Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Weimarer Großherzogtum duldete Haeckels Eskapaden nicht nur, sondern bezahlte und adelte sie<br />
über seine Professur. Seine Quallen und Medusen wurden Vorlagen für Jugendstilarchitekten wie<br />
Henry van de Velde und Hermann Obrist. Der Pariser Architekt Binet nahm eine von Haeckel<br />
gezeichnete Radiolarie als Vorbild für <strong>das</strong> jugendstilige Monumentaltor zur Weltausstellung 1900. 109<br />
Ein Originalzitat aus "Die Welträthsel" kann die Schärfe verdeutlichen, mit der Haeckel den römischen<br />
Papst angriff und mit vollen Schaufeln Kohlen in den bereits hochgeheizten Kessel der teutonischen<br />
Lokomotive warf:<br />
"In dem neuen Deutschen Reiche, welches in den Kämpfen von 1866 und 1871 unter schweren<br />
Opfern seine unentbehrliche nationale Einheit errungen hatte, wurden die frechen Attentate des<br />
Papismus besonders schwer empfunden; denn einerseits ist Deutschland die Geburtsstätte der<br />
Reformation und der modernen Geistesbefreiung; andererseits besitzt es leider in seinen 18<br />
Millionen Katholiken ein mächtiges Heer von streitbaren Gläubigen, welches an blindem Gehorsam<br />
gegen die Befehle seines Oberhirten von keinem anderen Kultur-Volke übertroffen wird. .... Die<br />
hieraus entspringenden Gefahren erkannte mit klarem Blick der gewaltige Staatsmann, der <strong>das</strong><br />
"politische Welträthsel" der deutschen National-Zerrissenheit gelöst und durch<br />
bewunderungswürdige Staatskunst zu dem ersehnten Ziele nationaler Einheit und Macht geführt<br />
hatte. Fürst Bismarck begann 1872 jenen denkwürdigen, vom Vatikan aufgedrungenen<br />
Kulturkampf, der von dem ausgezeichneten Kultusminister Falk durch die "Maigesetzgebung"<br />
(1873) ebenso klug wie energisch geführt wurde. Leider mußte derselbe schon sechs Jahre später<br />
aufgegeben werden. Obwohl unser größter Staatsmann ausgezeichneter <strong>Menschen</strong>kenner und<br />
kluger Realpolitiker war, hatte er doch die Macht von drei gewaltigen Hindernisse unterschätzt,<br />
erstens die unübertroffene Schlauheit und gewissenlose Perfidie der römischen Kurie, zweitens die<br />
entsprechende Gedankenlosigkeit und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katholischen Massen,<br />
auf welche sich die erstere stützte, und drittens die Macht der Trägheit, des Fortbestehens des<br />
Unvernünftigen, blos weil es da ist....Die neu gestärkte Macht des Vatikans nahm seitdem wieder<br />
mächtig zu, einerseits durch die gewissenlosen Ränke und Schlangen-Windungen seiner<br />
aalglatten Jesuiten-Politik, andererseits durch die falsche Kirchenpolitik der deutschen<br />
Reichsregierung und die merkwürdige politische Unfähigkeit des deutschen Volkes. So müssen wir<br />
denn am Schlusse des 19. Jahrhunderts <strong>das</strong> beschämende Schauspiel erleben, daß <strong>das</strong><br />
sogenannte "Centrum im Deutschen Reichstage Trumpf" ist, und daß die Geschicke unseres<br />
gedemüthigten Vaterlandes von einer papistischen Partei geleitet werden, deren Kopfzahl noch<br />
nicht den dritten Theil der ganzen Bevölkerung beträgt." 110<br />
So dragonerhaft wie er seine Angriffe gegen die Katholiken vortrug, so stürmisch und obergärig<br />
behandelte er auch die Evolutionstheorie. Darwin hatte in Bezug auf die Entwicklungsstufen vor der<br />
Unterscheidung in niedere und höhere noch gewarnt, Haeckel übertrug die Selektionstheorie<br />
bedenkenlos auf die menschliche Gesellschaft und schlug <strong>das</strong> Tor in den Sozialdarwinismus weit auf.<br />
Wahrend der Darwinismus Haeckels lediglich ein antikatholisches und antireligiöses Instrument der<br />
Vulgäraufklärung war, wurden die Entwicklungsgedanken beispielsweise von Otto Ammon und seinen<br />
Popularisierern zu einer Lehre des Rechts des Stärkeren und des Kampfes ums Dasein<br />
weiterentwickelt. Auch die Entwicklung und der Fortschritt der Völker sei von biologischen und<br />
rassischen Voraussetzungen bestimmt. Von der reformistischen Antireligionspropaganda zur<br />
reformistischen Behauptung, daß Liberalismus und Parlamentarismus den Erfordernissen des<br />
Kampfes "Jeder gegen Jeden" nicht entsprechen würden, war es nur ein kleiner und historisch sehr<br />
schneller Schritt.<br />
Hitler erlebte während dieser Diskussion um die rassische und biologische Bedingtheit der<br />
Völkerschicksale seine Pubertät. Hätte er jemals aufgehört zu pubertieren, hätte er die biologistischen<br />
Standpunkte der Spätkaiserzeit und der Periode der Weimarer Republik vielleicht überwinden können.<br />
Es war jedoch wie es war, Hitler kam mit den Ergebnissen der „modernen“ Wissenschaft in Kontakt<br />
und sie bestimmten sein weitere Leben, ohne daß sie jemals revidiert wurden. Nachgewiesen ist sein<br />
auch persönlich zustandegekommener Kontakt zum Richard-Wagner-Freund Houston Steward<br />
Chamberlain, der 1899 <strong>das</strong> Buch "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" veröffentlicht hatte, in dem<br />
die Geschichte als Geschichte von Rassenkämpfen und Dekadenzvorgängen interpretiert und die<br />
Angst vor Blutsvermischung beschworen wurde. Joachim Fest diagnostizierte richtig, als er die<br />
109 Ernst Haeckel, Naturwissenschafter, Philosoph und Künstler in: www.bnvbamberg.de/home/ba2282/main/faecher/biologie/haeckel.htm<br />
110 Ernst Haeckel, "Die Welträthsel", 18. Kapitel<br />
86