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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Die Unklarheiten von Kurt Hiller und seinem Mitherausgeber Herwarth Walden über die Demokratie<br />

hatten fatale Auswirkungen: Hiller schrieb 1926 in der Weltbühne ein bewunderndes Essay über den<br />

Kraftkerl Mussolini.<br />

„Demokratie heißt: Herrschaft jeder empirischen Mehrheit; wer wollte bestreiten, daß die Mehrheit<br />

des italienischen Volkes seit langem treu hinter Mussolini steht? [...] Mussolini, man sehe sich ihn<br />

an, ist kein Kaffer, kein Mucker, kein Sauertopf, wie die Prominenten der linksbürgerlichen und<br />

bürgerlich-sozialistischen Parteien Frankreichs und Deutschlands und anderer Länder des<br />

Kontinents es in der Mehrzahl der Fälle sind; er hat Kultur. [...] Wenn ich mich genau prüfe, ist mir<br />

Mussolini, dessen Politik ich weder als Deutscher noch als Pazifist noch als Sozialist ihrem Inhalt<br />

nach billigen kann, als formaler Typus des Staatsmannes deshalb so sympathisch, weil er <strong>das</strong><br />

Gegenteil eines Verdrängers ist. Ein weltfroh-eleganter Energiekerl, Sportskerl, Mordskerl,<br />

Renaissancekerl, intellektuell, doch mit gemäßigt-reaktionären Inhalten, ist mir lieber, ich leugne es<br />

nicht, als ein gemäßigt-linker Leichenbitter, der im Endeffekt auch nichts hervorbringt, was den<br />

Mächten der Beharrung irgend Abbruch tut.“ 292<br />

Hillers Autobiografie, deren erster Band 1969 erschien, betitelte er „Leben gegen die Zeit“. Ein Leben<br />

gegen die Zeit war es leider erst ab 1945, als die Antidemokraten abgewirtschaftet hatten. Vorher war<br />

er beim Beschleunigen einer Uhr dabei, die falsch ging.<br />

„Intelligenzbrillen“ unter dem Wagenrad – Tagore in Deutschland<br />

„Unser Glaube an Andre verräth, worin wir gerne an uns selber glauben möchten. Unsre Sehnsucht<br />

nach einem Freunde ist unser Verräther.“ Wo Friedrich Nietzsche mal Recht hatte, hatte er Recht.<br />

Das herausragende gesellschaftliche Ereignis des Jahres 1921 war der erste Besuch des indischen<br />

Dichters und Philosophen Rabindranath Tagore in Deutschland. Der oberflächliche politische<br />

Betrachter hätte sich mit der Erkenntnis zufriedengegeben, <strong>das</strong>s Tagore als Bewohner Indiens den<br />

Feind seiner englischen Kolonialherrscher besuchte oder <strong>das</strong>s Deutschland dem Vertreter eines vom<br />

perfiden England kolonial unterdrückten Landes die Referenz erwies. Rabindranath Tagore war<br />

jedoch viel mehr, als der Repräsentant der indischen Befreiungsbewegung gegen die ungeliebten<br />

Engländer, er wurde zu einem Heilsbringer stilisiert.<br />

Rita Panesar, die sich in ihrer Dissertation mit Publikationen der Lebensreform und inhaltlich<br />

anschließend mit Heilserwartungen in den 20er Jahren beschäftigt hat, sah seinen Erfolg von 1921<br />

weniger im Inhalt seiner 'Botschaften' begründet, als vielmehr in seiner äußeren Erscheinung, seiner<br />

Persönlichkeit.<br />

„In der materiellen wie emotionalen Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde Tagore zum<br />

Hoffnungsträger, zum Heiland. Nationalliberale und konservative Bildungsbürger stilisierten Tagore<br />

gemäß einer in der <strong>Romantik</strong> konstruierten Idealvorstellung zum 'vollkommenen', ganzheitlich<br />

gebildeten <strong>Menschen</strong>, der in seiner Person Dichter, Philosoph und Priester vereint. Sie<br />

charakterisierten ihn nicht, wie etwa diejenigen Inder, die auf Völkerschauen vorgeführt wurden, als<br />

'edlen Wilden'. Tagore galt als aristokratischer Vertreter der geistigen Elite Indiens. Viele Weimarer<br />

Zeitgenossen hingen noch der romantischen Vorstellung an, daß sich innere Schönheit äußerlich<br />

niederschlägt und beschrieben den Sechzigjährigen mit seinen sanften Gesichtszügen dem<br />

gelockten weißen Haar als schön.<br />

Er entspreche dem klassischen Schönheitsideal der Antike und sei der 'Goethe Indiens', hieß es<br />

vielfach. Tagore verkörperte für die nationalliberalen und konservativen Bildungsbürger die goldene<br />

Vergangenheit, eine Zeit in der sie als vermeintliche Träger des 'Geistes' noch Geltung besaßen.<br />

Hatten die Bildungsbürger bereits vor dem Ersten Weltkrieg feststellen müssen, daß <strong>das</strong> Prestige<br />

technischen Wissens stieg und daß humanistische Bildung längst nicht mehr einziger Garant für<br />

gesellschaftlichen Aufstieg war, so mußten sie nach dem Krieg realisieren, daß zunehmend<br />

Angehörige des Mittelstandes an die Universitäten drängten und ihr Privileg auf akademische<br />

Bildung ebenfalls gebrochen war. Zusätzlich verzweifelt wegen des verlorenen Krieges, der eine<br />

enorme Schuldenlast hinterlassen hatte, die zur Geldentwertung und damit zu wirtschaftlicher Not<br />

und Hunger führte, beurteilten die Bildungsbürger ihre Lage als katastrophal. Sie übertrugen ihre<br />

292 Mussolini und unsereins, Die Weltbühne, 12.1.1926<br />

202

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