSDAP.<br />

Bereits einen Tag später wurde die Harzburger Front aus NSDAP, DNVP und anderen Extremisten<br />

gebildet, um die Regierung zu stürzen. Die DNVP befand sich übrigens in einer für sie letztlich<br />

tödlichen Transformationsphase. Eduard Stadtler, der 1930 unter Hugenberg zum<br />

Reichsschulungsleiter der DNVP aufgestiegen war, propagierte die Umformung der Partei von einer<br />

Honoratiorenpartei zu „einer modern aktivistischen Gemeinschaftsbewegung...und reinen Gefolgschaft<br />

einer in sich ruhenden ... schöpferischen Persönlichkeit.“ Gemeint war Hugenberg. 388 Die DNVP lief<br />

unter dem Druck des Generationswandels dem Zeitgeist hinterher, warf den monarchistischen Ballast<br />

von sich und wurde eine weitere Führerpartei. Mit der Harzburger Front wähnte sich Stadtler am Ziel<br />

und frohlockte: „Die Deutschnationale Partei ist mit einem Wort Hugenberg-Bewegung geworden.“<br />

Endlich hatte die jugendbewegte Seele Ruh.<br />

Während Brüning mit Hitler sprach, kam es in Italien zum Kulturkampf zwischen Mussolini und dem<br />

Vatikan. "Il Duce ha sempre ragione" (Der Führer hat immer Recht) wurde zur Parole der Faschisten.<br />

Im Zuge dieser Rechthaberei begann Mussolini Mitte 1931 gegen die Laienorganisation der<br />

katholischen Kirche, die Katholische Aktion vorzugehen. Der Vatikan reagierte mit der Enzyklika "Non<br />

abbiamo bisogno" (Wir haben es nicht nötig). Der Papst wetterte gegen die Vergötzung des Staates in<br />

heidnischem Sinne und gegen jene Revolution, die der Kirche und Jesus Christus die Jugend entreißt<br />

und ihre Kräfte zum Haß, zur Gewalt und zur Ehrfurchtslosigkeit erziehen würde. Das gesamte<br />

deutsche Episkopat verurteilte gleichzeitig die Hitlerbewegung und ihre weltanschaulichen<br />

Grundlagen. Der menschenfeindliche Rassismus und die heidnische Germanenschwärmerei wurden<br />

angeprangert.<br />

388 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, München, 2005, S. 345<br />

313


Die Zentrale des katholischen Volksvereins veröffentlichte 1931 zwei Broschüren mit Aufsätzen<br />

August Piepers zum Nationalsozialismus.<br />

„Für Pieper war der Nationalsozialismus eine Gefahr für den Katholizismus, die Republik und die<br />

Nation. Die rassische Definition verstoße gegen <strong>das</strong> katholische Prinzip der Universalität und der<br />

Gedanke der Rassenzucht sei unmoralisch. Der Nationalsozialismus strebe <strong>das</strong> Staatskirchentum<br />

an und bekämpfe den demokratischen, volksfreiheitlichen Staat, um eine Parteidiktatur zu<br />

errichten.“ (...) „Es gebe jedoch ein Mittel zur Überwindung des Nationalsozialismus: der Versailler<br />

Vertrag müsse fallen, <strong>das</strong> Finanzkapital müsse allein der Produktion dienen, Parteien - und<br />

Fraktionsbürokratien müssen abgeschafft werden und die Listenwahl sollte durch die<br />

Persönlichkeitswahl ersetzt werden. Die Etablierung der Berufsstände sei die Alternative zur<br />

faschistischen Diktatur, die durch eine Volksbewegung verhindert werden müßte.“ 389<br />

„Die Idee der wirtschaftlichen Berufsstände, die der Volksverein nie aufgegeben hatte, bildete die<br />

Brücke zu den gesellschaftlichen Vorstellungen des Vatikans, der diese Ideen in der Enzyklika<br />

,,Quadragesima anno" aufgriff. Die Enzyklika und die Beschlüsse der Fuldaer und Freisinger<br />

Bischofskonferenz legten die neuen Schwerpunkte der Propaganda und Schulungsarbeit des<br />

Volksvereins fest. Sie übertrugen dem Volksverein die Abwehr der bolschewistischen und<br />

kommunistischen Bewegung und der Freidenkerverbände, was die bayerische Bischofskonferenz<br />

festlegte. Die Fuldaer Bischofskonferenz, beschloß, <strong>das</strong>s der Volksverein rechts- und linksradikale<br />

Strömungen abwehren sollte. Der Volksverein gründete daraufhin eine Forschungs- und<br />

Auskunftsstelle über Bolschewismus und Freidenkerverbände, die später mit einer Stelle für<br />

Rechtsradikalismus ergänzt wurde.“ 390<br />

Die Abwehr des Nationalsozialismus auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik erfolgte inspiriert durch den<br />

,,Königswinterer Kreis", der ein Gesprächsforum von Klerikern, Ordensgeistlichen und Laien des<br />

Volksvereins war. Diskutiert wurde nach altem Brauch über die Notwendigkeit einer berufsständischen<br />

Ordnung. Das Zentralkomitee der Katholikentage veranlaßte 1932 <strong>das</strong> neugegründete ,,Institut für<br />

Gesellschafts - und Wirtschaftsordnung", eine Studientagung über die ,,Idee und praktische<br />

Möglichkeiten der berufsständischen Ordnung" zu veranstalten, um die Möglichkeit der Umsetzung<br />

der päpstlichen Konzeption in Deutschland zu diskutieren.<br />

„Ausgangspunkt dafür war die Kritik an der bisherigen Sozialpolitik. Der Staat entwickle sich zum<br />

zentralistischen totalitären Staat, und die Wirtschaft verblute im Klassenkampf. Es seien die<br />

Dezentralisierung des Staates und der korporative Zusammenschluß des Arbeitsmarktes nach<br />

Berufszweigen anzustreben.“ 391<br />

Die Leitlinie war: ,,Soviel Gesellschaft wie möglich, soviel Staat wie nötig!"<br />

Reichskanzler Brüning liefen die Worte des Papstes und der frommen Bischöfe offensichtlich zum<br />

einen Ohre hinein und zum anderen wieder heraus. Es wurden zu wenige und nicht die radikalsten<br />

praktischen Konsequenzen aus den Worten des Heiligen Vaters und der Heiligen Kirche gezogen und<br />

in wirtschaftspolitischer Hinsicht waren die Anweisungen aus Rom nicht so ausgereift, <strong>das</strong>s sie zu<br />

einer Abwehr Hitlers besonders geeignet gewesen wären. Selbst in Amerika huldigte man in den<br />

dreißiger Jahren dem Keynesianismus, es war der internationale Tiefpunkt des Vertrauens in<br />

individualistisches Handeln erreicht. Das Evangelium des Matthäus oder des Lukas mit dem Gleichnis<br />

von den Zentnern sah individuelles Handeln dagegen als vorbildlich an. Wo gab es in<br />

neutestamentarischen Zeiten Zünfte oder Berufsvereinigungen in Jerusalem, Galiläa oder Samaria?<br />

Jesus Christus agierte zu seinen Lebzeiten in einem zunftfreien Raum. Die berufsständischen<br />

Konzepte waren Anfang der dreißiger Jahre in ganz Europa auf dem Vormarsch; Es ist sicher<br />

verkehrt, zu behaupten, <strong>das</strong>s sie im Denken des Faschismus und des Nationalsozialismus keine<br />

zentrale Rolle einnahmen. Darum wäre es zweckmäßig gewesen, einen individualistischen<br />

Gegenentwurf, der sich am neuen Testament orientiert zu verfolgen, statt eine Konkurrenz beim<br />

389 www.hausarbeiten.de: Katharina Runkel, Der Volksverein für <strong>das</strong> katholische Deutschland in der Weimarer<br />

Republik<br />

390 s.o.<br />

391 s.o.<br />

314


Wettlauf in den Korporatismus zu beginnen. Andererseits erfordert <strong>das</strong> neue Testament natürlich eine<br />

engagierte Sozialpolitik, die <strong>das</strong> Gleichnis von den arbeitswilligen Arbeitern im Weinberg 1:1 umsetzt.<br />

Am 13.10. gab Brüning eine Regierungserklärung ab und die rechte Opposition bevölkerte für wenige<br />

Tage den Reichstag, um einige Mißtrauensanträge zu stellen, die mit den Stimmen der SPD<br />

abgeschmettert wurden, und um danach den Ort der Gesetzgebung wieder zu verlassen.<br />

Am Jahresende hatte die Arbeitslosenzahl die Höhe von 5,6 Mio erreicht. Reichskanzler Brüning teilte<br />

den Botschaftern Frankreichs und Großbritanniens mit, daß Deutschland auch nach Ablauf des<br />

Zahlungsmoratoriums keine Reparationszahlungen mehr leisten könne.<br />

Im Februar 1932 erreichte die Arbeitslosenzahl 6,1 Mio. Damit war der Gipfel erreicht. Am 26.2.32<br />

scheiterte ein von der NSDAP, DNVP und DVP eingebrachter Mißtrauensantrag gegen die Regierung.<br />

Die DVP hatte nach dem Rückzug aus der Regierung die Front gewechselt und sich aus dem<br />

gemäßigt reformistischen in <strong>das</strong> radikal reformistische Lager begeben.<br />

Im März/April 1932 fand die Reichspräsidentenwahl statt. Einen Kandidaten der Mittelparteien gab es<br />

nicht mehr. Die Kommunisten stellten Thälmann auf, die Nationalsozialisten Hitler, der Stahlhelm<br />

Düsterberg und von der SPD bis zu den Konservativen gab es nur einen Kandidaten: Hindenburg.<br />

Hindenburg war 84 Jahre alt. Trotz der breiten Unterstützung von den revisionistischen Marxisten bis<br />

zu den Kaisertreuen konnte der greise Feldmarschall den ersten Wahlgang nicht für sich entscheiden,<br />

und den zweiten nur mit großer Mühe.<br />

1. Wahlgang 2. Wahlgang<br />

Hindenburg 49,6 % 53,0 %<br />

Hitler 30,1 % 36,8 %<br />

Thälmann 5,0 % 10,2 %<br />

Andere 15,3 % 0,0 %<br />

Auf den ersten Blick erscheint <strong>das</strong> Hindenburg-Lager sehr zusammengewürfelt. Auf den zweiten zeigt<br />

sich die Logik: Die Präsidentenwahl war eine Richtungswahl. Auf der einen Seite standen alle, die in<br />

der politischen Kultur der Frühkaiserzeit verankert waren und die neuen jugendbewegten Strömungen<br />

aus dem Politikbetrieb heraushalten wollten. Sie verbarrikadierten sich hinter Hindenburg. Hindenburg<br />

erschien als Festung der alten Zeit; er behauptete nur zwei Bücher gelesen zu haben: Die Bibel und<br />

<strong>das</strong> Exerzierreglement. Damit war er neuen Strömungen vermeintlich nicht zugänglich. Seine Gegner<br />

im zweiten Wahlgang waren Politiker der Kulturrevolution. Sie standen für die jüngere Generation und<br />

deren Elitarismus. Die Präsidentenwahl zeigte <strong>das</strong> dünne Eis, auf dem die republikanischen<br />

Institutionen gegründet waren und sie zeigten, daß der Wind des Wechsels an den republikanischen<br />

Gardinen zupfte.<br />

Drei Tage nach der Reichspräsidentenwahl erließ der Reichskanzler auf Grund der "Notverordnung<br />

zur Sicherung der Staatsautorität" <strong>das</strong> Verbot von SA und SS.<br />

Anläßlich der Reichspräsidentenwahl hatte Ulbricht am 23.2.1932 im Reichstag noch getönst, daß<br />

sich Nationalsozialisten und Sozialdemokraten den Rang ablaufen, wer die treuesten Diener<br />

Hindenburgs und Groeners sind und daß die Sozialdemokratie die zuverlässigste Stütze der sich<br />

faschisierenden bürgerlichen Diktatur sei. 392 Vom 25. April bis zum 14. Juli propagierte die KPD die<br />

Einheitsfrontpolitik (besser: Einheitsfronttaktik). Durch gemeinsame Aktionen an der Basis sollten<br />

sozialistisch gesinnte Arbeiter für Moskau gewonnen werden.<br />

Am 12. Mai 1932 brachte die NSDAP einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung in den Reichstag<br />

ein, der mit den Stimmen der SPD abgelehnt wurde.<br />

Am gleichen Tag trat auf Druck der Generalität der Reichswehrminister Groener zurück. Groener hatte<br />

wenige Tage zuvor im Reichstag <strong>das</strong> SA-Verbot begründet und war dabei von den NSDAP-Agitatoren<br />

zusammengebrüllt worden. Groeners Rücktritt machte den Weg für General v. Schleicher frei, ein<br />

personeller Sargnagel für die Republik wurde eingeschlagen. Am Beginn der Republik hatte Groener<br />

Friedrich Ebert die Hilfe der Reichswehr angeboten, kurz vor dem Ende der Republik erfolgte der<br />

Abgang Groeners. Groener erscheint als guter Geist der Republik, wenn die Republik überhaupt gute<br />

Geister kannte. Der Rücktritt verfügt über einen hohen Symbolgehalt, fast erscheint er als Menetekel.<br />

392 aus www.dhm.de/sammlungen/zendok/weimar/ulbr.html<br />

315


Nach dem Hinauswurf von Groener war die Position des Generals v. Schleicher gestärkt worden.<br />

Schleicher betrieb sofort den Kauf der Mehrheit der Vereinigten Stahlwerke durch <strong>das</strong> Reich, womit er<br />

direkten Zugriff auf einen wichtigen Lieferanten der Reichswehr erlangte. Die Reichswehrführung<br />

glaubte die Rüstungsgüter billiger, nämlich ohne den Gewinnanteil zu erlangen, wenn die<br />

Rüstungsindustrie dem Reich gehörte. Brüning entschloß sich, zusammen mit Finanzminister Dietrich<br />

die alleinige Verantwortung für den Kauf zu übernehmen, nach außen hin wurde der Kauf mit der<br />

Absicht begründet, später einen Teil der Fertigwarenproduktion wieder abzugeben, um die<br />

mittelständische Industrie der Metallwarenbranche zu stärken. 393<br />

Zu diesem "Später" sollte es nicht kommen; am 29. Mai 1932 forderte der Reichspräsident Brüning<br />

zum Rücktritt auf. Äußerer Anlaß war vielleicht <strong>das</strong> Ostsiedlungsprogramm der Regierung, <strong>das</strong> mit<br />

den Interessen der Großagrarier kollidierte, der Grund lag wohl tiefer. Der Reichspräsident war den<br />

Einflüsterungen von Papens und General von Schleichers ausgesetzt, und beide sägten an Brünings<br />

Stuhl, um selbst Reichskanzler zu werden. Von Papen und von Schleicher waren die konservativ<br />

maskierten Agenten des Reformismus, die die mittlerweile latente Wechselstimmung an den betagten<br />

Reichspräsidenten herantrugen. Am 30.5.1932 kam es zum Rücktritt des Reichskanzlers und der<br />

Regierung. Der Weggang von Brüning beschleunigte <strong>das</strong> Desaster, da seine Nachfolger über immer<br />

winzigere parlamentarische Hausmächte geboten.<br />

Der neu bestimmte Kanzler v. Papen installierte eine Regierung des Hochadels, die nur von der DNVP<br />

unterstützt wurde. Drei Tage nach seiner Einsetzung kam er durch Austritt seinem Hinauswurf aus<br />

dem Zentrum zuvor. Das Zentrum verübelte ihm die Beteiligung am Sturz von Brüning. Am 4.6.1932<br />

traf er eine katastrophale Entscheidung. Auf Antrag Papens löste der Reichspräsident den Reichstag<br />

auf und schrieb Neuwahlen zum 31. Juli aus. Am 14. Juni wurden auf Grund einer Notverordnung des<br />

Reichspräsidenten SA und SS wieder zugelassen. Folgerichtig entwickelten sich bürgerkriegsartige<br />

Zustände. Im Wahlkampf kamen 86 Wahlkämpfer um, darunter 68 Reformisten und nur 18<br />

Demokraten. Der Wahlkampf wurde zum Vorwand genommen, die preußische Regierung abzusetzen.<br />

Nach blutigen Zusammenstößen zwischen Rotfrontkämpferbund und SA im preußischen Altona, wo<br />

18 Leute, überwiegend Unbeteiligte umkamen, wurde der SPD-geführten preußischen Regierung<br />

vorgeworfen, die Kontrolle über die Polizei verloren zu haben. Die preußische Regierung wurde durch<br />

einen Reichskommissar ersetzt.<br />

In diesem aufgeheizten Klima und nach der Demütigung der preußischen SPD fand am 31. Juli 1932<br />

die sechste Reichstagswahl statt.<br />

Wahl zum 6. Reichstag im Juli 1932:<br />

SPD 21,6 % ( - 2,9 %)<br />

KPD 14,6 % (+ 1,5 %)<br />

DStP 1,0 % ( - 2,8 %)<br />

DVP 1,2 % ( - 3,6 %)<br />

NSDAP 37,4 % (+19,1 %)<br />

Landvolk 0,3 % ( - 2,9 %)<br />

WP 0,4 % ( - 3,6 %)<br />

DNVP 5,9 % ( - 1,1 %)<br />

CSVd 1,1 % ( - 1,4 %)<br />

Zentrum/BVP 15,7 % (+ 0,9 %)<br />

Sonstige 0,9 % ( - 3,0 %)<br />

Die NSDAP hatte bis zum Sommer 1932 die ideologisch angrenzenden gemäßigt reformistischen und<br />

korporatistischen Mileus weiter ausgezehrt. Ob es Anhänger der Idee der Volksgemeinschaft waren,<br />

wie die der DStP, Anhänger völkischer, korporatistischer und neokonservativer Anschauungen wie der<br />

Landbund, die Wirtschaftspartei oder die DNVP, alle wurden auf ihren harten Kern<br />

heruntergedrechselt. Nach der Wahl hatten die beiden radikalreformistischen Parteien definitiv die<br />

Mehrheit im Reichstag. An eine parlamentarische Arbeit war nicht mehr zu denken. Am Tag nach der<br />

Wahl starben wieder 20 Fundamentalisten im Bürgerkrieg auf Deutschlands Straßen.<br />

393 Manfred Nussbaum: Wirtschaft und Staat in Deutschland während der Weimarer Republik, Akademie-Verlag,<br />

berlin 1978, S. 325 f<br />

316


Wahlergebnisse in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt 35,1 10,6 0,9 1,5 45,2 0,0 0,2 4,6 1,3 0,6<br />

Braunschweig 33,3 9,2 0,6 1,2 48,0 0,2 4,9 1,9 0,9<br />

Bremen 34,3 13,3 1,2 4,2 30,4 0,3 12,6 2,7 1,0<br />

Hamburg 31,7 17,7 6,0 2,0 33,7 0,4 5,2 2,0 1,3<br />

Lippe 29,6 9,7 0,8 2,2 41,1 0,2 0,2 8,4 3,6 3,3 0,9<br />

Lübeck 39,6 9,0 1,5 2,3 41,2 0,2 4,1 1,4 0,9<br />

Meckl.-Schwerin 29,7 9,3 0,7 1,6 46,0 0,1 0,3 10,4 1,1 0,8<br />

Meckl.-Strelitz 29,9 10,4 1,3 1,4 42,5 0,1 0,3 12,1 1,2 0,9<br />

Oldenburg 20,1 6,3 1,8 0,9 46,3 0,6 0,2 6,7 16,3 0,8<br />

Sachsen 28,4 17,4 1,3 2,0 41,3 0,2 1,0 4,6 1,4 1,3 0,9<br />

Schaumburg-Li 41,5 6,3 1,7 2,1 38,2 0,1 0,1 7,7 0,8 1,0 0,5<br />

Thüringen 24,0 16,5 1,0 1,7 43,9 5,7 0,8 4,0 1,5 1,0<br />

Waldeck 14,1 4,3 0,8 1,8 63,8 0,3 0,2 9,6 1,5 3,3 0,4<br />

Süddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Baden 13,6 11,2 2,2 1,2 36,9 0,5 3,0 1,6 29,1 0,6<br />

Bayern 17,1 8,3 0,5 0,9 32,9 0,1 0,4 3,1 32,4 4,4<br />

Hessen 26,2 10,2 0,6 1,5 43,1 0,0 0,2 1,9 0,9 14,8 0,7<br />

Württemberg 18,0 11,2 2,5 1,0 30,5 0,2 3,9 3,7 20,7 8,5<br />

Ostprovinzen SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Berlin 27,3 27,3 1,6 0,8 28,7 0,2 8,3 4,9 0,9<br />

Brandenburg 26,2 13,4 0,9 0,9 45,3 0,1 0,2 10,1 2,0 0,9<br />

Niederschlesien 25,1 8,3 0,7 0,6 45,3 0,1 0,4 6,1 0,9 11,8 0,7<br />

Oberschlesien 8,7 17,0 0,2 0,3 29,3 0,1 0,3 6,9 34,6 2,6<br />

Ostpreußen 19,7 12,9 0,6 0,8 47,1 0,1 9,5 1,1 7,7 0,5<br />

Pommern 21,0 10,7 0,8 0,9 48,0 0,1 0,3 15,8 1,5 1,1<br />

Posen-Westpr. 11,3 7,0 0,3 0,4 46,2 0,1 7,8 0,4 24,2 2,4<br />

Prov. Sachsen 24,0 17,9 1,0 1,3 42,7 0,1 0,3 8,0 4,0 0,8<br />

Schleswig-Holst. 26,1 10,8 1,4 1,4 51,1 0,0 0,2 6,4 1,2 1,4<br />

Westprovinzen SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Hannover 26,1 7,6 0,9 1,3 45,2 0,1 0,1 6,4 0,8 8,8 2,6<br />

Hessen-Nassau 22,4 10,7 0,7 1,6 43,7 0,3 0,3 4,0 1,2 14,8 0,5<br />

Hohenzollern 4,2 6,0 0,7 0,4 21,9 2,0 61,1 3,7<br />

Rheinprovinz 12,0 19,2 0,3 1,1 26,7 0,6 4,8 33,7 1,6<br />

Westfalen 17,5 17,4 0,4 1,1 25,5 0,2 0,4 5,0 2,0 29,7 0,8<br />

Gewinne und Verluste in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt - 3,5 - 0,2 - 1,4 - 8,9 + 25,4 - 5,8 - 4,1 + 0,9 + 0,1 - 2,4<br />

Braunschweig - 7,2 + 2,4 - 2,5 - 6,2 + 21,4 - 3,5 - 0,4 + 0,3 - 4,1<br />

Bremen + 0,6 + 1,5 - 4,7 - 12,4 + 18,4 - 3,6 + 5,5 + 0,3 - 5,6<br />

Hamburg - 0,4 - 0,3 - 2,5 - 7,2 + 14,5 - 2,0 + 0,1 + 0,5 - 3,9<br />

Lippe - 3,3 + 3,3 - 4,0 - 5,0 + 18,7 - 2,7 - 2,1 + 0,2 - 1,8 + 0,4 - 3,6<br />

Lübeck - 1,9 - 0,4 - 2,3 - 9,5 + 22,8 - 3,8 - 1,2 + 0,2 - 3,7<br />

Meckl.-Schwerin - 5,2 + 1,6 - 1,5 - 4,3 + 25,9 - 6,3 - 5,9 - 0,7 + 0,5 - 4,1<br />

Meckl.-Strelitz + 2,1 - 2,3 - 2,2 - 2,5 + 19,9 - 3,8 - 4,5 - 3,4 + 0,5 - 3,7<br />

Oldenburg - 3,6 + 1,3 - 3,1 - 3,9 + 19,0 - 4,0 - 3,4 + 1,6 - 0,8 - 3,1<br />

Sachsen - 4,0 + 1,5 - 3,0 - 4,4 + 23,0 - 3,8 - 6,4 + 0,1 - 1,1 + 0,4 - 1,0<br />

Schaumburg-Li - 6,3 + 2,3 - 5,2 - 4,4 + 20,1 - 0,8 - 1,1 - 0,9 - 1,9 + 0,4 - 2,3<br />

Thüringen - 7,1 + 1,3 - 2,0 - 3,7 + 24,4 + 5,6 - 4,5 + 0,8 + 0,4 -15,2<br />

Waldeck - 2,9 + 0,5 - 6,8 - 3,2 + 37,2 -19,0 - 3,6 + 4,7 - 5,2 + 0,5 - 2,1<br />

317


Süddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Baden - 4,3 + 1,6 - 6,3 + 17,7 - 2,4 + 0,2 - 3,3 - 0,8 - 2,5<br />

Bayern - 3,8 + 2,3 - 1,3 - 1,0 + 14,9 - 4,2 - 2,4 + 1,1 + 1,3 - 7,0<br />

Hessen - 2,7 - 1,1 - 4,6 - 5,2 + 24,6 - 7,7 - 2,0 + 0,3 - 2,7 + 0,8 - 0,7<br />

Württemberg - 2,5 + 1,7 - 6,5 + 21,1 - 2,6 - 0,1 - 3,0 + 0,2 - 8,3<br />

Ostprovinzen SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Berlin + 0,1 - 3,8 - 2,9 + 14,1 - 2,2 - 4,7 + 1,3 - 1,9<br />

Brandenburg - 2,9 + 0,9 - 2,3 - 2,8 + 23,0 - 6,0 - 4,4 - 3,5 + 0,5 - 2,5<br />

Niederschlesien - 5,3 + 1,2 - 2,4 - 2,4 + 22,4 - 3,3 - 3,3 - 2,7 - 2,2 - 1,1 - 1,1<br />

Oberschlesien - 0,6 + 0,4 - 0,8 - 1,1 + 19,8 - 2,1 - 1,8 - 8,3 - 0,6 - 5,6<br />

Ostpreußen - 1,4 + 1,1 - 2,0 - 4,6 + 24,6 - 1,6 - 10,1 - 3,3 - 0,2 - 2,6<br />

Pommern - 3,7 + 1,9 - 1,7 - 2,4 + 23,7 - 3,1 - 3,0 - 9,0 + 0,4 - 2,9<br />

Posen-Westpr. - 2,5 - 0,9 - 1,6 - 2,0 + 29,2 - 3,6 - 2,0 - 9,6 - 5,3 + 0,5 - 2,0<br />

Prov. Sachsen - 2,9 + 0,7 - 2,5 - 5,0 + 23,1 - 5,4 - 4,9 - 0,1 + 0,4 - 3,3<br />

Schleswig-Holst. - 3,5 + 0,1 - 3,4 - 5,8 + 24,1 - 3,7 - 3,9 + 0,3 + 0,2 - 4,3<br />

Westprovinzen SPD KPD DStP DVP NS Landv WP DNVP CSVd Z/BVP Sonst.<br />

Hannover - 5,5 + 2,0 - 2,2 - 4,7 + 23,1 - 1,9 - 2,4 - 0,1 - 1,8 - 6,7<br />

Hessen-Nassau - 3,5 + 0,4 - 3,3 - 3,9 + 22,5 - 5,6 - 3,6 + 0,8 - 3,1 + 0,9 - 1,5<br />

Hohenzollern - 3,0 + 1,4 - 2,7 + 13,6 - 0,1 - 1,6 - 7,7<br />

Rheinprovinz - 0,8 + 1,8 - 2,0 - 3,5 + 10,9 - 4,3 + 0,3 + 2,7 - 5,0<br />

Westfalen - 2,1 + 2,7 - 1,9 - 4,3 + 13,1 - 1,4 - 3,5 + 0,3 - 2,6 + 1,6 - 1,9<br />

Im gemäßigt reformistischen Lager hatte mit der Juliwahl die DStP und die DVP ihr politisches Leben<br />

endgültig ausgehaucht. Auch die Sonstigen, darunter vor allem Bauern- und Regionalparteien waren<br />

fast zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. In den Ostgebieten gingen auch die Konservativen zurück.<br />

Vor allem der einfach gestrickte Mann vom protestantischen Lande lief in Scharen zu den<br />

Nationalsozialisten über.<br />

Strategischer Gewinner der Juliwahl waren nur die Nationalsozialisten, da die Kommunisten und<br />

Katholiken mit ihren Gewinnen wegen fehlenden Bündnispartnern nichts konstruktives anfangen<br />

konnten. Die nationalsozialistischen Stimmengewinne resultierten im wesentlichen aus der<br />

Umgruppierung der völkisch-reformistischen Wähler. Die Wählerwanderung vom völkischen Landvolk<br />

zu den völkischen Nationalsozialisten machte in Waldeck mehr als die Hälfte des<br />

nationalsozialistischen Zugewinns aus. Auch in beiden Hessen, in beiden Mecklenburg und vielen<br />

anderen Landgebieten war ein merklicher Zulauf vom Landvolk eingetreten. In anderen Wahlbezirken<br />

speisten die reformistischen bzw. konservativen Mittelparteien DStP, DVP und WP die NSDAP-<br />

Gewinne alleine oder fast alleine. Beispiele sind die Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck<br />

sowie die Rheinprovinz und Westfalen. Eine dritte Gruppe von Wahlbezirken, zeigte auch<br />

konservative Zuflüsse. Ostpreußen, Oberschlesien, Pommern und Posen-Westpreußen gehören in<br />

diese Gruppe. In vielen Bezirken leisteten schließlich die Sozialdemokraten noch einen Beitrag,<br />

Thüringen, Braunschweig und die preußischen Ostprovinzen waren davon am stärksten betroffen. Die<br />

Nationalsozialisten hatten die ihnen ideologisch nahestehenden Gruppierungen an die Wand<br />

gedrückt, alle diese Gruppierungen hatten nur noch Zustimmung im 1-%-Bereich oder weniger. Wenn<br />

die NSDAP nach dieser Wahl noch über 37 % vorankommen wollte, so mußten sie in ideologisch<br />

fremdes Gebiet vorstoßen, die reformistischen Grenzen überschreiten und Wähler überzeugen, die<br />

anderen kulturellen Säulen angehörten. Oder sie musste warten, <strong>das</strong>s mehr Wähler aus<br />

reformistischen Altersgruppen wahlberechtigt werden würden und Wähler, die in den demokratischen<br />

Vorstellungen des 19. Jahrhunderts verwurzelt waren wegstürben.<br />

1932 editierte die SPD ein Wahlplakat mit dem rad der Geschichte. In der Parteiführung herrschte<br />

Bunkermentalität. Es wurde nicht zwischen dem SA-Mann, dem Militär, dem Kaplan und dem<br />

Konzernlenker unterschieden. Feinde zerrten am Rad der Geschichte, die SPD hielt dagegen. Daß die<br />

bunte Truppe am linken Bildrand <strong>das</strong> Rad der Geschichte bei unterschiedlichen Gelegenheiten in eine<br />

andere Richtung drehen wollte, als es der SPD-Führung lieb war, blieb dem SPD-Wähler verborgen.<br />

Daß mit dem Militär und dem Kaplan gelegentlich nützliche politische Bündnisse bestanden, wurde<br />

dem Wähler ebenfalls nicht vermittelt.<br />

Noch eine Beobachtung schließt sich an. Je ländlicher ein Gebiet, desto schneller erfolgte der<br />

Niedergang der SPD und der beiden linken Parteien in der Summe, während in den Industrieregionen<br />

eine gewisse Stabilität zu erkennen ist. Die Verluste in den Hansestädten und Berlin oder der<br />

318


Industrieregion Westfalen waren wesentlich geringer, als beispielsweise in Posen-Westpreußen,<br />

Niederschlesien oder Thüringen.<br />

Heilige Ziele jenseits des Klassenkampfs<br />

Drei Tage waren seit der Reichstagswahl vergangen, als der elitaristische spindoctor Kurt Hiller in der<br />

für ihre antidemokratischen Symphatien bekannten „Weltbühne“, unter dem Titel „Linke Leute von<br />

rechts“ für seine Republik der Geistigen wieder einmal nach Verbündeten forschte. Von den<br />

elitaristischen Parteien spielten nach der Reichstagswahl nur noch NSDAP und KPD eine Rolle, und<br />

an den Rändern von Nationalisten und Kommunisten suchte Hiller folgerichtig herum.<br />

„Wer taugt mehr, ein kommunistischer Nichtdenker oder ein nationalistischer Selbstdenker? Möge<br />

jeder diese Frage nach seinem Privatgeschmack beantworten (oder besser: nach andern Kriterien<br />

als denen des Geschmacks); allgemeingültig scheint mir zu sein, daß Selbstdenker, mögen sie<br />

auftauchen in welcher politischen Gegend auch immer, ernster Beachtung wert sind - zumindest in<br />

einer Epoche, deren herrschende Politik-Gruppen ein so erbärmliches intellektuelles Niveau zeigen<br />

(und daher so schaurige Resultate hervorbringen) wie die großen Parteien in diesem Deutschland:<br />

jene alten Vereine, die sich in <strong>das</strong> Gesetzgebungsmonopol teilen, und jene jüngeren, ebenso<br />

fragwürdigen, die es ihnen entreißen wollen.“<br />

Mit den herrschenden alten Vereinen meinte Hiller zweifelsfrei die Sozialdemokraten, <strong>das</strong> Zentrum<br />

und die gemäßigten Reformisten, vielleicht auch die DNVP. Die jüngeren ebenso fragwürdigen waren<br />

offensichtlich KPD und NSDAP. Mit den Selbstdenkern meinte er eine neokonservative Kleingruppe<br />

um Karl Paetel. Es war offensichtlich nicht Hillers erste Lobpreisung nationalistischer Konzepte, 1927<br />

hatte er sich bereits wohlwollend mit Schauweckers „<strong>Neue</strong>n Nationalisten“ beschäftigt:<br />

„Sie waren wirklich neuartig, auf ihre Weise durchgeistet, keine Stammtischpatrioten, keine<br />

schwarzweißroten Rauschebärte; der für unsereinen interessanteste Abseiterkreis des<br />

Nationalismus sind sie indes heut längst nicht mehr - schon weil <strong>das</strong> Häuflein zersprengt, der Block<br />

zerstäubt scheint, die Atome verweht, neugebunden.“<br />

Über die artverwandte Paetel-Gruppe schrieb Hiller:<br />

„Selbstgefällig-unzulängliche Mystagogie (erklärlich durch die Herkunft aus rechtsgerichteter<br />

Jugendbewegung, aus Metawandervogelphysik, "bündischer") mischt sich da mit rühmlich<br />

energischem Willen, zur Klarheit vorzustoßen - zu einer Klarheit, die nicht simpel sondern komplex<br />

ist; die, ohne vom Goldkern des Nation-Erlebnisses einen Deut preiszugeben (....) sozialistischrevolutionäre<br />

Erkenntnis wird. Flachköpfe pflegen in der Vollziehung einer Synthese die<br />

Vernachlässigung eines Widerspruchs zu erblicken; solcher Mißdeutung setzt gerade die<br />

Paeteldoktrin sich furchtlos aus. Da ihr Nationalismus von der Rassentheorie, vom zoologischen<br />

Stumpfsinn genesen und zu seelisch-geistigen Kriterien entschlossen scheint, da andrerseits ihr<br />

Sozialismus - nicht als "Religion", aber als Prinzip ökonomischer Organisation - ehrlich und echt ist<br />

(was sich in unzweideutiger Option für Sowjetrußland zeigt, als bedingungslos zu schützende<br />

Vormacht der Zukunftskultur: ein Faktor, an dem alle Außenpolitik zu orientieren sei), so würde<br />

nicht nur Böswilligkeit dazu gehören, den Paetelkreis mit den Nationalsozialisten<br />

zusammenzuwerfen, sondern auch Blindheit, zu übersehen, daß er in schärfstem Gegensatz zu<br />

ihnen steht. Denn der Nationalismus der Nationalsozialisten ist dezidiert zoologisch und ihr<br />

"Sozialismus" offen antibolschewistisch. Nun hat die Kommunistische Partei Deutschlands, wie<br />

man weiß, seit etwa zwei Jahren eine starke Wendung zum Nationalismus vollzogen ("nationale<br />

und soziale Befreiung", "Volksrevolution", Scheringer), und die Frage liegt nahe, was denn die<br />

"sozialrevolutionären Nationalisten" um Paetel von unsern nationalrevolutionär gestimmten<br />

Kommunisten unterscheidet. Etwas sehr Wichtiges! Nämlich, daß bei den Paetel-Leuten ein<br />

(durchaus willensechter) sozialistischer Revolutionarismus frei von allem materialistischen<br />

Abrakadabra, sogar in bewußter Opposition zur materialistischen Geisteskrankheit, auftritt - ein<br />

Punkt, in dem sich die Sozialrevolutionären Nationalisten mit den Revolutionären Pazifisten<br />

berühren und mit dem ISK. Die ideologische Grundlage des kommenden, verwirklichenden<br />

Sozialismus Europas ist antimaterialistisch (Mut! neo-idealistisch); auch in Rußland wird der<br />

Sozialismus auf Generationen lebensfähig nur dann sein, wenn er sich von der materialistischen<br />

Basis löst. Man <strong>braucht</strong> bloß eine Rede Stalins zu lesen, um festzustellen, daß er in Wahrheit<br />

längst dabei ist. Aber er weiß es nicht. Alle Realisierungsschwierigkeit und -langsamkeit der<br />

319


sozialistischen Bewegung, alle ihre Irrungen und Entzweiungen, aller Mißerfolg ihrer Propaganda,<br />

all ihre deprimierenden Vergeblichkeiten (bei phantastisch chancenreicher objektiver Situation:<br />

jeder dritte Deutsche erwerbslos!) beruhen auf der im Fundament falschen, im Keim vergifteten<br />

sozialistischen Theorie. (...) heute ist dies Wissen (....) schon Gemeingut Vieler; sie sind die<br />

Vorbereiter des sozialistischen Aufschwungs von morgen. Demnach stehen die Paetel-Sozialisten,<br />

so sehr sie vom Nationalismus, von etwas zu Überwindendem, kommen, mit der Zukunft enger im<br />

Bunde als <strong>das</strong> marxistische Gros - eine Tatsache, die uns verpflichtet, der Entwicklung dieser<br />

Gruppe mit erheblicher Aufmerksamkeit zu folgen. Mit einer Aufmerksamkeit, versteht sich, die nur<br />

kritisch sein kann.“<br />

Selbstverständlich lohnte es sich nicht, die Paetel-Gruppe zu beobachten, weil die Verbindung von<br />

Sozialismus und philosophischem Idealismus von allen möglichen Seiten betrieben wurde: Von Georg<br />

Lukacs genauso wie von Wladimir Iljitsch Lenin, von Kurt Hiller wie von Adolf Hitler. Das<br />

materialistische Abrakadabra, die Abhängigkeit des ideologischen Überbaus von der materiellen<br />

Basis, wurde ersetzt durch ein idealistisches Simsalabim, <strong>das</strong> "Primat der Politik über die Ökonomie".<br />

Lenin hatte den von Marx erträumten Sozialismus, der Folge der Reife der Produktivkräfte gewesen<br />

wäre, durch die Erziehungsdiktatur einer Kleingruppe ersetzt, die gerade die Unreife dieser<br />

Produktivkräfte zur Erlangung ihrer Macht nutzte und diese Unreife zum Machterhalt letztlich<br />

aufrechterhalten musste. In den Anfangsjahren wurde die Elektrifizierung vorangetrieben, Räder und<br />

Wellen drehten sich wie von Zauberhand; in den Endjahren nach dem Ende der Periode der<br />

Vorherrschaft der Schwerindustrie scheiterte <strong>das</strong> System erkennbar an den Erfordernissen der<br />

Kommunikationsgesellschaft. Es war 1989 nicht mehr länger haltbar, über jedes ver<strong>braucht</strong>e Blatt<br />

Kopierpapier Buch zu führen, um die Herstellung von Flugblättern zu verhindern. Praktisch hatte Lenin<br />

sich vom Marxismus konsequent gelöst, indem er eine Führerdiktatur schuf und auf die materielle<br />

Basis des Sozialismus pfiff. Diese idealistische Volte wurde jedoch bis 1989 nicht theoretisch<br />

aufgearbeitet. Den Schülern des Marxismus-Leninismus wurde 70 Jahre lang der historische und<br />

dialektische Materialismus eingetrichtert; jede philosophisch-idealistische Regung wurde erstickt. Eine<br />

Kontinuität von Marx zu Lenin wurde behauptet und begründet. Jeder Fußabdruck der russischen<br />

Exilanten Lenin und Trotzki im Sand der Jugendbewegung wurde von den Schreiberlingen der<br />

Geschichte der KPdSU eingeebnet. Was Lenin in Sibirien gelesen hat, wurde dem interessierten<br />

Leser preisgegeben, was er in München, Zürich und Ascona getrieben hat, wird außer der Arbeit an<br />

der „Iskra“ und dem „Imperialismus“ ein Geheimnis bleiben. Im Kloster des Marxismus-Leninismus<br />

wurde hinter einem materialistischen Vorhang idealistisch gesündigt. Diese Lebenslüge wollte Hiller<br />

entlarven. Lenin, Stalin und Breshnew hielten aber am materialistischen Abrakadabra fest, um ihre<br />

Umtriebe besser zu tarnen und die Eigenständigkeit des realen Sozialismus zu betonen. Dafür war<br />

Marx noch gut. Marx verschaffte gegenüber den Dutzenddiktaturen ein nützliches<br />

Alleinstellungsmerkmal. So wie der Islam jüdische Urväter benötigt, um die Kontinuität der Verbindung<br />

zu Gott darzustellen, so benötigte der Leninismus den proletarischen Urvater Marx. Das<br />

„Kommunistische Manifest“ und <strong>das</strong> „Kapital“ halfen, aus dem Bodennebel der politischen Banalität<br />

herauszufinden.<br />

Interessant ist, egal ob Hiller oder Tucholsky sich als Autoren betätigten, die Beobachtung des Zieles<br />

der „Weltbühne“: mit allen Mitteln die verhaßte Republik zu beseitigen. Hiller zitierte genüsslich <strong>das</strong><br />

Mitglied des Paetel-Kreises Karl Baumann:<br />

Und:<br />

"Ablösung der kapitalistischen Ordnung durch den sozialistischen Aufbau. Die Verteidigung dieses<br />

Aufbaus mit allen Mitteln nach innen und außen."<br />

"NSDAP und KPD heben durch ihren Kampf untereinander ihre Kraft auf. Ihr Kampf gibt dem<br />

Bürgerstaat und der Bourgeoisie <strong>das</strong> Gleichgewicht."<br />

Man kann hier schon herauslesen, wie Hiller, eskortiert von Gänsefüßchen, unter Zuhilfenahme der<br />

Gedanken eines Bruders im Geiste, einem Ende des Bürgerstaats durch einen Stalin-Hitler-Pakt <strong>das</strong><br />

Wort redete. Hiller weichte im Angesicht dieser totalitaristischen Konvergenztheorie die ideologische<br />

Grenze zwischen Arbeiterbewegung und Reformbewegung, die seit Lenin ohnehin fließend geworden<br />

war, weiter auf. Ziel war die weitere „Idealisierung“ der kommunistischen Bewegung, ihre Anpassung<br />

an <strong>das</strong> politische Biotop des ständisch-korporatistischen Sumpfs in Deutschland.<br />

320


„Unsereiner soll da, scheint mir, ohne Hochmut helfen; soll an <strong>Menschen</strong>, die selber zu denken<br />

gewohnt und, im Gegensatz zu den Marxklerikern, den Gedanken Andrer geöffnet sind, keine<br />

gebosselten Dogmen herantragen: friß, Paetel, oder stirb! Nein, so nicht; sondern: (ohne<br />

Kompromiß) in Kameradschaft diskutieren. (...) Und man vergesse nie, zu forschen: wo steckt im<br />

Gegner der Freund? Ich fühle mich Jedem brüderlich verbunden, der sich als rein, wahrhaftig,<br />

unabhängig, unbestechlich, als Diener am Geiste erweist; der aufrecht, doch unstarr schreitet, weil<br />

er an keine versteinerte Doktrin gefesselt ist; der den Klassenkampf auf der Seite der<br />

unterdrückten Klasse kämpft, vielmehr diese Klasse aus ihrer Zerklüftung zur Einheit, zu<br />

wirklichem Kampfe, zum Siege zu erlösen strebt; der aber weiß, daß der Prolet noch andres ist als<br />

Prolet, daß es heilige Ziele gibt noch jenseits des Klassenkampfs.“<br />

Auch die Splittergruppe des Leonhard Stark, der Stark-Bund warb mit Hammer, Sichel und<br />

Hakenkreuz für die echte deutsche Tat.<br />

Vom Reformismus zum Nationalsozialismus<br />

1932 waren die gemäßigten Reformisten der DDP und der DVP auf ein Niveau der politischen<br />

Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Nach diesem Abgang der gemäßigten Reformisten von der<br />

politischen Bühne ist hier ein Nachruf am Platze.<br />

Die Kommunisten stellten <strong>das</strong> Überlaufen eines spezifischen Wählermilieus von den Reformisten zu<br />

den Nationalsozialisten als einen Akt der Enttäuschung entwurzelter Schichten des Kleinbürgertums<br />

dar, wobei die Enttäuschung sich selbstredend auf den Kapitalismus bezieht. Nur der Sozialismus gibt<br />

dem Kleinbürger Geborgenheit, so die kommunistischen Argumente damals wie heute.<br />

Daran ist sicher auch wahres, allerdings müssen die Begriffe des Kleinbürgertums und des<br />

Kapitalismus geschärft werden, um die Enttäuschung richtig deuten zu können.<br />

Sollte man annehmen, daß die Erwartungen des betrachteten Wählerklientels sich zwischen 1919 und<br />

1932 änderten oder blieben diese Erwartungen eher gleich ?<br />

Zwischen 1919 und 1932 lagen nur 13 Jahre. Das Wahlrecht begann in der Weimarer Republik mit 21<br />

Jahren und die Lebenserwartung betrug etwa 65 Jahre. Das bedeutet, daß jeder Wähler etwa 44<br />

Jahre im Wahlalter war. In 13 Jahren kamen über den Daumen rund 30 % Neuwähler hinzu, etwa 70<br />

% der Wähler von 1932 waren auch 1919 schon wahlberechtigt gewesen.<br />

Man kann also davon ausgehen, daß ein Großteil des Wählerklientels, <strong>das</strong> sich 1919 für die<br />

gemäßigten reformistischen Parteien entschieden hatte, 1932 noch wählte.<br />

Nun müssen wir uns zurückerinnern, welches Programm die DDP 1919 verkörpert hatte. In den<br />

Bausteinen der DDP war von der Schaffung marktwirtschaftlicher Fundamente nach dem Weltkrieg<br />

nicht die Rede. Schon 1919 wirkte <strong>das</strong> Programm verschwommen, mit Forderungen nach gleichen<br />

Rechten für alle, Frauenwahlrecht, Schutz der Familie und Völkerbund.<br />

1928 enthielt der Wahlaufruf zur Reichstagswahl lediglich in sich widersprüchliche Forderungen nach<br />

Steuersenkung, Preisabbau, Stärkung der Kaufkraft des Binnenmarktes und Steigerung der<br />

Ausfuhr. 394 Alle diese vier Forderungen hatten nichts mit Marktwirtschaft zu tun, drei der Forderungen<br />

rochen nach Dirigismus und Staatsinterventionismus, ließen sich, um mit Graf Lambsdorff zu<br />

sprechen, nur mit den Marterwerkzeugen der Planwirtschaft erreichen, und hätten auch im Programm<br />

der Nationalsozialisten stehen können. Die starke Fixierung der Demokraten auf Gemeinwirtschaft,<br />

Genossenschaftswesen und Ausgleich von Kapital und Arbeit verhinderte eine klare Abgrenzung zu<br />

den Nationalsozialisten. Das Bekenntnis zur Privatwirtschaft, <strong>das</strong> gelegentlich mitschwang, förderte<br />

die Unterscheidbarkeit auch nicht, denn außer den Kommunisten waren alle für die staatlich gelenkte<br />

Privatwirtschaft. Der Nationalsozialismus gewann seine Überlegenheit gegenüber reformistischen<br />

Steuersenkungsparolen und sozialdemokratischen Lohnsteigerungsversprechungen durch <strong>das</strong><br />

ausdrückliche Hintansetzen materieller Interessen, den Ersatz von Wohlstand durch Erlösung. Statt<br />

Streikbereitschaft wurden Opfer verlangt, Selbstverleugnung sollte den Marsch durch <strong>das</strong> nächste<br />

Jahrtausend begleiten, aber dieser Marsch zur Weltherrschaft war für viele einfältige Zeitgenossen<br />

394 Ansprache von Hermann Fischer aus www.hdm.de/sammlungen/zendok/weimar/fischer.html<br />

321


eine großartigere Perspektive, als zwei Pfennige mehr Ecklohn oder die Stundung der fälligen Steuer<br />

für ein oder zwei Jahre.<br />

Hans Mommsen erinnerte in "Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar" daran, daß selbst in<br />

der DDP ein eigenständiger "deutscher Staatsgedanke" gepflegt wurde, der den germanischen<br />

Genossenschaftsgedanken fortführte. 395 Es habe kaum eine Richtung im bürgerlichen Lager gegeben,<br />

die sich nicht in Abkehr zum westlichen Parlamentarismus auf die Stein´sche Verfassungsreform<br />

berufen hätte. Hier muß erklärend hinzugefügt werden, daß Reichsfreiherr von Stein von<br />

mittelalterlichen Staatsgedanken beeinflußt war, die er zudem idealisierte. Diese Gedanken waren<br />

nicht weit von den Ideen der Volksgemeinschaft und eines traditionellen Korporatismus entfernt, die<br />

später eine größere Rolle spielen sollten.<br />

Ein bezeichnendes Schlaglicht wirft die Vereinigung mit dem Jungdeutschen Orden auf <strong>das</strong> politische<br />

Konzept der linksreformistischen DDP. Der Jungdeutsche Orden war eine jener parteikritischen<br />

bündischen Organisationen (1919 aus einem Freikorps hervorgangen), die für den deutschen Weg<br />

nach 1900 typisch waren. Man verstand sich als Jugendbewegung und die Selbstbetitelung als Orden<br />

versprach mehr ritterliche Mittelalterromantik, als einen modernen bürgerlichen Parteibetrieb.<br />

Antikommunismus und Antiplutokratismus sowie die Volksgemeinschaft standen im Programm. 1930<br />

hatte sich der Jungdeutsche Orden mit der Volksnationalen Reichsvereinigung (VnR)<br />

zusammengeschlossen. Die VnR präsentierte sich als Partei der nationalen Erneuerung und wollte<br />

den wahren Volksstaat schaffen. 396 Die Vereinigung der DDP mit dem Jungdeutschen Orden war von<br />

der Umbenennung in "Deutsche Staatspartei" begleitet. Das war nun der letzte Beweis, daß es sich<br />

nicht um eine liberale Partei handelte, sondern um einen unaufgeklärten Beamtenbund, die<br />

Wahlergebnisse in Berlin ließen sich in Abhängigkeit der Entfernung zum Regierungsviertel in<br />

konzentrischen Kreisen darstellen: mit wachsender Entfernung zur Ohnmachtszentrale der deutschen<br />

Politik nahm die Zustimmung zur DStP deutlich ab. Ein kleiner Tropfen Anarchismus, verdünnt in<br />

einem Ozean der Einsicht in die Notwendigkeit des Staates gehört in einer liberalen Partei zu den<br />

Notwendigkeiten der Profilierung, in der Deutschen Staatspartei dagegen stand die Vergötzung des<br />

Staates schon im Namen. Zwei der kulturellen Wende der Jahrhundertwende verpflichtete Parteien-<br />

Bünde hatten sich vereinigt, wobei die DDP <strong>das</strong> dünne und zerlumpte liberale Mäntelchen endgültig<br />

von sich warf und was die bündische Attitüde betraf, in die Schönheitskonkurrenz mit den<br />

Nationalsozialisten trat. Es war eine Mißwahl.<br />

1930 druckte die Staatspartei ein Plakat mit einem apokalyptischen Trommler: Staatsvolk an die Front!<br />

Wie sollte der unbedarfte Wähler den Unterschied zur NSDAP erkennen? Trommeln konnte die<br />

NSDAP besser, als die Staatspartei.<br />

Wegen der mangelnden Unterscheidbarkeit im Programm wurde dem Wechsel des Wählerklientels zu<br />

den Nationalsozialisten <strong>das</strong> Tor weit aufgesperrt. In dem Moment, wo die Nationalsozialisten ihren<br />

Antisemitismus aus taktischen Gründen mäßigten, wurde die Unterscheidbarkeit noch geringer. Man<br />

wählte zum Schluß diejenigen, die <strong>das</strong>selbe Programm hatten, aber im Wettlauf um vermeintliche<br />

Parteiferne glaubwürdiger waren.<br />

Wilhelm Busch hatte die Liberalen als diejenigen charakterisiert, die den Pfarrer nicht grüßten:<br />

„Schweigen will ich von Lokalen, wo der Böse nächtlich prasst, Wo im Kreis der Liberalen Man den<br />

heil´gen Vater haßt.“ Selbst im Antiklerikalismus wurden die Liberalen von den Nationalsozialisten<br />

überholt. Es blieb kein eigenständig besetztes Politikfeld übrig.<br />

Die Losungen der DVP waren genauso schlabbrig, als die der DDP. Geordnete Zustände, Deutsche<br />

Freiheit, Deutsches Recht, Deutscher Geist waren die Parolen von 1919.<br />

Gustav Stresemann hatte auch im Wahlaufruf von 1928 nur allgemeinschießende Pfeile im Köcher:<br />

die Ansprüche der Zeit befriedigen, sachliche Realpolitik, Verzicht auf extreme Meinungen. 397 Wie<br />

Recht hatte er, seine Forderungen hätten jeder Partei gut gestanden. Seine Parolen schärften in ihrer<br />

Allgemeinheit jedoch nicht <strong>das</strong> Profil einer liberalen Partei.<br />

Ein typisches Parteimitglied der DVP war der Nobelpreisträger Max Planck. Das allgemeine Wahlrecht<br />

lehnte er ab und führte später die Nazionalsozialistische Herrschaft auf <strong>das</strong> "Emporkommen der<br />

Herrschaft der Masse" zurück. Sein Verhältnis zur Demokratie war mehr als ambivalent:<br />

395 S. 243<br />

396 Hans Fenske: Deutsche Parteiengeschichte, S. 188 f<br />

397 Ansprache von G. Stresemann aus www.hdm.de/sammlungen/zendok/weimar/strese.html<br />

322


"...neben vielem Schrecklichen doch auch viel ungeahnt Grosses und Schönes: Die glatte Lösung<br />

der schwierigsten innenpolitischen Fragen durch die Einigung aller Parteien, ...die Höherbewertung<br />

alles Tüchtigen und Echten..."<br />

Das betrachtete Wählermilieu, <strong>das</strong> sich am Anfang der Republik für die Reformparteien entschieden<br />

hatte, kann man als Reformmilieu, als Reformklientel bezeichnen. Je oberflächliger in der Aneignung<br />

der Reformideen die Anhänger dieser Parteien sich verhielten, desto mehr könnte man sie boshaft als<br />

Reformkundschaft benennen. Es bestand ganz überwiegend aus zum Heidentum tendierenden<br />

Protestanten. Die gewerkschaftliche Bindung des Reformklientels war sehr gering ausgeprägt.<br />

In hohem Maße gehörten unter dem kulturellen Aspekt zum Reformklientel die Anhänger von<br />

Reformbewegungen: Wandervögel, Nudisten, Vegetarier, Erziehungs-, Wohn-, Ernährungs-,<br />

Kleidungs- und Sexualreformer, Träger von Gesundheitssandalen, Esoteriker, Antroposophen,<br />

Kleingärtner und Sonnenanbeter. Es handelte ökonomisch um Mitgleder von Ständen wie Handwerker<br />

mit und ohne Meisterbrief, "aufgeklärte" Beamte, Krämer, Angehörige der freien Berufe und modernen<br />

Zwischenschichten wie Redakteure, Angestellte, Künstler und Handlungsreisende. Teile des<br />

Reformklientels wählten selbstverständlich auch sozialdemokratisch und kommunistisch.<br />

Eigentlich benötigt fast niemand von den aufgeführten Berufsgruppen die Marktwirtschaft, um zu<br />

existieren. Die Geschichte der Zünfte und Gilden beweist <strong>das</strong>, Handwerker und Krämer können sich in<br />

der geplanten Mangelwirtschaft hervorragend einrichten, wie die Geschichte des Dritten Reiches, der<br />

DDR oder des späten Mittelalters zeigt. Der Landwirt und der Handwerker wurden regelrecht die<br />

Hätschelkinder des Dritten Reiches. Lediglich Journalisten und Rechtsanwälte waren damals etwas<br />

eingeschränkt. Wie die Beispiele de Maiziere, Gysi, Schnur und Diestel zeigen, gab es auch bei den<br />

Rechtsanwälten Ausnahmen. Der einzelne <strong>braucht</strong> die Marktwirtschaft nicht sofort und nicht<br />

vordergründig, der Mittelständler und der Kulturreformer benötigen sie auch nicht, aber die ganze<br />

Gesellschaft kommt ohne Marktwirtschaft nicht aus, wie wiederum <strong>das</strong> Ende der Weimarer Republik,<br />

<strong>das</strong> Ende des Dritten Reiches und <strong>das</strong> Ende der DDR beweisen.<br />

Für den oberflächlichen Betrachter liefen die liberalen Wähler in Scharen zum Nationalsozialismus<br />

über. Der Untergang der Mittelparteien DDP, DVP, Wirtschaftspartei und Volksrechtspartei und <strong>das</strong><br />

Überlaufen der Wähler dieser Parteien zur NSDAP hängt nicht mit liberalistischen oder gar<br />

marktwirtschaftlichen Konzepten dieser Parteien zusammen, die in der Weltwirtschaftskrise<br />

scheiterten. Liberale und marktwirtschaftliche Konzepte wurden von den Mittelparteien in der ganzen<br />

Periode der Weimarer Republik definitiv nicht verfolgt, nicht einmal von kleinen Zirkeln innerhalb<br />

dieser Parteien.<br />

Lediglich in Österreich gab es einen unermüdlichen Einzelkämpfer für den Liberalismus, Ludwig, Edler<br />

von Mises. Er hatte bereits 1922 <strong>das</strong> Buch „Die Gemeinwirtschaft“ veröffentlicht, in dem er bewies,<br />

<strong>das</strong>s reine Planwirtschaft auf Dauer nicht existieren könne, weil es in ihr keine Möglichkeit gäbe,<br />

Preise zu bestimmen. 1927 erschien sein Werk „Liberalismus“, in dem er völlig gegen den Strom der<br />

Zeit marktwirtschaftliches Denken gegen den Raubtierbürokratismus der turbosozialistischen<br />

Staatsformen verteidigte.<br />

Die Mittelparteien hatten von den Theorien Mises keine Ahnung; sie gingen nicht unter, weil sie sich<br />

vom Programm der Nationalsozialisten absetzten, sondern weil sie selbst nationalsozialistische<br />

Konzepte in der Wirtschaftspolitik verfolgten und diese Ansätze spätestens in der Weltwirtschaftskrise<br />

scheiterten. Es ist ein Paradoxum, aber Hitler gewann und errang die Macht mit einem vorher<br />

gescheiterten Konzept der Wirtschaftspolitik. Er war ein Gescheiterter, bevor er die Regierung<br />

übernahm. Worin sich Hitler wirtschaftspolitisch von den Regierungen der Präsidentschaft Hindenburg<br />

unterschied, war lediglich sein lockerer Umgang mit der Notenpresse und dem Kredit. Deshalb konnte<br />

er sich bis zum Ausbruch des Weltkriegs 6 Jahre lang wirtschaftspolitisch unberechtigterweise in sehr<br />

guter Erinnerung halten. 1938 <strong>braucht</strong>e er jüdisches Geld und 1939 mußte er spätestens mit dem<br />

Krieg beginnen, um die mittlerweile latenten Folgen der Schuldenwirtschaft zu überdecken und <strong>das</strong><br />

Platzen der Kreditblase bis 1945 hinauszuzögern.<br />

Biografien zwischen Spätkaiserreich und Drittem Reich<br />

Der antidemokratische Impuls der Reformbewegung verringerte die Distanz zu Adolf Hitler, der<br />

oftmals auch vorhandene avantgardistische und individualistische Zug erhöhte bei führenden<br />

323


Intellektuellen diese Distanz gegenüber dem Dramaturgen völkischer Happenings wieder. Reinhard<br />

Feld behauptet, daß ein großer Teil der Alternativen in <strong>das</strong> nationalsozialistische System integriert<br />

wurde. 398 Diese Integration erfolgte allerdings zu den Bedingungen der Nationalsozialisten, wie man<br />

zum Beispiel an den Biografien von Fidus, Werner Sombart und Ludwig Klages ablesen kann.<br />

Anbiederung reichte nicht. Nicht jeder Reformist wollte Nationalsozialist werden, nicht jeder Reformist<br />

durfte Nationalsozialist werden, aber die große Zahl überzeugter Nationalsozialisten kam vom<br />

Reformismus.<br />

Es sind die vielen Unbekannten, die als Lemminge Ihren Weg durch die Republik machten und jeder<br />

Laune des Zeitgeistes huldigten. Dieser <strong>Menschen</strong>typ ist in allen Zeiten der zahlreichste, häufigste<br />

und robusteste. Wenn der Zeitgeist gerade gnädig ist gehen solche <strong>Menschen</strong> ihren geraden Weg,<br />

wenn nicht dann kommen sie ins Straucheln.<br />

"Blumen nur in Liedern sanft besing ich" spottete Wolf Biermann. Mit harmlosen Blumen und<br />

ähnlichen Gewächsen hatte es auch der Gartenarchitekt Rudolph Bergfeld im Sinn. 399 Er wurde<br />

unglücklicherweise 1883 geboren und war deshalb gerade in der Pubertät, als die Reformwelle<br />

Deutschland überrollte. Auch vor dem Landschaftsgarten machte sie nicht halt. Der Architekt<br />

Muthesius propagierte um die Jahrhundertwende die "Raumkunst im Freien". Ziel waren<br />

Architektengärten mit sichtbarer Abgrenzung der Teile, so wie man in einem Haus die Räume durch<br />

Wände und Türen abgrenzt.<br />

Bergfeld beendete seine Ausbildung 1910-11 an der Kunstgewerbeschule Düsseldorf, einem<br />

Tummelplatz des Jugendstils und einer Brutstätte des Werkbunds. Selbstverständlich wurde Bergfeld<br />

auch selbst Mitglied im Deutschen Werkbund, dem Politbüro der Reformarchitekten. 1912 kurz vor<br />

dem ersten Weltkrieg veröffentlichte er sein Buch "Der Naturformgarten", versetzt mit<br />

Fundamentalkritik an der konventionellen Landschaftsgärtnerei. Die Details sollten der Natur<br />

überlassen werden, der Garten belebt sich durch Zufälligkeiten der Natur im Einzelnen.<br />

Unregelmäßige Pflanzabstände, flatternde Wegkanten, Verzicht auf Rasenschnitt, alles ein<br />

Aufbäumen gegen die Tradition englisch und französisch beeinflusster Gartenarchitektur.<br />

Aus dem Weltkrieg zurückgekehrt verfaßte er jugendstilige Entwürfe für Hausgärten, Rosengärten,<br />

und ein Naturtheater. Der Weltkrieg hatte keinen Bruch in der Schaffensrichtung hervorgerufen. Dort<br />

wo er notgedrungen aufgehört hatte, fing Bergfeld nach dem Kriege wieder an.<br />

1925 schrieb er in der "Gartenwelt" seinen letzten Artikel über Naturformgärten. danach fokussierten<br />

sich die Themen auf verschiedenen Detailfragen. Zeitgleich mit dem Ausbruch der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit<br />

waren Gartensitzplätze (1928), Lauschige Gänge (1929), Steinwerk (1929), Heckenmotive (1930),<br />

Sitzplätze im Park (1932) Gegenstände von Publikationen. 1929 taucht erstmalig ein Regionalmotiv<br />

auf: Norddeutsche Gärten.<br />

Vom großen Reformwurf war ab Mitte der 20er Jahre nicht mehr die Rede. Erst 1936 veröffentlichte<br />

Bergfeld wieder einen grundsätzlichen Artikel: "Wie gelangen wir zu einer deutschen Gartenkunst".<br />

Ziel der Gartenkunst sollte sein, zur bodenständigen Gestaltung zurückzukehren und zur<br />

ursprünglichen deutschen Kultur. Heimatgedanken, bäuerliche Volkskunst, Ausmerzung alles<br />

fremdartigen, <strong>das</strong> waren nun die Ziele.<br />

Natürlich hatte schon der Naturformgarten von 1912 eine Spitze gegen fremdländische<br />

Gartengestaltung, wie englische Gärten, französischen Rokoko, italienische Renaissance,<br />

süddeutschen Barock usw. Diese Zielrichtung verbarg sich aber noch hinter einer intellektuellen<br />

landschaftsgärtnerischen Larve, die nach 1933 abgeworfen wurde.<br />

Der Reichsmaler der Jugendbewegung an sich war Fidus. Bei ihm kann man die Entwicklung vom<br />

Lichtgebet zum Hakenkreuzgürtel besonders gut verfolgen, da er einen immensen Fleiß an den Tag<br />

legte und einer der produktivsten Maler der Zeit war.<br />

Der Illustrator Fidus hatte seit 1890 die Ikone der Reformbewegung, <strong>das</strong> "Lichtgebet" entwickelt, <strong>das</strong><br />

Bild eines Jünglings, der sich zur Sonne reckt. Es handelte sich keineswegs um ein christliches Gebet,<br />

sondern um eine Vergötzung der Sonne. Sonnenanbetung wurde übrigens in Diktaturen von Echnaton<br />

398 aus www.free.de/dada/dada-1/L0000242.HTM<br />

399 Die biografischen Details sind aus der Belegarbeit "Geschichte der Gartenkunst" von Ines Karstedt (FH Erfurt)<br />

entnommen.<br />

324


is Reza Schah Pahlewi immer wieder zur Staatsreligion, die Sonne versinnbildlichte deutlich die<br />

Zentralgewalt. Diese Sonnenanbetung war auch in der im Grunde elitären Reformbewegung, diesem<br />

stürmischen Aufbruch in Gesundheitssandalen Standard, von Rudolf Steiner über die Nudisten bis zu<br />

den Anhängern der Sonnenblume, ohne leuchtendes Zentralgestirn ging es nicht. Folglich ist es keine<br />

Überraschung, <strong>das</strong>s der populärste Maler des deutschen Reformismus, der Germanenmaler Fidus<br />

1928 Mitglied der Nationalsozialisten wurde. Für Fidus benötigte es keine Weltwirtschaftskrise und<br />

kein Massenelend; er trat aus Überzeugung in die Partei ein, und nicht aus Not.<br />

Fidus gefiel die Politik von Hitler, aber Hitler gefiel die Ästhetik von Fidus nicht, er hatte ja seine<br />

eigene, mehr am alten Rom und am Wagner´schen Opern-Walhall orientierte Ästhetik geschaffen.<br />

Bereits in „Mein Kampf“ hatte sich Hitler über die „völkischen Johannesse“ lustig gemacht, die „mit<br />

Blechschwertern in den Lüften herumfuchtelten, ein präpariertes Bärenfell mit Stierhörnern auf dem<br />

Haupte“. Er habe seine Partei Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei genannt, um diese<br />

Schlafwandler von der Beantragung einer Mitgliedschaft abzuschrecken. Auf der Nürnberger<br />

Kulturrede 1934 tat Hitler die Germanenschwärmer der ersten Generation als "Rückwärtse" ab. Das<br />

SS-Organ "Das Schwarze Chor" bezeichnete Fidus als einen "Verkitscher der nordischen Kunst", die<br />

jugendstilige Schwulstik des Spätkaiserreichs war in den Dreißigern nicht mehr gefragt. 400<br />

Fidus mußte im stillen Kämmerlein weiterklecksen, statt verdientermaßen der erste reformistische<br />

Reichsmaler zu werden, 1938 entstand eine letzte Fassung des Lichtgebets. Mit Fidus wäre die<br />

nationalsozialistische Bewegung elitär geworden, die ästhetische Leistung der Nationalsozialisten war<br />

aber gerade die Reformbewegung auf eine populistische, für die Massen verdauliche Version<br />

heruntergebrochen zu haben, und über diese Leistung war man sich im Lager der Nationalsozialisten<br />

durchaus bewußt.<br />

Bereits Friedrich Nietzsche wollte<br />

„eine Partei des Lebens schaffen, stark genug zur großen Politik: die große Politik macht die<br />

Physiologie zur Herrin über alle anderen Fragen, - sie will die Menschheit als Ganzes züchten, sie<br />

mißt den Rang der Rassen, der Völker, der Einzelnen nach ihrer Zukunfts(-), nach ihrer Bürgschaft<br />

für <strong>das</strong> Leben, die sie in sich trägt, - sie macht unerbittlich mit allem Entarteten und Parasitischen<br />

ein Ende.“<br />

Heinrich Himmler und Richard Walther Darré fanden und bahnten in diesem Sinne den Weg von der<br />

Viehzucht und dem Armanentum zum Ahnenpass.<br />

Über Theosophie und Ariosophie war schon berichtet worden. 1923 bildete sich der Verein "Artam<br />

e.V.", der eine Denkfabrik der Nationalsozialistischen Bewegung wurde. Die Artamanen-Bewegung<br />

verband die Ariosophie mit Elementen der Lebensreform und der Naturschutzbewegung, um den<br />

Bauernstand als "organischen <strong>Menschen</strong>" zu verherrlichen und gegen die "Asphaltkultur der<br />

Großstädte" zu revoltieren.<br />

Ein naturverbundenes Leben ohne Industrie sollte die westliche "Zuvielisation" ersetzen. 401 Aus der<br />

Artamanen-Bewegung bzw. der Nordischen Rassetheorie stießen Heinrich Himmler und Richard<br />

Walther Darré zur NSDAP.<br />

Darré hatte sich bereits als Student für Familienforschung interessiert. Es ist nachgewiesen, daß er<br />

1926 die "Familiengeschichtlichen Blätter" abonniert hatte. Fast gleichzeitig las er <strong>das</strong> "Lehrbuch der<br />

Pferdezucht" von Frölich. In diesem Buch ist beschrieben, daß in England bereits seit 1727<br />

Stammbäume von Rennpferden erfaßt wurden. "Unerläßlich ist hier die Zuchtbuchführung und die<br />

Nachkommensbeurteilung. Die Ahnentafel ist nur dann von Wert, wenn die betreffenden Individuen<br />

einzeln bekannt sind" lehrte Frölich. Darré geriet offensichtlich in den Bann einer Analogie. Fast<br />

gleichzeitig las der frischgebackene Diplomlandwirt Heinrich Himmler die Schrift "12 Lebensregeln des<br />

Deutschvölkischen Trutz- und Schutzbundes". Die erste Regel lautete:<br />

„Deutscher, ... bekämpfe jede Heirat mit fremdem Geblüt in Deiner Familie. ... Das Hakenkreuz ist<br />

<strong>das</strong> Wahrzeichen der Rasse."<br />

400 Per aspera ad astra - in www.nzz.ch/2002/01/11/fe/page-article7W2FU.html, Seite 2<br />

401 Des "listigen Guidos" Erben aus www.helsing.virtualave.net/Armanen.htm Die "Zuvielisation" ist ein deutlicher<br />

Beweis, daß selbst 1924 unmittelbar nach der Inflationszeit nicht die Armut und <strong>das</strong> Elend beklagt wurden,<br />

sondern der Überfluß der modernen westlichen Zivilisation.<br />

325


Dazu notierte Himmler:<br />

"Ein herrliches Heft. Es ist eine Pionierarbeit. Besonders der Teil, wo es möglich ist, die Rasse<br />

wieder zu verbessern, ist von herrlicher, sittlicher Höhe."<br />

Trotzdem oder gerade deshalb hatte Himmler mit seiner späteren Sekretärin zwei uneheliche Kinder.<br />

Himmler las gleichzeitig in der "Allgemeinen Tierzucht" über Rassereinheit, Herdbuchführung,<br />

Ahnentafel und Stammbaumforschung. Warum sollte bei <strong>Menschen</strong> nicht möglich sein, was man in<br />

der Viehzucht längst praktizierte? Darré hatte 1928 große Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, er<br />

langweilte sich zu Hause und schrieb <strong>das</strong> Buch "Bauerntum als Lebensquell der Nordischen Rasse".<br />

Auf Seite 364 ff ist zu lesen:<br />

"Im Jahre 1793 tat man in England einen bedeutenden Schritt und entschloß sich, nur noch mit den<br />

erprobten Pferdestämmen weiterzuzüchten, d.h. fremdes Blut grundsätzlich fernzuhalten.<br />

Sämtliche Pferde wurden in <strong>das</strong> General Stud-Book eingetragen, welches übrigens <strong>das</strong> älteste<br />

Zuchtstammbuch der Welt ist. ...Seit der Gründung des General Stud-Book ist kein fremdes Blut<br />

mehr in die englische Vollblutzucht hineingelangt, aber rücksichtslos fließt alles hinaus, was nicht<br />

die harte Konstitutionsprüfung der Rennbahn durchhält oder Körperfehler aufweist. ...Die erreichte<br />

Höhe der Leistung ist einzigartig. ...Aus einer durchaus nicht einheitlichen Menge von Pferden<br />

schälen sich bei Anwendung rücksichtsloser Leistungsprüfungen einige bestimmte leistungsfähige<br />

Familien heraus, bilden mit der Zeit einen echten Adel unter den Pferden und können nunmehr auf<br />

ihrer Leistungshöhe nur erhalten werden durch rücksichtslose Reinhaltung ihrer Erbmasse, d.h.<br />

ihres Blutes. ...Verfasser glaubt nun, daß wir mit dieser Erkenntnis über die Entstehungsursachen<br />

einer auf Leistung aufgebauten Hochzucht auch den Schlüssel in den Händen halten, um die<br />

Eheprobleme der Nordischen Rasse biologisch zu erschließen."<br />

1929 schrieb Darré sein Buch "Neuadel aus Blut und Boden". Er war mit diesen Zuchtüberlegungen<br />

kein Einsamer. Bereits 1921 hatte der "Deutsche Orden" Ahnentafeln von seinen Mitstreitern verlangt.<br />

1928 entstand die "Nordische Vermittlungsstelle". Der Leiter dieses Unternehmens, Hanno Konopacki-<br />

Konopath war gleichzeitig Schriftleiter der "Sonne" und Leiter des "Nordischen Ringes". Weitere<br />

einschlägige Organisationen waren der "Werkbund für deutsches Volkstum und Rassenforschung“<br />

und der "Jungnordische Bund", <strong>das</strong> "Germanische Eheamt“ und der "Bund Kinderland". Im Mai 1930<br />

lernte Darré auf Burg Saaleck Hitler kennen, trat in die Partei ein und wurde Leiter der NSDAP-<br />

Agitation auf dem Lande. Himmler hatte seine politische Karriere als Artamanenführer im Gau Bayern<br />

begonnen. Als Himmler SS-Führer geworden war, begann noch vor der Machtergreifung die<br />

großtechnische Erprobung der neuen Zuchttheorien. Ende 1931 erließ er den "Verlobungs- und<br />

Heiratsbefehl" der SS, der die Erteilung der Heiratserlaubnis von der rassischen und<br />

erbgesundheitlichen Einschätzung der Ehepartnerin abhängig machte. Darré wurde Leiter des<br />

"Rasse- und Siedlungshauptamtes SS". Mit der Führung eines SS-Stutbuchs wurde umgehend<br />

begonnen. 402 Die Auslese funktionierte bei Kriegsende völlig anders als vorhergesehen: Die SS-Leute<br />

wurden in den Kriegsgefangenenlagern anhand ihrer Hakenkreuz-Tätowierung aussortiert. Sie waren<br />

so gut wie tot, wenn sie abgeholt wurden.<br />

Der 1000jährige Marschbefehl der SS war bei Lichte besehen <strong>das</strong> größte Degenerations- und<br />

Inzuchtprogramm der Menschheitsgeschichte. Bereits bevor man etwas über die Genetik wußte, als<br />

man nur beobachtete, war der Vorteil der Rassenmischung bekannt. Die isoliert lebenden<br />

Südseebewohner waren glücklich über "bemannte" europäische Segler, die <strong>das</strong> insulare Blut etwas<br />

auffrischten, Friedrich List referiert 1844 in seinem nationalen System der politischen Ökonomie:<br />

"Es ist eine alte Beobachtung, daß der Mensch wie <strong>das</strong> Tier durch Rassenkreuzung sich geistig<br />

und körperlich veredelt, daß er wenn wenige Familien fortwährend untereinander heiraten, wie die<br />

Pflanze, wenn der Samen fortwährend in den gleichen Boden gesäet wird, nach und nach<br />

degeneriert."<br />

Die aus der Rassenmischung folgende Überlegenheit der Vereinigten Staaten diagnostizierte bereits<br />

Friedrich List.<br />

402 Volkmar Weiss, die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses, Teil III Die Machtergreifung der Viehzüchter in<br />

www.volkmar-weiss.de/publ7-pass3.html<br />

326


„In der Kunst ist es anders als beim Fußballspiel: In der Abseitsstellung erzielt man die meisten<br />

Treffer“, hatte Salvador Dali behauptet. Karl Peter Röhl´s Biografie zwischen Bauhaus und NSDAP<br />

widerlegt <strong>das</strong> Zitat.<br />

Einige wenige Künstler gingen nicht mit der Mode, sondern sie machten Mode. Andere wie der Maler<br />

Karl Peter Röhl (1890-1975) hechelten dem jeweils letzten Ismus nach. Röhl wurde als<br />

Beispielkünstler ausgesucht, weil er jeweils sehr zeitnah zum Mitläufer des Zeitgeists wurde. Immer<br />

bevor der politische Vulkan ausbrach hatte er bereits innere Vibrationen, jedes politische und<br />

künstlerische Beben ahnte er schon 3 Jahre vorher voraus, allerdings ohne je eine vernünftige<br />

Deutung der Schicksalszeichen zustande zu bringen. Statt den modernistischen Versuchungen zu<br />

wiederstehen, war er der Trendsetter des Untergangs und der Fährtenhund auf dem Weg zur Hölle. Er<br />

hatte wie viele Künstler seiner Generation <strong>das</strong> Pech, gerade in der Blüte des Jugendstils, des<br />

Werkbundes und des Bauhauses aufzuwachsen. Um der künstlerischen Tradition konsequent aus<br />

dem Wege zu gehen, scheute er zunächst keine Mühen. Als er sich der Tradition näherte, verschrieb<br />

er sich immer noch an den politischen Teuffel.<br />

1914 lernte Röhl Johannes Molzahn kennen, der gerade aus der Schweiz nach Weimar zurückgekehrt<br />

war. Damit kam Röhl unter den Einfluß zeitgenössischer gesellschaftsreformatorischer Vorstellungen.<br />

"Ekstatisch vitalistische Aktfiguren, die sich in raumgreifender Gebärde der Sonne entgegenrecken,<br />

und alle Fesseln abgeworfen zu haben scheinen, nur noch den Grundkräften von Natur und Kosmos<br />

unterworfen sind, erscheinen als Gegenentwurf zu den 10 Geboten. Auch <strong>das</strong> 1916 erstmals<br />

eingeführte Verkündigungsmotiv steht als Metapher für die Geburt des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>". 403<br />

Unschwer ist auszumachen, daß die kosmologischen Ideen antichristlich gefärbt waren. Die<br />

pubertären Schmierereien hätten sicher schnell ein Ende gefunden, wenn es nicht Interessierte<br />

gegeben hätte, die nach Verbündeten im Kampf gegen Gott gesucht haben.<br />

Förderer von Röhl waren von 1919 bis 1921 der Weimarer Museumsleiter Wilhelm Köhler, der<br />

Direktor des Erfurter Angermuseums, Edwin Redslob und der Kunstsammler Harry Graf Kessler. Röhl<br />

war zu dieser Zeit am Bauhaus eingeschrieben. "Thema der Bauhausjahre bleibt die Darstellung eines<br />

universalen Weltgefüges und des von der `großen kosmischen Welle´ erfaßten <strong>Menschen</strong>"<br />

(Hofstaetter, S. 380). Nach dem Weggang vom Bauhaus entstanden angeregt von Lyonel Feininger<br />

mit Lineal und Zirkel entworfene abstrakte Kompositionen. Der nächste Ideengeber wurde Theo van<br />

Doesberg, der 1921 seinen Wohnsitz nach Weimar verlegte und den holländischen De Stijl-Stil<br />

propagierte. Die Teilnahme am Kongreß der Konstruktivisten und Dadaisten in Weimar 1922 war die<br />

nächste Station.<br />

Nach einem Versuch mit Bilderschriften und Runenschriften erfolgte 1926 der Wegzug nach Frankfurt.<br />

Dort führte er zunächst die Weimarer Zeichenschrift-Ansätze fort, 1929 erfolgt ein radikaler Umbruch,<br />

bis 1945 sind nur gegenständliche nichtabstrakte Werke überliefert. In der Weimarer Ausstellung<br />

"Aufstieg und Fall der Moderne" hing links neben einer Tür ein zwar gegenständliches, aber düsteres<br />

Gemälde vor 1933 und neben der rechten Zarge ein dralles blondes Mädchenporträt von 1933 in<br />

leuchtenden Farben. 1933 war Röhl in die NSDAP eingetreten, er erwartete einen neuerlichen<br />

Aufbruch von Kunst und Gesellschaft.<br />

"Schwärmerische Gedichte im Nachlaß Röhls belegen seinen Glauben an eine mystischvolksvereinende<br />

Kraft dieser (...nationalsozialistischen...) Bewegung.“ 404<br />

Während er schwärmte wurden 13 seiner Grafiken von 1914 als entartete Kunst beschlagnahmt.<br />

Weder ihn selbst noch die Partei schien <strong>das</strong> so zu stören, daß <strong>das</strong> Verhältnis miteinander belastet<br />

wurde. Auffällig und bedeutsam ist, daß Röhl den Malstil von abstrakt zu gegenständlich nicht 1933<br />

wechselte, sondern deutlich vorher, ab 1929. Der Lückenspringer Röhl ist damit kein Einzelfall, der<br />

Paradigmenwechsel in der Kunst erfolgte eben vor 1933 und nicht 1933 und auch nicht nach 1933. Es<br />

gab eben vor 1933 eine nicht nur politische, sondern auch künstlerische Wechselstimmung.<br />

So zeitig wie er seinen Ausflug zum Nationalsozialismus begann, so zeitig stellte er sich auf die<br />

Nachkriegszeit ein. Ab 1942 tauchten in seinem Werk Hammer und Sichel, auf, so daß er die<br />

Frankfurter Kunstschule verlassen mußte und eingezogen wurde. Nach dem Krieg gelang ihm die<br />

403 Constanze Hofstaetter, Katalog "Aufstieg und Fall der Moderne", Hatje Cantz Verlag, 1999, S. 378 ff<br />

404 Constanze Hofstaetter: Karl Peter Röhl und die Versuchungen des Jahrhunderts. Ausfstieg und Fall der<br />

Moderne, Hatje Crantz, S. 384<br />

327


Rolle rückwärts und er wandte sich der klassischen Moderne zu. 1947 nach seiner Entnazifizierung<br />

hatte er von seiner Begeisterungsfähigkeit nichts verloren, als er der Jugend mit auf den Weg gab:<br />

"Wir leben in einer Zeit des inneren Besinnens, und der Künstler kann wieder begeistert seiner<br />

Freiheit Ausdruck geben, um in neuen Schöpfungen Werte der Zukunft vorzubereiten". 405<br />

57 Jahre und kein bißchen weise.<br />

Der Weg aus dem Bauhaus in die NSDAP war etwas unexemplarisch, da sich im Bauhaus viele<br />

Juden, Ausländer und Stalinbewunderer sammelten. Aus dem teutschtümelnden Werkbund<br />

hervorzugehen und zum Architekten des Führers zu werden, war ein Lebensweg, der normal war.<br />

"In dieser Zeit- und Weltenwende hatte Paul Ludwig Troost früh den Blick, der in die Tiefe geht, er<br />

sah mehr als den Aufstieg einer Partei, er sah eine Umwälzung der Werte, ein neues Lebensgefühl<br />

aufkommen." 406<br />

Troost wurde nach seinem frühen Tod im Januar 1934 grenzenlos mystifiziert; <strong>das</strong> Bild des<br />

kongenialen Architekten des Führers wurde bereits zu seinen Lebzeiten für den Propaganda- und<br />

Parteigebrauch entworfen.<br />

Auch Paul Ludwig Troost, der zu Anfang Hitlers Wohnung am Prinzregentenplatz einrichtete, der 1931<br />

mit der Konzeption von Verwaltungsbauten der NSDAP beauftragt wurde und <strong>das</strong> Haus der<br />

Deutschen Kunst konzipierte, hatte vor der Jahrhundertwende in der Reformarchitektur erste Spuren<br />

hinterlassen. Sein Architekturstudium absolvierte er in Darmstadt beim Jugendstilarchitekten Martin<br />

Dülfer. Dülfer war ein Vertreter des archaisierenden Jugendstils und eines neoklassischen<br />

Reduktionsstils.<br />

1897 wurde Troost Mitarbeiter der Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk in München. Diese<br />

Werkstätten waren auf dem Gebiet des Designs von handwerklich hergestellten Innendekorationen<br />

tätig. Der intellektuelle und künstlerische Führer war Hermann Obrist. Nach 1900 gründeten die<br />

Werkstätten ihre eigene Manufaktur. Unter den Schülern und jungen Künstlern der Werkstätten<br />

werden Richard Riemerschmid, Bernhard Pankok, Bruno Paul und Paul Haunstein gerne genannt,<br />

Ludwig Troost eher nicht so gerne. 407<br />

Der von Troost eigens entworfene Designer-Hammer für die Grundsteinlegung des Hauses der<br />

Deutschen Kunst ging dem Hitler inzwei. In der deutschen Presse durfte über den Zwischenfall, der<br />

als böses Omen hätte gedeutet werden können, nicht berichtet werden.<br />

Der Entwurf von Troost zum Haus der Deutschen Kunst ist neoklassizistisch und zeichnet sich durch<br />

eine Monumentalisierung und Vergröberung aus, die den Machtanspruch der NSDAP symbolisieren<br />

sollte. Die Änderung der von Troost vorgesehenen Pfeilerreihe in eine Säulenreihe wird Hitler<br />

zugeschrieben. 408<br />

Werner Sombart wandelte sich vom marxistischen Sozialisten zum Deutschen Sozialisten. Er war<br />

1863 als Sohn eines nationalliberalen nichtadeligen Rittergutsbesitzers in Preußen geboren worden.<br />

Während des Studiums wurde er vom Kathedersozialismus beeinflußt. 1890 als die Reformbewegung<br />

begann, wurde er Professor für Staatswissenschaft. Berufungen an badische Universitäten<br />

scheiterten, da er als Linker verschrien war. 1896 erschien sein Buch "Sozialismus und soziale<br />

Bewegung im 19. Jahrhundert". Es verstärkte seinen Ruf als Sozialist, da er Marx´sche Begriffe<br />

verwendete. Auch sein Hauptwerk "Der moderne Kapitalismus" (1902) wirkte auf Außenstehende<br />

marxistisch. Er wurde oft als Marxist eingeordnet, ohne es wirklich zu sein. Das zeigte sich zum<br />

Beispiel an seiner eigenwilligen Ausdeutung der Entstehung des Kapitalismus: 1911 erschien sein<br />

Buch "Die Juden und <strong>das</strong> Wirtschaftsleben", in dem er die Entwicklung des Kapitalismus auf die<br />

jüdische Religion und den Einfluß der Juden im europäischen, insbesondere englischen<br />

Wirtschaftsleben zurückführte.<br />

405 s.o. S 384<br />

406 Zitat aus Adolf Hitler: Mein Kampf<br />

407 www.members.fortunecity.de/jostein/menglish.htm<br />

408 www.hausderkunst.de/deutsch/haus/doku/doku4.html<br />

328


1906 war ihm als Sozialist <strong>das</strong> Recht verweigert worden, Vorlesungen an der Berliner Universität zu<br />

halten, 1917 klappte es doch noch, er war inzwischen hoffähig geworden. 1924 veröffentlichte er unter<br />

dem Titel "Der proletarische Sozialismus" die inzwischen veränderte 10. Neuauflage von "Sozialismus<br />

und soziale Bewegung". Damit verbunden war sein Überlaufen zu den Anhängern der Konservativen<br />

Revolution. Verbindendes Element zu seinen früheren Ansichten war die Verneinung der<br />

Regulierungskräfte des Markts. Der Antikapitalismus war die verbindende Klammer zwischen seinem<br />

frühen Ausflug in den Marxismus und dem Abgleiten in Ideen des preußischem Sozialismus und sie<br />

sollte auch <strong>das</strong> verbindende Glied sein, <strong>das</strong> weiter in Richtung Nationalsozialismus führte. 1934<br />

erschien als Anbiederung an die neue Führung sein Werk "Deutscher Sozialismus", <strong>das</strong> einen<br />

Führerstaat empfahl. Trotzdem gab es Angriffe gegen seine Person, die unter dem Vorwand jüdischer<br />

Beimischungen seines Bluts kursierten. Die nationalsozialistischen Machthaber rieten vom Besuch<br />

seiner Vorlesung ab. Das Kratzen an der nationalsozialistischen Türe und sein Schöntun nutzte nichts,<br />

er wurde als ökonomischer Wegweiser und Berater abgewiesen. 409<br />

Ein Mitbegründer des Jugendstils war Fritz Erler. Er wurde nach 1933 zum Hitlerporträtisten. Erler war<br />

Maler, und darum sprechen Bilder für sich. 1896 gründete Erler mit anderen die Zeitschrift „Die<br />

Jugend“. Seit 1898 schuf Erler Wandbilder, Fresken und Dekorationsmalereien, so 1907 für <strong>das</strong><br />

Wiesbadener Kurhaus und die Wand- und Deckenbilder für <strong>das</strong> Ausstellungsrestaurant der<br />

Ausstellung München 1908. Wie geschätzt und erfolgreich Fritz Erler bereits in dieser Zeit war,<br />

belegen nicht nur die regelmäßige Teilnahme an allen großen deutschen Kunstausstellungen,<br />

sondern auch die Tatsache, daß seit 1910 ein ständiger Ausstellungsraum in der Modernen Galerie<br />

Thannhauser in München für seine Werke reserviert war. Fritz Erler war Mitglied in allen<br />

reformistischen Vereinigungen, die es für <strong>das</strong> Gebiet der Malerei gab: Ehrenmitglied der Akademien<br />

der Bildenden Künste von München und Mailand, korrespondierendes Mitglied der Wiener Secession,<br />

des Salon d´Automne, des Deutschen Werkbundes und der Münchner Secession. 410<br />

Im Ersten Weltkrieg war Fritz Erler Kriegsmaler und wurde durch die Oberste Heeresleitung<br />

beschäftigt. Das Werbeplakat zur sechsten Kriegsanleihe wurde von seinem Gemälde "Helft uns<br />

siegen!" geziert. Diese sechste Kriegsanleihe spülte mehr Geld in die Kriegskasse ein als jede andere.<br />

Nach 1933 porträtierte er Adolf Hitler, Franz von Epp und Wilhelm Frick, was eine erhebliche<br />

Staatsnähe beweist.<br />

Zwischen dem 6. und dem 7. Reichstag<br />

Das Wahlkarussell drehte sich mitten in der Krise immer schneller. Der sechste Reichstag umfaßte<br />

den Zeitraum zwischen dem 30. August und dem 6. November 1932. Der frischgebackene<br />

Reichstagspräsident Göring vertagte in der ersten Sitzung den Reichstag auf unbestimmte Zeit. Bei<br />

seiner einzigen Sitzung am 12.09.1932 wurde der von der KPD eingebrachte Mißtrauensantrag gegen<br />

die Wirtschaftspolitik der Regierung Papen mit 512 von 554 Stimmen angenommen. Daraufhin setzte<br />

Reichspräsident Hindenburg am 20.09.1932 die Neuwahl auf den 6.11.1932 fest.<br />

Ebenfalls im September 1932 fand der Reichspräsident noch Zeit die Hände von Offizieren der Roten<br />

Armee zu schütteln. Es erfolgte die Begrüßung des Generalstabs unter der Leitung von Michail N.<br />

Tuchatschewski bei einem Reichswehrmanöver.<br />

Die Nationalsozialisten führten ihren Wahlkampf mit der Behauptung, sie seien die einzigen, die<br />

Deutschland vor dem Bürgerkrieg bewahren könnten, gleichzeitig zeigten sie ihren Ekel gegenüber<br />

Papens Kabinett der Barone, der Begriff der "Reaktion" wurde diesbezüglich im selben Sinne benutzt,<br />

wie von Sozialdemokraten oder Bolschewisten. Die Nationalsozialisten würden Deutschland zudem<br />

vor dem amerikanischen Hochkapitalismus bewahren. Ende 1932 war die Zahl der NSDAP-Mitglieder<br />

auf 450.000 gestiegen, davon nur ein Viertel Arbeiter, aber Dreiviertel Mittelschichtler. In der auf<br />

400.000 Mann angewachsenen SA hatten die Arbeiter dagegen die knappe Mehrheit.<br />

409 Biografie aus www.dhm.de/lemo/html/biografien/SombartWerner/<br />

410 Biografisches aus Wikipedia<br />

329


Wahl zum 7. Reichstag im November 1932<br />

Die Wahl vom 6.11.1932 war bereits die dritte Reichstagswahl in der Weltwirtschaftskrise. Trotzdem<br />

trat die NSDAP einen Moment auf der Stelle.<br />

SPD 20,4 % (- 1,2 %)<br />

KPD 16,9 % (+ 2,3 %)<br />

DStP 1,0 % (+ 0,0 %)<br />

DVP 1,9 % (+ 0,7 %)<br />

NSDAP 33,1 % (- 4,3 %)<br />

DNVP 8,8 % (+ 2,9 %)<br />

Zentrum/BVP 15,0 % (- 0,7 %)<br />

Sonstige 2,9 % (+ 0,3 %)<br />

Wahlergebnisse in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt 33,8 12,8 0,8 2,3 40,5 7,5 1,3 1,1<br />

Braunschweig 34,5 10,9 0,5 2,1 43,1 6,4 1,6 0,9<br />

Bremen 31,2 16,8 1,2 8,4 20,9 17,4 2,4 1,8<br />

Hamburg 28,6 21,9 5,4 3,3 27,2 9,3 1,8 2,5<br />

Lippe 27,1 15,4 0,6 3,8 34,7 9,9 2,6 6,0<br />

Lübeck 37,6 11,6 1,2 3,2 37,1 6,8 1,1 1,4<br />

Meckl.-Schwerin 29,3 11,6 0,5 2,2 36,9 16,9 0,9 1,6<br />

Meckl.-Strelitz 27,9 12,4 1,1 1,6 37,0 17,0 0,9 2,2<br />

Oldenburg 21,3 7,9 1,7 2,0 38,6 10,1 16,4 2,0<br />

Sachsen 27,6 19,6 1,1 2,9 36,6 6,8 1,2 4,2<br />

Schaumburg-Li 43,4 7,8 1,4 3,7 31,8 9,5 0,6 1,9<br />

Thüringen 23,1 19,6 0,8 2,9 37,8 6,2 1,2 8,6<br />

Waldeck 13,4 6,2 0,5 1,8 61,8 11,5 2,4 2,5<br />

Süddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Baden 13,0 14,3 2,3 2,0 34,1 4,0 27,8 2,6<br />

Bayern 16,4 10,3 0,4 1,0 30,5 4,5 31,4 5,6<br />

Hessen 23,3 13,7 0,7 3,0 40,2 3,0 14,0 2,1<br />

Württemberg 15,5 14,6 3,1 1,5 26,5 5,4 19,5 14,0<br />

Ostprovinzen SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Berlin 23,3 31,0 1,4 1,1 26,0 11,4 4,4 1,4<br />

Brandenburg 24,5 15,5 0,8 1,3 39,9 14,5 1,8 1,7<br />

Niederschlesien 24,4 10,3 0,7 0,8 41,1 8,6 12,0 2,3<br />

Oberschlesien 9,1 16,9 0,2 0,4 26,8 8,0 35,8 0,9<br />

Ostpreußen 19,9 13,9 0,6 1,4 39,7 14,4 7,5 2,8<br />

Pommern 19,8 12,1 0,6 1,1 43,1 20,7 1,2 1,5<br />

Posen-Westpr. 11,3 7,9 0,3 0,6 42,5 10,6 23,7 3,3<br />

Prov. Sachsen 23,3 20,2 0,8 2,2 36,1 11,7 3,8 1,8<br />

Schleswig-Holst. 24,5 13,4 1,2 2,2 45,8 10,2 1,0 1,7<br />

Westprovinzen SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Hannover 25,2 10,1 0,7 2,1 39,8 9,0 8,5 3,8<br />

Hessen-Nassau 20,2 13,6 0,9 2,9 41,3 5,0 13,8 2,4<br />

Hohenzollern 4,2 9,8 0,8 0,3 17,8 3,0 60,7 3,5<br />

Rheinprovinz 11,6 21,4 0,3 2,0 23,2 6,4 33,2 2,0<br />

Westfalen 16,0 19,9 0,3 1,6 22,9 6,5 28,8 3,8<br />

Gewinne und Verluste in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt - 1,3 + 2,2 - 0,1 + 0,8 - 2,7 + 2,9 + 0,3<br />

Braunschweig + 1,2 + 1,7 - 0,1 + 0,9 - 4,9 + 1,5 - 0,3 - 0,1<br />

Bremen - 3,1 + 3,5 + 4,2 - 9,5 + 4,8 - 0,3 + 0,5<br />

Hamburg - 3,1 + 4,2 - 0,6 + 1,3 - 6,5 + 4,1 - 0,2 + 0,8<br />

Lippe - 2,5 + 5,7 - 0,2 + 1,6 - 6,4 + 1,5 - 0,7 + 4,7<br />

330


Lübeck - 2,0 + 2,6 - 0,3 + 0,9 - 4,1 + 1,7 - 0,3 + 0,3<br />

Meckl.-Schwerin - 0,4 + 2,3 - 0,2 + 0,6 - 9,1 + 6,5 - 0,2 + 0,4<br />

Meckl.-Strelitz - 2,0 + 2,0 - 0,2 + 0,2 - 5,5 + 4,9 - 0,3 + 0,9<br />

Oldenburg + 1,2 + 1,6 - 0,2 + 1,1 - 7,7 + 3,4 + 0,1 + 0,4<br />

Sachsen - 0,8 + 2,2 - 0,2 + 0,9 - 4,7 + 2,2 - 0,1 + 0,6<br />

Schaumburg-Li + 1,9 + 1,5 - 0,3 + 1,5 - 6,4 + 1,8 - 0,4 + 0,4<br />

Thüringen - 0,9 + 3,1 - 0,2 + 1,2 - 6,1 + 2,2 - 0,3 + 1,2<br />

Waldeck - 0,7 + 1,9 - 0,3 - 2,0 + 1,9 - 0,9 + 0,1<br />

Süddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Baden - 0,6 + 3,1 + 0,1 + 0,8 - 2,8 + 1,0 - 1,3 - 0,1<br />

Bayern - 0,7 + 2,0 - 0,1 + 0,1 - 2,4 + 1,4 - 1,0 + 0,7<br />

Hessen - 2,9 + 3,5 + 0,1 + 1,5 - 2,9 + 1,1 - 0,8 + 0,3<br />

Württemberg - 2,5 + 3,4 + 0,6 + 0,5 - 4,0 + 1,5 - 1,2 + 1,6<br />

Ostprovinzen SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Berlin - 4,0 + 3,7 - 0,2 + 0,3 - 2,7 + 3,1 - 0,5 + 0,3<br />

Brandenburg - 1,7 + 2,1 - 0,1 + 0,4 - 5,4 + 4,4 - 0,2 + 0,4<br />

Niederschlesien - 0,7 + 2,0 + 0,2 - 4,2 + 2,5 + 0,2 + 0,2<br />

Oberschlesien + 0,4 - 0,1 + 0,1 - 2,5 + 1,1 + 1,2 - 0,1<br />

Ostpreußen + 0,2 + 1,0 + 0,6 - 7,4 + 4,9 - 0,2 + 1,0<br />

Pommern - 1,2 + 1,4 - 0,2 + 0,2 - 4,9 + 4,9 - 0,3 + 0,1<br />

Posen-Westpr. + 0,9 + 0,2 - 3,7 + 2,8 - 0,5 + 0,4<br />

Prov. Sachsen - 0,7 + 2,3 - 0,2 + 0,9 - 6,6 + 3,7 - 0,2 + 0,5<br />

Schleswig-Holst. - 1,6 + 2,6 - 0,2 + 0,8 - 5,3 + 3,8 - 0,2 + 0,1<br />

Westprovinzen SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Hannover - 0,9 + 2,6 - 0,2 + 0,8 - 5,4 + 2,6 - 0,3 + 0,2<br />

Hessen-Nassau - 2,2 + 2,9 + 0,2 + 1,3 - 2,4 + 1,0 - 1,0 + 0,1<br />

Hohenzollern + 3,8 + 0,1 - 0,1 - 4,1 + 1,0 - 0,4 - 0,2<br />

Rheinprovinz - 0,4 + 2,2 + 0,9 - 3,5 + 1,4 - 0,5 - 0,2<br />

Westfalen - 1,5 + 2,5 - 0,1 + 0,5 - 2,6 + 1,5 - 0,9 + 0,4<br />

Die Wahl war <strong>das</strong> retardierende Moment vor dem endgültigen Sieg der Nationalsozialisten.<br />

Konservative, DVP und die Splitterparteien konnten sich von den Nationalsozialisten noch einmal<br />

Stimmen zurückholen, die NSDAP blieb aber stärkste Partei. Die verlorenen NSDAP-Stimmen gingen<br />

dahin zurück, woher sie gekommen waren. Auch die Kommunisten profitierten von der zeitweiligen<br />

Schwäche der NSDAP.<br />

Im Ergebnis brachte die Novemberwahl nur geringe Veränderungen in den Kräfteverhältnissen. Die<br />

KPD konnte sich auf Kosten der SPD und der NSDAP weiter stärken, ohne dabei einen auswertbaren<br />

Vorteil zu erlangen. Sie war durch ihren absoluten Machtanspruch und die Nähe zur Sowjetunion<br />

politisch isoliert.<br />

„Warum muß der Katholik die Reichstagsliste Adolf Hitlers wählen?“ plakatierte die NSDAP im<br />

November 1932. Das Zentrum forderte die Rückkehr zum Kabinett Brüning. Ein Wahlplakat des<br />

Zentrums von 1930 zeigte im Festungsgraben rot-braune Kampfszenen.<br />

In den Straßenschlachten des Herbstes hatte die NSDAP einige Sympathien verloren, war aber nicht<br />

entscheidend geschwächt aus der Wahl hervorgegangen. Hitler befand sich noch in Lauerstellung.<br />

Einige linke Politiker und Journalisten frohlockten jedoch vorzeitig. Der SPD-Fraktionsvorsitzende im<br />

preußischen Landtag, Heilmann äußerte siegesgewiß, daß an die Hitlerdiktatur heute kein normaler<br />

Mensch mehr glauben könne, die "Vossische Zeitung jubilierte: "Die nationalsozialistische Idee hat<br />

ihre Werbekraft verloren, der Zauber hat versagt." Die Frankfurter Zeitung kommentierte: "Der<br />

gewaltige nationalsozialistische Angriff auf den demokratischen Staat ist abgeschlagen." Und Rudolf<br />

Hilferding, der immer für eine Fehleinschätzung gut war, sah sogar den Absturz des Faschismus. 411<br />

In Wirklichkeit stand der elitaristische Gevatter Tod längst im demokratischen Schlafsaal der Republik<br />

und lauerte auf seine Stunde.<br />

411 H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949, C. H. Beck, München 2003, S. 532<br />

331


Der 7. Reichstag war wiederum so zusammengesetzt, daß mit Notverordnungen weiterregiert werden<br />

mußte, denn NSDAP und KPD hatten wie zuvor wieder die Hälfte der Stimmen bekommen.<br />

Tat- und Kraftmeierei<br />

Eine Woche nach der Wahl trat <strong>das</strong> Kabinett v. Papen zurück und Kurt von Schleicher wurde am<br />

2.12.1932 zum neuen Reichskanzler ernannt. Auf Schleichers Regierung trifft Pudder´s Gesetz zu:<br />

„Alles was gut beginnt, endet schlecht. Alles was schlecht beginnt, endet furchtbar.“<br />

Schleichers Konzept einer autoritären Regierung aus bündischen und korporatistischen Kräften, die<br />

sich auf Gewerkschaften, die Reichswehr, die bündische Jugend und den linken Flügel der<br />

Nationalsozialisten stützen sollte, die politischen Parteien also sehr konsequent ignorierte, ging nicht<br />

auf. Schleicher war besser im Intrigieren, als im Integrieren. Das Regieren klappte nicht, weil letztlich<br />

keine der überparteilichen Stützen der Gesellschaft in seine Regierung eintreten wollte.<br />

Mit der Berufung des Generals von Schleicher zum Reichskanzler hatte Hindenburg <strong>das</strong> Ende der<br />

Parteienherrschaft eingeläutet, denn Schleicher verfolgte im Gewande des Neokonservatismus ein<br />

reformistisches Konzept des Regierens an den Parteien vorbei, einer Vorherrschaft von bündischen<br />

Strukturen. Neokonservative Konzepte gab es bereits seit der Vorkriegszeit. Aber erst Reichskanzler<br />

v. Schleicher hatte die Gelegenheit, sie konsequent in Regierungshandeln umzusetzen.<br />

Ursprünge für <strong>das</strong> neokonservative Politikverständnis waren <strong>das</strong> Staatsverständnis der Stein-<br />

Hardenbergischen Reformen, die <strong>Romantik</strong>, der Korporatismus und ein gediegener Antikapitalismus.<br />

Die Tradition der <strong>Romantik</strong> steuerte zum Bilde des Neokonservatismus die handgewebte Leinwand<br />

mit tugend- und jugendbündlerischen Motiven bei, Nietzsche spendierte den elitaristischen Rahmen,<br />

Moeller van den Bruck, Oswald Spengler und Ernst Jünger trugen die roten und braunen<br />

vulgärsozialistischen Farben auf. Der antibürgerliche Impuls Nietzsches traf sich mit den expressiven<br />

Fronterlebnissen der Kriegsgeneration, mit tradierten antiwestlichen Vorurteilen und mit einem festen<br />

Glauben, daß im unverdorbenen Osten die Sonne aufgeht. In einer weiteren fundamentalen<br />

Begründung der konservativen Revolution, Hans Freyers "Revolution von rechts" wurde ein radikaler<br />

Wandel der Gesellschaft gefordert. Freyer sah eine Abkehr vom "alten Volk" der Vormoderne und von<br />

der Interessenstruktur der zeitgenössischen Standesgesellschaft. Der Begriff "Volk" und die dahinter<br />

vermutete Struktur erlangten eine pseudoreligiöse Dimension. Das Volk sei im traditionellen<br />

Verständnis "so etwas wie eine Weihnachtsbescherung" - zwar eine "Substanz unser selbst", doch<br />

unabhängig vom Willen der einzelnen. Nun werde <strong>das</strong> Volk ganz im Sinne des Aktivismus "Stoßkraft<br />

im Tageslicht des Geschehens". Überholt seien die alten Modelle Ständestaat, Körperschaftsidee,<br />

nachbarschaftliche Aufgliederung. Das revolutionäre Prinzip des Zeitalters sei "keine Struktur ...<br />

sondern es ist reine Kraft". 412 Diese Tat- und Kraftmeierei war reinster Nietzscheanismus.<br />

"Der gemeinsame Nenner dieser im einzelnen vielfältig divergierenden Strömungen bestand in<br />

dem Postulat, den abgelebten liberalen Kapitalismus durch einen national geprägten Sozialismus<br />

zu ersetzen, der den Traum der "Ideen von 1914" - die innere Geschlossenheit der Nation -<br />

realisierte und eine der deutschen politischen Tradition angemessene und gegen den westlichen<br />

Verfassungsstaat ausgerichtete Gesellschaftsform verhieß."<br />

So faßte Hans Mommsen den Neokonservatismus zusammen. Mommsen irrte im gleichen Atemzug,<br />

als er <strong>das</strong> kriegswirtschaftliche System Deutschlands nicht als eigenständiges ökonomisches System<br />

verstand und bemängelte, daß es sich bei Spengler nur um einen Sozialismus der Gesinnung<br />

handele, statt um eine ökonomische Theorie. Das fatale war, daß die Kriegswirtschaft und die aus der<br />

Kriegwirtschaft hervorgegangene Nachkriegswirtschaft eine eigene ökonomische Wirklichkeit<br />

darstellte, eine von den westlichen Verfassungsstaaten abweichende ökonomische Unterlage.<br />

Erst nach dem zweiten Weltkrieg und in Osteuropa erst in den 90er Jahren des 20.Jh. sollten der<br />

westliche Verfassungsstaat und der vermeintlich abgelebte liberale Kapitalismus ihren Siegeszug<br />

richtig beginnen, als die nationalen Sozialismen und die auf diesen Sozialismen aufsitzenden<br />

autoritären Diktaturen abgewirtschaftet hatten. In den zwanziger Jahren waren sich die Eliten, egal ob<br />

Konservative, Nationalsozialisten, Kommunisten oder gemäßigte Reformisten, sehr sicher, daß die<br />

konservative bzw. sozialistische Revolution bevorstehe. Diese auf einen langen Zeitraum bezogene<br />

Fehleinschätzung war nicht nur in Deutschland <strong>das</strong> Ergebnis eines Aufstands der Unanständigen, an<br />

412 Freyer, Revolution von Rechts, S. 53<br />

332


der Spitze standen vorbürgerliche Kreise aus Kultur, Adel, Handwerk und Großlandwirtschaft. Fast in<br />

allen neokonservativen Konzeptionen spielte der Führergedanke und der Gedanke einer<br />

berufsständisch geprägten Ordnung eine überragende Rolle. Selbst den Begriff des Dritten Reichs<br />

gab es schon; Thomas Mann hatte diesen Begriff mitten im ersten Weltkrieg geprägt; 1918 bestellte<br />

die Oberste Heeresleitung bei Moeller van den Bruck eine Propagan<strong>das</strong>chrift, die mit dieser<br />

Formulierung schon im Titel aufmachte.<br />

Schleicher reflektierte insbesondere auf den linken Flügel der SA und den Allgemeinen Deutschen<br />

Gewerkschaftsbund ADGB. Er scheiterte in der Praxis mit seiner neokonservativen Revolution, weil<br />

Hitler die Spaltung seiner nationalsozialistischen Bewegung verhinderte, um seine Ziele selbst ohne v.<br />

Schleicher in die Tat zu setzen. Der linke NSDAP-Flügel hörte auf <strong>das</strong> Machtwort des Führers,<br />

widerstand dem Werben des Reichskanzlers und damit stand die stärkste bündische Bewegung nicht<br />

für Schleichers Pläne zur Verfügung. Auch die Gewerkschaften wollten nicht alleine mit dem<br />

schillernden Schleicher paktieren. Alle anderen nichtparteigebundenen Bataillone waren viel zu<br />

schwach, um es mit der Hitler-Bewegung aufnehmen zu können. Da v. Schleicher auch die<br />

Gewerkschaften für die Teilhabe an der Macht ausersehen hatte, fiel er bei Reichspräsident v.<br />

Hindenburg in Ungnade. Die neokonservative Revolution fand ihr Ziel mit der Abberufung v.<br />

Schleichers und der Berufung Hitlers zum Reichskanzler.<br />

Diese Berufung erfolgte am 30.01.1933. Der Widerstand dagegen war mehr als gering. Die<br />

reformistischen, bäuerlichen und konservativen Parteien hatten mit der Machtergreifung Hitlers ihre<br />

politischen Ziele erreicht, sie glaubten selbst nicht mehr an ihre Notwendigkeit, ihre Wiedererstarkung<br />

und ihre Rückkehr auf die Regierungsbänke. Was sollten sie als Marionetten der<br />

zwangswirtschaftlichen verfaßten Verbände noch weiter auf der Reichstagsbühne die Kasperle<br />

spielen, wenn diese Verbände längst den Nationalsozialisten gehorchten?<br />

Die Sozialdemokraten waren nicht mehr jene, die sie im Kaiserreich gewesen waren. Aus der<br />

Hoffnung auf den sozialistischen Zukunftsstaat war die Einsicht in sehr begrenzte politische<br />

Möglichkeiten geworden, die Defensive bestimmte seit Jahren die Taktik der SPD, die 1930 ein<br />

Durchschnittsalter der Mitglieder von 44 Jahren aufwies. Zwischen dem rabiaten Antikapitalismus der<br />

Intellektuellen, Handwerker und Bauern einerseits und dem rabiaten Antikapitalismus von Moskaus 5.<br />

Kolonne war der Platz, um zerrieben und zermürbt zu werden. Die Defensive der SPD ergab sich nicht<br />

zuletzt aus ihrer Verkettung mit dem ADGB. ADGB und SPD hatten 15 Jahre reine Klientelpolitik für<br />

die organisierte Arbeiterschaft vor allem der Großbetriebe getrieben. Für die noch kleineren Leute wie<br />

Arbeitslose, Kleinbauern und nicht organisierte proletaroide Existenzen hatte die SPD vielleicht ein<br />

Herz, jedoch keine hilfreichen ökonomischen Konzepte. Im Gegenteil benachteiligte sie diese<br />

angrenzenden Milieus faktisch erkennbar. Jeder tariflich erstrittene Groschen für die Organisierten<br />

schmälerte <strong>das</strong> Einkommen der Nichtorganisierten. Die SPD hatte sich lange vor ihrem Verbot in ein<br />

arbeiteraristokratisches 20-Prozent-Ghetto zurückgezogen, aus dem heraus sie 1933 nicht mehr<br />

erfolgreich operieren konnte. Franz Oppenheimer hatte bereits 1914 weitsichtig geschrieben:<br />

„Die deutsche Sozialdemokratie z. B. ist stark geneigt, sich zur einseitigen Vertretung der<br />

Industriearbeiter zu entwickeln, während doch der Landarbeiter auch existiert, leidet und aufwärts<br />

will.“ 413<br />

„Die letzte Wahl für die nächsten hundert Jahre“<br />

Die Reichstagswahl vom März 1933 war die vierte Wahl in der Krise und es sollte die letzte werden.<br />

Denn: „Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ (Victor Hugo).<br />

Hitler verkündigte ein populäres Konzept, <strong>das</strong> einen Paradigmenwechsel bedeutete: Der Wahlkampf<br />

1933 sei die letzte Wahl für die nächsten hundert Jahre. Viele Wähler waren regelrecht süchtig auf<br />

ihre eigene Entmachtung, auf <strong>das</strong> Ende der Demokratie, <strong>das</strong> Ende der Idee der Volkssouveränität.<br />

Das Plebiszit über die Alleinherrschaft und Allmacht Hitlers, die Abstimmung über die Einführung des<br />

Führerprinzips und des Schönheitsstaats hatte deshalb eine sehr hohe Wahlbeteiligung.<br />

413 F. Oppenheimer: Demokratie in: Der Staatsbürger, München u. a., Bd. 5, 1914, S. 18-35 und 57-68<br />

333


"Der Marschall und der Gefreite kämpfen mit uns für Frieden und Gleichberechtigung" lautete die<br />

Beschriftung des NSDAP-Plakats zur Reichstagswahl 1933. Der Kanzler-Bonus und die Geschichte<br />

vom Weg des einfachen Gefreiten ins Reichskanzleramt wurde für die Wahlwerbung ebenso genutzt<br />

wie die Friedensrhetorik. Die DNVP verkannte die Lage: "Über rote Trümmer zum <strong>Neue</strong>n Reich!"<br />

wollte sie unter neuem Namen als bündische Kampffront Schwarz-weiss-rot stürmen, 2 Monate später<br />

war es soweit, daß die eigene Partei in Trümmern lag.<br />

SPD 18,3 % ( - 2,1 %)<br />

KPD 12,3 % ( - 4,6 %)<br />

DStP 0,9 % ( - 0,1 %)<br />

DVP 1,1 % ( - 0,8 %)<br />

NSDAP 43,9 % (+10,8 %)<br />

DNVP 8,0 % ( - 0,8 %)<br />

Zentrum/BVP 14,0 % ( - 1,0 %)<br />

Sonstige 1,6 % ( - 1,3 %)<br />

Es gab nur einen Wahlgewinner und der hieß Adolf Hitler. Bei dieser letzten Wahl gelang ihm<br />

erstmalig ein glatter Einbruch in <strong>das</strong> Lager der Linkselitaristen. Die KPD verlor fast 5 % und erzeugte<br />

damit den größten Teil des nationalsozialistischen Zugewinns. Die bisherigen Lieferanten der<br />

Nationalsozialisten aus den Mittelparteien des Reformmilieus waren längst ausgeblutet.<br />

Wahlergebnisse in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt 30,8 11,4 0,6 1,1 46,1 8,4 1,3 0,3<br />

Braunschweig 30,5 8,8 0,5 1,4 49,1 7,6 1,7 0,5<br />

Bremen 30,4 13,2 1,0 5,4 32,7 14,5 2,3 0,7<br />

Hamburg 26,9 17,6 3,5 2,4 38,9 8,0 1,9 0,9<br />

Lippe 28,0 8,2 0,5 3,1 47,1 6,9 2,4 3,7<br />

Lübeck 38,3 8,2 1,0 2,5 42,8 5,6 1,1 0,6<br />

Meckl.-Schwerin 24,5 7,3 0,4 1,1 48,5 16,8 0,8 0,6<br />

Meckl.-Strelitz 22,6 7,1 0,6 0,9 51,6 15,9 0,7 0,6<br />

Oldenburg 18,2 6,4 1,1 1,1 46,5 11,4 14,8 0,6<br />

Sachsen 26,3 16,5 1,2 1,8 45,0 6,5 1,2 1,6<br />

Schaumburg-Li 39,1 5,7 1,1 1,6 43,4 7,8 0,5 1,0<br />

Thüringen 20,6 15,3 0,8 1,6 47,6 12,4 1,2 0,6<br />

Süddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Baden 11,9 9,8 1,5 1,0 45,4 3,6 25,4 1,4<br />

Bayern 15,5 6,3 0,4 0,5 43,1 4,1 27,2 2,9<br />

Hessen 21,7 10,9 0,8 1,7 47,4 2,9 13,6 1,1<br />

Württemberg 15,0 9,3 2,2 0,7 42,0 5,2 16,9 8,7<br />

Ostprovinzen SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Berlin 21,7 24,5 1,8 0,9 34,6 11,0 5,0 0,6<br />

Brandenburg 20,4 10,8 0,6 0,8 52,5 12,7 1,7 0,5<br />

Niederschlesien 20,1 7,6 0,7 0,4 51,7 7,9 10,6 1,0<br />

Oberschlesien 6,9 9,2 0,3 0,2 43,2 7,5 32,3 0,2<br />

Ostpreußen 14,6 8,7 0,4 0,7 56,5 11,3 6,5 1,4<br />

Pommern 16,2 7,6 0,5 0,7 56,3 17,0 1,1 0,6<br />

Posen-Westpr. 8,4 4,2 0,4 0,3 53,6 9,4 24,0 0,3<br />

Prov. Sachsen 20,2 15,9 0,6 1,2 46,7 11,2 3,6 0,4<br />

Schleswig-Holst. 22,0 10,8 0,8 1,3 53,3 10,1 1,0 0,8<br />

Westprovinzen SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Hannover 22,2 7,0 0,6 1,3 49,6 8,8 7,9 2,8<br />

Hessen-Nassau 18,8 9,1 1,0 1,7 49,5 4,8 13,7 1,4<br />

Hohenzollern 3,1 3,2 0,6 0,3 40,0 3,5 47,6 1,8<br />

Rheinprovinz 10,0 15,7 0,3 1,2 34,7 6,7 30,6 0,8<br />

Westfalen 15,3 14,2 0,4 1,1 33,5 6,7 26,9 2,0<br />

334


Gewinne und Verluste in den Ländern und Provinzen:<br />

Norddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Anhalt - 3,0 - 1,4 - 0,2 - 1,2 + 5,6 + 0,9 - 0,8<br />

Braunschweig - 4,0 - 2,1 - 0,7 + 6,0 + 1,2 + 0,1 - 0,4<br />

Bremen - 0,8 - 3,5 - 0,2 - 3,0 + 11,8 - 2,9 - 0,1 - 1,1<br />

Hamburg - 1,7 - 4,3 - 1,9 - 0,9 + 11,7 - 1,3 + 0,1 - 1,6<br />

Lippe + 0,9 - 7,2 - 0,1 - 0,7 + 12,4 - 3,0 - 0,2 - 2,3<br />

Lübeck + 0,7 - 3,4 - 0,2 - 0,7 + 5,7 - 1,2 - 0,8<br />

Meckl.-Schwerin - 4,8 - 4,3 - 0,1 - 1,1 + 11,6 - 0,1 - 0,1 - 1,0<br />

Meckl.-Strelitz - 5,3 - 5,3 - 0,5 - 0,7 + 14,6 - 1,1 - 0,2 - 1,6<br />

Oldenburg - 3,1 - 1,5 - 0,6 - 0,9 + 7,9 + 1,3 - 1,6 - 1,4<br />

Sachsen - 1,3 - 3,1 + 0,1 - 1,1 + 8,4 - 0,3 - 2,6<br />

Schaumburg-Li - 4,3 - 2,1 - 0,3 - 2,1 + 11,6 - 1,7 - 0,1 - 0,9<br />

Thüringen - 2,5 - 4,3 - 1,3 + 9,8 + 6,2 - 8,0<br />

Süddt. Länder SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Baden - 1,1 - 4,5 - 0,8 - 1,0 + 11,3 - 0,4 - 2,4 - 1,2<br />

Bayern - 0,9 - 4,0 - 0,5 + 12,6 - 0,4 - 4,2 - 2,7<br />

Hessen - 1,6 - 2,8 + 0,1 - 1,3 + 10,4 - 0,1 - 0,4 - 1,0<br />

Württemberg - 0,5 - 5,3 - 0,9 - 0,8 + 15,5 - 0,2 - 2,6 - 5,3<br />

Ostprovinzen SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Berlin - 1,6 - 6,5 + 0,4 - 0,2 + 8,6 - 0,4 + 0,6 - 0,8<br />

Brandenburg - 4,1 - 4,7 - 0,2 - 0,5 + 12,5 - 1,8 - 0,1 - 1,2<br />

Niederschlesien - 4,3 - 2,7 - 0,4 + 10,6 - 0,7 - 1,4 - 1,3<br />

Oberschlesien - 2,2 - 7,7 + 0,1 - 0,2 + 16,4 - 0,5 - 3,5 - 0,7<br />

Ostpreußen - 5,3 - 5,2 - 0,2 - 0,7 + 16,8 - 3,1 - 1,0 - 1,4<br />

Pommern - 3,6 - 4,5 - 0,1 - 0,4 + 13,2 - 3,7 - 0,1 - 0,9<br />

Posen-Westpr. - 2,9 - 3,7 + 0,1 - 0,3 + 11,1 - 1,2 + 0,3 - 3,0<br />

Prov. Sachsen - 3,1 - 4,3 - 0,2 - 1,0 + 10,6 - 0,5 - 0,2 - 1,4<br />

Schleswig-Holst. - 2,5 - 2,6 - 0,4 - 0,9 + 7,5 - 0,1 - 0,9<br />

Westprovinzen SPD KPD DStP DVP NS DNVP Z/BVP Sonst.<br />

Hannover - 3,0 - 3,1 - 0,1 - 0,8 + 9,8 - 0,2 - 0,6 - 1,0<br />

Hessen-Nassau - 1,4 - 4,5 + 0,1 - 1,2 + 8,2 - 1,2 - 0,1 - 1,0<br />

Hohenzollern - 1,1 - 6,6 - 0,2 + 22,2 + 0,5 - 13,1 - 0,7<br />

Rheinprovinz - 1,6 - 5,7 - 0,8 + 11,5 + 0,2 - 2,6 - 1,2<br />

Westfalen - 0,7 - 5,7 + 0,1 - 0,5 + 10,6 + 0,2 - 1,9 - 1,8<br />

Bei Konservativen, gemäßigten Reformisten und Regionalparteien waren wegen der<br />

vorhergegangenen Auszehrung dieser Milieus durch die NSDAP insgesamt nur 3 % Verlust zu<br />

verzeichnen.<br />

Die SPD konnte sich in den eigentlichen Industriegebieten besser behaupten, als auf dem Lande.<br />

Umgekehrt gewann die NSDAP auf dem Lande mehr hinzu, als in verstädterten Industriegegenden.<br />

Das scheint wieder die These zu belegen, daß die städtische Industriearbeiterschaft der Großbetriebe<br />

als Arbeiteraristokratie weniger anfällig für den Nationalsozialismus war, als die ständischen<br />

Kernschichten der Bauern- und Handwerkerschaft sowie die nicht organisierten und nicht privilegierten<br />

Arbeiter der Kleinbetriebe und in der Landwirtschaft.<br />

In allen Gebieten Ostelbiens außer in Oberschlesien, Berlin und Mecklenburg-Schwerin hatte die<br />

NSDAP die absolute Mehrheit errungen. Lediglich in Westfalen, Bayern, Bremen und Hohenzollern<br />

lagen die elitaristischen Parteien NSDAP und KPD zusammen unter 50 %.<br />

Im Osten nichts <strong>Neue</strong>s<br />

Hitler ließ sich bei der Umsetzung seiner korporatistischen Konzepte keine Zeit. Bereits am 27.<br />

Februar 1934 wurde <strong>das</strong> Gesetz zur Vorbereitung des organischen Aufbaus der deutschen Wirtschaft<br />

beschlossen. 414<br />

414 aus www.documentarchiv.de/ns/1934/wirtschaft_ges.html<br />

335


"Der Reichswirtschaftsminister wird zur Vorbereitung des organischen Aufbaus der deutschen<br />

Wirtschaft ermächtigt,<br />

1. Wirtschaftsverbände als alleinige Vertretung ihres Wirtschaftszweiges anzuerkennen;<br />

2. Wirtschaftsverbände zu errichten, aufzulösen oder miteinander zu vereinigen;<br />

3. Satzungen und Gesellschaftsverträge von Wirtschaftsverbänden zu ändern und zu ergänzen,<br />

insbesondere den Führergrundsatz einzuführen;<br />

4. die Führer von Wirtschaftsverbänden zu bestellen und abzuberufen;<br />

5. Unternehmer und Unternehmungen an Wirtschaftsverbände anzuschließen.<br />

Wirtschaftsverbände sind solche Verbände und Vereinigungen von Verbänden, denen die<br />

Wahrnehmung wirtschaftlicher Belange von Unternehmern und Unternehmungen obliegt."<br />

Das Prinzip der Kriegswirtschaft des 1. Weltkrieges war dahingehend präzisiert worden, daß der<br />

Reichswirtschaftsminister die Verbandsführer wie Puppen auswechseln konnte. Die<br />

nationalsozialistische Wirtschaftspolitik war deshalb jedoch nur ein wenig organischer, als die der<br />

Vorgänger. Das System der staatlich überwachten Wirtschaftsverbände, <strong>das</strong> wegen seiner Abstinenz<br />

von individuellen Unternehmerentscheidungen strukturell an die mittelalterlichen Zünfte erinnert,<br />

wurde beibehalten und gefestigt. Das Verbandsprinzip in der deutschen Wirtschaft war die Konstante<br />

seit spätestens 1915 bis zum Finale 1945. Verbände wurden (und werden auch heute noch) von<br />

schlecht kontrollierbaren und schlecht kontrollierten Patriarchen geführt, oft wurden die Verbände<br />

faktisch schon lange nach dem Führerprinzip geleitet. Während die schaltenden und waltenden<br />

Außenhandelskommissare in der Weimarer Zeit noch von gewählten Gremien wenigstens beraten<br />

wurden, konnte der Reichswirtschaftsminister nach 1934 tun und lassen, was er oder was der Führer<br />

selbst wollte. Was in der Wirtschaft zur Regel wurde, schwappte auf die Politik über, und was in der<br />

Politik praktiziert wurde, erfaßte die Wirtschaftsverfassung.<br />

Die Politik hatte sich der Wirtschaftsverfassung entsprechend radikalisiert, von der Kaiserdiktatur mit<br />

parlamentarischen Versatzstücken über die Reichspräsidentendiktatur mit parlamentarischen<br />

Intermezzos zur Führerdiktatur ohne Parlamentarismus.<br />

Die Kultur hatte sich von der protzigen Gründerzeitkultur, die noch keinen ausgesprochenen Anspruch<br />

auf die Schaffung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> erhob, zur sektiererischen Lebensreform mit zahlreichen sich<br />

gegenseitig ausschließenden Heilsverheißungen und weiter über die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit zum<br />

sozialistischen Realismus bzw. zum nationalen Historismus gewandelt, die im Dienste eines Führers<br />

standen und ein alleinseligmachendes tausendjähriges Heil verhießen.<br />

Wirtschaft, Politik und Kultur hatten sich mehr als 30 Jahre im Gleichschritt entwickelt, der auf einer<br />

glatten Rutschbahn vor die großen heißen Öfen führte. Die Weimarer Republik unterbrach diesen<br />

Marsch ins Verderben nicht wirklich, sie war noch nicht einmal <strong>das</strong> retardierende Moment im Drama<br />

der Jahre von 1890 bis 1945.<br />

In der Politik und Wirtschaft brachte die Weimarer Republik keine originären und eigenen Beiträge<br />

zustande, aber in der Kultur. In der Kulturgeschichte ist die Anfangszeit der Republik die nahtlose<br />

Fortentwicklung der Fehlbildungen des Kaiserreichs. Aber im Unterschied zur Wirtschaft, die<br />

hinsichtlich ihrer Organisation fast ohne Metamorphosen, ohne daß ein missing link gesucht werden<br />

müßte, in <strong>das</strong> Dritte Reich übergeht, kam es ab der Mitte der zwanziger Jahre zu einer Abschwächung<br />

elitaristischer Impule durch die um sich greifende Massenkultur und die ideologisch nicht automatisch<br />

auf Elitarismus programmierte <strong>Neue</strong> Sachlichkeit. Nicht die Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen<br />

die entartete Kunst, die etwa 1937 einsetzten, bezeichnen die Zäsur. Der Bruch mit der<br />

expressionistischen Vergangenheit erfolgte ab der Mitte der zwanziger Jahre, so daß die<br />

Nationalsozialisten bei ihrer Jagd auf die expressionistische und ungegenständliche Moderne<br />

eigentlich zu spät kamen und auf Künstlern herumprügelten, die bereits ihren Zenit überschritten<br />

hatten, denen ihre Bewunderer bereits weitgehend abhanden gekommen waren. Seit der Mitte der<br />

zwanziger Jahre löste die neue Sachlichkeit den Jugendstil und Expressionismus ab, fast gleichzeitig<br />

entstand besonders im Bereich des Kinos, des Sports und der Unterhaltungsmusik die moderne<br />

Massenkultur.<br />

Der nationalsozialistischen Machtergreifung ging die lebensreformerische Kulturrevolution von 1890<br />

bis 1933 voraus, 1933 ist jedoch nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch der Kulminationspunkt<br />

einer seit dem mittleren Kaiserreich anschwellenden Entwicklung: Nach 1933 wurde <strong>das</strong><br />

planwirtschaftlich-korporatistische Industriesystem des Kaiserreichs, <strong>das</strong> die Weimarer Republik im<br />

Kern nur leicht modifiziert überdauert hatte, nicht abgeschafft, sondern noch einmal verschärft und<br />

336


zugespitzt. Das politische System wurde 1933 dem wirtschaftlichen im wahrsten Sinne des Worts<br />

gleichgeschaltet und einigermaßen glatte, abgescheuerte und populäre Strömungen und Ziele der<br />

Lebensreformbewegung rückten mit der nationalsozialistischen Wende in <strong>das</strong> Zentrum des<br />

Regierungshandelns: die antikapitalistisch-ständisch motivierte Bevorzugung von Handwerk und<br />

Landwirtschaft, der <strong>Neue</strong> Mensch in Verbindung mit Rassereinheit, Zuchtanweisungen, Jugendkult<br />

und Sport, <strong>das</strong> Schönheitsideal des kraftvollen Germanen, die Ariosophie, der Mythos des Natürlichen<br />

mit der Dominanz von Blut und Boden, <strong>das</strong> Vollkornbrot, der Rassismus, der Natur- und<br />

Brauchtumsschutz sowie der Antikapitalismus und Antisemitismus.<br />

Unter den Umständen der wirtschaftlichen Stagnation und gesellschaftlichen Rückorientierung der<br />

Alten auf <strong>das</strong> Kaiserreich, in Folge der Vergreisung der politischen Klasse mußte im Laufe von drei<br />

Jahrzehnten aus dem Jugendstil der Jahrhundertwende ein Altenstil werden, der der Jugend nichts<br />

mehr bedeutete, der neue Zersatzprodukte des Jugendstils und Metamorphosen der<br />

Reformbewegung hervorbrachte. Hitler "modernisierte" die Reform und ließ die Pioniere der Reform<br />

als "Rückwärtse" bezeichnen. Die Reformbewegungen der Jahrhundertwende wurden in die Republik<br />

herübergetragen, nach vielen ideologischen Wirrnissen und sektiererischen Zerwürfnissen für die<br />

Massen aufgeschlossen, dabei aber auch auf Massenware abgerieben und erlitten den einen oder<br />

anderen Bedeutungswandel. Hitlers historisches "Verdienst" war es, für im Grunde elitaristische<br />

Konzepte als brauner Christo eine volkstümelnde Verpackung zu entwickeln und aufzusetzen.<br />

Es war die Frage, welcher Stil, welcher Ausdruck der Jugend entsprechen würde, wenn sie denn den<br />

Blick endlich nach vorne richten würde. Es war nicht mehr der Jugendstil, es war auch nicht mehr der<br />

Expressionismus, aber es waren die bis in die späten dreißiger Jahre siegreichen Ideen der<br />

Jugendbewegung. Wie in der Renaissance trat der Mensch aus seinen gewachsenen Bindungen an<br />

Gott heraus, und fühlte seine Kraft. Wir werden sehen, <strong>das</strong>s er diese Kraft wie am Ende der<br />

Renaissance nicht für friedliche Zwecke einzusetzen wusste. Die Renaissance endete mit dem<br />

Dreißigjährigen Krieg und die Jugendbewegung marschierte sich im Zweiten Weltkrieg tot.<br />

Der historisch längst fällige wirtschaftliche, kulturelle und politische Bruch vollzog sich in<br />

Westdeutschland erst nach 1945 unter maßgeblichem Druck Amerikas und in Ostdeutschland fast ein<br />

halbes Jahrhundert später.<br />

Bleibt noch die Frage, was aus den Erzreformisten der Weimarer Zeit nach Hitlers Machtübernahme<br />

wurde. Hjalmar Schacht war bis 1939 Reichsbankpräsident, bis es zum Zerwürfnis mit der braunen<br />

Administration kam. 1944/45 saß er im KZ. Fidus wurde nicht der erste Reichsmalermeister, Ludwig<br />

Klages nicht der Chefideologe und Werner Sombart nicht der Wirtschaftsexperte des Dritten Reiches.<br />

Es gab nur einen Führer, der alles selber wusste und konnte, was die drei nicht bedacht hatten. Ernst<br />

Thälmann kam ins KZ und wurde dort wahrscheinlich 1944 umgebracht. Thomas Theodor Heine,<br />

Bertolt Brecht, Otto Strasser, Sigmund Freud, Harry Graf Kessler, Alfred Kerr und Kurt Hiller gingen<br />

ins westliche Exil, letzterer nach einem KZ-Intermezzo. Hermann Hesse lebte schon vor dem<br />

Machtantritt in der Schweiz, Kurt Tucholsky in Schweden. Herwart Walden und Heinrich Vogeler<br />

kamen in der Sowjetunion um, Walter Ulbricht nicht. Gottfried Benn trat in die Wehrmacht ein. Ernst<br />

Barlach blieb in Deutschland und wurde von den Nationalsozialisten totgeärgert. Johannes R. Becher<br />

wurde in der auf <strong>das</strong> Dritte Reich folgenden Diktatur Kulturminister. Hermann Göring wurde<br />

Reichsmarschall und Joseph Goebbels Propagandaminister. General von Schleicher wurde 1934 in<br />

derselben Nacht, wie SA-Führer Röhm und Gregor Strasser erschossen. Gerhart Hauptmann ließ sich<br />

von den Nationalsozialisten verehren, ohne Umstände zu machen. Käthe Kollwitz erhielt 1936<br />

wenigstens ein Ausstellungsverbot. Alfred Hugenberg verlor sein Presseimperium an die<br />

Nationalsozialisten, blieb aber bis 1945 Reichstagsmitglied. Bruno Taut ging 1933 nach Japan, 1936<br />

in die Türkei, wo er die Diktatur Atatürks und dessen Sarg verschönte. Samuel Fischer war vom Ernst<br />

der Lage nicht zu überzeugen und blieb in Berlin, wo er 1934 starb.<br />

337


Fazit<br />

Die Entwicklung der politischen Milieus im Rückblick<br />

Die Entwicklung der politischen Milieus läßt sich am besten verfolgen, wenn die Ergebnisse der Wahl<br />

zum 1. Reichstag (nach den Gebietsverlusten in Posen, Westpreußen, Oberschlesien, Schleswig,<br />

Saarland, Memelland und Malmedy) mit der zum 8. Reichstag 1933 verglichen werden.<br />

Antiklerikales gemäßigtes Reformmilieu (DDP, DVP, DStP):<br />

1920 22,2 % 1933 2,0 % Unterschied - 20,2 %<br />

Sozialdemokratisches Industriemilieu (MSPD, SPD):<br />

1920 21,9 % 1933 18,3 % Unterschied - 3,6 %<br />

Elitaristische und heterodoxe Linke (USPD, KPD):<br />

1920 19,7 % 1933 12,3 % Unterschied - 7,4 %<br />

Katholisches und christliches Milieu (Zentrum, BVP, CSVd):<br />

1920 18,0 % 1933 15,0 % Unterschied - 3,0 %<br />

Konservativ-protestantisches Milieu (DNVP)<br />

1920 15,1 % 1933 8,0 % Unterschied - 7,1 %<br />

Sozialdemokraten und Katholiken standen am ehesten in einer <strong>das</strong> eigene Klientel stabilisierenden<br />

Tradition, die konservativen Protestanten und die Linkselitaristen bröckelten auf Grund ihrer<br />

ideologischen Nähe zu den Nationalsozialisten stärker ab, die antiklerikalen gemäßigten<br />

Reformparteien hatten auf Grund noch größerer ideologischer Nähe zur NSDAP den<br />

nationalsozialistischen Lockrufen überhaupt nichts entgegenzusetzen.<br />

Ein Maß für die Erosion der verschiedenen Milieus ist <strong>das</strong> Verhältnis des Endbestands an Wählern<br />

zum Anfangsbestand 1920:<br />

Antiklerikales gemäßigtes Reformmilieu (DDP, DVP, DStP):<br />

1920 22,2 % 1933 2,0 % Übrig geblieben 2,0/22,2 = 9 %<br />

Sozialdemokratisches Industriemilieu (MSPD, SPD):<br />

1920 21,9 % 1933 18,3 % Übrig geblieben 18,3/21,9 = 84 %<br />

Linkselitaristisches Milieu (USPD, KPD):<br />

1920 19,7 % 1933 12,3 % Übrig geblieben 12,3/19,7 = 62 %<br />

Katholisches und christliches Milieu (Zentrum, BVP, CSVd):<br />

1920 18,0 % 1933 15,0 % Übrig geblieben 15,0/18,0 = 83 %<br />

Konservativ-protestantisches Milieu (DNVP)<br />

1920 15,1 % 1933 8,0 % Übrig geblieben 8,0/15,1 = 53 %<br />

Etwa 45 % der NSDAP-Wähler von 1933 stammen aus dem antiklerikalen nichtsozialistischen<br />

Reformmilieu, jeweils ein Sechstel aus dem linkselitaristischen und konservativ-protestantischen<br />

Milieu und nur jeweils ein Zwölftel aus dem sozialdemokratischen und katholischen Umfeld.<br />

Bemerkenswert ist, daß die Sozialdemokraten in industriellen Gebieten wie Bremen, Berlin, Sachsen<br />

und in der Provinz Sachsen stabil blieben, während in ländlichen Gebieten wie Schlesien, Schleswig-<br />

Holstein oder Mecklenburg ein merklicher Abrieb zu verzeichnen war. Ähnlich verhält es sich mit den<br />

Verlusten der Konservativen, auch sie steuerten auf dem Lande, insbesondere in Ostelbien deutlich<br />

mehr zum Erfolg der Nationalsozialisten bei, als in Berlin, Hamburg oder Bremen. Die Zufuhr von den<br />

Linkselitaristen zu den Nationalsozialisten war in deren Hochburgen in den Industriegebieten am<br />

höchsten. Bremen, Sachsen, Berlin und Brandenburg sowie die Provinz Sachsen fallen hier auf.<br />

Mit diesen Tafeln sind die politischen Großgruppen beleuchtet worden. Was passierte aber mit<br />

berufsständischen und Verbandsinteressen?<br />

338


Diese Frage ist weit schwieriger aus dem vorliegenden statistischen Material zu klären. Wie verhielten<br />

sich Freiberufler, Handwerker im engeren Sinne, mittelständische Industrielle, hohe und niedere<br />

Beamte, Angestellte usw? Fakt ist, daß viele berufsständische Organisationen vor 1933 von den<br />

Nationalsozialisten unterwandert wurden. In vielen Verbänden stellten sie bereits vor der sogenannten<br />

Machtübernahme die Führung. Und tatsächlich waren insbesondere Landwirte und Handwerker nach<br />

1933 die Nutznießer der Wirtschaftspolitik. Mit rigiden Eingriffen in die ohnehin traditionell sehr<br />

eingeschränkte Gewerbefreiheit wie neuen Handwerksordnungen, dem großen Befähigungsnachweis,<br />

mit dem Reichserbhofgesetz und starken Einschränkungen für die Teilnahme von Juden am<br />

Wirtschaftsleben, wurde für einige Jahre der Rückmarsch des deutschen Mittelstands in die<br />

Zunftseligkeit des Mittelalters ermöglicht.<br />

Zum Schluß wird ein Vergleich zwischen der Wahl zur Nationalversammlung 1919 und 1933 geführt,<br />

bei dem sich die Aussage, daß die Reformkundschaft zu den Nationalsozialisten überlief, noch<br />

deutlicher wird. Im Vergleich 1919 - 1933 verloren die Sozialdemokraten fast die Hälfte ihrer Anhänger<br />

an Hitler (absolut etwa 16 % nach Abzug der Verluste an die KPD), die antisozialistischen<br />

antiklerikalen Reformparteien verloren mehr als 90 % der Anhängerschaft an die NSDAP (absolut<br />

etwa 21 %). Die Verluste von Katholiken und Konservativen (zusammen etwa 7 %) fallen dagegen<br />

deutlich geringer aus. Die Bilanz der Katholiken wird durch Abtretungen im Saarland, in<br />

Oberschlesien, Westpreußen und im Rheinland insofern beeinflußt, als vor allem katholische Gebiete<br />

abgetreten worden sind. Von den Abtretungsgebieten war nur <strong>das</strong> bevölkerungsschwache<br />

Nordschleswig protestantisch.<br />

Vergleich 1919 bis 1933:<br />

Deutschland 1919 1920 1924 1924 1928 1930 1932 1932 1933<br />

Sozialdemokraten 38 22 21 26 30 25 22 20 18<br />

Linkselitaristen 8 20 13 9 11 13 15 17 12<br />

gemäßigte Reformisten 23 22 15 17 14 9 2 3 2<br />

völkische Elitaristen 0 0 7 3 5 21 38 33 44<br />

Konservative 10 15 20 24 20 12 6 9 8<br />

Bauern u. Regionale 1 1 3 1 4 3 1 1 1<br />

Christliche 20 18 17 17 15 17 17 16 15<br />

Linkselitaristen: USPD, KPD; gemäßigte Reformisten: DDP, DVP; völkische Elitaristen: NSDAP, DVFP, DAP,<br />

DSP, Landvolk u.a.; Konservative: DNVP, Wirtschaftspartei, Volksrechtspartei; Bauern und Regionale:<br />

Landbünde, Bayrischer Bauernbund, Welfenpartei u.a.; Christliche: Zentrum, BVP, CSVd;<br />

Am interessantesten ist natürlich die Altersstruktur der Wähler, da es sich bei der Machtergreifung<br />

Adolf Hitlers um den Sieg einer Jugendbewegung handelte. Von der Lebensreform beeinflußt waren<br />

folgende Minder- bzw. Mehrheiten im Vergleich mit der Alterstruktur:<br />

Deutschland 1919 1920 1924 1924 1928 1930 1932 1932 1933<br />

Reformistische Parteien 31 42 36 28 30 45 55 53 58<br />

Wähler nach 1890 geboren 20 22 32 33 43 48 52 53 55<br />

Von der Lebensreform beeinflußt: DDP, DVP, NSDAP, DVFP, DAP, DSP, Landvolk, USPD, KPD, teilweise auch<br />

die Landbünde<br />

Es gab einen engen Zusammenhang zwischen dem Geburtsjahr der Wählenden und der<br />

Wahlentscheidung. Was an Biografien immer wieder auffällt: <strong>das</strong>s die nach 1890 bis 1914 Geborenen<br />

anfällig für die Gewaltsphantasien des 20. Jahrhunderts waren, und den Freiheitsidealen der Sattelzeit<br />

sehr kritisch, um nicht zu sagen ablehnend gegenüberstanden. Das manifestierte sich natürlich auch<br />

an der Wahlurne.<br />

Eric J. Hobsbawn hat in sein Buch „Das imperiale Zeitalter 1875 - 1914“ eine Statistik aus dem<br />

Dictionary of Modern Thougt von 1977 eingefügt, aus der hervorgeht, <strong>das</strong>s 45 % der im Wörterbuch<br />

gelisteten „modernen“ Denker von 1880 bis 1914 volljährig oder aktiv tätig waren. Die 1900 bis 1914<br />

geborenen, die 1933 zwischen 17 und 33 Jahre alt waren und in der Weimarer Republik geprägt<br />

wurden, machen nach dieser Aufstellung dagegen nur 17 % aus, die vor 1880 sozialisierten<br />

339


100<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

„modernen“ Denker aus der Sattelzeit wie beispielsweise Karl Marx oder Arthur Schopenhauer<br />

machen nur 15 % aus. Das sogenannte „moderne“ Denken der Neuzeit wurde wesentlich durch<br />

Personen geprägt, die dem Reformismus des Kaiserreichs verfallen waren.<br />

Der Sieg der NSDAP basiert vorrangig auf dem Aufsaugen des politischen Reformlagers und war<br />

damit <strong>das</strong> Moment einer endlich auch politisch umgesetzten Lebens- und Gesellschaftsreform, die<br />

nach dreißig Jahren populär ab- und zurechtgeschliffen und auf die Bedürfnisse der neuen<br />

Kriegsvorbereitung zurechtgebogen die Massen ergriff. Nicht alle begriffen Hitlers Sieg so: der<br />

Sozialdemokrat Julius Leber meinte etwas hochnäsig, er warte wie alle Welt darauf, endlich die<br />

geistigen Grundlagen dieser Bewegung zu erfahren. Diese Grundlagen lagen seit 40 Jahren auf der<br />

Hand, man hätte nur in eine Buchhandlung gehen müssen, oder in eine andere Zeitung hereinsehen<br />

müssen, als in den "Vorwärts". So wie einige Genossen nur die Aktuelle Kamera und den Schwarzen<br />

Kanal gesehen hatten, und vom Ende der DDR überrascht wurden, so hatte Leber nichts von der<br />

Jugendbewegung und nichts von der Lebensreform, nichts vom Biologismus und nichts vom<br />

Rassismus, nichts von der <strong>Romantik</strong>, nichts von Dostojewski, nichts von Thomas Mann, nichts von<br />

Hermann Hesse, nichts von Friedrich Nietzsche und nichts von der deutschen Planwirtschaft<br />

mitbekommen.<br />

Die geistigen Grundlagen der nationalsozialistischen Bewegung kann man grafisch deutlich machen,<br />

wenn man sich den nationalsozialistischen Korridor anhand der Wahlergebnisse von 1919 bis 1933<br />

vor Augen führt:<br />

Wenn man 1920 als Basis nimmt und analysiert, aus welchen Milieus die 44 % nationalsozialistischen<br />

Wähler deutschlandweit herkamen ergibt sich folgendes Bild:<br />

Zugewinn von gemäßigten Reformisten ca. 20 %<br />

Zugewinn von Linkselitaristen ca. 8 %<br />

Zugewinn von Konservativen ca. 7 %<br />

Zugewinn von Sozialdemokraten ca. 4 %<br />

Zugewinn von Christlichen ca. 3 %<br />

Zugewinn von Bauern und Regionalen ca. 1 %<br />

Wenn man sich erinnert, daß auch bei Linkselitaristen und Sozialdemokraten ein Teil der<br />

Reformkundschaft wählen ging (linke Intellektuelle, Freigeister, Arbeitersportler, Kleingärtner usw.), so<br />

ist eine deutliche Mehrheit der NSDAP-Wähler von der Lebensreform beeinflußt gewesen. Und wer<br />

sehr wenig von der Reform beeinflußt war, der wählte nicht NSDAP.<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

1919 1920 1924 1924 1928 1930 1932 1932 1933<br />

Trad. Marxisten elitarist. Linke Gemäß. Reformisten<br />

Völk. Reformisten Konservative Christliche<br />

340


Die festgefügten Klientel können anhand des für <strong>das</strong> jeweilige Milieu schlechtesten Wahlergebnisses<br />

quantifiziert werden:<br />

Traditionelle Marxisten (SPD) ca. 18 %<br />

Elitaristische und heterodoxe Linke ca. 9 %<br />

Gemäßigte Reformisten ca. 2 %<br />

Konservative ca. 6 %<br />

Katholiken ca. 15 %<br />

In der Summe ergeben sich 50 % der Wähler mit diesen festgefügten Anschauungen. Die übrigen<br />

Wähler waren mit Sicherheit Wechselwähler. Sie hatten reformistische Vorstellungen, die zumindest<br />

ans völkische Gedankengut angrenzten; 1933 wählten fast 44 % der Wähler in den<br />

nationalsozialistisch.<br />

In der Tortendarstellung sieht <strong>das</strong> Herkommen der NSDAP-Wähler von 1933 so aus, wenn 1920 als<br />

Basis angenommen wird:<br />

Christliche<br />

Konservative<br />

Bauern<br />

Reformisten<br />

Lediglich zwei soziologische Gruppen überlebten die Weimarer Republik als relativ eigenständige<br />

Kräfte einigermaßen unbeschadet: Die marxistischen Sozialdemokraten in ihren großindustriellen<br />

Bollwerken und die Katholiken in ihren Dorfkirchen. Alle anderen Kräfte waren modischen Strömungen<br />

zugänglich.<br />

Der nationalsozialistische Baum im reformistischen Garten<br />

Carl von Ossietzky schrieb in der Weltbühne vom 10.01.1933, <strong>das</strong>s Deutschland die Diktatur als<br />

selbstverständlich hinnähme, und daß jede Partei sich vom Nationalismus habe infizieren lassen.<br />

341<br />

Bolschewisten<br />

Sozialdemokraten


Nach dieser durchaus zutreffenden Analyse folgte, wie bei Ossietzky nicht anders zu erwarten, eine<br />

Aneinanderreihung schwerwiegende Irrtümer:<br />

„Im Grunde könnte die Nazipartei heute mit gutem Gewissen vom Schauplatz abtreten, sie hat in<br />

kurzer Zeit mehr getan, als ihre Auftraggeber von ihr erwarten durften. Sie hat keine faschistische<br />

Regierungsform geschaffen, wohl aber Deutschland den Faschismus ins Blut geimpft, sie hat, was<br />

sie Befreiung nennt, nicht durchgesetzt, wohl aber die Stimmung bereitet, in der eine neue<br />

Katastrophe möglich wird.“<br />

Was die Motivation betrifft, so war er eben Kind seiner Zeit und glaubte an die Macht der<br />

konservativen und schwerindustriellen Auftraggeber, die Hitler als Puppe am Faden festhalten<br />

würden. Zwei Monate später wussten es alle besser. Der zweite Irrtum betraf die Bedeutung der<br />

NSDAP bei der Entdemokratisierung Deutschlands. Hitler hätte Deutschland niemals von 1920 bis<br />

1933 von einem totalen Paradigmenwechsel überzeugen können. Dafür <strong>braucht</strong>e es über 40 Jahre<br />

Überzeugungsarbeit der antiparlamentarischen, antiwestlichen, antidemokratischen, teilweise<br />

rassistischen und antisemitischen Jugendbewegung. Die NSDAP war einer der jüngsten Bäume im<br />

verwilderten Garten der Lebensreform, aber dieser Baum wuchs schneller als alle anderen und<br />

erdrückte und erstickte alle anderen liederlichen Gewächse.<br />

Diejenigen, die sich ab 1928 am Zahltag Straßenschlachten lieferten waren sich viel ähnlicher, als sie<br />

es selber für möglich hielten. Auch diejenigen, die bis zum Schluß die Republik verteidigten, waren<br />

den politischen Erben der Republik ähnlicher, als vermutet. Die Zeitgeister des Imperialismus und der<br />

Lebensreform waren stark und rissen fast alles und fast jeden mit sich, Großgruppen und Parteien<br />

hatten keine Chance zum Beharren. Es war wie in Sodom und Gomorrha, wo diejenigen, die sich dem<br />

hedonistischen Zeitgeist entgegenstemmten in eine Telefonzelle gepaßt hätten, wenn zu biblischen<br />

Zeiten eine solche zur Verfügung gestanden hätte.<br />

Die Revolution von 1918 nahm kaum Bezug auf die Kulturrevolution der Jahrhundertwende. Allenfalls<br />

ihre Plakate waren expressionistisch.<br />

Mit der Abschaffung der Monarchie, der Stärkung der Rechte der Frau und der Arbeiterklasse erfüllten<br />

die Novemberrevolution und die Nationalversammlung sozialdemokratische und demokratische<br />

Forderungen aus dem 19. Jahrhundert. Die antichristlichen, antidemokratisch-elitären, bündischen,<br />

ästhetizistischen, antisemitischen, biologistischen, vitalistischen, antropologischen, antiwestlichen,<br />

antikapitalistischen, rassistischen und nationalistischen Ideen des endenden 19. und des beginnenden<br />

20. Jahrhunderts wurden kaum beachtet und in der neuen republikanischen Ordnung nicht umgesetzt.<br />

Sie waren aber in der Gesellschaft der Weimarer Zeit vorhanden, egal ob sie sich avantgardistisch,<br />

neokonservativ, demokratisch, antisemitisch, leninistisch oder bündisch verbrämten. Sie scheuten am<br />

Anfang der Republik <strong>das</strong> politische Licht, sie agierten in der Subkultur oder sie gaben sich noch<br />

gemäßigt. Die Weimarer Verfassung war insofern eine verspätete Verfassung, als sie Forderungen<br />

erfüllte, die 1919 für die intellektuellen Eliten schon zum alten Eisen gehörten, die neuen Ideen der<br />

Jahrhundertwende kamen nicht vordergründig zum Tragen. Diese Ideen und ihre Träger warteten auf<br />

eine neue antidemokratisch-elitäre, antiwestliche, bündische, antichristliche, antisemitische oder<br />

elitaristisch-leninistische Revolution. Das bedeutet nicht, daß alle von Anfang an auf die Offenbarung<br />

des Programms der NSDAP warteten; ein deutlicher Paradigmenwechsel, ein deutsches new age<br />

schwebte jedoch in der Luft. Die Bedingungen für die nationalsozialistische Machtübernahme reiften<br />

erst. Die nationalsozialistische Variante der Lebensreform kam zum Tragen, weil Hitler es verstand,<br />

bizarre reformatorische Inhalte in für die Massen vermittelbare und nicht vermittelbare zu selektieren,<br />

<strong>das</strong> "Brauchbare" massenverträglich in glatte Tüten zu verpacken und die Lebensreform mit der<br />

Technik zu versöhnen. Während eine schmale Parteielite von Supergermanen, Heldenzüchtung,<br />

Blutreinigung und erobertem Boden träumte, opferte die von Goebbels gesteuerte Filmindustrie auf<br />

dem Altar des Egalitarismus, nuschelte sich der kleine Rühmann an den elitaristischen Sirenen vorbei.<br />

Adolf Hitler löste <strong>das</strong> alte lebensreformatorische Dilemma: populär, aber nicht elitär; elitär, aber nicht<br />

populär endlich auf. Das Elitäre wurde populär.<br />

Die Väter der Weimarer Verfassung waren Großväter. Alle waren aus der gefährlichen Pubertät raus,<br />

als die Reformbewegung ihren Lauf nahm, viele waren schon fertige Erwachsene. Im Jahr 1900, als<br />

der Jugendstil gerade seinen Siegeszug begann, hatten die wichtigsten Politiker der Weimarer<br />

Republik folgendes Alter: Konstantin Fehrenbach 48, Hugo Preuß 40, Hugo Haase 37, Wilhelm Marx<br />

37, Philipp Scheidemann 35, Hans von Seeckt 34, Wilhelm Groener 33, Gustav Bauer 30, Friedrich<br />

Ebert 29, Otto Wels 27, Matthias Erzberger 25, Otto Geßler 25, Wilhelm Cuno 24, Hermann Müller 24,<br />

Gustav Stresemann 22, Gustav Radbruch 22 und Hans Luther 21. Und der Methusalem von allen,<br />

342


Hindenburg war 52 Jahre alt, als zur Jahrhundertwende die Sektkorken knallten. Wie sollten<br />

diejenigen, die 1900 älter als 25 waren die Reformbewegung verkörpern? Sie wurden eher von Fürst<br />

Bismarck und August Bebel geprägt, als von Wilhelm II. oder Friedrich Nietzsche. Die Reform mußte<br />

noch warten, bis ihr Personal ministrabel wurde. Aber die neue Generation wuchs heran. Eine<br />

unangenehme Ausnahme von den obengenannten bildete Walther Rathenau, der 33 Jahre alt war, als<br />

<strong>das</strong> Jahr 1900 begann. Er war im Gegensatz zu allen genannten stark von der Reform geprägt und<br />

deutlich ein Kind der neuen Zeit.<br />

Hermann Müller (SPD), Konstantin Fehrenbach (Zentrum), Friedrich Ebert (SPD), Hugo Haase<br />

(USPD), Gustav Stresemann (DVP) und Wilhelm Marx (Zentrum) waren teilweise noch unter dem<br />

Eisernen Kanzler groß geworden. Ihre Stehkrägen und Bratenröcke entsprachen am Ende der<br />

zwanziger Jahre nicht mehr dem Zeitgeist.<br />

Das Personal der Nationalsozialisten war 1900 wesentlich jünger: Streicher 15, Hitler 11, Göring 7,<br />

Goebbels 3, Höß und Frank noch nicht geboren. Es handelte sich auch soziologisch um typische<br />

Reformkinder. Julius Streicher war Lehrer, Rudolf Heß Student, Dietrich Eckardt Dichter und<br />

Dramatiker, Max Ammann Feldwebel, Hermann Esser Zeitungsredakteur, Hermann Göring<br />

Fliegerhauptmann, Alfred Rosenberg Schriftsteller und Architekt, Hans Frank Dichter, Baldur v.<br />

Schirach Dichter, Albert Speer Architekt, Max Erwin v. Scheubner-Richter Student, Joseph Goebbels<br />

Redakteur und Schriftsteller, Heinrich Himmler Landkommunarde, Walter Darré Student, Walther Funk<br />

Musiker. In der Führung überwogen Vertreter einer romantischen Großstadtbohème. 415<br />

Die Zugehörigkeit zur NSDAP korrespondierte im wesentlichen mit der Zugehörigkeit zur Alterskohorte<br />

1890 bis 1910. Das betraf sowohl die Führung, die Mitglieder, wie auch die Wähler. Natürlich wird<br />

dagegen <strong>das</strong> Argument ins Feld geführt werden, <strong>das</strong>s die viel jüngeren Günter Grass und Dieter<br />

Hildebrand auch Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen wurden. Beide behaupten jedoch,<br />

nicht zu wissen, wie sie in den letzten Kriegswirren in die NSDAP überhaupt hereingekommen sind.<br />

Bereits 1902 waren Fidus und seine Auftraggeber von der Vereinigung „Die Kunst im Leben des<br />

Kindes“ davon ausgegangen, <strong>das</strong>s die neue Generation ihr eigenes Wesen ausleben könne. Die<br />

Sozialisation der Kinder des beginnenden 20. Jahrhunderts erfolgte unter den Bedingungen einer<br />

expressionistischen Kulturrevolution.<br />

In der Mitte der zwanziger Jahre begann als nächste Kulturwende die rationalistisch gefärbte <strong>Neue</strong><br />

Sachlichkeit mit ihrem distanzierten Weltblick die gefühlsbetonte Lebensreform zu überlagern. Es<br />

begann eine ästhetische Konkurrenz, die sich nach 1936 in zahlreichen Malverboten für die<br />

Sachlichen äußerte, aber es kam auch zur Symbiose zwischen Reformismus und Sachlichkeit, die<br />

sich unter anderem in nationalsozialistischen Karrieren ehemaliger Sachlicher zeigte. Es begann in<br />

der Mitte der 20er ein Wettlauf zwischen zwei Kulturen, der von der jüngeren auf Grund der zu kurzen<br />

Entwicklungszeit zunächst nur verloren werden konnte. Dieser <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit fehlte bis 1933 die<br />

Zeit, sich vom Jugend- und Schönheitswahn, von der Idee des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> abzugrenzen und an<br />

die Ideale der Sattelzeit anzuknüpfen. Im Gegenteil nutzten insbesondere die Kommunisten und<br />

Nationalsozialisten die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit als Plattform, um sich von ästhetisch ver<strong>braucht</strong>en Mustern<br />

abzusetzen, ebenso wie die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit unbegrenzte Möglichkeiten bot, die Reform mit der<br />

Technik zu versöhnen. Viele Autoren und Maler der <strong>Neue</strong>n Sachlichkeit hatten ihre ersten Schritte als<br />

Expressionisten gemacht und waren gerade erst dabei, sich zu neu zu orientieren, wobei um mit Karl<br />

Marx zu sprechen eine esoterische und eine exoterische Seite in ihrem Werk miteinander<br />

konkurrierten. Eine esoterische sachliche neue Seite ihrer Aussage kämpfte mit alten exoterischen<br />

expressionistischen Gewohnheiten. Ernst Toller fällt in seinem Drama "Hoppla, wir leben!" immer<br />

wieder in expressionistische Übertreibungen zurück, noch mehr Walter Mehrings Einschublied vom<br />

Demolieren, der Schlachtmusik und dem elektrischen Schafott. So wie die Reformbewegung mit dem<br />

Jugendstil seit dem ersten Auftreten drei Jahrzehnte ge<strong>braucht</strong> hatte, die Welt zu irrationalisieren, so<br />

<strong>braucht</strong>e auch die Gegenbewegung ihre Zeit die Welt wieder zu rationalisieren. Die Anhänger der<br />

Sachlichkeit mußten 20 Jahre warten, bis der <strong>Neue</strong> Mensch "fertig hatte". In der DDR wurde der eine<br />

<strong>Neue</strong> Mensch gar durch den nächsten <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> ersetzt, aber nach dem Scheitern der<br />

blonden Bestie war der proletarische Wiedergänger von Geburt an ein ver<strong>braucht</strong>er Greis und<br />

schleppte sich mühsam zu seinem Grabe, zum Schlusse auch an sich selber zweifelnd. Die<br />

Hexenküche, die den Homunkulus hergegeben hatte, der Impuls des Fin de siècle lag zulange zurück,<br />

es war ein importierter Ikarus, der seine schwindende Kraft aus dem Reich der Tyrannen bezog, deren<br />

415 Joachim Fest: Hitler, Ullstein, S. 228<br />

343


Türme zu Staub zerfallen sind und dessen Schwingen an den Lagerfeuern der Gulags verbrannt<br />

worden waren.<br />

Prinzipiell hatten Expressionismus und Futurismus keinen einzigen demokratischen Gedanken<br />

hervorgebracht; sie saßen auf Nietzsches Philosophie auf, wie die Mistel auf dem Wirtsbaum. Die<br />

Sachlichkeit war ideologisch fexibler. Zunächst diente auch sie überwiegend dem Transport<br />

elitaristischer Träume in die Gesellschaft. Später zeigte es sich, <strong>das</strong>s sie mit demokratischen<br />

Überzeugungen durchaus kompatibel sein konnte.<br />

Alte und neue politische Kräfte waren seit der Mitte der zwanziger Jahre unsicher in der Wahl der<br />

ästetischen Mittel für ihre Propaganda. Es ist sicher falsch, wenn man behauptet daß die<br />

Nationalsozialisten die neuen Stilrichtungen zielsicher nutzten. Auch bei den Nationalsozialisten<br />

herrschte ästhetische Unsicherheit, <strong>das</strong> Fehlen eines Staatsstils in den dreißiger Jahren beweist <strong>das</strong>.<br />

Heimatstil, Neoklassizismus, nationaler Historismus und (national)sozialistischer Realismus konnten<br />

sich in der nationalsozialistischen Schönheitskonkurrenz behaupten, keine Richtung wurde jedoch so<br />

beherrschend, daß alles andere verdrängt wurde. Nicht einmal der Jugendstil starb ganz aus, in<br />

finsteren und engen Nischen erhielt er sich noch eine Weile, nur die abstrakten Weiterentwicklungen<br />

des Expressionismus wurden von den Nationalsozialisten weitgehend geächtet, verbannt und<br />

verbrannt.<br />

Sozialistischer Realismus und ein verdaulicher Jugendstil-light kohabitierten im Dritten Reich, soweit<br />

es die Staatsräson zuließ.<br />

Hitler war ein Meister der Maskerade, ihm gelang es, gleichzeitig den Eindruck der Modernität und der<br />

Traditionspflege zu erwecken, obwohl sein Regime ganz und gar unmodern und ein Bruch mit der<br />

europäischen (jedoch nicht unbedingt mit der deutschen) Tradition war. Fanatischer Glaube an den<br />

<strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>, Kraft durch Freude, Freude am technischen Fortschritt, an der frischen Luft, an der<br />

Bewegung, ob als Sport oder auf den Straßen des Führers, Freude an der Ordnung, Freude an der<br />

Arbeit, Rückgriffe auf die Monumentalität Roms bildeten den Kern des propagandistischen Gestus.<br />

Nach eigenem Bekunden hatte Hitler seine Anschauungen und Ziele von allen Sträuchern zu Seiten<br />

seines Lebensweges aufgelesen, die Sträucher wuchsen auf dem Humus der heterodoxen<br />

Lebensreform und spiegelten auch diese Heterodoxie wieder.<br />

Joachim Fest ging der Frage nach, ob die nationalsozialistische Radikalität durch die Freisetzung<br />

verbrecherischer Instinkte oder durch ein Moralverlangen gespeist wurde. Diese Radikalität sei kein<br />

Problem der kriminellen, sondern der pervertierten moralischen Energie.<br />

"Es waren vor allem <strong>Menschen</strong> mit einem starken, wenn auch zugleich richtungslosen<br />

Moralverlangen, an die der Nationalsozialismus appelliert hat....Der moralische Anspruch war<br />

ergänzt und überbaut von der Vorstellung einer besonderen Mission: dem Gefühl in einer<br />

apokalyptischen Auseinandersetzung zu stehen, einem Höheren Gesetz zu gehorchen, Agent<br />

einer Idee zu sein, oder was sonst auch immer die Bilder und Parolen einer eigentlich<br />

metaphysischen Gewißheit waren." 416<br />

Es ist sonnenklar: nach der nietzscheanischen Umwertung der Werte, nach dem Abschied von der<br />

christlichen Moralität, nach der Hinwendung zum Recht des Stärkeren und des überlegenen<br />

Übermenschen gab es wie vordem noch Werte. Aber während <strong>das</strong> Töten früher geächtet wurde, so<br />

war es nun die höchste Tugend, während der Abstand von Neid und Haß früher von den Kanzeln<br />

gepredigt wurde, so wurden sie aus der moralischen Mottenkiste als Antrieb zum Töten wieder<br />

herausgeholt, während die Achtung vor dem Alter mit seiner Weisheit früher oben stand in der<br />

Hierarchie der Belehrung, so wurden nun die Jugend und ihr Elan vergötzt.<br />

Dieser Jugendkult, der bald die Zwangsmitgliedschaft in der HJ und im BDM einschloß, verband sich<br />

bald mit dem nationalsozialistischen Körperkult und aus dem Kalkül des Machterhalts heraus auch mit<br />

Technikakzeptanz.<br />

Leni Riefenstahl hatte als spätes groupy der Reformbewegung einen unaufhaltsamen Drang in die<br />

Höhe, an die Sonne, in den Schnee, in die Berge, zur Bewegung. Sie war ein typisches Kind des<br />

Zeitgeists. Ausdruckstanz, Fliegen und Klettern, Filmen, jedes neue Medium, jede halsbrecherische<br />

location war recht, um ihr ego zu kitzeln. Mit ihrer Sport- und Körpervernarrtheit und einer<br />

416 J. Fest: Hitler, Ullstein, S. 540 f.<br />

344


dazugehörenden Technikverliebtheit wurde sie mit Streifen wie "Wille zur Macht" zur Reichsästhetin<br />

des Körperkults und der Massenszenen. Man mußte von der nichtdogmatischen Reformbewegung<br />

kommen, um so beseelt, so routiniert und so skrupellos zu sein. Es ist kein Zufall, sondern eine Art<br />

Seelenverwandschaft, daß der starrsinnige Reinhold Messmer und die starrsinnige Leni ein Herz und<br />

eine Seele waren, wenn die Höhenluft ungehindert einwirken konnte. Die Riefenstahl warf sich nicht<br />

<strong>das</strong> Büßergewand über, wie viele andere, sondern blieb hartnäckig bei ihrer Version der Geschichte<br />

von der ästhetischen Qualität ohne politische Dimension. Sie sei vor dem Kriege auch im Ausland<br />

anerkannt gewesen, und hinterher solle alles anders und falsch gewesen sein? Natürlich war es<br />

falsch, und falsch war auch die Anerkennung ihres Werks im Ausland. Was hatte es auch für einen<br />

Sinn, daß Hitlers Entwurf für die Nürnberger Parteitagsbauten auf der Weltausstellung 1937 in Paris<br />

den Grand Prix gewann? In Frankreich herrschte gerade die Volksfront herum.<br />

Technischer Fortschritt ist modern. Zu viel technischer Fortschritt ruft den Wunsch nach einem Leben<br />

in der unverdorbenen Natur hervor. Hier entschied sich Hitler wie seine Vorgänger kompromißlos für<br />

den Fortschritt, denn technischer Fortschritt ist Fortschritt in der Waffen- und Kriegstechnik. Alles<br />

Gejammer über die moderne Zivilisation wurde anders als im Kaiserreich abgedrängt und unterdrückt.<br />

Die Schneise von Nietzsche zur Technikbegeisterung wurde bereits vor 1933 und nicht wie man<br />

vielleicht vermuten könnte nach 1933 geschlagen. Bei den Futuristen reimte sich schon 1909 amore<br />

auf motore, auch Ernst Jünger hatte 1929 den Weg von der Technikfeindlichkeit Nietzsches zur<br />

Technikbegeisterung Hitlers vorweggenommen:<br />

"Ja, die Maschine ist schön, sie muß schön sein für den, der <strong>das</strong> Leben in seiner Fülle und<br />

Verhältnismäßigkeit liebt. Und in <strong>das</strong>, was Nietzsche, der in seiner Renaissancelandschaft für die<br />

Maschine noch keinen Raum hatte, gegen den Darwinismus gesagt hat, daß <strong>das</strong> Leben nicht nur<br />

ein erbärmlicher Kampf ums Dasein, sondern ein Wille zu höheren und tieferen Zielen ist, muß<br />

auch die Maschine einbezogen werden. Sie darf uns nicht nur ein Mittel zur Produktion, zur<br />

Befriedigung unserer kümmerlichen Notdurft sein, sondern sie soll uns eine höhere und tiefere<br />

Befriedigung verleihen. Wenn <strong>das</strong> geschieht ist manche Frage gelöst. Der kümmerliche Mensch,<br />

der in ihr plötzlich seine Ganzheit statt einer zweckmäßigen Zusammensetzung aus Eisenteilen<br />

sieht, der Stratege, der sich vom Banne des Produktionskrieges loszulösen strebt, sie sind an<br />

dieser Lösung ebenso tätig wie der Techniker und der Sozialist." 417<br />

Kein Mittel zur Produktion, sondern ein Mittel zur Kriegführung sollte die Maschine sein, Jünger war<br />

Soldat.<br />

"Erst unsere Generation beginnt sich mit der Maschine zu versöhnen, und in ihr nicht nur <strong>das</strong><br />

Nützliche, sondern auch <strong>das</strong> Schöne zu sehen." 418<br />

Jünger war kein Einzelgänger. In der heterodoxen Reformlandschaft waren immer wieder Außenseiter<br />

aufgetreten, die es mit dem technikfeindlichen Nietzsche nicht so genau nahmen. Gabriele<br />

d´Annuncio´s im Jahre 1910 erschienener Roman ›Forse che si forse che no‹ (Vielleicht, vielleicht<br />

auch nicht) kann als Prototyp einer neuen maschinenbegeisterten Flugdichtung gelten, bei der<br />

Nietzsches Übermensch als kriegerischer antiweiblicher Sportheroe erscheint. Der Romanheld Tarsis<br />

überwindet seine Todesfurcht, indem er mit der Maschine verschmilzt und sich im Rausch der<br />

Geschwindigkeit aus »weiblicher Schwer-Kraft« von »Mutter-Erde« befreit.<br />

Der Höhenflug war ein durchaus beliebtes Sujet der futuristischen Literatur und Dichtung. Als Beispiel<br />

mag Karl Vollmoellers ›Lob der Zeit‹ aus dem Jahre 1912 dienen:<br />

Dich sing ich, Zeit der Zeiten: meine Zeit!<br />

Ein heller Herbst verschollener Sagenblüten<br />

Wandelst du Gold und Silber blasser Mythen<br />

In Stahl der Wirklichkeit.<br />

Wie stöhnte noch <strong>das</strong> sinkende Jahrhundert<br />

Im selbstgewollten Fron und trüben Krampf<br />

Bei Ofen, Kran und Hammer, Qualm und Dampf -<br />

Nun schauen wir verwundert.<br />

417 Ernst Jünger: Feuer und Blut, Berlin 1929, S. 82<br />

418 Ernst Jünger: Feuer und Blut, Berlin 1929, S. 81<br />

345


Wie die Tyrannen, die wir selbst gesetzt,<br />

Die dräuenden Geschlechter der Maschinen,<br />

Uns selbst befrein und, wieder Sklaven jetzt,<br />

Zum Traum der Träume dienen.<br />

(...)<br />

Und alles singt die grösste <strong>Menschen</strong>tat:<br />

Vom Urweltmorgen, wo am Gletscherfjorde<br />

Der stillre Werkmann einer blonden Horde,<br />

Nicht wissend, was er tat.<br />

Den ersten Stamm gehöhlt mit Beil und Feuer,<br />

Das erste Segel kühn im Wind gestellt,<br />

(Der ganze Vogel tönt wie eine Leier<br />

Vom neuen Rausch der Welt)<br />

(...)<br />

Der Sturmwind selber schmettert die Fanfare,<br />

Hell wie ein Jagdruf, dumpf wie Orgelbässe,<br />

Klingend wie kriegerisches Erz: VOLARE<br />

NECESSE EST - VIVERE NON NECESSE!<br />

(...)<br />

Entfliegt! Mit jeder der pfadlosen Bahnen,<br />

Die eure Schwingen jetzt im Blau durchmassen,<br />

Bereitet ihr der Zukunft Völkerstrassen.<br />

Entfliegt!<br />

Und Hand zur Steuerung! Werft an! VOLARE<br />

NECESSE EST! - Die Schraube braust in grossen<br />

Ringen von Licht. - Ein Guss noch am Altare<br />

Der Ungenannten und der Namenlosen!<br />

Dann segelt, ein Geschwader lichter Aare,<br />

Kreisend im Blau um Mast und Dom und Esse<br />

An Elbe, Rhein und Nordmeer: NAVIGARE<br />

NECESSE EST - VIVERE NON NECESSE!<br />

Ganz im Banne des Futurismus war <strong>das</strong> Gedicht todessehnsüchtig – Leben ist nicht nötig, aber fliegen<br />

schon.<br />

1910 konstruierte Vollmoeller, der dem homoerotischen Münchner George-Kreis zugeordnet wird, ein<br />

Flugzeug und ließ es von seinem Bruder in bis zu 6 m Höhe über den Stuttgarter Wasen fliegen, bis<br />

ein Zuschauer getötet wurde.<br />

Gustav Lilienthal, der Bruder von Otto Lilienthal arbeitete gleichzeitig an Siedlungsexperimenten mit<br />

eigenem ökologischen Obstanbau, an der Erfindung des Metallbaukastens und an einer vogelartigen<br />

flügelgetriebenen Flugmaschine. Andere Reformisten blieben nach dem Ersten Weltkrieg<br />

Maschinenskeptiker.<br />

„Hörst du <strong>das</strong> <strong>Neue</strong>, Herr, dröhnen und beben? Kommen Verkündiger, die es erheben. Zwar ist<br />

kein Hören heil in dem Durchtobtsein, doch der Maschinenteil will jetzt gelobt sein. Sieh, die<br />

Maschine: wie sie sich wälzt und rächt und uns entstellt und schwächt. Hat sie aus uns auch Kraft,<br />

sie ohne Leidenschaft, treibe und diene.“ 419<br />

Es ist ein Faszinosum, nicht nur die <strong>Neue</strong> Sachlichkeit, auch die mit ihr thematisch und logisch<br />

verbundene Versöhnung der Reformbewegung mit der Technik sind in Italien als Futurismus in die<br />

Zeit des Vorkriegs und in Deutschland als <strong>Neue</strong> Sachlichkeit in die Periode der relativen Stabilisierung<br />

von 1925 bis 1929 einzureihen, und nicht in die Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 und<br />

erst garnicht in die Zeit des Nationalsozialismus ab 1933. Die Zeit der relativen Stabilisierung war eine<br />

kreative Phase, wobei die Schöpfungen von alleräußerster Fragwürdigkeit waren. Die <strong>Neue</strong><br />

Sachlichkeit in ihrem Gegensatz zur Sektiererei der Reformbewegung, als Korrektiv zu unpraktischer,<br />

419 Rainer Maria Rilke: Sonette an Orpheus,XVIII, 1922<br />

346


der Machtentfaltung im Wege stehendem Obskurantismus und die wieder salonfähige<br />

Technikbegeisterung waren ebenso wie Nietzsches Phantasien vom <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>, von der<br />

humanen Höherentwicklung, Plattformen für die nationalsozialistische Massenbewegung, waren<br />

Voraussetzungen für die Popularität von Hitlers Reformkonzepten. Erst die Verbindung der Licht-,<br />

Luft-, Körper- und Sonnenbewegung mit Technikfreundlichkeit war für breite Massen konsenzstiftend.<br />

Mit der Technikakzeptanz, teilweise Technikbegeisterung der NSDAP nahm Hitler der<br />

Sozialdemokratie den technizistischen Alleinvertretungsanspruch, er nahm ihr <strong>das</strong> technisch<br />

fortschrittliche Alleinstellungsmerkmal, er öffnete den Weg in die technikfreundliche Wählerschaft, die<br />

traditionell und logischerweise vor allem die körperlich arbeitende, die Arbeiter- und<br />

Bauernwählerschaft war. Für <strong>das</strong> vornationalsozialistische Bildungsbürgertum dagegen waren Arbeiter<br />

und Bauern nur Roboter, die man durch grobe Handarbeit verschliss, die man in Kriege oder<br />

Bürgerkriege hetzte, um möglichst viele Ungebildete durch Arbeit oder als Kanonenfutter zu töten.<br />

Was der Gevatter Tod im Kriege nicht erledigt hatte, <strong>das</strong> sollte in Russland beispielsweise der Hunger<br />

bewerkstelligen: Physische Vernichtung von möglichst vielen Volksschulabsolventen.<br />

Hitler schuf aus Sonne, Körperkult und ästhetisierter Massenbewegung einen Schönheitsstaat, eine<br />

durch die eigene Biographie und den eigenen Werdegang stark beeinflußte, in der wagnerianischen<br />

Opernküche mit italienischen Gewürzen entwickelte Soße aus Kunst und Politik, die auf dem großen<br />

Teller der Weltpolitik an den Bratenscheiben vorbeischwamm. Zeitgleich mit der technischen<br />

Entwicklung der Atomspaltung und der beginnenden Krise des Kolonialsystems stand die Entwicklung<br />

neuer Bewegungsformen der Politik auf der Tagesordnung, und nicht die Erringung der militärischen<br />

Macht über die ganze Welt. Statt als Politiker zu handeln, die neuen Widersprüche und Probleme<br />

diplomatisch und wirtschaftspolitisch aufzuarbeiten, handelte er als Ästhet. Blondheit war ihm<br />

wichtiger, als Wohlstand, die Judenvergasung war ihm wichtiger als der militärische Sieg. Ohne die<br />

rassistischen Exzesse beim Einmarsch in die Sowjetunion wäre Stalins Gulagstaat zumindest in den<br />

nichtrussischen Gebieten wie ein morbides Kartenhaus zusammengebrochen. Hitler betrachtete sich<br />

auch als Führer und Reichskanzler noch immer als künstlerisches Genie, seinen Jugendentwurf für<br />

eine Donaubrücke in Österreich ließ er als alternder Herr realisieren, die Triumpfbögen und Kolonnen,<br />

die er in der Pubertät gemalt hatte, ließ er in Berlin, München, Nürnberg und Weimar bauen. Kaum<br />

eine deutsche Großstadt, für die Hitler in den dreißiger und vierziger Jahre nicht unmaßstäbliche<br />

Prachtstraßenentwürfe im Geiste von Bruno Tauts Stadtkrone entwarf oder entwerfen ließ. Dringende<br />

politische Geschäfte wurden oft nur nach ausführlichen Architekturgesprächen oder gar nicht erledigt.<br />

Mitten im Kriege führte ihn der erste Weg in München zu den Alten Meistern, wo die köstliche Zeit in<br />

stundenlangen Kunstgesprächen und Monologen verrann. Als Nachfolger hielt er sowohl Heinrich<br />

Himmler, als auch Rudolf Heß für ungeeignet, da sie keine musischen <strong>Menschen</strong> seien. Bei<br />

Kriegsbeginn ließ er die Künstler im Gegensatz zu den Wissenschaftlern freistellen, mitten im Kriege<br />

bekam Arnold Breker ein Atelier mit zahlreichen Bildhauern zur Verfügung gestellt und es wurde bis 5<br />

Minuten vor Zwölf gemeißelt, was der Stein hergab. Paris betrat Hitler nicht als Feldherr, sondern als<br />

morgendlicher Museumsbesucher. Die meisten frühen Reden begann er mit "Als ich noch ein<br />

einfacher Gefreiter im Weltkrieg war..." in den späteren fehlte selten die Jameriade: "Gegen meinen<br />

Willen bin ich Politiker geworden..." In den Tischmonologen bemerkte er:<br />

"Die Politik ist mir nur ein Mittel zum Zweck. Es gibt Leute, die glauben, es werde mir hart<br />

ankommen, wenn ich aus dem politischen Leben ausscheide und all die Kümmernisse, die Plage<br />

und den Ärger hinter mir lasse...Kriege kommen und vergehen. Was bleibt, sind einzig die Werte<br />

der Kultur". 420<br />

„Politik ist nur <strong>das</strong> Mittel; <strong>das</strong> Ziel ist die Kultur“ hatte schon 1918 Georg Lukács behauptet.<br />

Zugespitzt könnte man behaupten, Hitler habe seine Macht ausgeübt, um dumpfe neoklassizistische<br />

Paläste und Sportarenen mit endlosen Kolonnenreihen zu bauen, um blondhaarige Hünen zu züchten<br />

und um diese als tausendköpfige <strong>Menschen</strong>monolithen in nächtlichen Lichtdomen zu bewegen.<br />

Joachim Fest sah <strong>das</strong> so:<br />

"Das politische Geschehen der Erfolgsperiode war begleitet von einem pausenlosen Feuerwerk<br />

großer Schaustellungen, von Paraden, Weihestunden, Fackelzügen, Höhenfeuern, Aufmärschen.<br />

Man hat schon frühzeitig auf den engen Zusammenhang verwiesen, der in den totalitären Regimen<br />

zwischen Außen- und Innenpolitik besteht; weit enger ist offenkundig der Zusammenhang dieser<br />

beiden mit der Propagandapolitik. Gedenktage, Zwischenfälle, Staatsbesuche, die Einbringung der<br />

Ernte, oder der Tod eines Gefolgsmannes, der Abschluß oder der Bruch von Verträgen schaffen<br />

420 J. Fest: Hitler, Ullstein, S. 548 f.<br />

347


eine Szenerie immerwährender Exaltation und dienten unterschiedslos als Impuls zur Entfaltung<br />

weitläufiger psychotechnischer Künste mit dem Ziel, <strong>das</strong> Volk immer dichter zu integrieren und ein<br />

allgemeines Mobilmachungsbewußtsein zu erzeugen. Dieser Zusammenhang war im Staat Hitlers<br />

besonders eng und farbenreich geknüpft, so eng, daß mitunter gleichsam eine<br />

Gewichtsverlagerung eintrat, in deren Verlauf die Politik geradezu ihren Vorrang einbüßen und zur<br />

Magd grandioser Theatereffekte zu werden schien. ... Unwillkürlich kam immer wieder seine<br />

(Hitlers) theatralische Natur zum Vorschein und verführte ihn dazu, die politischen Kategorien den<br />

inszenatorischen nachzuordnen. Die Herkunft Hitlers aus der spätbürgerlichen Bohème, seine<br />

anhaltende Verwurzelung darin, war in diesem Amalgam von ästhetischen und politischen<br />

Elementen unverwechselbar kenntlich." 421<br />

Hitler persönlich war nicht nur der Schöpfer der Parteisymbole, sondern auch der Regisseur und der<br />

Dramaturg der Massenrituale, wo er selbst jedes Detail auswählte und begutachtete. Die<br />

künstlerischen Details der Totenehrungen, den Feuerzauber bei nächtlichen Scheiterhaufen und<br />

Flammenrädern, <strong>das</strong> Abschreiten der Gassen zwischen riesigen <strong>Menschen</strong>blöcken und die Plazierung<br />

des Fahnenschmucks, alles <strong>das</strong> waren Details die der Führer sich nicht aus der Hand nehmen ließ,<br />

weil er sich als Künstler berufen fühlte. Und für die Feiern und Riten in der Provinz, die er nicht<br />

persönlich leiten konnte, gab es seine verbindlichen Handbücher. Das "Amt für Fest-, Freizeit- und<br />

Feiergestaltung" war der Herausgeber dieser Handlungsanweisungen und der zentrale Tummelplatz<br />

Hitlers, auf dem er die wagnerianischen Opernphantasien seiner Jugend als kollossale<br />

Selbstbestätigung Wirklichkeit werden ließ.<br />

Der zentrale Gedanke der Nationalsozialisten war der zentrale Gedanke Nietzsches und seiner<br />

Jünger: Der Übermensch, der <strong>Neue</strong> Mensch. Bei Nietzsche war er von den Griechen im allgemeinen<br />

inspiriert, bei Hitler hatte er speziell spartanische Züge: hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder.<br />

"Wer den Nationalsozialismus nur als politische Lehre versteht, weiß fast nichts von ihm. Er ist<br />

mehr noch als Religion: er ist der Wille zur neuen <strong>Menschen</strong>schöpfung". 422<br />

Alle politischen Maßnahmen, die uns heute brutal und unmenschlich erscheinen, hatten in diesem<br />

kulturellen Ziel, in damaligem Verständnis als Ergebnis hohen Sinnens, wie Fest schreibt in Hitlers<br />

innersten und feierlichsten Gedanken ihren Kern. Das Gesetz zur Wiederherstellung des<br />

Berufsbeamtentums, die Beschlüsse der Wanseekonferenz, die Euthanasiegesetze, der "Verlobungs-<br />

und Heiratsbefehl" der SS oder die Gründung des Rasse- und Siedlungshauptamtes SS; entweder<br />

dienten sie dazu perfekte Neogermanen zu züchten oder die Juden als vermeintliche Gegenbildung<br />

des Ariers zu vernichten.<br />

Stanley Payne hat Hitlers Weltbild als modern, und nicht als reaktionär oder vormodern bezeichnet,<br />

was eine Replik geradezu herausfordert. Er schreibt dazu:<br />

"Alle politischen und sozialen Ideen Hitlers hatten ihren Ursprung in Varianten der historischen<br />

Aufklärung - die Revolte gegen die traditionelle Kultur im Namen eines revolutionären<br />

Säkularismus, der Glaube an ein säkulares Naturgesetz und ein naturalistischer deistischer<br />

Gottesbegriff, die Verwerfung des traditionellen christlichen Konzepts der Einheit der Menscheit<br />

zugunsten einer rassischen Trennung, die Hervorhebung einer Kombination von biologischer<br />

Ungleichheit und sozialer Gleichheit, die Unterscheidung zwischen den Produktiven und den<br />

Unproduktiven, die Betonung des Volkes und der Volksgruppe, der Rousseausche allgemeine<br />

Wille des Volkes, der optimistische Glaube an den Fortschritt und an eine höhere Menschlichkeit,<br />

sowie der Kult des Willens. Alle diese Überzeugungen Hitlers waren fundamentale Postulate<br />

moderner Philosophie und Kultur..." 423<br />

Dagegen läßt sich einiges einwenden: Kann eine Konzeption modern sein, die zwar mit dem<br />

damaligen Stand der Naturwissenschaft scheinbar übereinstimmte, jedoch nicht wirklich weltpolitisch<br />

und gesellschaftspolitisch funktionierte? Kann so ein looser modern gedacht haben? Ist nicht ein<br />

christlich-katholisches Konzept moderner, <strong>das</strong> zwar der Naturwissenschaft scheinbar widerspricht,<br />

jedoch den <strong>Menschen</strong> schärfer erkennt und sich deshalb praktisch tausendmal besser bewährt? Die<br />

christliche Nachkriegsordnung war wesentlich erfolgreicher, nachhaltiger und lebenswerter als die<br />

atheistische Vorkriegsordnung; an der Effektivität und der Fähigkeit die Konflikte zu managen, daran<br />

421 s.o. S. 725<br />

422 K. Rauschning: Gespräche, S. 232, zitiert bei Fest, Hitler, S. 762<br />

423 Stanley Payne: Geschichte des Faschismus, S. 588 f.<br />

348


muß man im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen und der Atomkraft Modernität messen.<br />

Atheismus + Elektrifizierung = Fortschritt ist eine offenkundige Ungleichung. Die Elektrifizierung läßt<br />

sich nicht ohne Glauben an Gott menschenwürdig umsetzen. Der Nationalsozialismus und der<br />

Stalinismus sind die historischen Beweise, <strong>das</strong>s Neuheidentum nicht funktioniert und unmodern ist.<br />

Folglich ist auch die Aufklärung, soweit sie dem Atheismus Tür und Tor öffnete nicht fortschrittlich<br />

gewesen, sondern ausgesprochen reaktionär.<br />

Hitlers nationalsozialistische Bewegung erschien unver<strong>braucht</strong> neu, sie wirkte auf die Zeitgenossen<br />

nicht als Neuauflage des Kaiserreiches oder gar als verschärfte Wiederholung desselben. Alle<br />

preußischen Übel wie Militarismus, Imperialismus, Zentralismus, Dirigismus, Antikatholizismus und<br />

Antisemitismus wurden in so übersteigerter Form erneuert, daß sie unver<strong>braucht</strong>en Glanz<br />

verbreiteten. Ein neu hinzugekommener radikaler Despotismus war in dieser Schärfe<br />

Preußendeutschland fremd gewesen.<br />

Die Wahrnehmung, die Perspektive schwankte in den 30ern zwischen der kleinen heilen Welt Heinz<br />

Rühmanns und der großen heilen Welt der Massenaufmärsche bei Sportfesten und Parteitagen. Die<br />

Inszenierungen in Berlin und Nürnberg erinnerten formal nicht an Preußen, sondern eher an ein<br />

monumentales Römisches Reich mit wasserstoffblonden Kohorten. Für alte Inhalte war eine neue,<br />

perfekte, populäre und populistische Verpackung gefunden worden, und es waren überwiegend alte<br />

Inhalte der Lebensreformbewegung und der Kaiserzeit, die neu ästhetisiert und verpackt wurden.<br />

Hitlers Wähler und Anhänger wollten, daß es anders werde, dieser Wille zum Wechsel, zur<br />

Umwertung oder wie man ihn auch immer bezeichnen will, war einer der Kerne und Keime der realen<br />

Veränderung. Aber diese Umwertung war nach 40 Jahren Reform bereits so tief in <strong>das</strong> allgemeine<br />

Bewußtsein eingesickert, daß nach der Machtergreifung der Eindruck entstand, Deutschland sei zu<br />

sich selbst zurückgekehrt. Die parlamentarischen Institutionen der Republik wurden ohne Innehalten,<br />

ohne Zögern und ohne Bedauern als etwas Fremdes und Unnatürliches abgetan. 424<br />

Alles stand nach 1933 im Zeichen einer ästhetisch und nicht rationell gedachten Ordnung. Die<br />

Arbeitslosen kamen dank Arbeitsdienst und Wehrmacht von der Straße, die planwirtschaftlich gelenkte<br />

Wirtschaft kam dank einem hohen Krediteinsatz in Schwung, die Kultur sparte Konfliktthemen aus und<br />

zeigte eine mehr oder weniger heile Welt, wenn von den wenigen antisemitischen Propagan<strong>das</strong>treifen<br />

einmal abgesehen wird. Die Heile-Welt-Streifen der UFA wurden als sogenannte Montags-Filme bis in<br />

die sechziger Jahre im Ostfernsehen gezeigt. Der "Schwarze Kanal" wühlte verbissen in den frischen<br />

Wunden herum, der Montagsfilm aus Babelsberg war <strong>das</strong> Heil-Pflaster aus der guten alten Zeit, die<br />

erlaubte Dosis Morphium.<br />

Die große planwirtschaftlich und berufsständisch verfaßte Ordnung hatte 1933 über die spärlichen<br />

Reste des Kapitalismus und des Christentums gesiegt, diese siegreiche Ordnung war Schuld am<br />

Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der Zweite Weltkrieg brachte neue, viel größere Unordnung und im<br />

Gefolge der Unordnung auch den Kapitalismus und <strong>das</strong> Christentum zurück.<br />

Die nationalsozialistische Revolution hat auch eine Dimension des Aufstands der Jungen gegen die<br />

Alten, des Spannungsfeldes von Fortschritt und Tradition. Im ausgehenden 18. Jahrhundert und im<br />

beginnenden neunzehnten Jahrhundert hatte sich <strong>das</strong> in Deutschland recht zarte Pflänzlein der<br />

Bürgerlichkeit mit dem noch zarteren der Marktwirtschaft stetig entwickelt und die alte mittelalterliche<br />

Welt etwas zurückgedrängt. In der Sattelzeit von 1750 bis 1850, insgesamt über 100 Jahre hatte es<br />

eine Tradition der Verbürgerlichung und Individualisierung der Gesellschaft gegeben. Seit dem Anfang<br />

des 19. Jahrhunderts regte sich zaghafter Widerstand, der Mitte des Jahrhunderts anwuchs und seit<br />

der Jahrhundertwende beherrschend wurde. Es kam zu einem kulturellen Aufstand gegen die<br />

Errungenschaften der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der zu Unrecht als Beginn der Moderne<br />

gefeiert wird. Die ganze erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zupfte der Zupfgeigenhansel vor allem an<br />

der verletzlichen, unbeständigen und zarten Seele der jungen Deutschen. 1933 hatte die<br />

traditionalistische Flottille, nachdem sie von inzwischen altväterlichen Segeln auf jugendlichen Dampf<br />

umgestellt hatte, die korporatistischen Häfen endlich erreicht.<br />

Gerade als der Glauben in die vermeintliche Kraft des <strong>Menschen</strong> gesiegt hatte, als der <strong>Neue</strong> Mensch<br />

sich unbeeinträchtigt von Kapitalismus und Parlamentarismus frei entwickeln konnte, setzte fast<br />

424 Umgekehrt war es 1945. Die lebensreformatorischen Impulse waren nach sieben Jahren Krieg und<br />

insbesondere nach der militärischen Niederlage so abgenutzt, daß der Nationalsozialismus als etwas Fremdes<br />

und Unnatürliches betrachtet wurde. Die Germanengötter fristen ihr Leben seitdem in Kreuzworträtseln. Nur 15<br />

bis 18 % der Bewohner der amerikanischen Besatzungszone wurden vor 1949 als unbelehrbare Nazis eingestuft.<br />

349


unmerklich der Niedergang der Reformbewegung ein. Nicht wirtschaftliche und politische Mißerfolge<br />

des Naziregimes waren es, die die beginnende Erosion reformistischer Überzeugungen einleiteten,<br />

sondern es waren kleine egalitäre Wellen der Sachlichkeit, die die Sandkörnchen an den Stränden<br />

des Elitarismus hinwegtrugen. Was hatten Heinz Rühmann, Theo Lingen und Georg Thomalla mit<br />

Siegfried zu tun? Die Traumfabrik UFA träumte in den 30ern und 40ern bereits die Träume der 50er,<br />

wer konnte, flüchtete sich in die Welt der Operetten und der Feuerzangenbowle. Und <strong>das</strong> war eher die<br />

Welt der kleinen Leute, der von Nietzsche so gehaßte Abgrund unter dem Seil vom Tier zum<br />

Übermenschen. Heinz Rühmann war die zur Person gewordene Gegenbildung des Übermenschen.<br />

Ab Ende der Dreißiger Jahre fiel die Jugend von der Jugendbewegung ab. Das zeigte sich zunächst<br />

an zwei Frühindikatoren: Ab 1937 kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Jugendkriminalität, der<br />

Anfang der dreißiger Jahre enorm hohe nationalsozialistische Einfluß auf die Studenten schwand<br />

relativ und begleitet von erheblich sinkenden Studentenzahlen auch absolut dahin. 1944 war es<br />

endlich soweit, daß Hitler den Kulturkampf gegen die Kreuze in Bayrischen Klassenzimmern verlor.<br />

Nach 1945 waren der Jugendstil, die Jugendbewegung, die Lebensreform und der <strong>Neue</strong> Mensch<br />

tabu. Über Landschaftsschutz, Judenvergasung, Rohkost, Nietzsche und Reinzucht wurde 20 Jahre<br />

nicht gesprochen, die germanischen Götter fristeten ihr Dasein dank konsonantenreicher Namen im<br />

Kreuzworträtsel.<br />

Nur keine neue Revolutionstheorie!<br />

Viele Schwierigkeiten in der Bewertung der Kaiserzeit und der Weimarer Republik sind entstanden,<br />

weil man versuchte, die geschichtliche Wahrheit in ein allgemeines Periodenmodell des Übergangs<br />

vom Absolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft hereinzupressen, oder gar in ein welthistorisches<br />

Modell des gesellschaftlichen Fortschritts. Die Novemberrevolution mußte zusätzlich in <strong>das</strong><br />

Prokrustesbett der leninistischen Revolutionstheorie hinein. Die wirklichen Vorgänge wurden unter<br />

unzutreffenden geschichtsphilosophischen Vorgaben analysiert, was ihnen nicht gut getan hat. Aus<br />

einem berechtigten Matrosenstreik wurde durch <strong>das</strong> schnelle Aufspringen der ganzen Münchner und<br />

Berliner Bohéme auf den fahrenden Zug der revolutionären Ereignisse schnell eine vorerst<br />

gescheiterte elitaristische Revolte. Unter Ignorierung der tatsächlichen Umstände wurde von der<br />

Geschichtswissenschaft eine abgebrochene bürgerlich-demokratische Revolution daraus<br />

zurechtgeschustert. Die Machtergreifung 1933 wurde folglich als geschichtlicher Betriebsunfall und<br />

nicht als der dritte, schließlich erfolgreiche Versuch, eine antidemokratisch-elitaristische Wende<br />

herbeizuführen, gewertet. Aus der Erfahrung heraus, <strong>das</strong>s historische Ereignisse nicht wie ein<br />

chemisches Experiment im Reagenzglas reproduzierbar sind, wird von der Erstellung einer neuen<br />

Perioden- oder Revolutionstheorie Abstand genommen.<br />

Die Weimarer Republik kann dennoch als Zwischenzustand interpretiert werden und in einen<br />

Vergleich mit anderen Zwischenzuständen gestellt werden, ohne gleich vergewaltigende<br />

Verallgemeinerungen vorzunehmen.<br />

So wie Napoleon als Diktator die blutige Konkurrenz abgefahrener rivalisierender Clubs beendete und<br />

dem bürgerlichen Rechtssystem eine feste Ordnung gab, so wie Stalin die elitaristische<br />

Oktoberrevolution mit ihren avantgardistischen Diskussionen und Experimenten in den othodoxen<br />

Aggregatzustand des Dauerfrostes verzauberte, so führte Hitler die heterodoxe Kulturrevolution der<br />

Jahrhundertwende mit ihren unpraktikablen Konzeptionen zu ihrem in feste Rituale gegossenen<br />

antiparlamentarischen Ziel.<br />

Der rechthaberische Dogmatiker Robespierre, der phantasievolle Trotzki und die träumerischen<br />

Illusionisten von der Weltbühne wurden aus der politischen Bahn geräumt und eine stark vereinfachte,<br />

von störenden Details bereinigte Version der Revolution strömte 1795 nach Frankreich, 1928 nach<br />

Rußland und 1933 nach Deutschland.<br />

Napoleon beerbte die Revolution von 1789 in einer vom Kult des höheren Wesens und von den<br />

Massenhinrichtungen bereinigten Form. Sein Fazit der Revolution waren der Code Civil und ein<br />

verschärfter außenpolitischer Expansionismus. Zwischen der Revolution und seinem Kaiserreich lag<br />

<strong>das</strong> Direktorium als Zwischenstadium. Stalin beendete die avantgardistischen Kulturexperimente und<br />

Diskussionen über Zukunftsentwürfe und industrialisierte Rußland. Zwischen der Oktoberrevolution<br />

und seiner alleinigen Machtausübung ab 1928 lagen die <strong>Neue</strong> Ökonomische Politik und die<br />

Industrialisierungsdebatte. Hitler beerbte die Kulturrevolution der Jahrhundertwende. Im Dritten Reich<br />

wurde die Führerschaft des Übermenschen Wirklichkeit, auch wenn sich viele Vordenker des Dritten<br />

350


Reichs darüber ärgerten, daß Hitler eine kleinbürgerlich-plebejische Mutante des Übermenschen war.<br />

Zwischen der Kulturwende der Jahrhundertwende und der Machtübernahme Hitlers lag <strong>das</strong><br />

parlamentarische Intermezzo der Weimarer Republik.<br />

So wie <strong>das</strong> Direktorium in Frankreich und die <strong>Neue</strong> Ökonomische Politik in Russland war die<br />

Weimarer Republik die Zeit der Aufrüstung eines Diktators und der Vorbereitung der Diktatur. Man<br />

könnte die Auflistung solcher Zwischenzustände verlängern: Auf die 1848er Revolution folgte in<br />

Frankreich nach einem kurzen demokratischen Zwischenspiel die Diktatur von Louis Napoleon III.<br />

Solche Diktaturen sind oft als Konterrevolution bezeichnet worden. Hinter dem Wechsel von<br />

Revolution und Konterrevolution verbirgt sich unzweifelhaft <strong>das</strong> Spannungsverhältnis von Fortschritt<br />

und Tradition.<br />

Leszek Kolakowski beschrieb dieses Problem von Tradition und Fortschritt so:<br />

"Es gibt zwei Umstände, deren wir uns immer gleichzeitig erinnern sollten: Erstens, hätten nicht die<br />

neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revoltiert, würden wir noch in Höhlen<br />

leben; zweitens, würde die Revolte gegen die ererbte Tradition universal, befänden wir uns wieder<br />

in den Höhlen. Eine Gesellschaft in der die Tradition zum Kult wird, verurteilt sich zur Stagnation,<br />

eine Gesellschaft, die von der Revolte gegen die Tradition leben will, zur Vernichtung."<br />

Deutschland wählte in der ersten Hälfte des 20 Jh. die letztere Möglichkeit.<br />

Nationalsozialismus oder Faschismus<br />

Den Aphorismus „Die gefährlichsten Wahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt“ hat uns Georg<br />

Christoph Lichtenberg hinterlassen. Er trifft auf <strong>das</strong> folgende zu.<br />

Die Nationalsozialisten bezeichneten sich selbst als Nationalsozialisten und die Faschisten<br />

bezeichneten sich selbst als Faschisten. Die Nationalsozialisten wurden und werden von<br />

verschiedenen sozialistischen und reformistischen Gruppierungen gern als Faschisten bezeichnet. Die<br />

Frage ist, ob sie in wichtigen Belangen dem italienischen Vorbild genügend nacheiferten, um diese<br />

Bezeichnung sich auch zu verdienen, ob sie sich auch als Faschisten verhielten. Bei aller<br />

Gemeinsamkeit gab es nämlich auch Trennendes zwischen den fasci und den Nationalsozialisten.<br />

Die Fasces, die Rutenbündel der römischen Liktoren symbolisierten die Herrschaft über Leben und<br />

Tod und waren <strong>das</strong> Symbol von Mussolinis Bund. Die deutschen Nationalsozialisten hatten ihr<br />

eigenes Symbol, ein Kreuz mit verbogenen Enden, <strong>das</strong> verschiedene Fraktionen der<br />

Reformbewegung seit der Jahrhundertwende bei der Untermauerung ganz verschiedener völkischer<br />

Aussagen und bei der Verfolgung ganz unterschiedlicher Ziele benutzt hatten, und <strong>das</strong> angeblich aus<br />

der germanischen Runensymbolik entnommen worden war.<br />

Dem Grunde nach hatte der deutsche Nationalsozialismus einige ähnliche gesellschaftliche<br />

Vorstellungen und Ziele, wie der italienische Faschismus. Das betraf die Regierungs- und Staatsform,<br />

die säkularen Ideen des Vitalismus und Idealismus, die Idee der Schaffung eines <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong>,<br />

einer überlegenen neuen Kultur, die physische und künstlerische Vortrefflichkeit, Mut und Kühnheit<br />

sowie die Überwindung von Grenzen ins Werk setzen sollte. 425 Auch die Politik der Schönheit, die bei<br />

jeder passenden Gelegenheit in den Vordergrund gestellte Darstellung des männlichen und<br />

weiblichen nackten Körpers, die Politik als inszenierte Massenveranstaltung und der Kult des Willens<br />

("Schicksal, ich zwinge dich!") waren gemeinsame Schwächen. Gemeinsam war den<br />

Nationalsozialisten und Faschisten der Nitzscheanismus, der dagegen bei der Autoritären Rechten in<br />

Europa (z.B. Spanien, Portugal, Polen, Österreich, Litauen, Ungarn) auf Grund des Vorherrschens von<br />

traditionellen religiösen Vorstellungen dieser Eliten überwiegend abgelehnt wurde. 426<br />

Von der Soziologie und der Parteigeschichte her hatten italienische und deutsche Volksgenossen<br />

Wurzeln, die nicht ganz identisch waren. Hitler war von Anfang an kein bekennender Marxist<br />

gewesen, war in der Münchner Räterepublik als Vertrauensmann eher ein kleines Licht und hatte sich<br />

statt dessen jahrelang in einem lebensreformerisch-völkisch-biologistischen Milieu bewegt, während<br />

425 Stanley Payne: "Geschichte des Faschismus", Propyläen, S. 17<br />

426 s.o. S. 29<br />

351


Mussolini zeitweilig der wichtigste Führer der italienischen Sozialisten gewesen war. Ähnlich verhielt<br />

es sich mit der Anhängerschaft der Parteien: Die Faschisten kamen zu einem weit größeren Anteil aus<br />

der Gewerkschaftsbewegung, als die Nationalsozialisten.<br />

Der Nationalsozialismus hatte seine reflexhaften Wurzeln im deutschen Kammer-, Zünfte-, Gilden-,<br />

Innungs- und Genossenschaftswesen und der mit diesen Organen verbundenen Sichtweisen: Es<br />

herrschte Organisations-, Ausschluß- und Regelungswut.<br />

Der italienische Faschismus entstand in der italienischen Gewerkschafts- und Avantgardebewegung,<br />

also in einem teilweise industriellen und intellektuellen, teilweise soweit es die<br />

Landarbeitergewerkschaften betraf auch in einem ländlichen vorbürgerlichen Umfeld.<br />

Während in Deutschland die abstrakte Kunst unter <strong>das</strong> Verdikt der Nationalsozialisten fiel, waren die<br />

italienischen Futuristen und Dadaisten nicht nur Anhänger, sondern Antreiber der faschistischen<br />

Bewegung. Die 1932 eröffnete Ausstellung Mostra della Rivolutione Fascista zeigte vornehmlich<br />

modernistische und rationalistische Kunst. Mit der sowjetischen Staatskunst stand die italienische<br />

Kunst seit der Biennale 1924 in ständigem Kontakt. Stalin gab Mussolini 1932 Hinweise zur<br />

Anreicherung der faschistischen Liturgie.<br />

Während die NSDAP von Anfang an antisemitisch ausgerichtet war, waren noch 1938 über 10.000<br />

Juden Mitglieder von Mussolinis Bewegung. Der Antikapitalismus war in Italien nicht von jenem<br />

tierischen Ernst begleitet, als in Deutschland.<br />

Der korporatistische Ansatz unterschied sich in Deutschland und Italien kaum. Bereits im Italien der<br />

achtziger Jahre des 19. Jh. hatte Pasquale Turiello die Notwendigkeit eines "organischen Staates"<br />

behauptet, Ruggiero Bonghi forderte korporative Strukturen. Um 1900 verschärfte sich der Kampf<br />

gegen den politischen und wirtschaftlichen Liberalismus. Vorkämpfer des antipositivistischen<br />

Aufstands waren die beiden Anführer der florentinischen Avantgarde Giovanni Papini und Giuseppe<br />

Prezzolini, der Schriftsteller Enrico Corradini und der neoromantische Dichter Gabriele D´Annunzio.<br />

Dieses reformistisch-avantgardistische Quartett predigte nichts als brutale Gewalt, Elitedenken, Krieg<br />

und Blutverspritzen. Am Vorabend des Weltkriegs im Oktober 1913 überschlug sich Papini in der<br />

Zeitschrift "Lacerba" fast vor Blutrunst:<br />

"Die Zukunft...<strong>braucht</strong> Blut auf ihrem Wege. Sie <strong>braucht</strong> <strong>Menschen</strong>opfer, Gemetzel. Krieg im Innern<br />

und nach Außen...Das Blut ist der Wein der starken Völker; <strong>das</strong> Blut ist <strong>das</strong> Öl, welches die Räder<br />

jener riesigen Maschine <strong>braucht</strong>, die aus der Vergangenheit in die Zukunft fliegt."<br />

Auch die Futuristen predigten in ihrem Manifest von 1909 die Liebe zur Gefahr, die angriffslustige<br />

Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Faustschlag, den Krieg als einzige<br />

Hygiene der Welt, die schönen Ideen für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.<br />

"Wir wollen die Museen, die Bibliotheken, und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den<br />

Moralismus, den Feminismus und gegen jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und<br />

Eigennutz beruht". 427<br />

Begleitet von diesen radikalen Tönen entwickelte sich die italienische Sozialdemokratie ähnlich als die<br />

deutsche. Der überwiegende Teil der deutschen Sozialdemokratie blieb dem Marxismus verpflichtet,<br />

ein elitaristischer Teil spaltete sich als USPD ab. Auch in Italien gab es von der Kulturrevolution<br />

beeinflußte Abspaltungen. Der Wert der Gewalt wurde neu gedeutet und der Sozialdarwinismus und<br />

die Elitetheorie fanden Eingang in <strong>das</strong> sozialistische Denken, in Italien wie in Deutschland. Im<br />

Dezember 1914 verließ der Parteiführer und Redakteur Benito Mussolini die gegen den Kriegseintritt<br />

eingestellte Sozialistische Partei und schloß sich den Fascio Revoluzionario an, die den Kriegseintritt<br />

Italiens forderten und förderten. Übertroffen wurden sie darin nur von den noch blutrünstigeren Fasci<br />

Politici Futuristi. Nach dem Weltkrieg, am 23. März 1919 vereinigten sich die beiden genannten Fasci<br />

mit Kämpfern des Weltkriegs, den arditi zu den Fasci Italiani di Combattimento. Unter den 104<br />

Gründungsmitgliedern waren 21 Schriftsteller und Redakteure, aber nur 12 Arbeiter. Damit war<br />

Mussolinis Bund perfekt, seine Entstehung unterscheidet sich von der Entstehung der NSDAP, so wie<br />

sich Mussolinis Herrschaftsausübung von der Hitlers insgesamt unterschied.<br />

427 s.o. S. 87 ff.<br />

352


Die ideologisch gefärbte Auffassung der Kommunisten besagte und besagt, daß Nationalsozialisten<br />

Faschisten seien, weil Nationalsozialismus nichts mit Sozialismus zu tun hätte. Der Sozialismus-<br />

Begriff werde durch den Nationalsozialismus-Begriff beschmutzt.<br />

Natürlich hat der Nationalsozialismus mit dem elitaristischen Stalinismus und dem Faschismus<br />

Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gemeinsam ist <strong>das</strong> wesentliche: die Ablehnung von Demokratie<br />

und Marktwirtschaft. Unterschiedlich sind die sozialen Wurzeln. Der Nationalsozialismus bediente<br />

vorrangig vorbürgerliche Gesellschaftsschichten mit vorbürgerlichen Ideen, während der Stalinismus<br />

ehemalige Kronbauern und Leibeigene mit vorbürgerlichen Ideen bediente. Der Faschismus<br />

schließlich schaffte es zwei Jahrzehnte lang, vorbürgerliche Gesellschaftsschichten, die Avantgarde<br />

und die Industriearbeiterschaft mit vorbürgerlichen Ideen zu bedienen.<br />

Der Marxismus schöpfte aus sehr unterschiedlichen Quellen: neben dem klaren und rationalen Quell<br />

der bürgerlichen politischen Ökonomie wurde der Marxismus aus den trüben Wassern vorbürgerlicher<br />

sozialromantischer Utopien und dem Schlamm spekulativer Denkfiguren der Hegelei gespeist und<br />

zusammengerührt. Selbst der zweite Hohepriester am Altar des marxistischen Sozialismus, Friedrich<br />

Engels war sich über den Schwachsinn der Hegel´schen Denkfigur "Negation der Negation" beim<br />

Suchen nach Zukunftsentwürfen bewußt.<br />

Der Nationalsozialismus hat von der gesellschaftlichen Perspektive her (vorwärts oder rückwärts)<br />

mehr mit dem elitaristischen Sozialismus zu tun, als mit der Demokratie. Aber er hat einen speziellen<br />

Charakter, der mit dem Begriff und der Tradition des elitaristischen Sozialismus nicht einfach<br />

abgedeckt werden kann. Die verbogene Sonne des deutschen Nationalsozialismus deckt weder den<br />

roten Mond des "realen" Sozialismus noch den braunen des italienischen Faschismus so perfekt ab,<br />

daß eine totale Finsternis entsteht. Der Unterschied zum Faschismus definiert sich von der Tradition<br />

her, eine Differenz gibt es auch unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus, der in Italien wenn<br />

überhaupt nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Auch die Rolle des Germanentums wurde sehr<br />

unterschiedlich interpretiert. Mussolini siedelte massenhaft Süditaliener ins germanische Südtirol um.<br />

Als Hitler im Frühjahr 1934 Italien besuchte, hielt er Mussolini belehrende Vorträge darüber, daß alle<br />

mediterranen Völker mit Negerblut belastet seien. Nach dem Röhm-Putsch vom Juni 1934 verschaffte<br />

sich Mussolini Genugtuung, indem er die NS-Bewegung als eine Bewegung von Päderasten<br />

verspottete. Im Juli 1935 erklärte die faschistische "Gerarchia", daß die Unterschiede zwischen<br />

Faschismus und Nationalsozialismus tiefgreifend und unzweideutig seien. 428<br />

Wenn man alle Gesichtspunkte zusammenstellt, so ergibt sich der Schluß, daß man Begriffe<br />

vermanscht, wenn man Faschismus und Nationalsozialismus einfach gleichsetzt. Italia und Germania<br />

waren sich in wirtschaftsgeschichtlichen Details des Traditionalismus und Korporatismus und in der<br />

durch Traditionalismus und Korporatismus begünstigten Kulturkrise sehr nahe; sie waren gemeinsam<br />

dem Wahn von Schönheit, Vortrefflichkeit und Vollkommenheit verfallen, aber sie haben auch eine<br />

beschreibbare Distanz zueinander. Den nur auf die Kultur schielenden Redakteuren erschließt sich<br />

der Unterschied auch in der bildenden Kunst: Was bei Hitler als entartete Kunst verschrien war, genoß<br />

bei Mussolini höchste und offizielle Anerkennung. Die Dadaisten, die in Deutschland als entartet<br />

gebrandmarkt wurden, standen in Italien neben den Futuristen als Heizer auf der faschistischen<br />

Lokomotive, der führende Dadaist Julius Evola entwickelte sich vom Dadaisten zum radikalen<br />

Elitetheoretiker, der Mussolini wegen seiner bürokratischen Lenkungsmethoden und wegen seines<br />

Pseudoegalitarismus kritisierte und schließlich im Nachkriegsitalien zum intellektuellen Führer der<br />

Neofaschisten wurde. 429<br />

In Italien waren die Futuristen die radikalsten Faschisten, in Deutschland belieferten sie <strong>das</strong> Bauhaus,<br />

den Dadismus und den Bolschewismus mit Kadern.<br />

Wenn man den Nationalsozialismus als Faschismus bezeichnet, ebnet man den wichtigsten<br />

Unterschied ein, der den antisemitischen Nationalsozialismus vom berufsständischen Faschismus<br />

trennt. Berufsständische Vorstellungen und Gesellschaftsmodelle waren in vielen Ländern Europas<br />

und in vielen Parteien dieser Länder salonfähig oder wurden offen praktiziert. Sozialdemokraten<br />

hatten gewerkschaftlich geprägte Vorstellungen, die Demokraten faselten von der Volksgemeinschaft<br />

und verschafften den Freiberuflern Privilegien, die Bauern erhielten Osthilfe und zahlreiche andere<br />

Hilfen für die sogenannte "notleidende Landwirtschaft", die Industrie war straff in Kartellen organisiert,<br />

428 Stanley Payne: "Geschichte des Faschismus", Propyläen, S. 285 ff.<br />

429 s.o. S. 615 ff.<br />

353


ganz Deutschland war von machthungrigen berufsständisch geprägten Organisationen beherrscht,<br />

was die Vorbereitung auf den Faschismus, auf ein bündisches Gesellschaftsmodell war. Wenn die<br />

NSDAP nur faschistisch geprägt gewesen wäre, wäre eine berufsständisch aufgebaute Diktatur wie in<br />

Italien, Österreich oder Ungarn entstanden. Der einzige Unterschied oder <strong>das</strong> Spezifische, der<br />

Antisemitismus und Rassismus, ist <strong>das</strong> was über den Faschismus hinausreicht, es ist <strong>das</strong> Besondere<br />

der NSDAP gegenüber Mussolinis Bund oder dem Horthy-System in Ungarn. Dieses Besondere<br />

würde eingeebnet, wenn man die NSDAP als faschistisch bezeichnen würde. Stalin prägte und<br />

bevorzugte den Begriff des Faschismus, weil er den Antisemitismus von Fall zu Fall selbst als<br />

politische Waffe benutzte, zum Beispiel anläßlich der Kampagne gegen den Kosmopolitismus. Stalins<br />

jüdische Ärzte überlebten die Kampagne nur, weil der Diktator plötzlich, zufällig und unerwartet<br />

verstarb. Wer den Begriff des Faschismus benutzt, ist entweder Stalinist und Antisemit, oder er geht<br />

Stalinisten und Antisemiten auf den Leim. Faschismus ist Nationalsozialismus light, auf Deutschland<br />

angewandt dient der Begriff objektiv der Verhübschung der Judenverfolgung.<br />

Lichterketten oder Werte?<br />

Der Nationalsozalismus siegte, nachdem wirtschaftlicher Traditionalismus und kultureller Rückschritt<br />

endlich den Zugang zu den Köpfen und Herzen der Volksmassen gefunden hatten. Einerseits<br />

Mittelaltersehnsucht, Versteinerung und Immobilismus, was <strong>das</strong> Wirtschaftssystem betraf,<br />

andererseits Umwertung aller Werte auf dem Gebiet der Moral und Kultur, so <strong>das</strong>s Deutschland auf<br />

<strong>das</strong> Niveau der vorchristlichen kulturellen Barberei zurückfiel. Die Wirtschaft wurde in die Pferche der<br />

Zunftverfassung gesperrt, während auf dem Gebiet der Moral von christlich tradierter Nächstenliebe,<br />

von Mitleid, und Friedenssehnsucht Abstand genommen wurde, die unterste Schublade aufgezogen<br />

und der vertrocknete Unrat, welcher fast 2000 Jahre unter dem europäischen Teppich gelegen hatte,<br />

nach oben gekehrt wurde. Der größte Teil Europas wurde nach der expressionistischen<br />

Kulturrevolution in die Zeit von blutigen Gladiatorenkämpfen, brutaler Sklavenhalterei, rasenden<br />

Volkstribunen, bedenkenlosem Völkermord, heidnischen Christenverfolgungen und primitiven Orakeln<br />

zurückversetzt.<br />

Die Annahme des Christentums in der späten Römerzeit war ein gesellschaftlicher Fortschritt, und<br />

kein Rückschritt, wie von Friedrich Nietzsche und seinen Jüngern behauptet. Das Ende der römischgriechischen<br />

Antike und der asiatischen Barberei öffnete den klippenreichen und dornigen<br />

historischen Weg in ein verhältnismäßig humanes und wohlhabendes Europa und Amerika, <strong>das</strong><br />

seinen Bürgern immer mehr Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten eröffnete.<br />

Der Abschied von der fast zweitausendjährigen christlichen Tradition führte dagegen in Kriege,<br />

Ordensburgen, Genickschussanlagen, Konzentrationslager, Euthanasie, Gulags, Schützengräben,<br />

Krematorien, Parteischulen, Massengräber und andere „Segnungen“ des Sozialismus. Zu den<br />

Gründen für den Sieg des Nationalsozialismus gehörten wie wir gesehen haben nicht nur Not,<br />

Nationalismus und der Führerglaube, sondern auch die der Zunftverfassung nachgebaute<br />

Wirtschaftsordnung der Industrie, die damit verbundene Macht der Verbände über <strong>das</strong> Individuum, die<br />

Suche nach dem schönen, gesunden <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> einschließlich der mit dem Körperkult<br />

verbundenen eugenischen und rassischen Konzepten, die Überzeugung vom Recht des Stärkeren,<br />

die Umwertung der christlichen Werte der Menschlichkeit, Irrationalismus, Esoterik und Okkultismus<br />

sowie der Ersatz der Weltkirche und der Welt- und Völkergemeinschaft durch lokale germanische<br />

Naturidole.<br />

Franz Sassen malte 1925 "Das jüngste Gericht". Blonde Germanen kommen in den arischen Himmel,<br />

Leute mit braunen Haaren stürzen in die Hölle. In der Bibel dagegen wurde die ganze Menscheit an<br />

einem Tage geschaffen, nicht der Jude am fünften und der Germane am sechsten Tag. Aus dem<br />

christlichen Bau wurden Begriffe und Gleichnisse wie Steine herausgebrochen, um daraus archaische<br />

Götzentempel des Heidentums zu errichten.<br />

Die Gegensätze zum christlichen <strong>Menschen</strong>bild wurden gerade in Deutschland die undifferenzierten<br />

Überzeugungen „der Arier ist überlegen“ bzw. "der Mensch ist gut", die ihre Gläubigen in <strong>das</strong> Reich<br />

der moralischen Gedanken- und Sorgenlosigkeit führten. Bertold Brechts: "Ich wäre ja so gerne gut,<br />

doch die Verhältnisse, sie sind nicht so" ergänzte die beiden obigen Bekenntnisse und verlieh jeder<br />

unerwünschten moralischen Fehlentwicklung ihre vulgärmaterialistische Begründung, vermehrte die<br />

Zahl der Ausreden und stellte <strong>das</strong> notwendige Wohlverhalten des Einzelnen und gesellschaftlicher<br />

Gruppen unter den Vorbehalt eines Anspruchs auf Güter und Leistungen. Wie kleine Kinder<br />

versuchen, ihr Wohlverhalten an abgetrotzte Bedingungen zu knüpfen, so taten es ganze<br />

354


gesellschaftliche Gruppen. Die materiellen Verhältnisse waren in Deutschland objektiv nicht so<br />

schlecht, <strong>das</strong>s die deutschen Arbeitslosen die Juden ermorden mussten; es waren in der Folge keine<br />

hungernden Analphabeten, sondern satte und verbildete Wohlstandskinder, die die Gashähne<br />

aufdrehten und die Befehle dazu gaben. Der Judenmord wurde nicht von darbenden Arbeitslosen,<br />

sondern von überbeschäftigten Intellektuellen beschlossen, und <strong>das</strong> zu einem Zeitpunkt der absoluten<br />

Vollbeschäftigung in Deutschland. Die Juden wurden definitiv nicht aus einer materialistischen Not<br />

heraus, sondern aus einer reformistischen Überzeugung vernichtet.<br />

Wo stehen wir heute, wenn wir in den Spiegel der Kaiserzeit und Weimarer Zeit blicken? Einige<br />

Wendungen der Berliner Republik lassen Parallelen zum Kaiserreich und zu Weimar erkennen, so<br />

daß sich schon die Frage der Wiederholbarkeit politischer Fehlentwicklungen stellt. Die stilistische<br />

Behandlung des Irak-Krieges durch die Bundesregierung im Jahre 2003 erinnert an die Bülow-Affäre<br />

1908. Es irritierte und es irritiert der nationalpazifistische Wahrheitsanspruch, der von Schröder in<br />

einer sehr dümmlichen Formulierung als Deutscher Weg bezeichnet wurde. Wie unter Wilhelm II und<br />

den Weimarer Reichskanzlern steht der durch die deutsche Außenpolitik verkörperte weltpolitische<br />

Wahrheitsanspruch in einem krassen Mißverhältnis zu den verfügbaren wirtschaftlichen, intellektuellen<br />

und militärischen Ressourcen Deutschlands.<br />

Auf dem Gebiet der Wirtschaft ist Deutschland von Weimarer Verhältnissen keine Lichtjahre entfernt.<br />

Gesetzliche Regelungen haben marktwirtschaftliche Mechanismen weitgehend aus dem<br />

Wirtschaftsleben verdrängt. Insbesondere der wichtigste Markt, der Arbeitsmarkt funktioniert seit<br />

Jahrzehnten nicht mehr, und unfähige Apparatschiks begründen <strong>das</strong> mit zu geringem Wachstum und<br />

mit der Wirtschaftskrise, statt die Gründe im Kündigungsschutz zu suchen. Fast alle Freiberufler<br />

arbeiten nach staatlichen Gebührenordnungen, egal ob es sich um Ärzte, Rechtsanwälte oder<br />

Rauchfangkehrer handelt. Im Verkehrswesen funktioniert der Wettbewerb genauso unzureichend, wie<br />

bei der Müllabfuhr, in der Landwirtschaft oder bei der Energieversorgung. Die Industrie, der Handel<br />

und <strong>das</strong> Handwerk sind marktwirtschaftliche Inseln in einem bürokratischen Meer. Mittlerweile ist der<br />

überwiegende Teil der Bevölkerung in Sektoren beschäftigt, welche nicht marktwirtschaftlich sondern<br />

kameralistisch oder in den Kategorien von Gebührenordnungen und Subventionen denken; der Anteil<br />

des Staates am BSP ist entsprechend auf 56 % angewachsen, der planwirtschaftliche Sektor ist noch<br />

größer, da ihm die geregelten Wirtschaftsbereiche wie Landwirtschaft und Freiberufler hinzugerechnet<br />

werden müssen.<br />

Fraglich ist es, wie lange gerade speziell in Deutschland eine überwiegend nichtmarktwirtschaftliche<br />

Ordnung mit demokratischen Spielregeln funktioniert. Eine vorsichtige Politik muß dem Wettbewerb<br />

mehr Raum geben, um die demokratischen Fundamente im Falle des Zweifels zu stärken. Hinsichtlich<br />

der demokratischen Fundamente der Berliner Republik ist ein Schutz dieser Fundamente erforderlich.<br />

Es ist gerade in Deutschland tradiert, <strong>das</strong> Klima, die Natur, Tiere und Denkmäler zu schutzen und die<br />

Gesellschaft, die Wirtschaft und den Staat verwahrlosen zu lassen. Wer heute 90 Jahre alt ist und im<br />

Osten gelebt hat, der hat in 6 politischen Systemen gelebt und nacheinander in 5 Währungen bezahlt.<br />

Deutschland ist zusammen mit einigen wenigen Bananenrepubliken und afrikanischen Krisengebieten<br />

Weltmeister in politischer und wirtschaftlicher Diskontinuität.<br />

Das Spätkaiserreich und die Weimarer Republik lehren, <strong>das</strong>s eine völlig freie und verantwortungslose<br />

Kultur die Grundlagen des Friedens, der Demokratie und der <strong>Menschen</strong>würde systematisch<br />

untergräbt. Auch der Schriftsteller, der Maler und der Dichter müssen jene Grenzen respektieren,<br />

welche durch die 10 Gebote umrissen sind. Der Aufruf zu Mord, Neid, Haß, Gewalt, Krieg, Egomanie<br />

und Gotteslästerung ist kein Fundament für den Aufbau oder den Erhalt einer zivilen Gesellschaft.<br />

Was sollen in einer Mozart-Oper zum Beispiel abgeschnitten Köpfe?<br />

Auch in der modernen Bundesrepublik sind Kultur und Medien wie im Kaiserreich und in Weimar ein<br />

Tummelplatz von Antidemokraten und Haßpredigern. Nicht deswegen, weil die Ikonen des<br />

Antifaschismus, der Scheibenwischer und der Blechtrommler als Kinder in der NSDAP oder in der<br />

Waffen-SS waren, sondern weil an die äußerst fragwürdigen Traditionen des Kaiserreichs und der<br />

Weimarer Zeit offen und unverhohlen angeknüpft wird. Kaum ein kritisches Wort mehr über <strong>das</strong> elitäre<br />

Bauhaus, die expressionistischen Kriegsfreiwilligen, die pazifistischen Wendehälse der Weimarer<br />

Republik, die stalinistischen Wasserträger des epischen Theaters, die Antidemokraten der Weltbühne<br />

und die Rauschgiftpropagandisten Hesse und Becher.<br />

Zunehmende Gewaltdarstellung in den Medien, der Islam mit seiner der abendländischen Tradition<br />

diametral entgegenstehenden Haltung zur Gewalt, abartige Computerspiele, zunehmender<br />

Rauschgiftkonsum und antidemokratische Internetseiten sind kulturelle Herausforderungen der<br />

355


Neuzeit, die denen der expressionistischen und nietzschanischen Kulturrevolution in nichts<br />

nachstehen. Bei der angemessenen Replik darauf steht Deutschland ganz am Anfang. Wenn die<br />

Moral ungebremst zu Tale fährt, sollte man Deutschland rechtzeitig den Rücken kehren und <strong>das</strong> Geld<br />

vorher in die Schweiz transferieren.<br />

Das Kaiserreich und die Weimarer Republik führen vor Augen, <strong>das</strong>s Bildung und Kultur nicht<br />

automatisch Werkzeuge der politischen Aufklärung und nicht unbedingt Motoren der gesellschaftlichen<br />

Deeskalation sind. Die Parole „bunte Vielfalt gegen braune Einfalt“ funktioniert schon deshalb nicht,<br />

sie ist geradezu unhistorisch, weil die nationalsozialistische Ideologie aus einer bunten Vielfalt<br />

hervorgegangen ist. Ein gesundes Misstrauen in die gesellschaftliche Heilwirkung der Kultur ist gerade<br />

deshalb erforderlich, da der Nationalsozialismus seine Kraft aus einer Kulturrevolution erlangte.<br />

Die Schnittstelle, welche sich die deutschen Idealisten zwischen der ökonomischen und kulturellen<br />

Welt zusammengebastelt haben, ist der Vulgärmaterialismus, jene Versimplifizierung der<br />

marxistischen Theorie, welche die Welt mit der Lohnquote erklären will.<br />

Lohnpolitische Durststrecken wie der erste Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise sowie der<br />

metaphysische Begriff des Nationalismus werden landläufig in der Ursachenbetrachtung für den<br />

Aufstieg Hitlers eher überbewertet, langfristige wirkende Ursachen wie die kriegswirtschaftlichen<br />

Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen und die dadurch gestützte spätromantische Ideologie werden<br />

als Ursachen eher mit zu wenig Gewicht angesetzt.<br />

Der Kampf gegen den Nationalsozialismus wird in Deutschland nicht mit der Vertiefung der<br />

Marktwirtschaft geführt, auch nicht mit einer Ächtung kultureller Fehlentwicklungen, sondern typisch<br />

deutsch mit Lichterketten, Theaterprojekten, Malnachmittagen, esoterischem Trommeln,<br />

Jugendcirkus, Fanprojekten und Gegendemonstrationen. Der "Antifaschismus" zieht sich in<br />

altdeutscher Tradition in den wolkigen Raum der idealistischen Ideologie zurück und bereitet die<br />

planwirtschaftliche Basis für die Übernahme durch die Nationalsozialisten vor.<br />

Die Betrachtung der Folgen des Nationalsozialismus wird der Betrachtung seiner Entstehung<br />

wissentlich und überlegt, als auch unwissentlich und gefühlsmäßig in den Weg gestellt. Wir müssen<br />

uns, um in den Kategorien der idealistischen Philosophie zu sprechen mehr mit dem „Wesen“ des<br />

Nationalsozialismus befassen, als mit seinen „Erscheinungsformen“. Der Blick auf die Orte des<br />

Verbrechens darf nicht den Blick auf die Entstehung des Nationalsozialismus verstellen; Auschwitz<br />

darf nicht die Blickachse auf Schwabing, Wien, Worpswede und Weimar verbauen. Die Beschäftigung<br />

mit der Zeit vor 1933 ist wesentlich aufschlußreicher, als <strong>das</strong> Studium der Zeit zwischen 1933 und<br />

1945. 1933 hatte sich <strong>das</strong> deutsche Volk die Karten gelegt, von innen heraus war eine Umkehr nicht<br />

mehr möglich. Wenn man Strategien zur Vermeidung nationalsozialistischer Tendenzen entwickeln<br />

will, sind deshalb die Beschäftigung mit der Wanseekonferenz, mit den Verbrennungsöfen und<br />

Gaskammern oder mit dem Reichstagsbrandprozess vollkommen verlorene Zeit. Das Studium der<br />

Kartellierung und Planwirtschaft in der deutschen Wirtschaft, der elitaristischen Kulturrevolution und<br />

des neudeutschen Reformismus mit seinen lebensreformerischen Kapriolen sind dagegen der Mühe<br />

wert.<br />

Wir sind nun am Ende des Ausflugs in die deutsche Kulturgeschichte 1890 bis 1933 angelangt. Wenn<br />

man mit Hans Mommsens „Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar“ vergleicht, so könnte<br />

man denken, es würde über zwei verschiedene Kontiniente in unterschiedlichen Erdzeitaltern<br />

berichtet. Dieser Eindruck entsteht durch eine völlig unterschiedliche Interpretation derselben<br />

stattgefundenen Ereignisse. Hans Mommsen hat die vulgärmaterialistische Verelendungs- und<br />

Verschwörungstheorie zu ihrem Abschluß gebracht, seine Bösewichter sind alte kaiserliche Richter,<br />

Generäle, Politiker und Beamte, so <strong>das</strong>s sein Ende der Republik von einem Hauch kaiserlichen Déjavu´s<br />

begleitet wird. Sein Resumee von Weimar erfolgt aus dem Blickwinkel der Jugendbewegung, die<br />

den bösen alten Kräften die Schuld am Untergang zuweisen möchte.<br />

In diesem Aufsatz wird der 100jährige Kampf demokratischer und elitaristischer Konzepte, sowie der<br />

Niedergang liberaler Wirtschaftsformen beschrieben, der 1933 den Sieg der in der Jugendbewegung<br />

großgewordener korporatistisch eingestellter Antidemokraten über die in Bratenröcke und Stehkrägen<br />

gewandeten demokratischen Methusalems der Weimarer Republik verursachte und begünstigte.<br />

Nun ist der Leser an der Reihe zu entscheiden, welche Interpretation logischer ist, sich mit den Fakten<br />

in besserer Übereinstimmung findet, mehr historische Rätsel löst und den Weg in die Zukunft leiten<br />

kann.<br />

356


Quellen:<br />

Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler, Knaur, München 1987<br />

Hans Mommsen: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar, Propyläen, München 2001<br />

Joachim Fest: Hitler, eine Biographie, Ullstein 2003<br />

Bismarck: Gedanken und Erinnerungen, J.G. Cottaische Buchhandlung Nachf., Stuttgart 1919<br />

Achim Preiss: Abschied von der Kunst des 20.Jahrhunderts, VDG 1999<br />

Eric J. Hobsbawm: Das imperiale Zeitalter 1875 – 1914 Fischer Taschenbuch Verlag Ffm 2004<br />

Sergiusz Michalski: <strong>Neue</strong> Sachlichkeit, Taschen, Köln, 2003<br />

Aufstieg und Fall der Moderne, Hatje Cantz Verlag 1999<br />

Cathrin Klingsöhr-Leroy: Surrealismus, Taschen, Köln<br />

Norbert Wolf: Expressionismus, Taschen, Köln<br />

Magdalena Droste: Bauhaus, Taschen, Köln<br />

Peter Gay, Die Republik der Außenseiter, Fischer, Ffm.<br />

Hans Feske, Deutsche Parteiengeschichte, Schöningh, Paderborn 1994<br />

August Bebel: Die Frau und der Sozialismus, JHW Dietz Nachf. Berlin, 55. Aufl. 1946<br />

Heinrich Mann: Der Untertan, Reclam, Leipzig 1978<br />

Hermann Oncken. Das Deutsche Reich und die Vorgeschichte des Weltkriegs, Zweiter Band, Joh. Ambrosius<br />

Barth 1933<br />

Max Weber: Religionssoziologie I.<br />

Friedrich Naumann: Die Kunst im Zeitalter der Maschine, Buchverlag der Hilfe, Berlin 1908<br />

Manfred Nussbaum: Wirtschaft und Staat in Deutschland während der Zeit der Weimarer Republik, Akademie-<br />

Verlag, Berlin 1978<br />

Stanley Payne: Geschichte des Faschismus, Propyläen 2001<br />

Walter Rathenau: Deutschlands Rohstoffversorgung, Berlin 1916<br />

Ernst Jünger: Feuer und Blut, Berlin 1929<br />

Hans Mottek, Walter Becker, Alfred Schröter: Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Ein Grundriß, Band III, 3.<br />

Auflage, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1977<br />

Josef Kulischer: Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Rütten & Loening, Berlin<br />

1954<br />

Heinrich Wolf: Angewandte Geschichte, Theodor Welcher, Leipzig 1919<br />

Hans Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914-1949 C.H. Beck, München 2003<br />

Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, Die Deutschen und der Osten 1900-1945, C.H.Beck 2005<br />

Bengt Algot Sörensen: Geschichte der deutschen Literatur 2, Verlag C.H. Beck, 1997<br />

Prosper Lissagaray: Geschichte der Kommune von 1871, Rütten & Loening, Berlin 1956<br />

Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, Marx Engels Werke Bd. 17, Dietz Verlag Berlin, 1976<br />

Karl Marx Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3 Dietz Verlag Berlin<br />

Karl Marx: Das Kapital, MEW Dietz Verlag Berlin<br />

357


W. I. Lenin: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Verlag<br />

für fremdsprachige Literatur, Moskau 1947, Band 2, S. 411 ff.<br />

Rosa Luxemburg. Reden. Reclam. 1976<br />

Friedrich Nietzsche: Nachlaß. Fragmente Dez. 1888-Anfang Jan. 1889<br />

Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen.<br />

Friedrich List: Das nationale System der politischen Ökonomie, Verlag von Reimar Hobbing, Berlin, 1930<br />

Klaus Theweleit: Männerphantasien, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1995<br />

J. W. v. Goethe, Italienische Reise, dtv, 1988<br />

Kunst der Weimarer Republik. Meisterwerke der Nationalgalerie Berlin. Ausstellungskatalog 2004, DuMont<br />

!AVANT!GARDEN in Mitteleuropa 1910 bis 1930, Ausstellungskatalog E. A. Seemann Leipzig, 2002<br />

Martin Cüppers: Das politische Konzept Oswald Spenglers. Untersuchung am Beispiel seiner Schriften<br />

"Preußentum und Sozialismus" (1919) und "Jahre der Entscheidung" aus<br />

www.hausarbeiten.de/archiv/geschichte/<br />

Zeittafel der Weimarer Republik aus www.buehler-hd.de/gnet/abbl/weimar<br />

Weitere Zeittafel aus www.weltchronik.de<br />

Weitere Zeittafel, die Regierungen des deutschen Reichs und Reichstagswahlen aus www.gonschior.de/weimar<br />

Zum russisch-polnischen Krieg 1920/21: www.regis-net.de/krieg/ruspol20.html und www.iyp.org/pilsudski/<br />

www.hdg.de/lemo/html und www.dhm.de/lemo/ mit verschiedenen Biographien, Partei- und Ereignisdarstellungen<br />

sowie Dokumenten und Reden<br />

Brief Hitlers an Adolf Gemlich in popkultur.freewebsites.com/-brief-hitler.html<br />

Wahlplakate aus www.st-franziskus.kaiserslautern.de<br />

"10 Jahre Sowjetmacht und die internationale Arbeiterklasse" sowie "Entfaltet <strong>das</strong> rote Banner des Weltoktobers!"<br />

aus www.thaelmann-gedenkstaette.de<br />

"Schmiedet die rote Einheitsfront" sowie "Die Lehren des Hamburger Aufstands" aus www.mlwerke.de<br />

Zum Bauhaus: www.bauhaus.de und www.uni-weimar.de<br />

Antisemitismus, judenfeindliche Postkarten: www.badische-heimat.de/museen/kpm<br />

Kathrin Wanke: Kultur in der Weimarer Republik aus www.hausarbeiten.de/archiv/geschichte/<br />

Jugendstil: www.kunstwissen.de sowie www.weissenhofsiedlung.de oder www.aeiou.at<br />

www.koopiwold.de und www.bernd-rothe.de<br />

Reformbewegungen zum Beispiel aus www.100-jahre-wandervogel/wandervogel-bfj.de oder<br />

aus www.unbenannt2.net/leben/ oder aus www.free.de/data/dada oder www.ruedigersuenner.de<br />

Norbert Knopp: Picasso, „Pere Ubu-Kub“ in www.architekturmuseum.de/festschrift-schmoll/pdf/Knopp.pdf<br />

Stürmischer Aufbruch in Kneipp-Sandalen: www.aerztezeitung.de/docs/2001/12/17/228a1801asp<br />

Wahrheit auf Bewährung: www.limmatverlag.ch/gesch/monteverita/monteverita.htm<br />

Nietzsche: www.virtusens.de/walther/<br />

Max Weber: www.home.t-online.de/home/Winfried.Krauss/<br />

Per aspera ad astra: www.nzz.ch/2002/01/11/fe/page-article7W2FU.html<br />

358


Reinhard Feld, Subkultur, Lebensreform und Jugendbewegung in Deutschland von 1890 bis zum Faschismus,<br />

mehrwert Nr. 19, S 11-42<br />

Pro-eugenische "pressure-groups" in der Weimarer Sozialdemokratie: www.uni/janicke.net/pressure html<br />

Gesetze und Verordnungen: www.documentarchiv.de/wr/<br />

Programm der NSDAP zitiert in Buchners Kolleg Geschichte, Von der französischen Revolution bis zum<br />

Nationalsozialismus<br />

Werner Sombart, The Jews and Modern Capitalism, Selections by Peter Myers,<br />

//users.cyberone.com.au/myers/sombart.html<br />

Julius Posener: Werkbund und Jugendstil, www.werkbundarchiv-berlin.de/wbjugendstil.html<br />

Vernehmung des Sachverständigen Schumpeter zur Kartellpolitik, www.schumpeter.info/Edition-Kartell%20.htm<br />

Joseph. A. Schumpeter: Individualismus und gebundene Wirtschaft www.schumpeter.info/text1~1.htm<br />

Martin Höpner: Sozialdemokratie, Gewerkschaften und organisierter Kapitalismus, 1880 bis 2002, Max-Planck-<br />

Institut für Gesellschaftsforschung Discussion paper 04/10<br />

Udo Leuschner: Friedrich Naumanns "nationalsoziale" Neubelebung des Liberalismus, in<br />

www.t-online.de/liberalismus/liberalismus3.htm<br />

Udo Leuschner: "Nervosität und Kultur", Willy Hellpachs Sozialpsychologie in<br />

t-online.de/psychologie/hellpach1.htm<br />

Paul Ludwig Troost: www.residence.aec.at/rax/KUN_POL/UND/BIOS/troost.html und www.archinform.de<br />

Friedrich Naumann: www.dhm.de/lemo/html/biografien/NaumannFriedrich<br />

Hjalmar Schacht: www.dhm.de/lemo/html/biografien/SchachtHjalmar/index.html<br />

Udo Leuschner: "Von 19 auf 1 Prozent" in t-online.de/liberalismus.ddp.htm<br />

Hitlers Bankier - Hjalmar Schacht in www.phi-presse.de/Buchclub/Angebote/xc2/x-schacht.htm<br />

Herbert Schwenk: "Ein Baum, der mehr Blüten als Früchte trägt..." in www.luiseberlin.de/bms/bmstxt00/0006porb.htm<br />

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In www.isl.uni-karlsruhe.de/module/charta_von_athen/charta_von_athen.html<br />

Des "listigen Guidos" Erben aus www.helsing.virtualave.net/Armanen.htm<br />

Volkmar Weiss, die Vorgeschichte des arischen Ahnenpasses, Teil III Die Machtergreifung der Viehzüchter in<br />

www.volkmar-weiss.de/publ7-pass3.html<br />

Materialdienst der EKD: "Batuala" - Vorbild für Steiners umstrittene "Neger-Zitate"<br />

Peter von Rüden: Mensch und Erde. Ludwig Klages Grußwort an den Freideutschen Jugendtag 1913 in<br />

www.oekozentrum.org/home/peter_von_rueden/texte/klages.htm<br />

Ursula Pellaton: Tanz auf dem Monte Verità, Seminar, in www.tanzding.ch/tanzding/td51/lead.htm<br />

Bernd Lukasch: Der andere Lilienthal, <strong>das</strong> vielseitige Leben des Gustav Lilienthal (1849-1933), Veröffentlichung<br />

des Otto-Lilienthal-Museums, Anklam<br />

Ernst Haeckel, Naturwissenschaftler, Philosoph und Künstler (1834-1919) in www.bnvbamberg.de/home/ba2282/main/faecher/biologie/Haeckel.htm<br />

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Walter Laqueur: Weimar – The left-wing intellectuals, in www.society of control.com<br />

359


Walter Laqueur: Weimar – Thunder from the right, in www.society of control.com<br />

Joß Fritz: Abgesang auf ein politisches Chamäleon. Lotta Nr. 15, Winter 2004<br />

Elmar Waibl: Wirtschaftsphilosophie der <strong>Romantik</strong> in<br />

info.uibk.ac.at/c/c6/c602/<strong>Romantik</strong>undJugendbewegung.html<br />

Ralf Pröwe: Frühe Turnbewegung und Staatsform. Proseminar "Vom Untertan zum Staatsbürger, Staat und<br />

Gesellschaft in der Sattelzeit (1750-1850)", Humboldt-Universität zu Berlin<br />

Maria Deppermann: Experiment der Freiheit, Russische Moderne im Europäischen Vergleich in: wwwgewi.kfunigraz.ac.at/moderne/heft7f.htm<br />

Peter Hacks: In vollem Wichs. www.cityinfonetz.de/homepages/hammerschmitt/low_burschen.html<br />

Hermann Remmele: der Sozialfaschismus in www.marxistische-bibliothek.de/kpd2.html<br />

Erich Wollenberg: Der Hamburger Aufstand und die Thälmann-Legende in www. archivtiger.de, Schwarze<br />

Protokolle Nr. 6<br />

Horst Groschopp: Otto Rühle, Zum Arbeiterbild in der ultralinken deutschen Arbeiterbewegung der zwanziger<br />

Jahre. In Arbeiter im 20. Jh. Hg. Klaus Tenfelde, Stuttgart 1990<br />

Gegen den Strom. Die Spaltung der KPD und die Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands<br />

(Opposition) in www. roteswinterhude.de/kpdo.htm<br />

Gruppe Magma: Die KPD und der Antisemitismus in www.rote-ruhruni.org/texte/gruppe_magma_kpd_und_antisemitismus.shtml<br />

Richard Wagner: Autobiographische Skizze aus der "Zeitung für die elegante Welt", 1.und 8. Februar 1843 in<br />

www.home.arcor.de/rww2002/rww2002/zeittafel/autobio.htm<br />

Richard Wagner: Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Bühnenfestspiels "Der Ring des Nibelungen" in<br />

www.physkip.uni.stuttgart.de/phy11733/waner/festspiele.html<br />

Richard Wagner: Oper und Drama, Einleitung, in www.physkip.uni.stuttgart.de/phy11733/wagner/oper1.html<br />

360


Anhang: Zeittafel des Reformismus und Elitarismus<br />

1814 Jahn Turnrath, Burschenschaften<br />

1817 Jahn Bücherverbrennung auf der Wartburg<br />

1840 Stirner Konzeption des "Einzigen"<br />

1849 Wagner "Oper und Drama"<br />

1860 Darwin "Die Entstehung der Arten"<br />

1865 Morris Ornamentik<br />

1867 Marx "Das Kapital", 1. Band<br />

1868 Bekanntschaft zwischen Nietzsche und Wagner<br />

1873 Bismarck "Kulturkampf"<br />

1878 Bebel "Die Frau und der Sozialismus"<br />

1879 Marr Antisemitismus<br />

1880 Blavatsky Okkultismus<br />

1883 Bourget „Théorie de la Décadence“<br />

1883 Kleinwächter "Die Kartelle"<br />

1884 Friedrichshagener Dichterkreis<br />

1885 Marx "Das Kapital", 2. Band<br />

1885 Nietzsche "Also sprach Zarathustra"<br />

1887 Böckel völkische Bewegung<br />

1887 Avenarius "Kunstwart"<br />

1890 Imperialismus<br />

1890 Schoenlank „Die Kartelle. Beiträge zu einer Morphologie der Unternehmerverbände“<br />

1892 George "kunst für die kunst", "Algabal"<br />

1893 Fidus "Die Erde", "Frühlingsodem"<br />

1893 Munch "Der Schrei"<br />

1894 Fidus "Lichtgebet"<br />

1894 Marx und Engels "Das Kapital", 3. Band<br />

1894 SPD „Trusts, Ringe, Kartelle... ein Schritt zur Verwirklichung des Sozialismus.“<br />

1895 Naumann Nationaler Sozialismus<br />

1895 "Pan"<br />

1896 "Jugend"<br />

1896 1. Olympische Spiele der Neuzeit<br />

1896 Rilke "Der Apostel"<br />

1897 Rudorff Naturschutz, Heimatschutz<br />

1897 Wedekind "Der Tantenmörder"<br />

1899 Chamberlain "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts"<br />

1899 Key "Das Jahrhundert des Kindes"<br />

1899 Bernstein „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdem.“<br />

1899 Haeckel "Die Welträthsel"<br />

1899 Kollwitz "Aufruhr"<br />

1900 Jugendstil bis etwa 1925<br />

1900 Freud "Die Traumdeutung"<br />

1900 Behrens "Feste des Lebens und der Kunst"<br />

1900 Gräser "Monte Veritá"<br />

1900 Erster deutscher Denkmaltag<br />

1900 Heimatschutz im sächsischen Baurecht verankert<br />

1901 Lenin Entwicklung der bolschewistischen Führerpartei in "Was tun?"<br />

1901 Fidus "Der Tempel der Erde"<br />

1902 List "Das Geheimnis der Runen"<br />

1902 Heine "Mitbürger, auf zur Wahl !!"<br />

361


1903 Schneider "Hohes Sinnen"<br />

1903 Tronwechsel in Weimar<br />

1903 Gründung des Künstlerbundes<br />

1904 Großer Schwabinger Judenkrach<br />

1904 Lietz Haubindaer Judenkrach<br />

1904 Schultze-Naumburg Gründung des Bundes Heimatschutz<br />

1904 Andrang auf dem Monte Veritá: Lenin, Ellen Key, Erich Mühsam<br />

1905 Naumann Werkbund<br />

1905 v. Stuck "Verwundete Amazone"<br />

1905 Fauvismus in Paris<br />

1905 Fidus Plakat zur Maifeier<br />

1905 "Die Brücke"<br />

1906 Feininger "Der weiße Mann"<br />

1906 Hesse "Unterm Rad"<br />

1906 Munch Porträt Friedrich Nietzsche<br />

1907 Preußisches Gesetz gegen die Verunstaltung von Ortschaften<br />

1908 Naumann "Die Kunst im Zeitalter der Maschine"<br />

1908 Erdbeben in Messina mit 80.000 Toten<br />

1908 Werdandibund<br />

1908 Wilhelm II Bülow-Affäre<br />

1909 Horneffer "Die Tat"<br />

1909 Hodler "Auszug der Jenaer Studeneten"<br />

1909 Beckmann "Szene aus dem Untergang von Messina"<br />

1909 Kandinsky, Münter <strong>Neue</strong> Künstlervereinigung München<br />

1909 Brücke Palau-Stil<br />

1909 Blumenthal Physiokratische Vereinigung<br />

1909 Martinelli Manifest des Futurismus<br />

1910 Hiller, Walden Expressionismus, "Der Sturm"<br />

1910 D´Annunzio "Forse che si forse che no"<br />

1910 Fortschrittliche Volkspartei<br />

1910 Vorbeiflug des Kometen Halley<br />

1910 Freud "Über Psychoanalyse"<br />

1911 von Hoddis "Weltende"<br />

1911 Pfemfert "Die Aktion"<br />

1911 Vinnen "Protest deutscher Künstler" gegen die Überfremdung der deutschen Kunst<br />

1911 Meidner Malergruppe der "Pathetiker"<br />

1911 Wilhelm II Entsendung des Kanonenboots "Panther" nach Agadir<br />

1911 Fidus "Mutter Erde"<br />

1911 Sombart "Die Juden und <strong>das</strong> Wirtschaftsleben"<br />

1911 Erste internationale Hygieneausstellung<br />

1911 Kandinsky "Über <strong>das</strong> Geistige in der Kunst", "Blauer Reiter"<br />

1912 Kongreß für biologische Hygiene<br />

1912 Untergang der "Titanic"<br />

1912 Benn Rattengedicht<br />

1912 Steiner Gündung der "Anthroposophischen Gesellschaft"<br />

1912 Vollmoeller "Lob der Zeit"<br />

1912 Mode der "Humpelröcke"<br />

1912 Nolde "Der Prophet"<br />

1912 van de Velde Entwürfe für Nietzsche-Tempel<br />

1913 Hitler Zuzug nach Schwabing<br />

1913 Meidner "Apokalyptische Landschaft", "Apokalyptische Stadt"<br />

362


1913 Freideutscher Jugendtag<br />

1913 Fidus "Hohe Wacht"<br />

1914 H. Mann "Der Untertan"<br />

1914 Boldt "Auf der Terrasse des Café Josty"<br />

1914 Nolde "Tropensonne"<br />

1914 Behrends Werkbundausstellung<br />

1914 Oppenheimer "Demokratie"<br />

1914 Hiller Aktivismus<br />

1914 "Kriegslyrik"<br />

1914 de Chirico "Geheimnis und Melancholie einer Straße"<br />

1914 Dix Selbstbildnis als Kämpfer<br />

1914 Rathenau Kriegsrohstoffabteilung im Wumba<br />

1914 "An die Kulturwelt", Manifest der 93<br />

1914 Klabund, Seewald "Kleines Bilderbuch vom Kriege"<br />

1914 Hesse "Der Künstler an die Krieger"<br />

1915 Einstein Relativitätstheorie<br />

1915 Dadaismus<br />

1915 Fidus "Im Haus zur ehernen Güte"<br />

1916 Rathenau "Von kommenden Dingen"<br />

1917 Gründung der USPD<br />

1917 Friedensresolution im Reichstag<br />

1917 Pechstein "Palau-Triptychon"<br />

1917 Huelsenbeck "Der neue Mensch"<br />

1918 Separatfrieden mit Russland<br />

1918 Fidus "Des Ostens deutscher Friede", "Baltenkampf", "Deutsche Art"<br />

1918 Novemberrevolution<br />

1918 Münchner Räterepublik<br />

1918 Hiller „Politischer Rat geistiger Arbeiter“<br />

1918 Th. Mann "Betrachtungen eines Unpolitischen"<br />

1918 Lenin "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky"<br />

1918 Molzahn Manifest des absoluten Expressionismus<br />

1918 Ungewitter „Deutschlands Wiedergeburt durch Blut und Eisen“<br />

1918 Gesell „Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“<br />

1918 Taut "Die Stadtkrone"<br />

1918 Kokoschka "Nieder mit dem Bolschewismus"<br />

1918 Räterepubliken in München, Braunschweig und andernorts<br />

1918 Gründung der DDP, der DNVP und der DVP<br />

1918 Sozialisierungskommission<br />

1918 Scherchen "Brüder zur Sonne, zur Freiheit"<br />

1918 Lamberty "An die Freideutschen"<br />

1918 Lenin "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky"<br />

1918 Gründung der KPD<br />

1919 Beckmann "Die Nacht"<br />

1919 Bildung von Freiwilligenverbänden<br />

1919 Stadtler „Vereinigung für parteifreie Politik“<br />

1919 Becher „Gruß des deutschen Dichters an die russische föderative Sowjet-Republik“<br />

1919 Nationalversammlung<br />

1919 Lietz "Des Vaterlandes Not und Hoffnung"<br />

1919 Ball „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“<br />

1919 Gropius Gründung des Bauhauses in Weimar<br />

1919 Abtretung von Posen und Westpreußen<br />

363


1919 Spengler "Preußentum und Sozialismus"<br />

1919 Fidus "Deutsche Not"<br />

1919 Oppenheimer "Was wir verlieren sollen"<br />

1919 Kohlenwirtschaftsgesetz, Reichskohlenverband<br />

1919 Gesetz über die Regelung der Kaliwirtschaft<br />

1919 Wyneken "Der Gedankenkreis der Freien Schulgemeinde"<br />

1919 Oberdörfer "Unsere Auferstehung - ernste Worte an jeden dt.Mann und jede dt. Frau"<br />

1919 Hesse "Klingsors letzter Sommer"<br />

1919 Inempfangnahme der Friedensbedingungen<br />

1919 Außenwirtschaftsstellen<br />

1919 D´Annunzio Freistaat Fiume<br />

1920 Ludendorff-Lüttwitz-Putsch<br />

1920 Grosz "Republikanische Automaten"<br />

1920 Fidus "Kämpfers Abschied"<br />

1920 Eisenwirtschaftsverband und Reichswirtschaftsrat<br />

1920 Hitler 25-Punkte-Programm der NSDAP<br />

1920 Lamberty Zug der <strong>Neue</strong>n Schar durch Thüringen<br />

1920 Th. Mann "Protest gegen den gegenwärtigen Saustall"<br />

1920 Entwicklung des faschistischen Stils in Italien und Deutschland<br />

1920 Russisch-Polnischer Krieg<br />

1920 Fahrenkrog „<strong>Neue</strong> Wege in die Zukunft“<br />

1920 Spaltung der USPD<br />

1920 Gandhi Beginn des Kampfs um die Unabhängikeit Indiens<br />

1920 Abtretung zweier Kreise an Belgien<br />

1920 Hesse Demian<br />

1921 Micic Zenitistenbewegung<br />

1921 Musolini Gründung der Partito Nazionale Fascista<br />

1921 Handelabkommen mit der Sowjetunion<br />

1921 Ernst "Der Elefant von Celebes"<br />

1921 Hiller „Logokratie oder ein Weltbund des Geistes“<br />

1921 Tagore Besuch in Deutschland, Weisheitsworkshop<br />

1921 Dinter „Die Sünde wider <strong>das</strong> Blut“<br />

1921 Kämpfe in Oberschlesien<br />

1921 Beginn der Hyperinflation<br />

1922 Rathenau Reichsaußenminister, Ermordung von Rathenau<br />

1922 Bettauer "Die Stadt ohne Juden"<br />

1922 Rapallo-Vertrag mit der Sowjetunion<br />

1922 Schlemmer Bauhaus-Signet<br />

1922 Atatürk Mustafa Kemal Pascha putscht sich in der Türkei an die Macht<br />

1922 Brandler-Pracht "Wie erziehen wir ein schönes und gesundes <strong>Menschen</strong>geschlecht?"<br />

1922 Kongreß der Dadaisten und Konstruktivisten in Weimar<br />

1922 Mussolini Marsch auf Rom<br />

1922 Reuter "Das Rätsel der Edda und der arische Urglaube"<br />

1923 Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich<br />

1923 Einmarsch der Litauer ins Memelland<br />

1923 Freud "Das Ich und <strong>das</strong> Es"<br />

1923 UFA „Fridericus Rex – Schicksalswende“<br />

1923 Trotzki Hamburger Aufstand<br />

1923 Basel 1. Internationaler Freigeld-Kongreß<br />

1923 Weißleder „Deutscher Bund für krisenlose Volkswirtschaft“<br />

1923 Hitler Marsch auf die Feldherrnhalle<br />

364


1923 Ebert Übertragung der vollziehenden Gewalt an General von Seeckt<br />

1923 Schmidt "Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus"<br />

1923 Ausgabe der neuen Rentenmark<br />

1924 Kurtzahn "Runen als Heilszeichen und Schicksalslose"<br />

1924 Olympiade ohne Teilnahme Deutschlands<br />

1924 Trotzki "Literatur und Revolution"<br />

1924 Breton "Erstes Manifest des Surrealismus"<br />

1924 Quade "Odlehre"<br />

1924 Fischer "Der Mars und Hörbigers Welteislehre"<br />

1924 Lang "Die Nibelungen"<br />

1925 Tod von Ebert, Wahl von Hindenburg zum Reichspräsidenten<br />

1925 Räumung des Ruhrgebiets durch die Franzosen<br />

1925 Goebbels "Michael"<br />

1925 Haarmann Köpfung des <strong>Menschen</strong>schlächters<br />

1925 Kyber "Tierschutz und Kultur"<br />

1925 Landsberger "Berlin ohne Juden"<br />

1925 Stassen "Das Sonnenpaar"<br />

1925 Prager "Wege zu Kraft und Schönheit"<br />

1925 Thälmann KPD-Vorsitzender<br />

1925 Gropius Bauhaus Dessau<br />

1926 Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion<br />

1926 Grosz "Die Stützen der Gesellschaft"<br />

1926 Strassmann "Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt?"<br />

1926 Aufnahme in den Völkerbund<br />

1926 Lang "Metropolis"<br />

1926 Eisenstein "Panzerkreuzer Potemkin"<br />

1926 Grimm "Volk ohne Raum"<br />

1927 Beginn der Landvolk-Bewegung<br />

1927 Jung "Die Herrschaft der Minderwertigen"<br />

1927 Hofmannsthal "Schrifttum als geistiger Raum der Nation"<br />

1927 Baker Charleston Jazzband<br />

1927 Erste Straßenschlachten zwischen KPD und NSDAP<br />

1928 Staatsbesuch des afghanischen Königs<br />

1928 Disney Erster Micky-Mouse-Film<br />

1928 Brecht, Weill "Dreigroschenoper"<br />

1928 Fidus "Der dritte Weg", Mitglied der NSDAP<br />

1928 Konopacki-Konopath "Nordische Vermittlungsstelle"<br />

1928 Komintern These vom Sozialfaschismus<br />

1929 Straßenkämpfe der KPD mit der Polizei<br />

1929 Gabor "Die Linkskurve"<br />

1929 Oktober: Beginn der Weltwirtschaftskrise<br />

1929 Jünger "Feuer und Blut"<br />

1929 Darré "Neuadel aus Blut und Boden"<br />

1929 Dali "Die Beständigkeit der Erinnerung" (Die verrinnende Zeit)<br />

1929 Lamberty "Jugendbewegung, Handwerk und Volksfest"<br />

1929 Vagabundenkongreß in Stuttgart<br />

1929 "Reichsausschuß für <strong>das</strong> Volksbegehren gegen den Young-Plan"<br />

1930 Reichsmaisgesetz<br />

1930 Brotgesetz<br />

1930 Fidus "Spatenwacht"<br />

1930 Deutsche Staatspartei<br />

365


1930 Zweite internationale Hygieneausstellung<br />

1930 Freud "Das Unbehagen in der Kultur"<br />

1930 "Die drei von der Tankstelle"<br />

1930 Hesse "Edmund"<br />

1930 Thomas Mann "Mario und der Zauberer", Rede in der Berliner Singakademie<br />

1930 Räumung des Rheinlands durch die Franzosen<br />

1930 Hindenburg Beginn des Regierens mit Notverordnungen<br />

1931 Tucholsky „Deutschland, Deutschland über alles“<br />

1931 reformistische Arbplan-Studiengesellschaft<br />

1931 Gropius Teilnahme am Architekturwettbewerb für den Sowjetpalast<br />

1931 Vatikan "Non abbiamo bisogno"<br />

1931 Himmler "Verlobungs- und Heiratsbefehl" der SS<br />

1931 Querner "Der Agitator"<br />

1931 Freyer "Revolution von rechts"<br />

1931 Zöberlin "Glaube an Deutschland"<br />

1931 Bildung der Harzburger Front<br />

1932 Reichspräsidentenwahl: Hindenburg knapp wiedergewählt<br />

1932 Einheitsfronttaktik der KPD<br />

1932 Hiller "Linke Leute von rechts"<br />

1932 Staatsstreich in Preußen<br />

1933 Ermächtigungsgesetz<br />

1933 Le Corbusier "Charta von Athen"<br />

1933 Bücherverbrennung in Berlin<br />

1933 Behrens "Verband für deutsche Wertarbeit"<br />

1933 Fidus "Durchbrechender Michael"<br />

Philosophie ist der konsequente Mißbrauch einer<br />

eigens zu diesem Zwecke geschaffenen Terminologie<br />

Franz Oppenheimer<br />

366

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