Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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1915 bis 1945 wird <strong>das</strong> immer wieder behauptet oder wenigstens stillschweigend angenommen bzw.<br />
vorausgesetzt. Es ist jedoch ganz klar nicht zutreffend, da die Strukturen des Agierens der<br />
Privateigentümer sehr tradiert waren und auf eindeutig vorbürgerliche Gebräuche verweisen. Wenn<br />
Deutschland zwischen 1914 und 1945 ein kapitalistisches Land war, so könnte man <strong>das</strong> auch für die<br />
Republik Venedig, die Republik Ragusa oder die Republik Genua behaupten.<br />
Von den Machern der kriegswirtschaftlichen Reglementierung, Rathenau, Moellendorff, Koeth sowie<br />
von einem Teil der damals tonangebenden modischen Wirtschaftswissenschaftler, und solchen, die<br />
sich dafür hielten, z.B. Werner Sombart, Wladimir Iljitsch Lenin und Rudolf Hilferding wurde diese<br />
zentralistische marktferne Ordnung als gesellschaftlicher Fortschritt verstanden und einige der Macher<br />
aus der Kriegsrohstoffabteilung und dem Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt saßen folgerichtig<br />
nach der Revolution in der Sozialisierungskommission.<br />
Lenin und Hilferding hatten diese planwirtschaftliche Rückwärtsrolle als staatskapitalistische<br />
Entwicklung gedeutet und so verstanden, daß aus dem Staatskapitalismus, den Lenin Imperialismus<br />
nannte, der Sozialismus hervorgehen würde. Oberflächlich war <strong>das</strong> gut und scharf beobachtet, denn<br />
aus dem Wirtschaftssystem der Weimarer Republik entstand Sozialismus. Aber der Weg in den<br />
"Staatskapitalismus" war kein Fortschritt, sondern eine historische, ökonomische und politische<br />
Sackgasse der gesellschaftlichen Evolution.<br />
Auf der Tagesordnung der Revolution hätte die Rückkehr zum Konkurrenzkapitalismus als Grundlage<br />
der parlamentarischen Demokratie gestanden, wenn man die parlamentarische Demokratie denn<br />
wollte. Konservative, Reformisten, Klerikale, Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängige<br />
Sozialdemokraten standen fest auf dem Boden des Kaiserreiches, indem sie die Rückkehr zum<br />
Kapitalismus und nach Europa nicht im Programm hatten und eher den Status Quo oder eine<br />
genossenschaftlich-berufsständische Ordnung in Deutschland anstrebten.<br />
Es ging nicht um die Aufgabe, einen klaren politischen und moralischen Trennungsstrich zu den<br />
Verfechtern einer verfehlten Weltpolitik und zu den Verteidigern einer überholten sozialen Ordnung zu<br />
vollziehen, wie von Hans Mommsen gefordert. Es ging vielmehr zunächst um eine notwendige<br />
Wirtschaftsreform, um die bürgerliche Demokratie mit ihrem Wettbewerb politischer Konzeptionen mit<br />
einem Wettbewerb von Produzenten zu verbinden, den politischen Wettbewerb durch den<br />
wirtschaftlichen Wettbewerb zu untersetzen und zu stabilisieren. Notwendig war ein wirtschaftlicher<br />
Trennungsstrich, die Rückkehr zur modernen westeuropäischen Wirtschaftsordnung, um damit im<br />
Zusammenhang politische, kulturelle und moralische Trennungsstriche zu ziehen.<br />
Wenn man ganz leidenschaftslos betrachtet, wo sich auf der Welt parlamentarisch-demokratische<br />
Verhältnisse etablieren konnten, und wo nicht, so stößt man darauf, daß Planwirtschaften zur Diktatur<br />
neigen, Mischsysteme aus Plan- und Marktwirtschaft oft ein Mischsystem zwischen Diktatur und<br />
Demokratie entwickeln und Marktwirtschaften ein parlamentarisches System aufweisen. Das war in<br />
den zwanziger und dreißiger Jahren nicht anders.<br />
Während England und die Vereinigten Staaten keine nennenswerten Probleme mit der<br />
Aufrechterhaltung der parlamentarischen Demokratie hatten, sah es auf dem europäischen Kontinent<br />
ganz anders aus. Der totalitäre Bazillus breitete sich aus.<br />
Rußland wurde seit unvordenklichen Zeiten autoritär regiert. In Italien wurde 1922 die Mussolini-<br />
Diktatur errichtet. Polen und Litauen wurden seit 1926 autoritär regiert. Albanien folgte 1927,<br />
Jugoslawien 1929, Portugal 1930, Österreich und Deutschland 1933, Lettland, Estland und Bulgarien<br />
1934, Griechenland und Spanien 1936 und Rumänien 1938.<br />
Im Osten Europas wurde 1938 nur die Tschechoslowakei noch demokratisch regiert, im Westen<br />
Frankreich, <strong>das</strong> Vereinigte Königreich, Irland, die Niederlande, Belgien, die Schweiz und Luxemburg<br />
sowie die skandinavischen Staaten.<br />
Die autoritär-diktatorische Seuche ging um in Europa. Sie war die Folge der übermäßigen<br />
Verseuchung der Volkswirtschaften mit planwirtschaftlichen Ansätzen. Autoritäres Wirtschaften denkt<br />
nun einmal autoritäres Regieren voraus. Eduard Stadler hatte <strong>das</strong> bereits im März 1919 in seiner<br />
Broschüre „Die Revolution und <strong>das</strong> alte Parteiwesen“ angedeutet: „Echt ist ... die Tendenz, an Stelle<br />
der Formaldemokratie des 19. Jahrhunderts etwas <strong>Neue</strong>s zu setzen, nämlich die politische Macht der<br />
gegliederten Gesellschaft.“ 215<br />
215 zitiert in: Gerd Koenen, Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 249<br />
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