Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik

offenbar Anfang der 20er Jahre mit Karl Radek. Radek sei sich mit Walther Rathenau einig gewesen,
dass es keine Rückehr zu der alten kapitalistischen Ordnung geben könne.
„Die Diskussion ging nur darum, ob , wie Radek meinte,
oder ob es nicht gerade umgekehrt sein werde, wie die Herren von der AEG befanden.“ 103
Es wäre sicher ein völlig falscher Schluss, würde man Rathenau des Adeptentums bei den russischen
Revolutionären verdächtigen. Nur weil die russischen Revolutionäre aus denselben ideologischen
Quellen schöpften, wie er selbst, kam es zur grundsätzlichen Übereinkunft. Man befand sich seit 1905
in der gemeinsamen Hexenküche und laborierte an der Herstellung des Humunkulus; ob es ein
proletarischer oder ein intellektueller neuer Mensch seine sollte, darüber wurde noch diskutiert, aber
nicht über das Ziel des Neuen Menschen an sich.
Der kommunistische Führertypus Leninscher Berufsrevolutionäre erhielt sich zäh bis 1990. Hinter der
fragilen Fassade des demokratischen Zentralismus hatte er immer Recht. Angeblich wurden die
Parteibeschlüsse in demokratischer Diskussion gefaßt und waren dann von allen Genossen
runterzuschlucken, zu verinnerlichen und vehement nach außen zu vertreten. In der Praxis kam es
insbesondere auf den unteren Ebenen der leninistischen Lehnspyramide zu überhaupt keinen
Diskussionen übergeordneter Themen, der Zentralismus schloß die Demokratie aus, sobald der
Wahrheitstempel des Parteiführers betreten wurde. Treueschwüre und Selbstkritiken hallten statt
dessen durch die Hallen der sozialistischen Volkspaläste.
In der Wählerversammlung des Stalin-Wahlbezirks am 11. Dezember 1937 wickelte Stalin seine
Wähler so ein, wie das Schwein Napoleon die anderen Tiere in der Animals farm:
"Man hat mich als Deputierten-Kandidaten aufgestellt, und die Wahlkommission des Stalin-
Wahlbezirks der Sowjethauptstadt hat mich als Deputierten-Kandidaten registriert. Das ist,
Genossen, ein großes Vertrauen. Gestattet mir, euch meinen tiefgefühlten bolschewistischen Dank
auszusprechen für das Vertrauen, das ihr der Partei der Bolschewiki, deren Mitglied ich bin, und
mir persönlich, als Vertreter dieser Partei, erwiesen habt. (Lebhafter Beifall.) Ich weiß, was
Vertrauen heißt. Es erlegt mir neue, zusätzliche Verpflichtungen auf und folglich neue, zusätzliche
Verantwortung. Nun denn, bei uns Bolschewiki ist es nicht üblich, sich der Verantwortung zu
entziehen. Ich nehme sie gern auf mich. (Stürmischer, anhaltender Beifall.) Meinerseits, Genossen,
möchte ich euch versichern, daß ihr euch getrost auf Genossen Stalin verlassen könnt.
(Stürmische, lange nicht enden wollende Ovation, Zuruf aus dem Saal: "Und wir alle stehen hinter
Genossen Stalin!") Ihr könnt darauf zählen, daß Genosse Stalin es verstehen wird, seine Pflicht zu
erfüllen vor dem Volke (Beifall), vor der Arbeiterklasse (Beifall), vor der Bauernschaft (Beifall), vor
der Intelligenz. (Beifall.) Weiter möchte ich euch, Genossen, beglückwünschen zu dem
kommenden Fest des ganzen Volkes, dem Tag der Wahlen zum Obersten Sowjet der Sowjetunion.
(Lebhafter Beifall.)"
Die fehlende Streitkultur in der Partei war jedoch nicht so schlimm, da sie Leute betraf, die freiwillig in
der Partei verweilten. Außerhalb der Parteien wurden die Genossen als Mitglieder einer
Herrscherkaste wahrgenommen, die die Privilegien eines kleinbürgerlichen Wohlstands genossen und
dafür mit eigener politischer Kastration bestraft und mit geringer Macht über die Andersgläubigen
belohnt wurden.
Ein orientalisches Gleichnis würde den Leninismus so beschreiben: Eine Klasse von Eunuchen
beherrschte einen gesellschaftlichen Harem, dessen Insassen nicht entfleuchen konnten und die ihren
impotenten Wärtern ausgeliefert waren. Alle Jubeljahre zum Parteitag ergoß der Generalsekretär sein
fruchtloses Sekret in Form eines langweiligen Rechenschaftsberichts. Die Insassen wurden dadurch
nicht befriedigt. Der fruchtbare Teil der Gesellschaft wurde nahezu permanent über die führende Rolle
der eifersüchtigen Haremswächter belehrt, die die Grenzen bewachten. Eine dieser Grenzen war die
Grenze der äußeren Macht dieser Zwerge, die andere feste Grenze trennte die Wachstuben der Partei
von den Lauben des Volks. Sowenig wie ein Harem egalitär ist, sowenig war die leninistische
Herrschaft egalitär.
Auf vielen Wegen drang "bürgerliches" Gedankengut in die Sozialdemokratie ein und verdrängte
marxistische Auffassungen. Zu den Grundgedanken des Marxismus gehörte bis zu Lenin das Dogma,
103 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, C.H.Beck, S. 288
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