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Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

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Diese Verhaltensweise von Forschern liegt im Psychologischen begründet, und daraus ergibt sich die<br />

Frage, ob Ideologen, Politiker und Künstler nicht ähnlich auf eine Krise reagieren: Die strengere<br />

Befolgung der elitaristischen Theorie gegenüber den Verhältnissen im Spätkaiserreich verlangte die<br />

Bewunderung und Förderung so stringenter Führerstaaten wie Mussolinis Italien, Lenins und Stalins<br />

Russland und Hitlers Deutschland. Tatsächlich wurden in Russland und Deutschland alle Rekorde im<br />

Vernichten von Existenzen gebrochen, der Zusammenbruch unter Aufbietung aller verfügbaren Kräfte<br />

vergrößert, so <strong>das</strong>s 1945 und 1989 aufschlußreiche unzweideutige praktische Erkenntnisse vorlagen,<br />

die den längst fälligen theoretischen Paradigmenwechsel nahe legten.<br />

Der Kampf um die Reinheit im parteipolitischen Reformtempel<br />

Die DDP wurde Ende November 1918 gegründet. Den Gründungsaufruf veröffentlichte am 16.11.1918<br />

der Chefredakteur des "Berliner Tageblattes" Theodor Wolff. In der Wolff-Biografie von Wolfram<br />

Köhler ist der Gründungsaufruf im O-Ton des Zeitgeistes wiedergegeben: Am 16. November hatte<br />

Wolff in seiner Wohnung am Tiergarten sechs Herren empfangen, die ihm antrugen, die Gründung<br />

einer neuen demokratischen Bürgerpartei in die Hand zu nehmen, weil er dazu "wegen seiner Haltung<br />

während des Krieges der richtige Mann sei" und weil "die alten liberalen Parteien, also die schon im<br />

Reichstag vertretene liberale Fortschrittliche Volkspartei (FVP) und die mehr rechten Nationalliberalen<br />

ihre Rolle ausgespielt hätten; jetzt müßte eine neue Partei <strong>das</strong> Bürgertum sammeln und zu<br />

politischem Handeln führen, und zwar Schulter an Schulter mit der Arbeiterschaft". Wolff erklärte sich<br />

sofort bereit, "eine Anzahl gut ausgesuchter, nicht kompromittierter Personen" für die Parteigründung<br />

zu gewinnen und einen entsprechenden Aufruf zu verfassen. Im Aufruf hieß es: Die Zeit erfordere, "für<br />

monopolistisch entwickelte Wirtschaftsgebiete die Idee der Sozialisierung aufzunehmen, die<br />

Staatsdomänen aufzuteilen und zur Einschränkung des Großgrundbesitzes zu schreiten". Zu den<br />

handverlesenen Gründungsmitgliedern gehörten Albert Einstein, Max Weber, Alfred Weber, Hjalmar<br />

Schacht, Otto Schott, Friedrich Naumann und Hugo Preuß. Gustav Stresemann, der spätere<br />

Reichsaußenminister und Friedensnobelpreisträger wurde bei einer Vorbesprechung zur Gründung<br />

der DDP am 18. November 1918 abgewiesen, weil man ihn als Stütze des Kaiserreichs verdächtigte.<br />

Stresemann gründete Ende Dezember 1918 mit ehemaligen Mitgliedern der Nationalliberalen die<br />

Deutsche Volkspartei.<br />

Die Szenerie erinnert an die Gründung der Bürgerbewegungen im Herbst 1989. Das "<strong>Neue</strong> Forum"<br />

ließ einige nicht herein, die dann den "Demokratischen Aufbruch" bildeten. Auch 1989 behauptete<br />

jeder, der es nötig hatte, oder auch nicht, daß er nicht kompromittiert wäre. Auch war die Wahl<br />

unbelasteter Parteiführer schwierig. Zum Schluß stellte sich heraus, daß fast alle Parteiführer der SED<br />

oder dem Ministerium für Staatsicherheit auf die eine oder andere Weise gedient hatten: Schnur<br />

(Demokratischer Aufbruch), Böhme (Sozialdemokratische Partei), Maiziere (CDU), Gysi (SED-PDS)<br />

und Neumann (Grüne).<br />

Genauso hatten viele Politiker der Weimarer Republik treu dem Kaiser gedient, insbesondere im<br />

Weltkrieg. Der Rausschmiß Stresemanns erinnert an die Differenzen zwischen den Bürgerbewegten<br />

70 Jahre später. Es ist ein Detail, <strong>das</strong> im persönlichen Umgang für Berlin besonders typisch ist:<br />

Ausgrenzen und Wegbeißen.<br />

Mit der Reinheit des Personals der DDP sollte es bald nach dem Gründungsaufruf sein Bewenden<br />

haben, Wendehälse drangen in die Partei ein. Die Gründungsväter traten im Laufe der Zeit fast alle<br />

aus.<br />

Bereits im Wahlkampf zur Nationalversammlung wurde die Forderung nach Sozialisierung<br />

fallengelassen, eine weichgewaschene schwammige Formulierung, auf die sich alle Richtungen<br />

einigen konnten, und die keinem weh tat wurde entwickelt: Eine "Ordnung, die <strong>das</strong> Interesse des<br />

einzelnen am Erwerb lebendig hält" 220 wurde angestrebt und propagiert. Darunter konnte sich jeder<br />

vorstellen, was er wollte.<br />

Christian Morgenstern höhnte über diese Berliner Schwammigkeit:<br />

„In Berlin empfängt man ihn ...<br />

Zwar erblickt man ihn nicht leiblich,<br />

denn wie ja schon dargeziehn,<br />

ist er weder männ- noch weiblich,<br />

220 H. Fenske: Deutsche Parteiengeschichte S. 155<br />

150

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