Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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gesäuberten Männerunterhosen. Und es kann einem passieren, über seinem Haupte werden ein<br />
paar zerschlappte Filzpantoffeln aus dem Fenster heraus ausgeschlagen.“<br />
So textete Franz Fischer in der „Roten Fahne“ vom 2. 11.1928, nicht ohne die abschließende<br />
Bemerkung:<br />
„Den Künstler aber lehrt ihr Zusammenwohnen hoffentlich eins: daß sie auch Ausgebeutete sind<br />
und der letzte Maurer, der mit an der Künstlerkolonie baute, ebensoviel wert ist, als der erste<br />
Künstler, der sie bewohnt.“<br />
Der ehemalige Kriegsliterat und spätere Kommunist Toller brachte seine Replik in die "Weltbühne"<br />
vom 13.11.1928:<br />
„Ungehörig im Ton und unwürdig eines Arbeitsblattes“ sei der Artikel von Fischer. „Wenn er sich<br />
über die Ordnung, die in Künstlerwohnungen herrscht, lustig macht, und diese Ordnung für etwas<br />
Bürgerliches hält, so kann man nur sagen, daß er die Auffassung eines Spießers hat, der Künstler<br />
gleich wildem Bohemien setzt und nicht weiß, daß gerade der ernsthafte Künstler in Dingen des<br />
Alltags auf peinliche Ordnung sehen muß, weil er sonst gar nicht imstande wäre, konzentriert und<br />
anhaltend zu arbeiten. Er benutzt <strong>das</strong> dialektische Dilletantenstück, den Begriff Ordnung, der, auf<br />
den kapitalistischen Staat angewandt, zum Hohngelächter herausfordert, gleichzusetzen der<br />
Ordnung, die ein Mensch etwa beim Anziehen von Kleidungsstücken oder beim Aufräumen seiner<br />
Wohnung beachtet.“ 336<br />
Der bereits erwähnte Rühle erkannte im realen Arbeiterleben keine Quellen sozialistischer<br />
Vorwärtsentwicklung. Im Gegenteil war <strong>das</strong> konkrete Tun und Lassen der Arbeiter Ausfluß des<br />
bürgerlichen Wertesystems. Das Proletariat sei in Ermangelung einer eigenen Kultur beherrscht von<br />
einer Atmosphäre bürgerlicher Ideologie und kleinbürgerlicher Lebensweise. Er sprach von "kultureller<br />
Verblödung" und diagnostizierte in allen Lebensbereichen ein "durchgehendes Streben nach<br />
möglichster Verbürgerlichung". Bedürfnisse wie Entspannung, Unterhaltung und Erholung erschienen<br />
verdächtig. Erhält der Proletarier Kenntnis von seiner "historischen Mission", könnte der notwendige<br />
Wandlungsprozeß beginnen. Der proletarische Mensch müsse von der Vergangenheit frei werden und<br />
dieser Prozeß müsse bereits vor der Revolution durch Schulung soweit fortgeschritten sein, daß die<br />
Revolution überhaupt stattfinden könne. 337<br />
Während Rühle sich mit dem revolutionsunwilligen deutschen Proletariat beschäftigte, schlugen sich<br />
Lenin und Stalin mit den nachrevolutionären russischen Philistern herum, denen Michael Bulgakow ein<br />
literarisches Denkmal gesetzt hat und die auch Jahre nach der Revolution stark beschulungsbedürftig<br />
blieben. Das blieben sie übrigens bis 1990, ohne daß jemals eine auch nur zeitweilige Aufbesserung<br />
des Klassenbewußtseins zu verzeichnen gewesen wäre. Da die vorrevolutionäre KPD von der<br />
nachrevolutionären KPdSU stark abhängig war, schossen die ideologischen<br />
Schnellbesohlungsanstalten nach russischem Vorbild im Deutschland der Jahre ab 1925 bis 1932 wie<br />
Pilze aus dem Boden. 1927 begann Ernst Schneller kommunistische Kulturorganisationen aus dem<br />
Boden zu stampfen, insbesondere Erwin Piscator, Bertold Brecht und Ernst Toller ließen sich vor den<br />
klassenbewußten Agitprop-Karren spannen und wurden Stalins Prostituierte.<br />
Johannes R. Becher brachte seinen persönlichen Ausbruch aus der Kultursklaverei auf den Punkt:<br />
„Das Kaffeehaus ist vorbei, die lustige Künstlerei und Schwabingerei ist vorüber. Ich habe zu<br />
funktionieren.“<br />
Es ging für den deutschen Intellektuellen nie darum, Nietzsche zu überwinden, sondern immer nur<br />
darum ihn neu zu buchstabieren.<br />
Die Gegenbildung der schulungswütigen stalinistischen Jungtürken war der in den zwanziger Jahren<br />
zum künstlerischen Einzelgänger gewordene Heinrich Zille. Er war seit jeher kein ausgeprägter<br />
Reformist im Sinne Nietzsches und der Jugendbewegung gewesen und im Wertesystem der mittleren<br />
Kaiserzeit stehen und stecken geblieben. Allerdings ließ die Produktivität des alten Meisters langsam<br />
336<br />
»Die Künstlerkolonie« oder »Wie sieht ein Künstleralltag aus?« von Waltraud Thiel aus KünstlerKolonieKurier<br />
Nr. 2 / 1989<br />
337<br />
Horst Groschopp: Otto Rühle, Zum Arbeiterbild in der ultralinken deutschen Arbeiterbewegung der zwanziger<br />
Jahre. In Arbeiter im 20. Jh. Hg. Klaus Tenfelde, Stuttgart 1990<br />
249