Wolfgang Prabel Neue Menschen braucht das ... - Klassik & Romantik
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Kanzlei sitzt. Viele neu errichtete Gebäude sehen aus wie <strong>das</strong> casa del fascio in Como, <strong>das</strong> 1932-36<br />
errichtet wurde. In den Kaufhäusern nimmt die Zahl der Braun- und Erdtöne unserer Bekleidung über<br />
einen längeren Zeitraum betrachtet zu. Immer wenn im deutschen Umfeld eine Regierung gewählt<br />
wird, die der SPD nicht passt, pöbelt Martin Schulz: Italien, Dänemark, Polen, <strong>das</strong> Vereinigte<br />
Königreich, Tschechien, Estland, Litauen, Österreich und die Niederlande standen bzw. stehen unter<br />
politischer Beobachtung. Die Außenpolitik wurde unter Kanzler Schröder zur Dienerin der Innenpolitik.<br />
Das kann Deutschlands Stellung langfristig nicht dienen, da es Europa spaltet und die Rache der<br />
geschulmeisterten Nationen herausfordert. Daß die Franzosen der europäischen Verfassung nicht<br />
zugestimmt haben, war ein innenpolitisch motiviertes Eigentor. Daß die Niederländer sie abgeleht<br />
haben, war politische Vergeltung. An eine Zustimmung bei einer Volksabstimmung zum europäischen<br />
Vertrag in Großbritannien oder Polen ist nach der Zerstörung Europas durch Kanzler Schröder<br />
garnicht zu denken. Der Umgang Deutschlands mit seinen Nachbarn erinnert an die Bülow-Affäre vor<br />
hundert Jahren, als Kaiser Wilhelm den Wahrheits- und Weltmachtanspruch Deutschlands gegenüber<br />
einer englischen Zeitung bekräftigt hatte, mit den bekannten Folgen für die europäischen<br />
Bündnissysteme vor dem ersten Weltkrieg.<br />
Es gibt auf den Wühltischen mehr braune Socken als früher. Nach einer Meinungsumfrage aus dem<br />
Jahr 2005 meinen 38 % der Bundesbürger, daß der Nationalsozialismus wieder die Macht ergreifen<br />
wird. Die Umfrage ließ leider offen, ob sie die nächste Machtübernahme erwarten oder befürchten.<br />
Wie kommt es zu dieser Krise des demokratischen Bewußtseins? Wie die obigen Beispiele zeigen,<br />
begeben sich die Medien und die sogenannte Enkelgeneration der Politik in eine größere Nähe zu<br />
tradierten deutschen Überzeugungen, als <strong>das</strong> ihre Großväter getan hätten. Der Emigrant Willy Brandt<br />
hätte nicht von Fremdarbeitern gesprochen, Konrad Adenauer hätte Israel nicht wegen<br />
<strong>Menschen</strong>rechtsverletzungen kritisiert und Ludwig Erhardt hätte nach dem Krieg für jede Heuschrecke<br />
ein Empfangskommitee engagiert. Hans-Georg Kiesinger und Hans Filbinger haben sich in Bayreuth<br />
geflissentlich nicht sehen lassen.<br />
Auf Präsident Kennedy, der sich in den Vietnam-Krieg verhedderte, reagierte die deutsche<br />
Öffentlichkeit eher euphorisch als hysterisch. Alle diese Einstellungen der späten 50er und der frühen<br />
60er Jahre waren für deutsche Verhältnisse nicht normal und nicht tradiert. Normal und tradiert waren<br />
Überheblichkeit gegenüber anderen entwickelten Nationen, Antisemitismus, verbunden mit einem<br />
übersteigerten Kulturstolz, Antiklerikalismus, Antikapitalismus und Antiamerikanismus; und <strong>das</strong> nicht<br />
nur im Dritten Reich, sondern auch im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und in der DDR. 1967/68<br />
begann der schleichende ideologische Rückweg in die deutsche Vergangenheit: Die NPD wurde<br />
damals mit bis zu 10 % in sieben deutsche Landesparlamente gewählt und verfehlte 1969 den Einzug<br />
in den Bundestag nur knapp; gleichzeitig wurden Antikapitalismus und Antisemitismus in der<br />
Studentenrevolte wiederbelebt. Man demonstrierte für Mao Tse Tung´s Kulturrevolution und die<br />
Avantgarde ließ sich in nahöstlichen Terrorlagern ausbilden. Es fehlte noch die Wiederauferstehung<br />
der totgeglaubten Lebensreform. Sie erfolgte mit geringem zeitlichen Abstand in der Mitte der 70er<br />
Jahre. Der erste grüne Barde im Deutschen Bundestag war der Niedersachse Gruhl, bald folgten<br />
grüne Wahlerfolge in Bremen und Baden-Württemberg. Seither nehmen die Allergien jedes Jahr zu,<br />
weil man sich einerseits vor Elektrosmog, Feinstaub, Ekelfleisch, Waldsterben, Erderwärmung,<br />
Genreis, Verkehrslärm, spanischen Paprika, chinesischem Spielzeug und Radioaktivität fürchtet,<br />
andererseits immer mehr Wasser und Gel unter der Dusche verplempert.<br />
Eine Bewegung wie die Lebensreform, die zwischen 1890 und 1945 <strong>das</strong> politische, wirtschaftliche und<br />
kulturelle Leben geführt und bestimmt hatte, auf deren ideologischen Krücken die politisch Lahmen<br />
und Blinden in Deutschland jahrzehntelang gehumpelt waren, konnte durch <strong>das</strong> Wirtschaftswunder<br />
nicht auf Dauer einfach wegradiert oder in den Sumpf ewigen Vergessens abgesäuft werden. Alte<br />
Kader und junge Spontis ergriffen bei der ersten Gelegenheit, nämlich während einer ersten<br />
Abflachung der Wachstumskurve ab 1965, die Chance zum kulturellen roll back. Anders als im<br />
Kaiserreich und in der Weimarer Republik regte sich jedoch immer wieder auch ernst zu nehmender<br />
Widerstand gegen die Renaissance der Jugendbewegung und der Lebensreform. Die Lehre von der<br />
Erschaffung des <strong>Neue</strong>n <strong>Menschen</strong> blieb durch die Judenvernichtung, die Euthanasie, den verlorenen<br />
Weltkrieg und den Stacheldraht an der Zonengrenze diskreditiert. Viele kulturelle Erscheinungen der<br />
Jugendbewegung und Lebensreform wie zum Beispiel der Rassismus und der Antisemitismus<br />
konnten nur mit Mühe und Verfremdungseffekten wieder aufgegriffen werden, andere Erscheinungen<br />
wie Vegetarismus, Bodenkult, Naturschutz, Antikapitalismus, Antiamerikanismus und<br />
Expressionismus hatten es einfacher, weil neben Tätern und Mitläufern immer auch Verfolgte der NS-<br />
Periode als Blutzeugen der ideologischen Unbeflecktheit der jeweiligen Sekte vorgewiesen wurden.<br />
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