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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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war kein ausgesprochener Reformist, er war aber auch kein traditioneller Konservativer. Wilhelm II.<br />

musste in der Novemberrevolution fliehen, weniger weil er den Krieg mit verursacht hatte, sondern<br />

weil er ihn nicht gewonnen hatte. Auf Grund seines unklaren Schlingerkurses gaben die Reformisten<br />

seinen traditionalistischen Anwandlungen die Schuld für die Niederlage und die Traditionalisten seinen<br />

reformistischen Zügen. Die sich an Bismarck erinnernden Konservativen und die reformistischen<br />

Kriegstrommler, welche inzwischen auf Friedensschalmeien musizierten, sahen diese Indifferenz und<br />

ließen ihn fallen. Der Kaiser war mehr <strong>das</strong> Opfer der reformistischen Novemberrevolutionäre und<br />

Freischärler als <strong>das</strong> der marxistischen Sozialdemokraten, die einige Tage im Begriff waren, sich mit<br />

einer konstitutionellen Monarchie zu arrangieren.<br />

Ein Markenzeichen der Spätkaiserzeit war der Zerfall der protestantischen Glaubensüberzeugungen.<br />

In dem Maße als Wilhelm und zahlreiche protestantische deutsche Fürsten reformistischen<br />

Überzeugungen nachgaben oder diese aktiv förderten, wurden sie als oberste Kirchenherren<br />

unglaubwürdig, denn keinen Reformismaus gab es ohne Atheismus. Die protestantischen Kirchen<br />

kamen in eine unhaltbare Schieflage.<br />

Reflexhaft entstanden ab dem endenden 19. Jh. zahllose Lebensreformansätze, die notwendig immer<br />

eine Ausgestaltung als Heilstheorien erfuhren, von den Nudisten und Wandervögeln über die<br />

Anthroposophen, Okkultisten bis zu den Antisemiten. Gelüftete Schlafzimmer, bequeme Unterwäsche,<br />

Reformkleider, Kneipp-Sandalen, Leibesverrenkungen in Kraftkunstinstituten, Judenvertilgung,<br />

Vegetarismus, Reformhäuser, <strong>Menschen</strong>zucht, Lichttherapien und die Nachrichten vom "Berg der<br />

Wahrheit" im Tessin sollten die Gebrechen der Gesellschaft nicht lindern, sondern heilen. Diese vom<br />

transzendentalen ins irdische verlagerte Heilssucht war die mentale Grundlage für die Popularität<br />

eines ab 1920 in verschiedenen Ländern und Situationen praktizierten Grußes, welcher keineswegs<br />

so deutsch war, wie er sich nannte.<br />

Achim Preiss stellte <strong>das</strong> in seinem Heft "Abschied von der Kunst des 20. Jahrhunderts" zutreffend so<br />

dar:<br />

"Als <strong>das</strong> geeignete Instrument zur Fortschrittsbeherrschung oder - unterwerfung erschienen<br />

Religionssysteme. Es gründeten sich zu diesem Zweck meist jugendoptimistische Vereinigungen,<br />

Bünde, Sekten, die alle an dem Entwurf einer neuen, nicht-chaotischen Lebenskultur arbeiteten<br />

und die ein gemeinsames Feindbild hatten - den nur von Kommerz und Hochtechnologie<br />

angetriebenen Fortschritt. Die praktizierten Formen der neuen Lebenskultur zielten darauf, <strong>das</strong><br />

Gefühl in die Lage zu bringen, den Verstand zu kontrollieren, die Vorherrschaft des Verstandes zu<br />

brechen, um damit die Vormacht der Technik zu beenden. (...) Der Entwurf des verlorenen,<br />

irdischen Paradieses stellte sich als Aufgabe einer reformierten Kunst und Kultur, die sich vom<br />

Diktat der Wissenschaft und Forschung befreit hatte, die sich nicht mehr nur an ein gebildetes<br />

Fachpublikum richtete, sondern an <strong>das</strong> ganze Volk. Um die große Popularität zu erreichen,<br />

entwickelte die Kultur- und Lebensreform unter Ausnutzung der frühen psychologischen<br />

Forschungsergebnisse eine auf Empfindungen, Nachempfindungen ausgerichtete Vermittlung.<br />

Man suchte zu diesem Zweck nach Kontinuität, nach überhistorischen ewig gültigen, immer<br />

gleichbleibenden Ausdrucksformen, Motiven, Proportionsgesetzen und Farbklängen, die sich für<br />

eine Neuformulierung der Kunst verwenden ließen, für eine neue Sprache der Kunst, die sich<br />

hauptsächlich über sentimentale Wirkungen verständlich machen wollte. Es entstanden daher zur<br />

Jahrhundertwende eine ganze Reihe kunsthistorischer und historischer Interpretationssysteme, die<br />

psychologistische, rassistische, biologistische und anthropozentrische Ansätze verfolgten. (...) So<br />

wurden nicht nur die zentralen Ideen des 19. Jahrhunderts, sondern auch die Bedeutung und die<br />

Beweiskraft der Geschichte, der Entwicklung entmachtet. In diesem Zusammenhang wurde die<br />

Geschichtsbetrachtung Friedrich Nietzsches und anderer Lebensphilosophen populär, die der<br />

Geschichte eine materialistische Logik absprachen. Es ging ihnen letzten Endes darum, die<br />

Dynamik der Entwicklung zu brechen und zwar mittels einer völligen Irrationalisierung der<br />

Geschichte, die damit der Stillstandsideologie ausgeliefert wurde. Die unwiederholbaren Ereignisse<br />

verloren auf diesem Weg ihre Bedeutung, und sie sollten keine weiteren Ereignisse mehr<br />

produzieren können. An die Stelle dieser Art Fortschritt traten die ewigen Werte des menschlichen<br />

Seins, die sich seit dem Beginn der Zeiten in der Seele, in den Gefühlen als unabänderliche<br />

Verhaltens- und Empfindungsmuster eingelagert hatten. Diese Werte sollten wieder Gültigkeit<br />

erlangen und die Gegenwart bestimmen. Geschichte war demnach nicht durch dynamische Folge<br />

materieller Problemlösungen bestimmt, sondern durch die menschliche Willkür, nicht durch<br />

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