Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
unmerklich der Niedergang der Reformbewegung ein. Nicht wirtschaftliche und politische Mißerfolge<br />
des Naziregimes waren es, die die beginnende Erosion reformistischer Überzeugungen einleiteten,<br />
sondern es waren kleine egalitäre Wellen der Sachlichkeit, die die Sandkörnchen an den Stränden<br />
des Elitarismus hinwegtrugen. Was hatten Heinz Rühmann, Theo Lingen und Georg Thomalla mit<br />
Siegfried zu tun? Die Traumfabrik UFA träumte in den 30ern und 40ern bereits die Träume der 50er,<br />
wer konnte, flüchtete sich in die Welt der Operetten und der Feuerzangenbowle. Und <strong>das</strong> war eher die<br />
Welt der kleinen Leute, der von Nietzsche so gehaßte Abgrund unter dem Seil vom Tier zum<br />
Übermenschen. Heinz Rühmann war die zur Person gewordene Gegenbildung des Übermenschen.<br />
Ab Ende der Dreißiger Jahre fiel die Jugend von der Jugendbewegung ab. Das zeigte sich zunächst<br />
an zwei Frühindikatoren: Ab 1937 kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Jugendkriminalität, der<br />
Anfang der dreißiger Jahre enorm hohe nationalsozialistische Einfluß auf die Studenten schwand<br />
relativ und begleitet von erheblich sinkenden Studentenzahlen auch absolut dahin. 1944 war es<br />
endlich soweit, daß Hitler den Kulturkampf gegen die Kreuze in Bayrischen Klassenzimmern verlor.<br />
Nach 1945 waren der Jugendstil, die Jugendbewegung, die Lebensreform und der <strong>Neue</strong> Mensch<br />
tabu. Über Landschaftsschutz, Judenvergasung, Rohkost, Nietzsche und Reinzucht wurde 20 Jahre<br />
nicht gesprochen, die germanischen Götter fristeten ihr Dasein dank konsonantenreicher Namen im<br />
Kreuzworträtsel.<br />
Nur keine neue Revolutionstheorie!<br />
Viele Schwierigkeiten in der Bewertung der Kaiserzeit und der Weimarer Republik sind entstanden,<br />
weil man versuchte, die geschichtliche Wahrheit in ein allgemeines Periodenmodell des Übergangs<br />
vom Absolutismus zur bürgerlichen Gesellschaft hereinzupressen, oder gar in ein welthistorisches<br />
Modell des gesellschaftlichen Fortschritts. Die Novemberrevolution mußte zusätzlich in <strong>das</strong><br />
Prokrustesbett der leninistischen Revolutionstheorie hinein. Die wirklichen Vorgänge wurden unter<br />
unzutreffenden geschichtsphilosophischen Vorgaben analysiert, was ihnen nicht gut getan hat. Aus<br />
einem berechtigten Matrosenstreik wurde durch <strong>das</strong> schnelle Aufspringen der ganzen Münchner und<br />
Berliner Bohéme auf den fahrenden Zug der revolutionären Ereignisse schnell eine vorerst<br />
gescheiterte elitaristische Revolte. Unter Ignorierung der tatsächlichen Umstände wurde von der<br />
Geschichtswissenschaft eine abgebrochene bürgerlich-demokratische Revolution daraus<br />
zurechtgeschustert. Die Machtergreifung 1933 wurde folglich als geschichtlicher Betriebsunfall und<br />
nicht als der dritte, schließlich erfolgreiche Versuch, eine antidemokratisch-elitaristische Wende<br />
herbeizuführen, gewertet. Aus der Erfahrung heraus, <strong>das</strong>s historische Ereignisse nicht wie ein<br />
chemisches Experiment im Reagenzglas reproduzierbar sind, wird von der Erstellung einer neuen<br />
Perioden- oder Revolutionstheorie Abstand genommen.<br />
Die Weimarer Republik kann dennoch als Zwischenzustand interpretiert werden und in einen<br />
Vergleich mit anderen Zwischenzuständen gestellt werden, ohne gleich vergewaltigende<br />
Verallgemeinerungen vorzunehmen.<br />
So wie Napoleon als Diktator die blutige Konkurrenz abgefahrener rivalisierender Clubs beendete und<br />
dem bürgerlichen Rechtssystem eine feste Ordnung gab, so wie Stalin die elitaristische<br />
Oktoberrevolution mit ihren avantgardistischen Diskussionen und Experimenten in den othodoxen<br />
Aggregatzustand des Dauerfrostes verzauberte, so führte Hitler die heterodoxe Kulturrevolution der<br />
Jahrhundertwende mit ihren unpraktikablen Konzeptionen zu ihrem in feste Rituale gegossenen<br />
antiparlamentarischen Ziel.<br />
Der rechthaberische Dogmatiker Robespierre, der phantasievolle Trotzki und die träumerischen<br />
Illusionisten von der Weltbühne wurden aus der politischen Bahn geräumt und eine stark vereinfachte,<br />
von störenden Details bereinigte Version der Revolution strömte 1795 nach Frankreich, 1928 nach<br />
Rußland und 1933 nach Deutschland.<br />
Napoleon beerbte die Revolution von 1789 in einer vom Kult des höheren Wesens und von den<br />
Massenhinrichtungen bereinigten Form. Sein Fazit der Revolution waren der Code Civil und ein<br />
verschärfter außenpolitischer Expansionismus. Zwischen der Revolution und seinem Kaiserreich lag<br />
<strong>das</strong> Direktorium als Zwischenstadium. Stalin beendete die avantgardistischen Kulturexperimente und<br />
Diskussionen über Zukunftsentwürfe und industrialisierte Rußland. Zwischen der Oktoberrevolution<br />
und seiner alleinigen Machtausübung ab 1928 lagen die <strong>Neue</strong> Ökonomische Politik und die<br />
Industrialisierungsdebatte. Hitler beerbte die Kulturrevolution der Jahrhundertwende. Im Dritten Reich<br />
wurde die Führerschaft des Übermenschen Wirklichkeit, auch wenn sich viele Vordenker des Dritten<br />
350